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Der Fluch von Krum Endlich ist es so weit! Der junge Waschbär Teddy verlässt seine Heimat, die Ruinenstadt Weiya, um ein Abenteuer zu erleben. Schon bald gelangt er in ein abgelegenes Dorf, in dem ausschließlich uralte Dachse leben. Alle Bewohner wurden von einem mächtigen Buch verflucht! Gemeinsam mit seinem neuen Freund, dem Dachs Kevy, will Teddy den Bann brechen. Nur im Zauberwald können die beiden ein Heilmittel finden, doch die Reise dorthin birgt viele Gefahren … Eine spannende Geschichte aus der Welt von White Fox Ein großes Tierfantasy-Abenteuer ab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestseller-Autor Jiatong Chen. In der Vorgeschichte von White Fox treffen Coolness und Magie auf Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um einen neugierigen Waschbären, eine große Mission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans von Woodwalkers und Animox. Der Titel ist bei Antolin gelistet. Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See
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Seitenzahl: 297
INHALT
In den Ruinen
Eichendorf
Der Tanzball
Das Haus der Lämmer
Das verwunschene Dorf
Der Bettler und der König
Das Buch von Krum
Der Weltkongress der Tierzivilisationen
Der Zauberwald
Die Quelle des Lebens
Der Mondpalast
Der Kampf um Weiya
KAPITEL 1
In den Ruinen
An einem weit, weit entfernten Ort ragte ein mächtiges Gebirge hoch in den blauen Himmel hinauf. In der Mitte dieses Gebirges erhob sich ein schwarzer Felsenberg. Er sah anders aus als die anderen Berge rundherum und seine Felswände waren besonders steil und sehr glatt. Hoch oben in einer solchen Felswand befand sich ein kleiner Höhleneingang. Dieser war kreisrund, als hätte jemand ein Fenster in den Berg gehauen. Ein Paar braungrauer Pfoten lugte aus der Höhle hervor und dahinter eine dunkle Schnauze, dünne weiße Schnurrhaare und zwei glänzende schwarze Augen. Ebenso ein Paar weißer Augenbrauen, große runde Ohren, ein pelziger, molliger Körper und ein schwarz-weiß-geringelter Schweif. Das Tier, das aus dem Höhlenfenster spähte, war ein niedlicher kleiner Waschbär. Er ist die Hauptfigur unserer Geschichte — Teddy.
Teddy starrte auf eine Wegkreuzung in der Ferne und schien gespannt auf etwas zu warten. Das Höhlenfenster war ein Ausguck, der noch aus den uralten Zeiten der Stadt Weiya stammte. Von hier aus hatten die Waschbären Ausschau gehalten, doch nun war die kleine Grotte bereits seit Jahrhunderten verfallen und konnte jederzeit einstürzen. Kein anderer Waschbär außer Teddy nahm die Gefahr auf sich, hier heraufzuklettern. In den letzten beiden Wochen hatte er das sehr oft getan. Wann immer er eine freie Minute hatte, kletterte er in den Ausguck und hielt dort Wache.
Weiya, das uralte Königreich der Waschbären, hatte einmal beachtlichen Einfluss auf den Fortschritt der alten Tierzivilisationen gehabt. Doch dann wurde Edward, der König der Waschbären und Herrscher von Weiya, Zeuge eines Verbrechens. Er beobachtete eine Schandtat des Wolfstotems Ariel im Zauberwald. Vor über achthundert Jahren verschwand sein Königreich daraufhin plötzlich wie vom Erdboden: Seitdem existierte das Reich Weiya als verlorene Zivilisation nur noch in Legenden. Zahllose Archäologen suchten nach Spuren, jedoch erfolglos. Was mit Weiya geschehen war, blieb eines der größten ungelösten Rätsel der Tiergeschichte. Niemand ahnte, dass die Ruinen von Weiya genau hier, inmitten dieses hohen Berges, versteckt lagen.
