White Fox (Band 2) - Suche nach der verborgenen Quelle - Jiatong Chen - E-Book

White Fox (Band 2) - Suche nach der verborgenen Quelle E-Book

Chen Jiatong

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Beschreibung

Die dunkle Macht der Legende  Sich in einen Menschen zu verwandeln und die Welt zu einem besseren Ort machen – das wünscht sich Polarfuchs Dilah. Helfen kann ihm dabei eine uralte Legende, doch die offenbart ein düsteres Geheimnis … Dilah und seine Freunde müssen sich in schwierigen Prüfungen beweisen und erbitterten Feinden stellen, die auch hinter dem verheißungsvollen Schatz her sind. Dilah kämpft für seinen Traum und steht plötzlich vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens!  Band 2 der berührenden und actionreichen Tierfantasy!  Der zweite Band der großen Tierfantasy ab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestseller-AutorJiatong Chen. Coolness und Magie treffen Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um einen Polarfuchs, eine große Mission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans von Woodwalkers und Animox. Der Titel ist bei Antolin gelistet. Alle Bände dieser Reihe: Band 1: White Fox - Der Ruf des Mondsteins Band 2: White Fox - Suche nach der verborgenen Quelle Band3: White Fox - Auf dem Pfad der Bestimmung Band 4: White Fox - Die Pforte des Schicksals  Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See

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INHALT

Was bisher geschah

Makarovs Verlust

Eine nächtliche Beerdigung

Der Schönheitswettbewerb

Der Nebel

Der Zauberwald

Das Tal des Propheten vom Berg

Das Halsband der Wiedergeburt

WAS BISHER GESCHAH …

Seit er ein kleiner Fuchs war, träumte Dilah davon, ein Mensch zu werden. Doch dann schmiedete Karel, ein Rivale aus dem Rudel der Polarfüchse, einen hinterhältigen Plan, um Dilahs Eltern zu töten. Diesen Tag wird Dilah niemals vergessen. Auch, weil seine Mutter ihm kurz vor ihrem Tod von einer uralten Legende erzählt hat: Vor langer Zeit hatte Ulan, der Schutzpatron der Polarfüchse, einen geheimen Schatz erschaffen. Wer ihn findet, erhält die Gabe, sich in einen Menschen zu verwandeln, das mächtigste aller Lebewesen! Fest entschlossen, sich seinen großen Traum zu erfüllen, begab sich Dilah auf die Suche nach Ulans Schatz. Dabei wies ihm ein wertvoller Gegenstand, den seine Mutter ihm vermacht hatte, den Weg – der Mondstein.

Auf seiner weiten Reise fand Dilah neue Freunde, darunter ein schlaues Wiesel namens Anselm, und Gänseblümchen, ein sanftes, freundliches Kaninchen. Sie schlossen sich Dilah an und gemeinsam bestanden sie eine Reihe von Abenteuern. Währenddessen war ihnen Karel, der inzwischen zum Anführer des Rudels geworden war, stets dicht auf den Fersen. Er hatte es auf den Mondstein abgesehen, den er um jeden Preis in seinen Besitz bringen wollte. Dabei schreckte er auch vor Gewalt nicht zurück. Zwischen den beiden Füchsen brach ein heftiger Kampf aus, den Dilah zu verlieren drohte. Gerade noch rechtzeitig kam ihm sein lange verschollener großer Bruder Aljoscha zu Hilfe und rettete ihm den Pelz. Leider war Aljoscha auch nicht besser als Karel. Er stahl den Mondstein und sperrte Dilah und seine Freunde in eine Höhle. Als Dilah sich weigerte, ihm das Geheimnis des Mondsteins zu verraten, drohte Aljoscha, die Gefährten einen nach dem anderen umzubringen, um seinen kleinen Bruder zum Reden zu zwingen.

Dilah und seine Freunde fürchteten schon, sich mit ihrem Schicksal abfinden zu müssen, als mitten in der Nacht plötzlich eine junge Rotfüchsin vor der Höhle erschien …

KAPITEL 1

Makarovs Verlust

Der Fuchs, der die drei Freunde bewachte, schrak schnarchend hoch, als die schlanke Füchsin auf ihn zukam. Ihr rotes Fell glänzte im Mondlicht. Mit wachsam gespitzten Ohren verfolgte Dilah das Geschehen aus der Dunkelheit der Höhle.

»Miss Emily!«, rief der Wächter aus, während er hastig aufsprang und sich verlegen schüttelte. »Was machst du denn … ich meine … was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?« Anselm und Gänseblümchen blickten zu Dilah und lauschten. In ihren großen Augen spiegelte sich Verwirrung … und ein Funken Hoffnung. Wer war diese Miss Emily und was hatte sie vor?

»Hallo, Michael. Vater schickt mich. Ich soll dich ablösen«, verkündete sie.

»Oh … A…aber Euer Vater hat nie erwähnt, dass …«

»Ach, das ist ihm bestimmt nur entfallen«, unterbrach Emily ihn. »Du weißt ja, wie Vater ist – als Oberältester hat er einfach so viel um die Ohren. Aber er sieht, wie hart ihr alle arbeitet, und hat beschlossen, dir eine Pause zu gönnen.« Dilah blinzelte. Ihre klangvolle Stimme hatte etwas Hypnotisches.

