White Fox (Band 3) - Auf dem Pfad der Bestimmung - Jiatong Chen - E-Book

White Fox (Band 3) - Auf dem Pfad der Bestimmung E-Book

Chen Jiatong

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Beschreibung

Ein gefährliches Schicksal Polarfuchs Dilah hat das Tor zwischen den Welten durchschritten und wurde als Mensch wiedergeboren. Doch der Mondstein warnt ihn und seine Freunde erneut vor großer Gefahr: Jemand hat das mächtige Halsband der Wiedergeburt gefunden und damit Böses im Sinn! Dilah muss einen Weg finden, das Schicksal abzuwenden … Nur er kann die Tiere und Menschen vor großem Unheil bewahren! Nach dem Erfolg von Polarfuchs Dilah in Band 1 und Band 2 geht die Reise weiter! Band 3 der berührenden und actionreichen Tierfantasy! Der dritte Band der großen  Tierfantasyreiheab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestsellerautor Jiatong Chen. Coolness und Magie treffen Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um einen Polarfuchs, eine große Mission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans von Woodwalkers und Animox. Der Titel ist bei Antolin gelistet. Alle Bände dieser Reihe: Band 1: White Fox - Der Ruf des Mondsteins Band 2: White Fox - Suche nach der verborgenen Quelle Band 3: White Fox - Auf dem Pfad der Bestimmung Band 4: White Fox - Die Pforte des Schicksals Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See

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INHALT

Die Wiedergeburt

Segel setzen

Das Lied der Meerjungfrau

Die Kriegserklärung

Der Schattendieb

Die Eva-Frucht

Der Zauberwald

Die Quelle der Wiedergeburt

KAPITEL 1

Die Wiedergeburt

»Waaaaaah!« Ein lautes Weinen durchbrach die abendliche Stille in Karnel. Die Familie James hieß ihr erstes und einziges Kind willkommen: einen Jungen namens Fox.

Karnel war eine kleine Küstenstadt mit einem belebten Hafen, eingebettet zwischen Bergen und dem Meer. Die Einwohner nannten ihre Stadt liebevoll »eine am Strand vergessene Muschel« und sie war über ihre Grenzen hinaus bekannt für Fischerei und Weinberge. Dicht gedrängte Menschenmassen oder lärmende Straßen gab es in Karnel nicht, die Menschen lebten friedlich in grauen Steinhäusern und blickten auf hübsch dekorierte Schaufenster und blumenumsäumte Pflasterstraßen. Karnel wirkte wie eine wahr gewordene Märchenwelt, und wer diese kleine Stadt einmal gesehen hatte, dem blieb sie für immer in Erinnerung.

James war Betriebsleiter in einer Reederei, Emma war Lehrerin. Die Geburt ihres Sohnes Fox sorgte in Karnel für große Aufregung, denn am selben Tag kamen in der kleinen Stadt mit ihrer überschaubaren Einwohnerzahl fünf Babys zur Welt. Das Ungewöhnlichste daran war aber: Alle fünf Kinder wurden innerhalb einer einzigen Stunde geboren. Fox war der Jüngste von ihnen.

Für die Bewohner von Karnel, die im Allgemeinen ein sehr ruhiges Leben führten, reichte das für jahrelangen Gesprächsstoff.

»Fünf Babys, alles Jungen! Fast zur gleichen Zeit geboren!«

»Was für ein unglaublicher Zufall!«

»Das war Schicksal!«

»Das muss gefeiert werden!«

Zwölf Jahre später …

Fox war kein Mensch mehr, er war ein Tier. Ein Tier, das seinen buschigen Schwanz hinter sich durch die Dunkelheit zog. Vor ihm lag ein großer goldener Torbogen, der in der Finsternis einen zarten Glanz ausstrahlte und ihn mit tiefer Ehrfurcht erfüllte. Das Tor war mit verschlungenen Symbolen verziert und auf seinen beiden Torflügeln befanden sich zwei goldene Menschenskelette, die sich gegenseitig fest umarmten und auf diese Weise ein Schloss bildeten. Als die zwei Skelette Fox erblickten, bewegten sie sich knackend, drehten sich in seine Richtung und musterten ihn aus ihren dunklen Augenhöhlen.

»Da kommt was, da kommt was!«, rief das linke Skelett und stieß das rechte mit seinem Ellbogen an.

»Was für eine Überraschung«, seufzte das Skelett auf dem rechten Torflügel und klapperte mit dem Kiefer. »Nur eine Handvoll schaffen es jedes Jahr hierher. Ulan ist ein verantwortungsvoller Schutzpatron und seine Regeln sind streng.«

»Glaube, Weisheit, Freundlichkeit, Mut und Liebe, immer weniger Menschen auf der Welt besitzen diese Eigenschaften …« Das Skelett auf der linken Seite schüttelte traurig den Kopf.

»Ganz im Gegensatz zu Medusa, der Schlangenfrau, die nur machtgierige Fieslinge in die Menschenwelt schickt.«

»Dabei ist sie noch um einiges zurückhaltender als Wolfstotem Ariel. Seine Bedingungen sind nichts als oberflächlich und wahrlich keine Hürde, um durch das Tor zu gelangen.«

»Nur deshalb finden so viele Bösewichte ihren Weg in die Menschenwelt!«, brummte das rechte Skelett empört.