Teddy lehnte sich aus dem Ausguck. Still betrachtete er weiter den leeren Pfad, der sich zwischen den Felsen den Berg hinabschlängelte. Die letzten Tage hatten keine Veränderung gebracht. Enttäuscht ließ er den Kopf sinken und stieg die bröckelige Steinwendeltreppe wieder hinab. Die Decke über der Treppe war bereits zur Hälfte eingestürzt und die gesamte Höhle war mit dickem Steinstaub bedeckt. In der dunklen Kälte tastete Teddy sich langsam an einer rauen Felswand entlang, bis er ein Knacken hörte. Er hielt an, doch — zu spät! Die Stufe unter ihm gab nach und er kullerte die Treppe hinunter. Schützend hielt er die Vorderpfoten über den Kopf und rollte sich zu einem kleinen Fellknäuel zusammen. Immer, immer weiter purzelte er die Steinstufen hinunter, bis er dumpf gegen eine Felsmauer prallte. So blieb er liegen, alle viere von sich gestreckt.
Teddy sah Sternchen und spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper. Es dauerte eine Zeit lang, bis er wieder aufstehen und sich den Staub aus dem Fell klopfen konnte. Nur seinem flauschigen Fell und der dicken Fettschicht darunter war es zu verdanken, dass er den Sturz überlebt hatte. Er richtete sich auf und trat in einen dunklen Gang, in dem an beiden Seiten kleine Türen in die Felsmauern hineinführten. Er folgte dem langen Steinkorridor bis ans Ende. Dort öffnete sich der Gang zu einem sehr großen Platz, von dem aus der Himmel zu sehen war. Der gesamte Berg war ausgehöhlt wie ein riesiger Steinzylinder. Die Felswände im Inneren des Berges waren so glatt, als seien sie poliert worden. Unzählige bogenförmige Türen, die mit antiken Schnitzereien verziert waren, und viele runde Fenster schmückten die Felswände. An einer dieser Wände war eine hervorspringende Reihe zweistöckiger Steinhäuser gebaut, deren Stockwerke durch Steintreppen verbunden waren. Einige der Häuschen waren eingestürzt und mit dickem Staub bedeckt. Auch die Treppen waren teilweise kaputt und verwittert. Das war die »Stadt in den Bergen«, vergessen vom Rest der Welt: Weiya.
Diese Stadt war ein gigantisches Bauwerk, dessen Vollendung Jahre gedauert hatte. Die Bevölkerung von Weiya war von Natur aus so geschickt bei der Bearbeitung von Stein, dass ihre Steinmetzkunst bereits vor tausend Jahren den Höhepunkt in der gesamten Tiergeschichte erreicht hatte. Durch den Berg verliefen die unterschiedlichsten Durchgänge: Einige dienten der Belüftung und um das Wasser ablaufen zu lassen, durch andere Gänge waren Steine transportiert worden, um die oberen Stockwerke der Steinhütten zu bauen. Dann gab es noch Gänge, durch die man besonders schnell an die Oberfläche gelangte. Doch da sie so alt waren, waren die meisten Gänge baufällig und nicht mehr benutzbar.
König Edward hatte die große Katastrophe vorhergesehen, die seinem Volk durch die Rache des Wolfstotems bevorstand. Er war es gewesen, der den Bau eines riesigen unterirdischen Palastes befohlen hatte. Er hatte seinen Steinmetzen außerdem angeordnet, die Kultur und die Geschichte Weiyas in eine riesige Steintafel einzugravieren. Auch das Geheimnis der Quelle der Unsterblichkeit ließ er auf dieser Steintafel verewigen. Als das Wolfsrudel Weiya schließlich angriff, versteckte sich ein Teil des Volkes in dem unterirdischen Palast. Weiya fiel, doch seine Nachkommen überlebten. Sie folgten dem letzten Wunsch ihres Königs und teilten sich in sieben Gruppen auf. Diese zogen in sieben verschiedene Richtungen los und errichteten an sieben versteckten Orten sieben Steinsäulen. Auf diesen Steinsäulen hinterließen sie Hinweise, die künftige Generationen von Tieren auf der Suche nach der Wahrheit nach Weiya führen sollten. Die Waschbären, die bis zum heutigen Tage die Ruinen von Weiya bewohnten, waren die Nachkommen dieser Steinmetze. Sie waren die Nachfahren der Überlebenden der großen Zivilisation von Weiya.
»Warst du schon wieder auf dem Ausguck, Teddy?«
Teddy trat aus dem Steinkorridor hervor und hob überrascht den Kopf, als er die raue, freundliche Stimme hörte. Auf dem weitläufigen Platz stand ein alter Waschbär: Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah Teddy besorgt an. Das Fell des alten Waschbären war gelblich und seine weißen Augenbrauen hingen buschig nach unten. Das war Brian, der Älteste der Waschbären von Weiya.