»Seid Ihr sicher? I…ihr habt nicht oft Wachdienst, Miss Emily«, stammelte Michael. »Und es sind gleich drei Gefa–«

Wieder schnitt Emily ihm das Wort ab. »Du glaubst, ich werde nicht mit einem schwächlichen weißen Fuchs, einem dürren Wiesel und einem verwahrlosten Kaninchen fertig?«, kicherte sie. »Ich bitte dich, Michael. Das schaff ich mit links, das solltest du eigentlich wissen. Jetzt geh und leg dich schlafen.«

Das schien Michaels Argwohn zu besänftigen. »Vielen Dank, Miss Emily«, sagte er und schlich davon.

Emily ließ sich vor dem Eingang der Höhle nieder und wartete stumm, bis er außer Hörweite war. Unterdessen saßen Dilah, Anselm und Gänseblümchen wie auf glühenden Kohlen. Was führte die Füchsin im Schilde – war sie wirklich nur gekommen, um den Wachposten abzulösen? Schließlich wandte Emily sich den Gefangenen zu.

»Dilah?«, rief sie.

Zögernd trat er ins Mondlicht, blieb aber auf der Hut. »Was willst du?«

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Beeilt euch und folgt mir«, drängte Emily und lief los.

Die drei Freunde wechselten einen erstaunten Blick. Dilah nickte. Auf leisen Pfoten huschten sie ihrer Retterin hinterher.

Doch sie kamen nicht weit. Eine kleine Gruppe Füchse hatte sich vor Emily aufgebaut und versperrte ihr den Weg. Anselm, Gänseblümchen und Dilah blieben mit einigem Abstand stehen. Emily schien jedoch keine Angst zu haben. Ihr buschiger Schwanz zuckte verärgert hin und her.

»Miss Emily, Ihr sagtet, Ihr wollt bloß einen Blick auf die Gefangenen werfen«, meldete sich der Fuchs an der Spitze der Gruppe zu Wort. »Wenn wir sie gehen lassen …«

»Hör zu, Frank. Ihr seid meine Diener, mehr nicht. Gebt mir die Schuld. Ihr könnt gerne behaupten, ich hätte euch gezwungen.«

»Aber …«, protestierte Frank.

»Nichts ›aber‹. Wir haben keine Zeit für so etwas. Danke für eure Treue und Loyalität. Und nun geht mir aus dem Weg.« Obwohl Emily mit sanfter Stimme sprach, machte ihr Tonfall deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Die kleine Gruppe wich auseinander.

Dilah, Anselm und Gänseblümchen folgten Emily dicht auf den Fersen, als sie die drei zwischen den anderen Füchsen hindurch in die Nacht hinausführte und von dort in die Freiheit.

Der Mond war halb hinter dunklen Wolken verborgen. Eine kühle Brise strich durchs Gras und wehte Emily, Dilah und seinen Freunden auf ihrer Flucht um die Nase. Im weißen Mondlicht warf Dilah einen bewundernden Blick auf Emilys zierliche Gestalt. Sie hatte erwähnt, dass sie die Tochter des Oberältesten war – das musste einer von Aljoschas engsten Vertrauten sein. Warum setzte jemand in ihrer Position sein Leben aufs Spiel, um drei Fremde zu retten?

Nach und nach wurde es um sie herum heller. Hauchzarte Bänder aus vorbeitreibenden Wolken zogen über den Himmel, während die Morgendämmerung den Horizont orange färbte. Sie rannten und rannten, bis ihnen erst die Luft und dann die Kräfte ausgingen.

Schließlich gelangten sie zu einem kleinen Bach, der aus einer Gebirgskette in der Ferne herabsprudelte. Dort legten sie die dringend ersehnte Pause ein. Nachdem alle ihren Durst gestillt hatten, sagte Emily: »Hier sollten wir fürs Erste sicher sein.«

Dilah trat vor. »Ich bin froh, dass Ihr uns gerettet habt, Miss Emily. Aber … warum habt Ihr uns gerettet?«

»Na, weil ich mich eurer Truppe anschließe, natürlich! Und bitte lass diesen ganzen ›Miss-Emily‹-Quatsch. ›Emily‹ genügt.«

»Moment … was?«, fragte Anselm.

Gänseblümchen hüpfte ratlos von einem Bein aufs andere.

»Ich sagte, nennt mich ruhig –«, setzte Emily an.

»Nein, das davor«, unterbrach Dilah leise. »Du meintest, du …«

»Ich schließe mich eurer Truppe an.«

»Aber warum?« Gänseblümchen hoppelte näher.

»Weil ich es möchte. Außerdem habe ich den Mondstein!« Triumphierend hob Emily den Kopf, um ihnen Dilahs kostbares Lederpäckchen zu zeigen, das um ihren Hals hing.

Dilah starrte das Päckchen mit großen Augen an. Er konnte sein Glück kaum fassen. Sie waren aus der Höhle entkommen, hatten den Mondstein wieder und zudem noch eine neue Gefährtin dazugewonnen!