»Genug jetzt, ist ja nicht unsere Angelegenheit, wir erledigen hier nur unsere Arbeit.«

»Arbeit, Arbeit, du redest über nichts anderes als Arbeit! Seit ein paar Tausend Jahren hängen wir hier und hatten noch nicht ein einziges Mal Urlaub. Und wann bekommen wir endlich mal eine Gehaltserhöhung?« Das rechte Skelett zog ein weißes Taschentuch aus seinem Brustkorb, wischte sich unglücklich über die Augenhöhlen und tat so, als würde es weinen. »Und dann all die eigenartigen Wünsche, die wir erfüllen sollen. Kannst du dich noch daran erinnern, dass Ulan uns befohlen hat, ein paar von ihnen in denselben Ort zu setzen?«

»Pssst!« Das linke Skelett hielt dem rechten schnell den Mund zu. »Sei ruhig, du Dummkopf!«

»Hallo!«, begrüßte Fox die beiden Skelette lächelnd.

»Er grüßt uns! Oh weh! Der traut sich was!« Das rechte Skelett schlug überrascht beide Hände vor den Schädel und rief dann: »Hallo!«, während es Fox vorsichtig zuwinkte.

»Du Armleuchter, wir können doch nicht einfach mit ihm reden!«, schrie das linke Skelett verärgert. »Und du sagst auch noch Hallo zu ihm! Mensch, wir sollen doch Haltung bewahren!«

»Vielen Dank euch beiden, bitte öffnet das Tor!«, sagte Fox höflich.

»Nichts zu danken, sehr gern!«, hauchte das linke Skelett schüchtern und rieb sich den Schädel. Fox vermutete, dass es bestimmt rot geworden wäre, hätte es ein Gesicht gehabt. »Tritt ein!«

Die Skelette lösten ihre Arme voneinander. Fox hörte erst das Klirren eines Zahnrads, das sich in Bewegung setzte, und dann das Rasseln von Ketten, die in die Höhe glitten. Das goldene Tor öffnete sich knarrend. Unzählige goldene Lichter erstrahlten, die Fox noch in derselben Sekunde einhüllten …

Der zwölfjährige Fox öffnete die Augen. Es war spätnachts und er lag mit dem Kopf auf einem dicken Märchenbuch in seinem Bett – ein dünner Junge mit weichem silbernen Haar und einem blassen Gesicht, aus dem zwei kluge Augen blickten. Das metallische Geräusch, mit dem sich das goldene Tor geöffnet hatte, klang noch immer in seinen Ohren nach. Es war derselbe Traum, der ihn seit seiner Kindheit verfolgte: Ein Ort, den er unzählige Male besucht hatte und der so echt wirkte – zwei merkwürdige, gespenstische Tore, die beiden freundlichen Skelette, die unendliche Dunkelheit …

Die Dunkelheit – es war mitten in der Nacht, sollte das Haus nicht stockfinster sein? Da war aber ein Leuchten und als Fox’ Augen dem Licht folgten, entdeckte er eine milchweiße Gestalt, die am Fenster stand. Er sah den Rücken eines Menschen in einem weißen Gewand, doch die Ohren waren zwei spitze Fuchsohren und sein Körper strahlte in einem silbernen Schein. Moment, war das wieder ein Traum?, fragte er sich. Er hatte im Laufe der Jahre viele seltsame Träume gehabt und er wusste, bei Nacht verschwamm die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Heftig rieb er seine Augen. Die Gestalt verschwand nach und nach wie ein Nebelhauch.

Fox setzte sich auf und blickte sich um, doch die Gestalt war spurlos verschwunden. Enttäuscht legte er sich wieder ins Bett.

»Mama, ich habe letzte Nacht wieder geträumt, ich hätte mich in ein Tier verwandelt«, sagte Fox am nächsten Morgen, als er sich an den Esstisch setzte.

»War es wieder derselbe Traum? Wieder diese beiden Skelette?«, fragte Emma und blickte Fox argwöhnisch an. Sie hatte lockiges blondes Haar, dunkelbraune Augen und ein spitzes Kinn.

»Ja, warum fragst du?«

»Ach nichts, ich dachte nur, dieses Mal sind sie vielleicht von ihrem Tor gehüpft und haben dir etwas vorgetanzt oder so.«

»Mama!«

»Hast du wieder zu viel in deinen Märchenbüchern gelesen?«, fragte Emma, während sie den Haferbrei umrührte, den sie für Fox vorbereitet hatte.

»Was soll das mit meinen Märchenbüchern zu tun haben?«

»Weißt du denn nicht, dass man nachts von den Dingen träumt, über die man tagsüber nachgedacht hat?«

»Und dass ich eine silbern leuchtende Menschengestalt am Fenster gesehen habe, nachdem ich aufgewacht bin, wie erklärst du das?«

»Eine Menschengestalt?«, fragte Emma und kniff die Augen zusammen. »Fox, du sollst nicht lügen, nur um dich mit mir über irgendetwas zu streiten.«

»Ich lüge nicht, ich habe sie wirklich gesehen!«, widersprach Fox aufgebracht.