»Ja«, antwortete Teddy so leise, dass seine Stimme kaum zu hören war.
»Du wartest also immer noch auf ihn?«, fragte Brian.
Teddy ließ den Kopf hängen und starrte seine Pfoten an, als hätte er plötzlich etwas besonders Interessantes daran entdeckt.
»Keine Sorge, mein Kind, er kommt bestimmt noch«, sagte Brian und lächelte ihn tröstend an.
Seit Rubion, Jurek und Pombur im letzten Jahr den Hinweisen der Steintafeln bis zu den Ruinen von Weiya gefolgt waren, himmelte Teddy Rubion an. Das Wiesel war der erste Fremde gewesen, den er kennenlernte — der Erste, der ihn liebevoll in die Arme genommen hatte. In der Zeit, in der sie sich im unterirdischen Palast vor den Wölfen versteckten, hatte sich Rubion um ihn gekümmert und mit ihm gespielt. Seit dem Tod seiner Eltern hatte sich Teddy nicht mehr so glücklich und geliebt gefühlt. In Teddys Augen war Rubion weise, fürsorglich und voller Humor. Besonders nach seiner Auseinandersetzung mit dem hinterlistigen Dr.Mast erschien Rubion noch deutlicher als ehrlicher Held. Teddy wünschte sich sehr, irgendwann einmal genauso wie Rubion zu sein. Er war sein Vorbild.
Rubion hatte bei seiner Abreise versprochen, Teddy besuchen zu kommen. Ein Jahr war inzwischen verflogen und er hatte sich nicht ein einziges Mal blicken lassen. Gerade als Teddy die Hoffnung schon aufgeben wollte, erreichte ihn eine Riesenüberraschung — ein Brief von Rubion. Eine Taube hatte ihn gebracht, erinnerte sich Teddy, die keine Sekunde lang aufgehört hatte zu gurren. Sie machte den Eindruck, als hätte sie nur widerwillig den Boten gespielt, und Teddy war sich überhaupt nicht sicher, wie sie überhaupt nach Weiya gefunden hatte. Die Handschrift auf dem Brief war unverkennbar Rubions:
Mein lieber kleiner Teddy,
vermisst du deinen Onkel Rubion? Haha! Ich vermisse dich jedenfalls sehr und frage mich, wie es dir in Weiya geht?
Es tut mir leid, dass ich dir erst jetzt schreibe. Seit meiner Rückkehr nach Eichendorf geht es in meinem Leben nur noch drunter und drüber. Ein ruhiges Leben auf dem Land habe ich mir vorgestellt, aber das Schicksal hat etwas anderes mit mir vor. Stattdessen werde ich nun bei jeder größeren Angelegenheit in Eichendorf um Rat gebeten. Selbst wenn irgendwer ein Kind bekommt, fragt man mich nach einem passenden Namen! Ich bin also ständig ein wenig überfordert.
Das Dorfkomitee hat mich zum leitenden Berater berufen. Das bedeutet, dass ich mir Ideen überlegen muss, wie sich das Dorf am besten voranbringen lässt. Außerdem wurde ich zum Nachfolger von Funès und zum Präsidenten der Feinschmeckergesellschaft ernannt. Deshalb muss ich bei allen möglichen Kochwettbewerben als Schiedsrichter auftreten. Vor Kurzem habe ich auch einen Aufsatz mit dem Titel Über das Verhältnis zwischen tierischer und menschlicher Zivilisation veröffentlicht, der in der Tierzivilisationsforschung großes Aufsehen erregt hat. Die Gesellschaft zum Schutz des Erbes alter Tierzivilisationen hat über Nacht eine Dringlichkeitssitzung abgehalten, in der einstimmig beschlossen wurde, mich als Mitglied aufzunehmen. Kurz darauf wurde ich außerdem in den Vorstand der Internationalen Organisation zur Erforschung der alten Tiersprachen berufen. Du siehst, ich habe nur mehr in der Nacht Zeit, um an meiner Allgemeinen Geschichte der Tiere und Rubions Gesammelten Gedichten zu arbeiten.