»Wie hast du das geschafft?«, fragte er grinsend.

»Ich hab ihn Aljoscha gestohlen«, verkündete Emily stolz und lächelte. »Er hält sich für so toll, dass er nicht mal in Erwägung gezogen hat, jemand könnte das versuchen.«

»Aber warum willst du dich uns anschließen?«, beharrte Anselm. Er beäugte sie misstrauisch – seine Begeisterung hielt sich sichtlich in Grenzen. Und damit lag er vielleicht gar nicht so falsch. Wieso gab Emily ihr sorgenfreies Leben auf und hinterging ihre Freunde und Familie, nur um … ja, was? »Das hier ist kein Spiel. Ist dir klar, wie gefährlich das Ganze ist?«

Emilys Augen blitzten verärgert. »Selbstverständlich weiß ich, wie gefährlich es ist, du herablassender kleiner Wurm! Glaubst du, ich hätte mir darüber keine Gedanken gemacht? Ich habe lange genug beim Fuchsclan gelebt – es steht mir bis hier, ständig die kleine ›Miss Emily‹ zu sein. Ich will die Welt sehen. Ich möchte etwas bewirken! Und ich hätte gern etwas mehr Respekt, wenn das nicht zu viel verlangt ist. Reicht das als Grund, weshalb ich mich euch anschließen möchte?«

Anselm senkte verlegen den Kopf, während Dilah belustigt auflachte.

»Willkommen in unserer Gruppe!«, sagte Gänseblümchen mit einem warmen Lächeln.

»Ja, wir freuen uns, dich bei uns zu haben!«, ergänzte Dilah, bevor er vorsichtig seine Bedenken anbrachte. »Nur … in einem Punkt hat Anselm durchaus recht: Eine Schatzsuche ist kein Spaziergang. Ich will dir nicht zu nahetreten, Emily, aber das alles ist sehr viel entbehrungsreicher, als du vermutlich gewohnt bist.«

»Kein Problem! Meine Entscheidung steht fest!«, verkündete Emily entschlossen. »Wir sollten jetzt auch langsam mal wieder los. Nicht, dass sie uns noch einholen. Doch zuerst …« Vorsichtig streifte sie den Mondstein ab und hielt ihn Dilah hin.

Dankbar nahm er ihn entgegen. Er merkte, wie erleichtert er war, das vertraute Gewicht des Steins wieder an seinem Hals zu spüren. Und dann hatte sein kleiner Trupp tapferer Schatzsucher gleich noch ein weiteres Mitglied dazugewonnen. Trotzdem waren ihm Emilys plötzliches Auftauchen und ihre scheinbare Selbstlosigkeit nicht ganz geheuer. Es ergab irgendwie keinen Sinn: Wenn sie unbedingt die Welt sehen wollte, konnte sie das doch auch, ohne die anderen Füchse in ihrem Clan zu hintergehen. War sie ebenfalls in den Bann der alten Legende geraten, die besagte, dass der Mondstein Tiere in Menschen verwandeln konnte? Oder steckte etwas anderes dahinter?

»Also, dann … Wo entlang?«, fragte Dilah. Ein wenig ratlos blickte er in die Ferne. Am Ende der weiten Grasebene erhob sich eine schier endlose Gebirgskette, deren Ränder am Horizont mit dem blauen Himmel verschmolzen. Nebelschwaden waberten um die schneebedeckten Gipfel.

»Sieht nicht gerade einfach aus«, meinte Gänseblümchen.

Anselm schaute sich um. »Aber gibt es noch einen anderen Weg, wenn wir Aljoscha abhängen wollen?«

Emily lächelte. »Anselm hat recht, wir haben keine Wahl. Die Berge zu umgehen würde fast eine Woche dauern … Aber ich kenne eine Abkürzung. Es gibt einen schmalen Pfad, der mittendurch verläuft. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand in Aljoschas Clan davon weiß. Wenn wir erst mal den Wald auf der anderen Seite erreicht haben, sollten sie uns nicht mehr einholen können!«

»Na gut, dann geh voran!«, erwiderte Dilah.

Stunden später gelangten sie zu einem schmalen Pass zwischen zwei Bergen. Wie versprochen, war dieser Weg gut versteckt. Doch Emily kannte das Terrain offenbar wie ihre Schwanzspitze. Der Pfad war mit Geröll übersät und zu beiden Seiten ragten scharfkantige Felsen empor. Je höher sie hinaufstiegen, desto schwerer wurden Dilahs, Anselms und Gänseblümchens Schritte. »Kommt schon! Wir sind fast da!« Emily schien als Einzige kein bisschen müde zu sein. Sie eilte mit kraftvollen Sprüngen voraus und blieb oft stehen, um die anderen anzufeuern, die sich mühsam den Berghang hinaufschleppten. Es half auch nicht gerade, dass sie sich immer wieder im Zickzack zwischen den Felsen hindurchschlängeln mussten. »Und ihr hattet Angst, ich wäre zu schwach für so ein bisschen Abenteuer!« Sie kicherte.

Dilah errötete unter seinem Fell und legte hastig einen Zahn zu.