»Welches Kind gibt schon zu, dass es gerade lügt? Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nie eine silberne Gestalt gesehen, und schon gar keine, die leuchtet.«

»Man kann ja auch nur das sehen, woran man glaubt!«

»Dann sag mal, was wollte diese Gestalt von dir?«

»Ich … ich weiß nicht … Vielleicht braucht sie meine Hilfe«, meinte Fox zögernd.

»Jetzt hör aber auf, wirres Zeug zu reden. In der Schule stehen wichtige Prüfungen an und du solltest dich aufs Lernen konzentrieren«, mahnte Emma ernst, während sie Fox Milch in ein Glas goss. »Wenn du weiter so besessen von diesen Märchenbüchern bist, verwandelt sich deine silberne Gestalt heute Nacht vielleicht in eine Hexe und die verzaubert dich dann in eine Ente!«

Fox verdrehte die Augen und schob sich ohne Appetit ein Stück Marmeladenbrot in den Mund.

»Du hast also letzte Nacht schon wieder von diesem Tor geträumt?« Ein fülliger Mann mit braunen Haaren und einer Brille trat in das Esszimmer.

»Ach, ist nicht wichtig«, sagte Fox und schüttelte eilig den Kopf. Die Stimmung hatte umgeschlagen und war nun ernster als zuvor. Fox wollte nicht weiter über Träume oder irgendetwas sprechen, das mit diesem Thema zusammenhing.

»Ganz genau, dein Sohn hat gestern Nacht außerdem ein silbernes Tier am Fenster gesehen.«

»Es war eine Gestalt! Eine menschliche Gestalt!«, unterbrach Fox seine Mutter verärgert.

»Oh, Entschuldigung, eine Gestalt«, korrigierte sich Emma, doch ihrer Stimme waren Zweifel anzuhören.

»Wirklich? Bist du sicher, dass du zu dem Zeitpunkt wach warst?«, fragte James skeptisch.

»Natürlich, ich habe mir sogar die Augen gerieben!«

»Hör zu, mein Sohn«, begann James mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme. »Genau das nennt man eine Halluzination. Die vernünftige wissenschaftliche Erklärung dafür ist …«

»Das war keine Halluzination! Ich habe mir nichts eingebildet!«, widersprach Fox aufgewühlt. »Die Gestalt war echt!«

»Wenn du weiter solche Flausen im Kopf hast, fürchte ich, dass wir dich zu einem Arzt schicken müssen«, sagte James mit ernster Miene und blickte Fox lange von der Seite an, als habe er es mit einem Verrückten zu tun.

»Aber Papa, es war wirklich keine Halluzination …«, gab Fox leise zurück.

»Ich glaube dir!«, sagte eine heisere Stimme hinter Fox und ein Paar schwieliger Hände legte sich schwer auf seine Schultern. Er schreckte auf und warf dabei um ein Haar die Schale mit dem Haferbrei um. Ohne die Hände von seinen Schultern zu nehmen, trat Fox’ Großmutter an den Tisch. In ihrem von Falten durchfurchten Gesicht saß eine markante Adlernase und mit dem grauen, zum Knoten zurückgesteckten Haar und ihrem dunkelblauen Kleid ähnelte sie einer gütigen Märchenhexe.

»Vielleicht wollte dir die Gestalt ein Zeichen geben, um dich zu sich zu rufen!«, sagte Großmutter geheimnisvoll zu Fox und ihre Augen weiteten sich. »Du solltest dich auf ein neues Abenteuer vorbereiten, mein Kind!«

»Das glaube ich auch!« Fox wurde warm ums Herz und ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er zu seiner Großmutter aufblickte.

»Mutter, wie kannst du vor dem Kind nur diese abergläubischen Ideen von dir geben«, protestierte James noch in der gleichen Sekunde.

»Hahaha!« Die Großmutter brach in herzhaftes Gelächter aus. »Iss dein Frühstück und dann geh in die Schule!«, mahnte sie Fox zur Eile und streichelte mit ihren rauen Händen über seine Wangen.

Fox nahm seine Schultasche vom Stuhl und stürzte aus dem Haus. Sonnenstrahlen fielen auf sein Gesicht und ließen seinen silbernen Haarschopf funkeln. Unter dem klaren Himmel lagen die schlichten Pflasterstraßen, die zu beiden Seiten mit hübschen Stechpalmen und farbenfrohen Blumen gesäumt waren. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern hatte Fox eine Menge Zeit gekostet, also musste er den ganzen Weg zur Schule im Laufschritt zurücklegen. Beim Gedanken an seine Freunde und der Vorfreude, ihnen die merkwürdige Geschichte der vergangenen Nacht zu erzählen, überkam ihn ein Glücksgefühl.

»Guten Morgen, Frau Dora!«, rief Fox einer rundlichen Frau, die gerade eine dicke Steppdecke zum Trocknen an die Wäscheleine hängte, im Vorbeilaufen zu.