Ich würde dich und die anderen so gerne wieder in den Ruinen von Weiya besuchen. Aber bei den vielen Verpflichtungen ist das zurzeit leider unmöglich. Bevor ich wieder auf Reisen gehe, muss ich erst einmal den Kopf freibekommen und einige Projekte abschließen, die mir am Herzen liegen. Und wenn ein Tier schon einmal solche Abenteuer erlebt hat wie ich, dann interessiert es sich nicht ganz so schnell wieder für eine neue Reise.
Sei deshalb bitte nicht traurig, Teddy, ich habe trotzdem gute Nachrichten für dich. Gerade habe ich einen Brief an Pombur geschrieben. Er hat mich wissen lassen, dass Lolas Angelegenheiten nun geregelt sind. (Diese Wildschweinfrau hat mich mehr Nerven gekostet als mein Erzfeind Dr.Mast). Er kann sich also wieder um sein eigenes Leben kümmern. Die Kulinarik in den Schwarzwindbergen findet er immer noch enttäuschend — kurz gesagt, er erträgt das Essen dort nicht mehr und plant einen Besuch in Eichendorf. Er will sich dabei wieder einmal von mir bekochen lassen (ich nehme an, das ist das eigentliche Ziel seiner Reise). Zufälligerweise soll in Eichendorf diesen Herbst ein großes Erntedankfest stattfinden. Verschiedene Veranstaltungen und ein Ball sind geplant. Ich möchte Pombur und dich herzlich einladen! Ihr könnt beide eine Zeit lang bei mir in Eichendorf wohnen. Ich habe Pombur also gebeten, dich in Weiya abzuholen und dann nach Eichendorf zu begleiten. Wenn alles glatt läuft, sollte er in etwa einem Monat in Weiya ankommen. Das heißt, wir sehen uns bald wieder!
Wenn ich nur daran denke, werde ich schon ganz aufgeregt!
Wie steht es denn um Brians Gesundheit? Und wie geht es mit dem Wiederaufbau von Weiya voran? Lassen euch die Wölfe in Ruhe? Ich habe so viele Fragen an dich! Aber am besten ist, wir sprechen persönlich über alles, wenn wir uns wiedersehen.
Dein Dichter, Gelehrter, Abenteurer und dich ewig lieb habender
Rubion
Dieser Brief hatte Teddy in höchste Aufregung versetzt. Er sehnte den Tag von Pomburs Ankunft herbei. Seit er den Brief erhalten hatte, stand er erwartungsvoll bereit — aber Pombur tauchte nicht auf. Besorgt nahm Teddy Tag für Tag den gefährlichen Aufstieg zum höchsten Aussichtspunkt auf sich. Er hoffte, Pombur dabei zu erspähen, wie er den Pfad heraufwanderte. Doch zwei Wochen waren vergangen und von Pombur fehlte immer noch jede Spur. Teddy konnte nicht anders, er war enttäuscht. Er verstand nicht, warum Pombur nicht kam. War Pombur etwas geschehen? Was mochte ihn nur aufgehalten haben? Oder hatte er einfach vergessen, ihn abzuholen, und war direkt nach Eichendorf gegangen?
Die Nacht brach an. Ein Sichelmond hing zwischen den funkelnden Sternen. Aus den Türritzen und Fenstern in den Steinmauern der Ruinenstadt schien schwach grünes Licht. Es stammte von fetten cremeweißen Pilzen, die in dichten Grüppchen wuchsen. Auf ihren Hüten waren bei genauerem Hinsehen unregelmäßige Punkte zu entdecken. Diese einzigartigen Pilze hatte König Edwards Expeditionstrupp aus dem Zauberwald mitgebracht und seitdem wurden sie in Weiya angebaut. Sie schmeckten köstlich, waren gesund und überdies sehr nahrhaft. Tagsüber waren sie völlig unauffällig, sobald es dunkel wurde, leuchteten sie jedoch grün. Die Waschbären verwendeten sie deshalb auch als Lichtquelle und hatten ihnen den Namen »Irrlichtpilze« gegeben.