Schließlich kamen sie zu einer tiefen Schlucht. Das Gelände fiel jäh ab und man konnte nicht einmal annähernd erahnen, wie weit es in die Tiefe ging.

»Jetzt müssen wir nur noch da rüberspringen«, verkündete Emily strahlend. »Danach wird’s leichter. Kommt, ich zeige euch, wo die schmalste Stelle ist.« Der Pfad wurde noch steiler und zugleich furchtbar eng. Emily presste sich dicht an die Felswand und schlich behutsam vorweg, während ihr Dilah und die anderen ängstlich im Gänsemarsch folgten. In geduckter Haltung, um bloß nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, krochen sie bergauf. Niemand wagte es, auch nur den kleinsten Mucks von sich zu geben. Die einzigen Geräusche waren das Knirschen der Steine unter ihren Pfoten und das rasende Pochen ihrer Herzen.

Plötzlich schrie Anselm hinter Dilah auf und geriet ins Straucheln. Seine Pfote rutschte über die Kante und löste eine kleine Gerölllawine aus, die unter ihm in den Abgrund polterte. Keuchend krallte er sich fest, während Gänseblümchen und Dilah ihm vorsichtig aufhalfen. Dilah wartete, dass die Steinchen am Grund der Schlucht aufschlugen, doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das dumpfe Echo zu ihnen heraufschallte.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. Anselm biss sich auf die Lippe und nickte. Er warf Emily einen argwöhnischen Blick zu, die einige Schritte vor ihnen stehen geblieben war und das Geschehen beobachtete.

Nachdem sie sich fast eine Stunde durch unwegsames Gelände gekämpft hatten, erreichten sie endlich eine Stelle, an der die Kluft schmal genug war, und sprangen nacheinander hinüber. Nun beruhigte sich auch Dilahs Herzschlag langsam wieder. Gemeinsam standen sie hoch oben am Hang und ließen den Blick über die Landschaft auf der anderen Seite der Gebirgskette schweifen. Zu ihren Füßen erstreckte sich ein üppiger grüner Wald, ein schier endloses Meer aus Baumkronen.

Und wo ein Wald war, gab es Futter! Dilahs Magen knurrte erwartungsfroh.

»Kommt«, sagte Emily und schielte zu Dilah hinüber. »Ich bin auch am Verhungern!«

Seite an Seite stürmten die beiden Füchse den Berghang hinunter. Gänseblümchen und Anselm folgten ihnen johlend und schreiend. Irgendwann verlor Gänseblümchen das Gleichgewicht und plumpste auf den Hintern, was ihn jedoch nicht weiter beirrte. Den Rest der Strecke rutschte er auf seinem flauschigen Kaninchenpo hinunter wie auf einem Schlitten. Als er unten ankam, sprang er auf und rieb sich lachend das Hinterteil.

Im Wald machten sie sich sogleich auf die Suche nach etwas Essbarem. Anselm stöberte Haselnüsse und Pilze auf, Emily fand jede Menge wilder Beeren und Früchte und Dilah fischte einen Lachs aus einem nahe gelegenen Bach. Gänseblümchen sah sich unterdessen nach einem geeigneten Platz zum Fressen um.

Schließlich ließen sie sich unter einem hohen Baum nieder und schlugen sich genüsslich die Bäuche voll. Als es Nacht wurde, fiel das helle Mondlicht durch die Blätter und zeichnete weiße Sprenkel ins Gras. Ringsum schallten die lang gezogenen Rufe der Vögel, die sich gegenseitig eine gute Nacht wünschten, durch den Wald. Anselm, Gänseblümchen und Emily rollten sich unter dem Baum zusammen und waren im Nu eingeschlafen. Dilah hingegen wälzte sich rastlos auf seinem Bett aus Laub. Obwohl er herrlich satt gefressen war und die Nähe seiner Freunde genoss, fand er nicht zur Ruhe. Seine Augen wollten einfach nicht zufallen. Als sein Blick an der leuchtenden Mondsichel am Himmel hängen blieb, beschloss er, die Gelegenheit zu nutzen und den Mondstein erneut nach dem Weg zu fragen. Um seine Freunde nicht zu wecken, schlich er durchs Gebüsch zu einer Lichtung in der Nähe, wo er prompt einen Fasan aufscheuchte. Erschrocken schoss der Vogel aus dem Unterholz und flatterte davon.

Dilah wollte gerade das kleine in Leder gewickelte Paket von seinem Hals streifen, als er hinter sich Schritte hörte. Alarmiert wirbelte er herum, doch es war bloß Anselm. »Du bist noch wach?«, fragte Dilah überrascht.

»Ich konnte nicht schlafen. War ein bisschen viel, was in letzter Zeit passiert ist«, erwiderte Anselm mit einem schiefen Grinsen. »Ich hatte so eine Ahnung, was du vorhast«, ergänzte er und deutete mit dem Kopf auf das kleine Päckchen.

»Du kommst gerade rechtzeitig.« Dilah nahm es ab und öffnete es behutsam.