»Guten Morgen, mein Junge, bist du heute wieder zu spät aufgestanden?«, kicherte Dora, als sie sich zu ihm umdrehte.

Fox lief weiter, vorbei an den Geschäften und den hübschen, gepflegten Häusern der kleinen Stadt.

»Guten Morgen, Herr Kevin!«

»Morgen, Kleiner.« Der Alte hatte eine Pfeife im Mundwinkel und legte gerade Lederwaren vor seinem Laden aus.

Fox durchquerte mit großen Schritten das Schultor. Er warf einen Blick nach oben auf die große Uhr und stürmte über den grünen Rasen in das Hauptgebäude. In der Tür zu seinem Klassenzimmer blieb er erschrocken stehen. Frau Kura, die Mathematiklehrerin, die ihm mehr Angst einjagte als sonst irgendjemand, stand bereits am Lehrerpult. Ausgerechnet zu ihrem Unterricht hatte er auf keinen Fall zu spät kommen wollen. Frau Kura war groß, dünn und trug ihr langes kohlrabenschwarzes Haar zu einem perfekten Knoten gesteckt, aus dem sich niemals auch nur eine einzige Haarsträhne löste. In der Mitte ihres länglichen Gesichts thronte eine dicke schwarzumrandete Brille und in ihrem schwarzen Kleid und den spitzen Stöckelschuhen sah sie aus wie ein angriffslustiger Greifvogel. Frau Kura unterbrach ihren Vortrag und beobachtete ihn wie ein Tiger seine Beute. Fox tat so, als sei nichts geschehen. Er senkte den Kopf und bewegte sich so leise er konnte zu seinem Platz.

Kura stieß ein lautes Hüsteln aus: »Ähem.« Mit völlig ausdrucksloser Miene blickte sie Fox ins Gesicht – ein eindeutiges Zeichen für einen bevorstehenden Wutanfall. Die anderen Schüler beäugten Fox mitleidig und gleichzeitig voller Erwartung auf das unterhaltsame Schauspiel, das gleich Leben in das schläfrige Klassenzimmer bringen würde. Fox zog die Schultern hoch und beschleunigte sein Tempo, während er sich wünschte, er könnte sich in eine kleine Fliege verwandeln und unbemerkt zu seinem Platz schwirren.

»Stopp!«, sagte Kura eisig.

George, der neben Fox saß, brach in schadenfrohes Gelächter aus, hielt sich aber sofort den Mund zu.

»Ah, Frau Kura, guten Morgen!«, sagte Fox, als hätte er sie gerade erst entdeckt, und kratzte sich grinsend am Kopf.

»Guten Morgen?« Kura rückte mit spitzen Fingern ihre Brille zurecht und sah Fox durchdringend an. »Warum bist es jedes Mal wieder – du?«

»Ich … ich wurde durch eine Diskussion mit meinen Eltern aufgehalten …«

»Um Himmels willen, du suchst auch noch Ausreden!«, keifte Kura nervös. »So unverschämt ins Klassenzimmer zu stürmen und meinen Gedankengang zu unterbrechen, was für eine Frechheit!«

»Frau Lehrerin, ich, ach … bitte hören Sie mir doch zu …«

»Das wollte ich schon immer einmal fragen, warum kommst du nur in meinen Unterricht zu spät?«, unterbrach ihn Kura mit schriller Stimme. »Du denkst wohl, mit mir kann man alles machen?«

»Weil Ihre Stunde immer die erste ist …«

»Blödsinn!«, rief die Lehrerin mit bebender Stimme. »Glaubst du, ich weiß das nicht?«

»Weiß was?«

»Was ihr hinter meinem Rücken über mich redet!« Kura schnappte aufgebracht nach Luft. »Dass ihr euch über mich lustig macht und sagt, ich sei eine alte Hexe!« Im selben Moment brach unterdrücktes Gelächter im Klassenzimmer aus. Kuras Worte gingen in ein schluchzendes Weinen über, sie hatte die Kontrolle über ihre Gefühle verloren. Fox war verwirrt. Ihm fiel nichts Besseres ein, als vor zum Lehrerpult zu stürmen und ihr zu helfen – wie, wusste er allerdings auch nicht. Aus seinem Mund brachen Worte hervor, von denen er nie gedacht hätte, dass er sie einmal sagen würde. So schmalzig, dass ihm selbst beinahe übel wurde dabei – alles, was er wollte, war, irgendwie heil aus dieser Sache wieder herauszukommen.

Er sagte: »Frau Lehrerin, ich bitte Sie inständig um Vergebung.«

»Frau Lehrerin, der Fehler, den ich gemacht habe, ist unverzeihlich, ich bin eine Enttäuschung für meine Familie.«

»Frau Lehrerin, weinen Sie nicht, ich werde mich bessern, mich gut benehmen und ich werde beweisen, dass Ihre Mühe nicht umsonst war.« Und so weiter.