Waschbären sind nachtaktive Tiere. Das bedeutet, dass sie tagsüber ruhen und nachts herauskommen, um zu arbeiten. Auch die Waschbären in den Ruinen von Weiya standen abends auf. Dann liefen sie geschäftig in den Steinhäuschen umher, kletterten auf und ab, lockerten die Erde, gossen die Irrlichtpilze und brachten reife Pilze zum Trocknen auf den Hauptplatz. An diesem Abend marschierte Brian gefolgt von Teddy und einem halben Dutzend anderer kleiner Waschbären — jeder mit einem Pilz in den Pfoten — über den Platz. Von weiter weg war von ihnen nicht mehr zu sehen als eine Reihe grüner Lichter in der Dunkelheit. Brian führte sie einen abgelegenen, gewundenen Gang entlang, der immer schmaler wurde, bis er schließlich vor einer Steinmauer endete. Als Brian auf einen unscheinbaren Ziegelstein in der Ecke drückte, drehte sich die Steinmauer mit einem lauten Rumpeln. Kaum einen Augenblick später öffnete sich vor ihnen ein dunkler Gang.
Im Gänsemarsch stiegen Brian und die kleinen Waschbären eine steinerne Wendeltreppe hinab. Mit jedem Schritt wurde es um sie herum dunkler und kühler. Die Stufen führten sie in eine unterirdische Höhle. Unzählige Stalaktiten hingen von der hohen Decke herab und zu ihren Füßen wuchsen vereinzelt dicke Irrlichtpilze, deren mattes Licht wie ein Himmel grüner Sterne erstrahlte. Vor ihnen befand sich eine schmale Steintreppe, die von einer Reihe hoher Steinsäulen getragen wurde. Das erweckte den Anschein, als würde sie halb in der Luft schwebend in die Dunkelheit führen.
Sie gelangten in ein Labyrinth von Höhlen und Gängen. Überall warfen große und kleine Irrlichtpilze ihr schwaches grünes Licht auf verwitterte Steinstatuen, die Waschbären darstellten. Nach einiger Zeit mündete ihr Pfad in eine breite, flache Straße. Ein halb verfallenes Steintor führte schließlich in eine weitläufige Grotte.
Die Luft dort war feucht und stickig. In der Mitte erhob sich eine würfelförmige Steintafel, die auf allen vier Seiten dicht mit silbern schimmernden Schriftzeichen überzogen war — dieser Text war das letzte Vermächtnis der alten Zivilisation von Weiya. Auf dem Platz um die Steintafel herum standen Tausende Waschbär-Statuen. Ihre ausdruckslosen Gesichter waren der Steintafel zugewandt und ihre Hände waren gefaltet wie ein aufgebrochener Samen, aus dem eine Pflanze sprießt. Sie hatten alle die gleiche Körperhaltung und sahen beinahe echt aus, so, als würden sie gerade an einer feierlichen Zeremonie teilnehmen. Bis auf die Tatsache, dass sie bereits sehr alt waren und dichtes Moos zwischen ihren Sprüngen und Rissen hervorwuchs.
Brian führte die kleinen Waschbären an den vielen Statuen vorbei bis zum Fuß der Steintafel. Dort legte er die Irrlichtpilze auf den Boden und faltete die Pfoten. Genau wie die Statuen hob er ehrfürchtig den Blick: Die steinerne Tafel zeigte einen wichtigen Gesetzestext — den Kodex von Weiya —, einen astronomischen Kalender und weitere Texte zur Geschichte und Literatur der Zivilisation ihrer Vorfahren. Auch ein Bericht von König Edward aus dem Zauberwald war auf der Tafel zu finden, bis hin zur Schilderung der Katastrophe, die Weiya am Ende ereilt hatte. Als der Fuchsprophet Jurek ein Jahr zuvor Rubion hier das alte Animalesisch gelehrt hatte, hatte auch Brian mit den beiden gelernt. Um die Kultur und die Geschichte Weiyas an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, brachte Brian die jungen Waschbären jeden Tag hierher, um ihnen mithilfe der Tafel altes Animalesisch und anderes wichtiges Wissen der alten Tierkultur beizubringen.
Die Verehrung der Sterne war unter der nachtaktiven Bevölkerung von Weiya und ihren Nachkommen tief verwurzelt. Der astronomische Kalender auf der Steintafel war ausgeklügelt und zeigte nicht nur die verschiedenen Himmelskörper und ihre Bahnen im Detail, er stellte auch verschiedene Sternkonstellationen dar. Teddy war ein kluger Kopf und es hatte nicht lange gedauert, da beherrschte auch er das alte Animalesisch. Ganz besonders aber interessierte er sich für Astrologie. Dank Brians Unterricht war er bereits in der Lage, die Winkel und Positionen des Tierkreises am Nachthimmel zu bestimmen.