Unter dem Leder kam ein großer blauer Edelstein zum Vorschein, in dessen Mitte eine goldene Mondsichel zu sehen war. Sie strahlte ein sanftes Licht aus, das im Inneren des Mondsteins langsam zu kreisen schien. Und dann begann die kleine Mondsichel, sich schneller und immer schneller zu drehen. Kurze Zeit später kam sie wieder zum Stehen und zeigte ihnen die Richtung an, in der Ulans Schatz lag. Dilah folgte der Leuchtspur mit den Augen. Sie verlief sich irgendwo in der Ferne zwischen den Bäumen. Wie weit es wohl noch war?

»Guck mal!«, rief Anselm leise. Er stupste Dilah an und wies mit der Schnauze auf den pulsierenden Stein.

Staunend betrachtete Dilah die eingravierte Mondsichel. Sie war anders. Irgendwie … heller. So hell wie jetzt hatte sie in all den Monaten, die er nun schon unterwegs war, noch nie geleuchtet!

»Wow! Was glaubst du, was das bedeutet?«, hauchte er.

»Hmm … vielleicht, dass Ulans Schatz ganz in der Nähe ist?«, überlegte Anselm. Er klang hoffnungsvoll, aber auch ein wenig angespannt.

»Echt? Meinst du wirklich?« Die beiden Freunde sahen einander an und strahlten. Nach all der Zeit, all den Strapazen war es nun möglicherweise nicht mehr weit bis zum Ziel.

Knack. Trockenes Laub raschelte und knisterte hinter ihnen im Gebüsch.

»Wer ist da?«, zischte Dilah, während er sich in die Richtung drehte, aus der das Geräusch gekommen war. Hatte sie jemand beobachtet? Ein Feind sogar? Dilah knurrte die Büsche an, während Anselm hastig das Leder um den Mondstein wickelte. Das blaue Licht erlosch.

Totenstille kehrte ein. Sobald Dilahs Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er das grünliche Leuchten eines anderen Augenpaars ausmachen, das ihnen durch die Äste und Zweige hindurch argwöhnisch entgegenblickte. Panisch presste Anselm den Mondstein an seine Brust und holte tief Luft – offenbar war er kurz davor, zu einem markerschütternden Angstschrei anzusetzen.

»Komm raus und zeig dich!«, befahl Dilah, während er sich schützend vor Anselm stellte.

»Dilah, ich bin’s«, erwiderte eine vertraute Stimme. Ein Fuchs trat aus den Büschen: Emily. Der argwöhnische Blick war verschwunden und einem schwer zu lesenden Gesichtsausdruck gewichen. Anselm stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Was machst du hier?«, fragte Dilah.

»Ich bin aufgewacht und ihr wart nicht da. Ich hab mir Sorgen gemacht, dass euch etwas zugestoßen ist, deswegen bin ich nachsehen gegangen«, antwortete Emily ruhig.

»Und warum hast du dich dann im Gebüsch versteckt?«, entgegnete Anselm empört. Seine Angst hatte er anscheinend schon wieder vergessen.

»Ihr standet mit dem Rücken zu mir und es war dunkel. Ich konnte nicht genau erkennen, wer ihr wart«, erklärte Emily.

Anselm hob eine Augenbraue.

»In Ordnung«, beschwichtigte Dilah, »es war also alles bloß ein Missverständnis. Lasst uns zurückgehen.« Er hängte sich den Mondstein um und wandte sich in Richtung ihres Nachtlagers.

»Warte«, warf Emily ein. »Bist du nicht neugierig, wohin der Mondstein uns führt?«

»Das können wir doch morgen früh noch herausfinden«, meinte Anselm. »Jetzt sollten wir erst mal schlafen.«

»Aber er hat stärker geleuchtet, oder?«, fragte Emily Dilah. »Glaubt ihr nicht, hier ganz in der Nähe könnte etwas sein?« Emily legte den Kopf in den Nacken und schnüffelte. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich rieche Abenteuer!«

Dilahs Miene hellte sich auf. Er warf Anselm einen Blick zu. »Du kannst ruhig zurückgehen, wenn du willst.«

Die beiden Füchse liefen los, in die Richtung, die der Mondstein ihnen gewiesen hatte. Anselm trottete hinter ihnen her, wobei er nachdenklich an seiner Zeigekralle nagte.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, als die Bäume um sie herum weniger wurden. Kurz darauf näherten sie sich dem Fuß eines Vulkans, der vor langer, langer Zeit ausgebrochen sein musste. Der Boden war mit Felsen aus schwarzem Vulkangestein übersät. Bei genauerem Hinsehen fiel Dilah auf, wie seltsam die Felsen geformt waren: Manche ragten wie riesige Pflanzen kerzengerade in die Höhe, andere ähnelten kleinen zusammengekauerten Tieren. Und dazwischen gab es welche, die an große Raubtiere mit gefletschten Reißzähnen und ausgefahrenen Krallen erinnerten. Waren dies alles Lebewesen, die dem Vulkan zum Opfer gefallen waren?

»Wie entsetzlich!«, sagte Dilah.

Dann fing seine empfindliche Nase einen vertrauten Geruch auf – ein anderer Fuchs vielleicht?

»Riechst du das auch?«, fragte Emily und witterte.

»Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte sein, dass hier in der Nähe Füchse sind.«

»Was?«, Anselm zuckte verängstigt zusammen.

»Keine Sorge, Karel oder Aljoscha sind es nicht«, versicherte Dilah. »Diesem Fuchs sind wir bisher noch nicht begegnet.«

Während sie behutsam weiterschlichen, wurde der Geruch stärker und stärker. Nach einer Weile tauchte vor ihnen ein großer schwarzer Fels auf, der sich deutlich von den anderen ringsum unterschied. Er war nicht wie eine Pflanze oder ein Tier geformt, sondern hoch und oben abgeflacht, mit einer kleinen runden Öffnung an der Unterseite. Auf der anderen Seite der Öffnung bewegte sich etwas Weißes.

»Warte hier!«, raunte Dilah Anselm zu.

Langsam schlichen Dilah und Emily auf die weiße Gestalt zu. Bald erkannte Dilah, dass es sich um einen Polarfuchs handelte. Er war groß und kräftig, hatte aber mindestens die Hälfte seines Fells verloren. Der Rest war schmutzig und verfilzt, voller Staub und kleiner Zweige. Seine nackte Haut war mit Narben übersät und sein kahler Schwanz wies die unübersehbaren Anzeichen einer schweren Räude auf. Er hockte neben dem seltsamen hohen Felsen und nagte am verwesenden Kadaver einer Krähe, deren schwarze Federn überall auf dem Boden verstreut lagen.

»Wir sollten uns lieber fernhalten«, zischte Anselm warnend hinter Dilah und Emily.

»Ach, stell dich nicht so an!«, flüsterte Emily. »Vielleicht weiß er ja etwas.« Inzwischen hatte der räudige Fuchs ihr Kommen bemerkt und drehte sich zu dem Trio um. Er sprang auf und funkelte sie drohend an. Der Gestank seines Körpers und der toten Krähe war überwältigend. Dilah hielt die Luft an und wich einige Schritte zurück. Was jedoch noch viel verstörender war, war die Veränderung, die das Gesicht des fremden Fuchses bei seinem Anblick durchlief. Eine Mischung aus Bestürzung und Wiedererkennen trat in seine Augen.

»Nicholas … du … du lebst?«, stammelte er mit rauer Stimme. Nicholas. Den Namen hatte Dilah schon mal gehört. Seine Mama hatte ihn erwähnt, als sie ihm die Geschichte von Nordwind und Eissturm erzählt hatte. Zu jener Zeit war Nicholas der Anführer der Weißen Füchse gewesen. Der Fremde musterte Dilah eindringlich. »Nein, nein, nein … du kannst ihm nicht das Wasser reichen. Du bist nicht –«

»Wer seid Ihr?«, fragte Dilah behutsam.

»Wer ich bin?«, erwiderte der Polarfuchs mit leerem Blick. »Hmm, tja, wer bin ich?«

»Was macht Ihr hier?«, fragte Emily forsch.

»Wer seid ihr?!«, blaffte der Fuchs plötzlich unvermittelt und knurrte.

Dilah warf Emily einen mahnenden Blick zu und trat näher – hier galt es, mit äußerstem Pfotenspitzengefühl vorzugehen. »Mein Name ist Dilah. Ich stamme vom Nordpol. Das sind meine Freunde«, sagte er sanft.

»Dilah? Nie gehört«, murmelte der Fuchs verwirrt.

»Gerade habt Ihr mich Nicholas genannt. Kennt Ihr ihn?«

»Was sagst du? Hast du ihn gesehen?« Einen Moment lang klang der Fuchs ganz aufgeregt. Dann schien seine Erinnerung zurückzukehren, denn er ließ traurig den Kopf hängen. »Nein, das kann nicht sein. Du kannst ihn nicht gesehen haben. Mein Sohn ist … er ist …« Er schüttelte den Kopf, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Lasst mich in Ruhe«, brummte er und wandte sich zum Gehen.

»Euer Sohn? Nicholas ist Euer Sohn?«, rief Dilah ihm nach.

Der alte Fuchs zögerte, antwortete jedoch nicht. Dilah wühlte in seinem Gedächtnis. Was hatte seine Mama ihm über Nicholas und die komplexe Hierarchie der Füchse erzählt?

»Ihr seid Makarov, der zweite Älteste der Polarfüchse«, sagte er. »Hab ich recht?«

Diesmal drehte der räudige Fuchs sich um und sah Dilah an. Kurz schien es, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Dann räusperte er sich. »Makarov«, krächzte er heiser.

»Der zweite Älteste?«, fragte Anselm. »Was bedeutet das?«

Dilah und Emily öffneten gleichzeitig den Mund, um zu antworten, doch in dem Moment richtete sich der alte Fuchs auf und begann mit ruhiger Stimme zu sprechen.