Versöhnt und überzeugt von Fox’ ehrlicher Reue nahm Kura den Unterricht wieder auf. Hin und wieder schluchzte sie plötzlich, was Fox besonders nervös machte und ihn die ganze Stunde über auf Trab hielt. Unter der harten Schale der Mathematiklehrerin lag ein zerbrechliches Herz verborgen und es war nicht das erste Mal, dass sie im Unterricht so reagierte. Auch wenn ihre Ausbrüche ein willkommener Anblick für die Schüler waren, denn unter solchen Umständen verging schnell mal die Hälfte der Unterrichtszeit.

Benommen saß Fox auf seinem Platz. Er fühlte sich, als sei er gerade Zeuge einer großen Katastrophe gewesen. George neben ihm trat mit dem Fuß gegen sein Tischbein und grinste ihn dabei hämisch an. Chris, zu seiner Rechten, ignorierte ihn und starrte auf die Lehrerin, während er eifrig Notizen machte. Die übrigen Schüler tuschelten ab und zu miteinander und blickten immer wieder spöttisch zu ihm hinüber. All das war Fox äußerst unangenehm.

Drrrrrring!

Als die Schulglocke läutete, fiel Fox ein Stein vom Herzen und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Widerwillig beendete Kura ihren Unterricht, allerdings erst, nachdem sie einen letzten Satz ergänzt hatte: Wegen der bevorstehenden Klassenarbeiten würde sie eine Stunde zusätzlichen Unterrichts für den Nachmittag ansetzen, um die verlorene Zeit nachzuholen. Das sei nur im Interesse der Schüler. Die allerdings ließen die Köpfe hängen und warfen wütende Blicke in Fox’ Richtung.

Fox stand auf und boxte George, der ihm lachend auswich. Chris sah Fox mit einem strengen Gesichtsausdruck an, als wollte er ihm vorwerfen, dass seinetwegen eine wichtige Unterrichtseinheit verschwendet worden sei. Oliver stand lächelnd neben ihnen, ohne etwas zu sagen. Chris, George und Oliver waren nicht nur Fox’ Klassenkameraden, sie waren auch seine besten Freunde, seit er denken konnte. Die vier waren im Abstand von weniger als einer Stunde zur Welt gekommen, was in ihrer kleinen Stadt vor fast dreizehn Jahren ein ziemlich großes Ereignis gewesen war. Vielleicht war genau das der Grund dafür, dass sie alle vier von Anfang an eine unerklärliche Nähe zueinander empfunden hatten. Als hätten sie sich bereits lange gekannt, noch bevor sie einander begegnet waren.

George war ein stets zu Scherzen aufgelegter Junge mit dichten Augenbrauen, großen Augen, blonden Haaren und einem Lächeln, das wärmte wie der Sonnenschein. Er liebte es zu reisen und Abenteuer zu erleben (in diesem Punkt waren Fox und er ganz einer Meinung) und er war der beste Sportler der Klasse: ein Meister in allen Ballsportarten und ein überaus talentierter Schwimmer, der bei den Landesmeisterschaften im Schulschwimmen den zweiten Platz geholt hatte.

Chris hatte ein schmales Gesicht, rote Haare, eine kleine Nase, kleine Augen und trug eine dicke runde Brille. Mit gutem Essen kannte er sich bestens aus und er besaß eine besondere Leidenschaft für Nüsse. Er war der beste Schüler seines Jahrgangs, ein fleißiger, wissbegieriger Schüler, der davon träumte, später Wissenschaftler zu werden. Seine Mitschüler betrachteten ihn als großes Vorbild. »Das genügt noch nicht, da liegt noch ein langer Weg vor mir! In letzter Zeit war ich nachlässig!«, sagte er jedes Mal, wenn er bei einer Prüfung wieder einmal als Bester abgeschnitten hatte.

Oliver war ein großer, leicht pummeliger Junge, den man einfach gernhaben musste. Er hatte graues Haar, picklige Wangen und große weiße Schneidezähne. Er redete nicht viel, aber er hatte ein besonders aufgeschlossenes und gutmütiges Wesen und liebte Pflanzen. Auf der Fensterbank seines Schlafzimmers stand eine Menge kleiner, sorgfältig gezüchteter Pflanzen und Kräuter. Später wollte er Arzt werden.

Fox hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, seinen Freunden jeden einzelnen seiner merkwürdigen Träume genau zu erzählen. Ganz anders als die Erwachsenen hatten sie ihn aber noch nie verdächtigt zu lügen oder angenommen, er bilde sich alles nur ein. In der Pause zwischen den Unterrichtsstunden winkte er Chris, George und Oliver eilig auf den Spielplatz hinter dem Schulgebäude und beschrieb ihnen die seltsamen Dinge, die in der letzten Nacht geschehen waren.

»Aber Fox«, fragte Chris skeptisch und runzelte seine Stirn, in den Händen hielt er ein dickes Physikbuch. »Bist du wirklich sicher, dass du wach warst?«

»Du klingst immer mehr wie ein Erwachsener«, brummte Fox. »Ich war hellwach und völlig klar im Kopf!«

»Das habe ich nicht gemeint, nur – im Halbschlaf verwechseln wir oft unsere Träume mit der Realität.«

»Wir könnten dieser Gestalt eine Falle stellen und sie fangen!«, schlug George vor, obwohl er nicht gerade überzeugt dabei klang. »Vorausgesetzt natürlich, dass sie heute Abend noch einmal auftaucht.«

»Du denkst also, sie wird wiederkommen?«, fragte Fox.