»Kinder, heute studieren wir ein zwölfhundert Jahre altes Gedicht von Nichelle, der großen Dichterin von Weiya«, sagte Brian, seinen Rücken der Steintafel zugewandt. Die feine Schrift hinter ihm leuchtete silbrig und spiegelte sich in seinem lächelnden Gesicht.
Die jungen Waschbären setzten sich in einem Halbkreis um ihn herum auf den Boden.
»Wie heißt das Gedicht?«, fragte ein junger Waschbär erwartungsvoll.
»Heimat«, sagte Brian feierlich und deutete dabei auf einen Text in der linken unteren Ecke der Tafel.
»Ach nein, das ist öde!«
»Genau, das ist langweilig!«
»Das will ich nicht lernen!«
Die kleinen Waschbären riefen aufgeregt durcheinander.
»Dieses Gedicht solltet ihr nicht unterschätzen!«, mahnte Brian. »Die klassische Weiyanische Literatur ist sehr vielseitig und kann sehr mitreißend sein. Vor tausend Jahren war sie führend und auf ihre Weise vielen anderen Tierliteraturen weit voraus. Dieses Gedicht von Nichelle beispielsweise hat eine besondere Form: Man nennt sie Echo-Poesie. Eine Gedichtform, die Nichelle selbst erfunden hat. Eine sehr seltene Versform in jener Zeit.«
»Echo-Poesie?«, fragten die kleinen Waschbären wie aus einem Mund.
»Genau. Zur Echo-Poesie gehören lautmalerische Gedichte, die sehr einprägsam sind. Sie klingen wie das Murmeln einer Person, die auf Reisen ist und vor sich hin spaziert, oder auch wie philosophische Selbstgespräche«, erklärte Brian geduldig. »Dieses bestimmte Gedicht war von den Echos inspiriert, die man in einem Tal hört, wenn man singt. Nichelle hatte Weiya gerade verlassen, um die Welt zu bereisen. In einem weiten Tal hielt sie an und entdeckte, dass die Form der Berge dort einem liegenden Waschbären ähnelte. Das weckte ihr Heimweh. Und so entstand dieses weltberühmte Gedicht …«
»Aua!«, quiekte ein Waschbärkind und rieb sich den schmerzenden Hintern. Sein Sitznachbar hatte an seinem Schweif gezogen und lachte nun laut hinter vorgehaltenen Pfoten.
»Lasst den Unfug!«, schimpfte Brian. »Ich lese euch jetzt das Gedicht vor! Also …« Er drehte sich um, räusperte sich und begann dann, mit viel Gefühl vorzulesen:
Heimat
Heimat, Heimat, Heimat
meine Heimat, Heimat, Heimat …
Ich will nach Hause, nach Hause,
nach Hause, nach Hause …
Bin ich hungrig und durstig, so denk ich zuerst an
zu Hause, zu Hause, zu Hause …
Bin ich müde, denk ich an zu Hause, zu Hause, zu Hause …
Bin ich krank, denk ich an zu Hause, zu Hause, zu Hause …
Bin ich traurig, denk ich an zu Hause, zu Hause, zu Hause …
Denke an mein liebes Heim, Heim, Heim …
Wann werde ich wieder zurückkehren,
nach Hause, nach Hause, nach Hause …
Als Brian die letzte Zeile vorlas, klang er ernst und traurig. In seinen Augen glitzerten Tränen, beinahe so, als sei er selbst ein Wanderer auf Reisen, der fern von zu Hause seine Heimat vermisste. Die kleinen Waschbären sahen sich verstohlen an. Sollten sie klatschen? Ein paar von ihnen wollten eigentlich eher laut loslachen.
Einen Moment lang war es völlig still.
»Der Ort, an den sie gereist ist, war viel zu kalt«, meinte Teddy dann.
»Oh? Woher weißt du das denn?«, fragte Brian erstaunt und gleichzeitig neugierig.
»Weil ihr Gedicht so klingt, als würde sie zittern und vor Kälte mit den Zähnen klappern!«, platzte Teddy heraus.