»So wird bei den Weißen Füchsen die Macht aufgeteilt. Der Patriarch ist der Anführer des gesamten Rudels. Der Oberälteste beruft Treffen ein und leitet sie. Außerdem bewacht er den Mondstein, einen Schatz, der seit Generationen von Fuchs zu Fuchs weitergegeben wird. Der dritte Älteste ist für organisatorische Dinge zuständig: Standortwechsel, Katastrophenhilfe, Futterverteilung. Der vierte Älteste beaufsichtigt die Streitkräfte. Der zweite Älteste dagegen …« Seine Augen leuchteten und er wirkte auf einmal deutlich jünger und wacher. »Der Posten des zweiten Ältesten birgt die meisten Rätsel, die größten Gefahren. Wer ihn innehat, gewinnt Informationen und bewahrt Geheimnisse. Darüber hinaus entscheidet er oder sie über die kniffligsten Rechtsfragen innerhalb des gesamten Clans. Als zweite Älteste verfügen wir über das größte Wissen und sind daher besonders anfällig dafür, in einen gemeinen Hinterhalt zu geraten oder einem Mordanschlag zum Opfer zu fallen. Wir müssen also außerordentlich fähig und gewitzt sein.«

Dilah, Anselm und Emily sahen einander mit großen Augen an.

Makarov fuhr fort. »Es tut gut, nach so langer Zeit mal wieder andere Füchse zu treffen. Wie geht es den Weißen Füchsen denn so?«, fragte er Dilah. »Arthur müsste inzwischen der Ranghöchste sein. Ich nehme an, er hat die Führung von Nicholas übernommen?« Arthur war Dilahs Vater. Er hatte von Graumähne, dem Oberältesten, den Auftrag bekommen, den Mondstein zu beschützen.

Dilah schluckte. Wie lange irrte der alte Fuchs schon in der Wildnis umher? »Na ja, ehrlich gesagt … ist Karel der neue Patriarch.«

Sichtlich bestürzt schüttelte Makarov den Kopf. »Hat er es also tatsächlich geschafft. Karel war schon immer sehr ehrgeizig. Arthur und er sind beide Kriegshelden, doch Arthur ist dieser Status nie zu Kopf gestiegen. Karel war anders … aber ich hätte nie gedacht, dass er es so weit bringen würde.«

»Zweiter Ältester, warum habt Ihr das Rudel verlassen?«, fragte Dilah.

Ein ernster, trauriger Ausdruck trat in das Gesicht des alten Fuchses. »Wie du weißt, war mein Sohn Nicholas Patriarch, während mir die Rolle des zweiten Ältesten zukam. Er führte die Weißen Füchse zum Sieg über die Blaufüchse und vertrieb die Blaufüchse aus der Gegend um den Polarkreis, wodurch er seine Stellung innerhalb des Rudels weiter festigte. Karel, besser bekannt als Nordwind, und Arthur, den alle nur Eissturm nannten, standen ihm in der entscheidenden Schlacht zur Seite und wurden fortan als Kriegshelden gefeiert. Doch ohne Nicholas wären die Weißen Füchse im Krieg gegen die Blaufüchse gnadenlos ausgelöscht worden. Mein Sohn hat Enormes für die Gemeinschaft der Füchse geleistet, ja, für die gesamte Art. Ich habe hart gearbeitet, um ihn zu dem heranzuziehen, der er geworden ist. So viel habe ich dafür aufgegeben. Ich habe ihn aufwachsen sehen, habe gesehen, wie er sein Potenzial mehr und mehr ausgeschöpft hat. Und was habe ich dafür gekriegt? Nichts als … als diese elende Todesnachricht. Ohhhhh!« Makarov stieß ein animalisches Brüllen aus. Er bebte am ganzen Körper und trommelte mit den Pfoten auf den Boden.

Dilah prallte mit Anselm zusammen, als er erschrocken zurückwich. Makarovs plötzlicher Stimmungsumschwung beunruhigte ihn zutiefst.

Emily schüttelte den Kopf. »Eine Todesnachricht? Wie meint Ihr das?«, fragte sie sanft.

Makarov sackte in sich zusammen. Nach einer Weile sah er auf und musterte Dilah und Emily mit einem finsteren, schwer zu deutenden Blick.

»Was macht ihr hier?«, knurrte er, während er das Lederpäckchen an Dilahs Hals betrachtete. »Seid ihr den ganzen Weg vom Nordpol gekommen, um Ulans Schatz zu suchen, so wie einst mein Sohn?«

Dilah blinzelte. Nicholas wollte den Schatz ebenfalls finden? »Wir …«

Bevor Dilah den Satz beenden konnte, stürzte sich der zweite Älteste mit unerwarteter Geschwindigkeit auf ihn und riss ihm den Mondstein vom Hals. Der alte Fuchs war schneller, als er aussah!

»Hey!«, grollte Dilah und spannte die Muskeln an, um ihm nachzujagen.

Doch Makarov lief nicht weg. Er legte das Päckchen auf dem Boden ab und öffnete es. Der Mondstein tauchte sein verwittertes Gesicht in ein gespenstisch blaues Licht.

»Das ist er! Er ist es! Er ist es wirklich. Der Mondstein!« Wieder ließ Makarov ein ohrenbetäubendes Brüllen ertönen. Keuchend rang er nach Luft. »Ihr Narren! Ihr seid also auch auf die Lügen reingefallen. Und nun versucht ihr, diesen bösartigen, blutbesudelten, unglückseligen Schatz zu finden!« Er wich vor dem Licht des Steins zurück, als hätte er sich daran verbrannt.