»Natürlich!«

»Ich würde diese Gestalt gerne einmal sehen«, sagte Oliver nachdenklich.

»Dann bringen wir Popcorn und Getränke mit und warten in Fox’ Schlafzimmer darauf, ein Wunder zu erleben!«, meinte George mit einem Grinsen.

»Red keinen Quatsch!«, schnaubte Fox wütend.

»Also Fox, verrate uns: Was glaubst du, was es ist?«, fragte Chris.

»Ich weiß es nicht, vielleicht ein Dämon? Eine Art Gottheit?«

»Ich denke, es muss ein göttliches Wesen sein. Dämonen und Teufel leuchten doch nicht, oder?«, meinte Oliver.

»Wir sollten herausfinden, was es will«, sagte George.

»Ich weiß nicht, was es von mir wollte, vielleicht meine Hilfe.«

»Offenheit ist die beste Lösung. Geh einfach darauf zu, wenn es wiederkommt«, riet ihm Chris geheimnisvoll. »Und tritt mit ihm in Kontakt.«

»In Kontakt treten?«, fragte Fox mit vor Schreck geweiteten Augen.

Im Handumdrehen waren zwei Monate vergangen. Zu Fox’ Enttäuschung war die geheimnisvolle Gestalt nicht wieder aufgetaucht. Falls sie es doch getan hatte, dann hatte er jedenfalls tief und fest geschlafen und nichts davon bemerkt. Und die Klassenarbeiten in der Schule rückten immer näher. Die Lehrer verteilten täglich Unmengen an Aufgaben und auch die Schüler waren nervös und bereiteten sich auf den Endspurt des Schuljahres vor.

Wie üblich ließen die bevorstehenden Prüfungen Chris’ Beliebtheitswerte im Klassenzimmer in schwindelerregende Höhen steigen. Die anderen Schüler belagerten ihn nach dem Unterricht mit allen möglichen Fragen, die er geduldig beantwortete.

Auch Fox und George stritten sich während der Prüfungen regelmäßig um Chris. Sie drängelten sich so nah wie möglich neben ihn und versuchten, einen Blick auf seinen Prüfungsbogen zu werfen, wenn die Lehrer gerade nicht aufpassten (seine Antworten zu sehen, war, als hätte man einen Lösungsbogen vor sich). Oliver blieb von alldem völlig unbeeindruckt und meinte nur: »Seid doch ein bisschen vorsichtiger, damit ihr nicht erwischt werdet.«

An diesem Nachmittag saßen sie über der letzten Klassenarbeit – Mathematik. Fox schlug den Prüfungsbogen auf und auf seinem Gesicht machte sich Ratlosigkeit breit. Sein Groll gegen Frau Kura hatte in ihm großen Widerstand ausgelöst, sodass sich seine Mathe-Noten seit Jahren in einem Bereich bewegten, in dem er entweder gerade so durchkam oder eben knapp nicht. So schnell er konnte, löste er die paar Aufgaben, die er beherrschte, und streckte dann seinen Hals lang wie eine Giraffe zu Chris hinüber. Sein Prüfungsbogen war über und über mit winzigen Zahlen beschrieben, sodass Fox die Antworten kaum erkennen konnte.

»Ähem«, hüstelte Kura am Lehrerpult und ließ ihren Blick streng über die Klasse schweifen. Sie war die Aufsichtsperson für diese Prüfung.

Fox zog seinen Kopf vorsichtig wieder ein und täuschte eine Bewegung vor – erst nach links, dann nach rechts –, die so aussehen sollte, als entspanne er seine Schulter. Er wartete kurz ab, bevor er seinen Hals betont lässig zu Chris hinüberreckte. Im selben Moment landete ein kleiner gefalteter Zettel leise raschelnd auf seinem Tisch. Obwohl er sich darüber heimlich freute, setzte er eine nachdenkliche Miene auf. Dann stupste er den Zettel unauffällig mit einem Stift näher an sich heran und nahm ihn in die Hand. Seine kleine Aufführung war fehlerfrei abgelaufen, davon war Fox überzeugt. Bestimmt hatte jemand einen Zettel mit den richtigen Antworten versehentlich in die falsche Richtung und damit auf seinen Tisch geworfen. Er suchte gar nicht erst nach dem Absender, sondern öffnete den Papierstreifen so schnell er konnte. Als er darauf eine allzu vertraute, Furcht einflößende Handschrift entdeckte, rutschte ihm das Herz in die Hose:

Wenn ich du wäre, würde ich besser auf meine Halswirbelsäule achten.

Zutiefst erschrocken sah er in Kuras Richtung – sie starrte ihn durch ihre schwarze Brille grimmig an, wie ein Raubvogel auf der Jagd nach seiner Beute.