Die anderen kleinen Waschbären hielten sich die Bäuche vor lauter Lachen.
»Teddy, ich bitte dich. Zeig etwas mehr Respekt vor den Weisen des Altertums!«, wies Brian ihn mit einem Augenzwinkern zurecht. »Dieses Gedicht drückt nicht nur Nichelles Sehnsucht nach ihrer Heimat aus, es ist auch ein ausgezeichneter Ausdruck zarter Gefühle … diese Echo-Poesie …« Brian quasselte weiter und Teddy hörte ihm geistesabwesend zu. Seine Gedanken waren längst aus dem unterirdischen Palast hinausgewandert: Ob Onkel Pombur morgen wohl kommen würde?
Tuut …
In dem Moment ertönte ein dumpfes, lang gezogenes Geräusch, das die Luft um sie herum erschütterte. Brian blickte alarmiert auf und lauschte angestrengt. Die kleinen Waschbären sahen sich panisch um. Etwas hatte den Alarm ausgelöst. Im Jahr zuvor hatte Jurek kurz vor der Abreise mit seinem Stab eine weiße Linie am Eingang von Weiya gezogen, um die Waschbären zu schützen. Dieser Alarm warnte sie, wenn Eindringlinge die Linie überschritten.
»Keine Angst, Kinder, im unterirdischen Palast seid ihr sicher«, beruhigte Brian die kleinen Waschbären. »Ihr bleibt hier, egal, was da draußen vor sich geht!«
Die kleinen Waschbären drängten sich aneinander und nickten ängstlich.
»Teddy, ich gehe raus und sehe nach. Du passt auf die anderen auf!«, bestimmte Brian und lief los.
Kaum war Brian fort, konnte Teddy kaum noch still sitzen, so besorgt war er. Nervös stampfte er mit den Füßen. Der Alarm war ohne jede Vorwarnung erklungen und oben ging bestimmt irgendetwas Gefährliches vor sich. Vor allem sorgte er sich um Brian, denn der hatte immerhin schon ein hohes Alter erreicht. Teddy war das älteste Kind in Weiya und irgendetwas sagte ihm, dass er eigentlich nach oben gehörte, um dort zu helfen. Er versteckte die anderen kleinen Waschbären hinter der Steintafel und mahnte sie, keinen Ton von sich zu geben. Dann eilte er aus dem unterirdischen Palast hinaus nach oben.
Teddy rannte so schnell er konnte durch den düsteren unterirdischen Palast. Er lief durch das grün leuchtende Höhlenlabyrinth auf demselben Weg zurück, auf dem sie in die Grotte gelangt waren. Die lange Steintreppe auf und ab, nach links und nach rechts, und hatte dabei immer die Stalaktiten im Blick, die von der Höhlendecke hingen. Als er über die Wendeltreppe den unterirdischen Palast verließ, keuchte und schwitzte er. Über den Platz tönten Schreie. Er verließ den Geheimgang und drückte sich an der Felsmauer entlang. Dann lugte er hinter der Mauer hervor. Ihm blieb beinahe das Herz stehen: Der Hauptplatz, in eiskaltes Mondlicht getaucht, war Schauplatz eines erbitterten Kampfes. Drei große, dunkle Gestalten wüteten inmitten einer Schar von Waschbären. Es waren drei graue Wölfe mit böse blitzenden Augen und gefletschten Zähnen. Teddy holte scharf Luft. Die Angst griff nach ihm wie eine unsichtbare eiserne Hand und seine Knie wurden weich.
Brian führte die Waschbären an. Mit aller Kraft schleuderten sie Steine nach den Wölfen. Am Auge getroffen heulte einer der Wölfe auf und wich ein paar Schritte zurück. Ein anderer schaffte es gerade noch, dem Steinhagel auszuweichen. Er stürzte sich auf Brian, der ohne Deckung war, und biss sich an seinem Rücken fest. Die Waschbären eilten Brian zu Hilfe, klammerten sich an den Hals des Wolfes, zerrten an seinem Schwanz und verbissen sich in seine vier Gliedmaßen. Der Wolf jaulte vor Schmerz auf und schleuderte Brian meterweit fort. Brian überschlug sich mehrmals und blieb dann bewegungslos liegen. Sofort rannte Teddy zu ihm.