»Bösartig, blutbesudelt und unglückselig?«, wiederholte Dilah ratlos.

Anselm schob sich näher heran. »Wie meint Ihr das, Makarov?«

»Hör zu, mein Junge«, mahnte Makarov eindringlich. Er richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Dilah. »Der verborgene Schatz, den du suchst, ist von Ulan verflucht. Wer immer ihn besitzt, wird ein tödliches Schicksal erleiden. Den Überlieferungen zufolge hat jeder Held, der ihn gefunden hat oder auf andere Weise in seinen Besitz gelangt ist, bald darauf unter mysteriösen Umständen sein Leben verloren. Und zwar ausnahmslos. Merk dir meine Worte: Niemand, der sich auf die Suche nach diesem Schatz macht, kommt lebend davon.«

Makarovs Warnung hatte eine geradezu magische Wirkung. Aber es war keine gute Magie, eher fühlte es sich an, als würde eine eisige Kälte Dilahs Herz erfassen, sodass die Worte darin festfroren. Er spürte, wie sich ihm das Fell sträubte, und für einen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte.

Inzwischen ging am Horizont die Sonne auf. In der unheimlichen Stille, die zwischen ihnen hing, schwebte eine Krähe vom rot getönten Himmel herab und ließ sich dann laut krächzend auf dem hohen Felsen nieder. Sie fixierte Dilah mit einem durchdringenden Blick. Es wirkte wie ein schlechtes Omen. Was, wenn Makarov recht hatte?

Emily durchbrach als Erste die Stille. »Unmöglich! Das ergibt doch keinen Sinn!«

Ihre Worte rissen auch Dilah aus seiner Schockstarre. »Warum sollte Ulan die Füchse mit einem solchen Fluch belegen? Schadet er damit nicht seinen eigenen Nachkommen? Denjenigen, die er eigentlich beschützen soll?«, fragte er.

Anselm nickte bedächtig. »Schwer vorzustellen, dass Ulan seine eigenen Schützlinge verfluchen würde.«

Makarov lachte bellend. »Dummes Wiesel. Das ist doch genial! Der Schatz ist ein Lockmittel. Diejenigen, die den Gerüchten glauben und sich auf die Suche danach machen, beweisen damit, dass sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und in ihrer Selbstsucht und Gier vor nichts zurückschrecken. Auf diese Weise hat Ulan klammheimlich dafür gesorgt, dass alle aus dem Weg geräumt werden, die dem Rudel sonst gefährlich werden könnten. So sorgt er bis heute für Stabilität.« Unwillkürlich musste Dilah an Karel denken. War an Makarovs Worten doch etwas dran? Und wenn ja, hieß das dann, dass Dilah all diese Strapazen auf sich genommen hatte, nur um einen grausamen Tod zu finden? War er zu machthungrig geworden und deswegen in eine Falle getappt?

Er schüttelte den Kopf und versuchte, das Ganze logisch zu betrachten. »Wenn dem so wäre, warum halten sich die Legenden um den Mondstein und Ulans Schatz dann so hartnäckig? Hätten sie nicht gleich mit den ersten schlechten Füchsen aussterben müssen?«

»Es wird immer schlechte Füchse geben, mein Junge. Der Mondstein kehrt automatisch zum Rudel zurück, nachdem er seine Mission erfüllt hat. Jedes Mal, wenn ein Abenteurer sein Ende gefunden hat, taucht der blutrünstige Schatz wieder auf und wartet geduldig darauf, den nächsten machthungrigen Fuchs ins Verderben zu führen.«

Trotzig reckte Dilah das Kinn. »Nicht jeder, der sich auf die Suche macht, ist gierig und machthungrig! Manche folgen der Legende auch aus Hoffnung. Weil sie den Wunsch verspüren, die Dinge zum Besseren zu wenden. Wenn wir finden, was wir suchen, können wir die Welt verändern. Das muss Ulan doch erkennen, oder nicht?«

Wieder ließ Makarov sein seltsames bellendes Lachen ertönen. »Begreifst du es denn nicht? Wie viele namenlose Helden und Schurken haben im Kampf um diesen vermaledeiten Stein schon ihr Leben gelassen? Einige von ihnen waren sicher gute Füchse, so wie du«, sagte er. Er warf dem Mondstein einen finsteren Blick zu, der rot aufleuchtete, als ihn das Licht der aufgehenden Sonne traf. »Und wie mein Sohn. Der Mondstein dürstet nach Blut, so wie wir Tiere nach Wasser. Daraus speist sich seine Macht. Deswegen ist er verflucht.«

Dilah schwieg. Sein Glaube an Ulans Verheißung hatte einen schweren Dämpfer erlitten. Je mehr er sich dagegen sträubte, Makarovs Worten zu trauen, desto mehr Sinn schienen sie zu ergeben.

»Wie Euer Sohn, sagt Ihr«, hakte Anselm nach. »So ist Nicholas gestorben?«

Emilys Ohren zuckten neugierig.