»Fox!« Chris, mit einem dicken Stapel Bücher unter dem Arm, hatte Fox schnell eingeholt, nachdem dieser enttäuscht aus dem Prüfungszimmer gegangen war. »Ich glaube, ich habe ein paar Hinweise gefunden!«

»Hinweise? Was für Hinweise?«

»Die weiße Gestalt, die du letztes Mal gesehen hast«, erinnerte Chris ihn ungeduldig. »Ich habe in letzter Zeit eine Menge Bücher mit alten Volksmärchen gelesen. Was du gesehen hast, könnte ein Fuchsgeist gewesen sein.«

»Ein Fuchsgeist?«

»Ja, eine Art Schutzpatron der Tiere. In den Büchern werden Fuchsgeister genauso beschrieben wie die weiße Gestalt, die du gesehen hast. Sie haben einen menschlichen Körper, aber das Gesicht eines Fuchses.«

»Was ist das, ein Schutzpatron der Tiere?«

»Ein Anführer der Tiere, der das Wesen der Natur in sich aufgenommen und dadurch übernatürliche Fähigkeiten entwickelt hat. Schutzpatrone erscheinen nicht oft, aber sie wachen über ihr Tiervolk und verfügen über magische Kräfte.«

»Welche Schutzpatrone gibt es denn?«, fragte Fox neugierig.

»Ich denke, fast alle Tierarten haben ihren eigenen Schutzpatron. Aber es gibt nur ein paar, die in den Mythen und Märchen häufig vorkommen. Man nennt sie Fuchsgeist, Jadehase, Bärengeist, Schlangenfrau, Wolfstotem, Affenkönig, Katzendämon und Vogelkönig … Das sind nur ein paar davon.«

»Das, was ich in der Nacht gesehen habe, war also der Fuchsgeist?«

»Ja, aber das ist nur eine Vermutung«, sagte Chris und verzog nachdenklich das Gesicht.

»Aber sind das nicht nur Mythen und Legenden?«, fragte Fox zögernd.

»Stimmt, aber die Sache ist die«, flüsterte Chris bedeutungsvoll, »wie viele normale Menschen sehen schon in der Nacht seltsame Gestalten?«

Abends kam Fox mit einem mulmigen Gefühl nach Hause. Die besorgten Worte seiner Mutter im Wohnzimmer ignorierte er und ging stattdessen schnell in sein eigenes Zimmer, wo er kopfüber ins Bett fiel und weitergrübelte, ob er die letzte Prüfung bestanden haben könnte. Um Mitternacht würde sein dreizehnter Geburtstag beginnen, so wie auch der von George, Chris und Oliver. Die letzten Tage über hatte er sich nach diesem Tag gesehnt und sich darauf gefreut, ihn mit seinen Freunden zu feiern. Doch danach war ihm jetzt nicht mehr zumute.

Das klare Mondlicht fiel durch das Fenster in Fox’ gemütliches Schlafzimmer, auf die unzähligen Märchenbücher, das Spielzeug in seinem Bücherregal und auf sein Bett. Fox starrte den Vollmond an und dachte darüber nach, was Chris gesagt hatte: War die weiße Gestalt wirklich ein Fuchsgeist gewesen? Eine Märchenfigur? Warum sollte sie gerade zu ihm kommen? Warum ist sie nur ein einziges Mal gekommen – oder hatte er sich das Ganze doch bloß eingebildet? Die Erwachsenen vermuteten das schon längst, aber er wollte es einfach nicht zugeben. Trotz allem war er neugierig. Aber es dauerte nicht lange, da war er auch schon mit offenem Mund an sein Kissen gelehnt eingeschlafen …

Fox folgte einem gleißenden Sonnenstrahl in das tiefblaue Meer, in dem goldene Lichtpunkte über farbenprächtigen Korallen tanzten. Weiße Tierknochen lagen einsam auf dem Meeresgrund und ein paar rot-weiße Anemonenfische tummelten sich fröhlich zwischen dem Gerippe. Unter dem Schädel lag ein goldglänzender Gegenstand zur Hälfte im weißen Sand begraben. Die andere Hälfte funkelte gut sichtbar im Sonnenlicht, sie war mit Rubinen und Saphiren besetzt.

In diesem Moment näherte sich langsam ein dunkler Schatten, der die kleinen Fische aufschreckte und vertrieb. Ein Paar blutleerer weißer Hände schob den Schädel sanft beiseite, zog den goldenen Gegenstand vorsichtig aus dem Meeressand und hielt ihn gegen das Licht.

»Das ist es!«, stieß eine heisere Stimme aufgeregt hervor. »Mutter, ich habe es gefunden! Unsere Zeit ist gekommen!« Ein kreischendes Lachen ertönte und verursachte unzählige Luftblasen. Sie verdeckten Fox die Sicht und er schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender.

Fox setzte sich mit einem Ruck auf. Über sein Gesicht wanderte ein unregelmäßig leuchtendes blaues Licht. Seine Kleidung war schweißnass. Er atmete schwer, als sei er gerade wirklich vom Meeresgrund aufgetaucht. Was hatte diese bösartige Kreatur dort gefunden? Was war das für eine goldglitzernde Halskette? Wo hatte er diesen Schmuck schon einmal gesehen? Zitternd ließ er seinen Blick durch das Schlafzimmer schweifen.

Vor dem Fenster tanzte ein blaues Licht, zauberhaft wie ein riesiger leuchtender Vorhang. Ein Polarlicht! War das nicht eine Himmelserscheinung, die nur am Nordpol zu sehen war? Fox war sich nicht sicher, ob er nicht doch noch träumte.

Am Fenster stand eine silberne Gestalt. Sie war wieder da! Fox war erstaunt und gleichzeitig nervös, denn er erinnerte sich an Chris’ Worte. Er musste etwas tun.

Fox nahm all seinen Mut zusammen. »Wer bist du?«, fragte er mit lauter Stimme.

Die weiße Gestalt blieb stumm. Sie stand reglos mit dem Rücken zu Fox, als würde sie die Sterne betrachten.

Einen Augenblick später legte sie sanft eine pelzige Hand auf die Fensterbank. Dann geschah etwas Unglaubliches: Wie auf Kommando schnellte das Polarlicht vor dem Fenster zwischen die Finger der Hand und in der Luft blieb nur ein kleiner Sternhaufen zurück. Unterhalb der Hand verfestigte sich nach und nach eine Form, die ein helles blaues Licht ausstrahlte.

Fox stand auf und ging vorsichtig darauf zu. Im selben Moment wurde die weiße Gestalt immer durchsichtiger, bis sie kaum noch zu erkennen war. Hastig streckte Fox seine Finger nach ihr aus, doch er griff durch ihren Körper hindurch ins Leere. Er war enttäuscht.

Sein Blick fiel auf das Fensterbrett, auf dem plötzlich ein prächtiger Edelstein erschien. Es war ein Saphir, in dessen Mitte eine helle Mondsichel prangte. Noch nie hatte er einen so wunderschönen Edelstein gesehen. Er war groß wie eine Faust und blau wie das Meer, klar wie der Himmel und funkelnd wie ein Stern. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich mit diesem Stein verbunden wie mit einem alten Freund. Er konnte nicht anders, als seine Hand danach auszustrecken und ihn aufzuheben.

In der Sekunde, in der Fox den Saphir berührte, durchfuhr ihn ein heftiger Impuls und in seinem Kopf explodierten unzählige Funken. Vor seinen Augen zogen wie in einem Zeitraffer bunte Erinnerungsfetzen vorbei. Sein Kopf schmerzte und Fox war benommen, während ein Bild nach dem anderen aufblitzte.

Seine Mutter, die ihm in ihrem Bau in der Arktis Geschichten erzählte. Seine verzweifelte Situation bei der Begegnung mit Joran und Karel im Schneesturm. Die Freude und die Erleichterung, nachdem Poldi ihn gerettet hatte. Der alte Opa Schildkröt und seine Geheimnisse. Das Glück, das er empfunden hatte, als er das erste Mal das Geheimnis des Mondsteins entdeckt hatte. Wie sehr ihn die Begegnung mit der Familie des Waldhüters berührt hatte. Die Kraft, die es ihn gekostet hatte, das Bündel mit dem Säugling in seinem Maul in Sicherheit zu bringen. Die Baumhöhle, in der Anselms Familie im Wald lebte. Der Trick, mit dem sie dem Wildpferd Kassia im Kviktal geholfen hatten. Der heilige Baum des Kaninchenstamms, die schockierende Zeremonie und der unbarmherzige Prozess im Gerichtssaal des Kegelbergs. Die Freude und die Enttäuschung bei der ersten Begegnung mit seinem verloren geglaubten Bruder. Makarovs düstere Warnung unter dem großen Felsen. Patrick und seine Anti-Menschen-Allianz. Emilys Lächeln, bevor sie loslief, um den Jäger abzulenken. Der Trubel des Schönheitswettbewerbs. Ning, der plötzlich im Nebel auftauchte. Ihre fantastische Reise durch den Zauberwald. Die atemberaubende Flucht vor den Wölfen. Der allwissende Jurek im Tal des Propheten vom Berg. Die Eitelkeit der hinterhältigen Katze Opal in der Küstenstadt. Das überraschende Wiedersehen mit Poldi. Wie sie zu fünft auf der Fuchsinsel gelandet waren. Das aufwühlende Gefühl, endlich das Halsband der Wiedergeburt anzulegen, und der erbitterte Kampf, der gerade stattgefunden hatte …

Fox rang nach Luft. Wie betäubt fand er sich auf dem kalten Fußboden wieder. Wie lange mochte er hier gelegen haben? Mühsam richtete er sich auf, seine Arme zitterten. Sorgfältig betrachtete Fox seine Hände. Waren es die Hände eines Menschen? Benommen trat er vor den Spiegel neben der Tür und blickte auf einen silberhaarigen, blassen Jungen, der ihn verwirrt anstarrte. »Bist du … Dilah?«

KAPITEL 2

Segel setzen

Fox fühlte etwas, das sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Er hatte nicht nur zwei Jahre einfach so dazugewonnen – sein Leben war nun untrennbar mit dem eines Polarfuchses namens Dilah verbunden. Er war