Der dritte Wolf befreite sich aus dem erbitterten Kampf und stürmte auf Teddy zu. Er hatte offensichtlich nur mehr eines im Sinn: Brians Leben ein Ende zu setzen. Den ersten Waschbären, der sich ihm in den Weg stellte, rannte er einfach um. Schon war er gefährlich nahe gekommen, doch Teddy stellte sich schützend vor Brian und wich keinen Schritt zur Seite. Der Wolf starrte ihn mit mordlustigen roten Augen an und knurrte tief, als ließe er sich einmal noch kurz durch den Kopf gehen, welcher Teil von Teddy ihm wohl am besten schmecken würde. Teddy zitterte am ganzen Körper. Gleich würde es mit ihm vorbei sein, gegen einen so bösartigen Feind hatte er keine Chance.
In diesem Moment ertönte in der Ferne ein Klappern, das rasch näher kam und immer lauter wurde. Der dritte Wolf blickte unruhig auf. Wie Hufgetrappel klang das! Hoffnung stieg in Teddy auf. Er ließ die Arme sinken, die er zum Schutz vors Gesicht gehalten hatte, und starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Da erschien eine massige, dunkle Gestalt am Eingangstor der Ruinen. Sie preschte hindurch und mitten auf den Platz.
»Verflucht noch mal, verschwindet hier!«, donnerte eine zornige Stimme. Sie gehörte zu einem hässlichen Gesicht, an dem zwei handtellergroße Ohren schlackerten. Aus dem Maul ragten ein langer und ein abgebrochener Stoßzahn, das Fell war schwarz und borstig wie ein Nadelkissen und hintendran hing ein dünner Schwanz.
»Onkel Pombur!«, schrie Teddy und seine Augen wurden feucht vor Freude.
»Tut mir leid, Teddy, ich habe mich verspätet!«, dröhnte Pombur zurück. Schnell wie der Wind fegte er über den Platz auf Teddy zu. Er war imposant und sein Körperumfang war beeindruckend — in dem vergangenen Jahr hatte er noch einmal ordentlich zugelegt.
Der dritte Wolf drehte sich um und baute sich drohend vor Pombur auf. Die beiden Tiere standen sich genau gegenüber. Ein dumpfer Schlag — und der Wolf flog in hohem Bogen durch die Luft und knallte gegen die Felsmauer, wo er seinen letzten Atemzug tat. Die beiden anderen Wölfe stürzten sofort auf Pombur zu. Der schwang seine Hauer und stampfte fest mit den Hufen auf, ohne auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Die Waschbären umrundeten die beiden Wölfe. Angesichts dieser vereinten Kräfte brachen die beiden Angreifer durch die Umzingelung und flohen.
»Alles in Ordnung mit euch?«, fragte Pombur.
»Ja, nichts passiert …« Brian versuchte mühevoll, sich aufzurappeln. Teddy half ihm eilig hoch. Das Fell auf Brians Rücken war von den Wolfszähnen aufgerissen und Blut sickerte aus der Wunde. Bei dem Sturz hatte er sich außerdem die Schulter geprellt. Er war am Ende seiner Kräfte. »Zum Glück hast du es gerade rechtzeitig geschafft, Pombur! Teddy hat schon so lange auf dich gewartet …«
»Oh, armer kleiner Teddy.« Pombur sah Teddy entschuldigend an und hob einen Vorderhuf, um Teddy auf den Kopf zu klopfen. Das war seine Art, Freundschaft auszudrücken — auch wenn er Teddy damit beinahe umgestoßen hätte. »Ich bin falsch abgebogen. Dann habe ich mich in den Bergen verirrt, deshalb … na ja deshalb bin ich etwas später dran als geplant«, gab Pombur verlegen zu und wackelte mit seinem Schwanz.
»Das macht doch nichts, Onkel Pombur. Ich bin so froh, dich zu sehen!«, sagte Teddy und lächelte breit. Der schwere Stein, der ihm auf dem Herzen gelegen hatte, löste sich in Luft auf. Endlich würde er nach Eichendorf reisen und Rubion wiedersehen!
Die Waschbären halfen sich gegenseitig dabei, ihre Wunden zu verarzten, und beseitigten die Spuren des Kampfes auf ihrem Hauptplatz.
»Warum habt ihr euch denn nach dem Alarm nicht im unterirdischen Palast versteckt?«, fragte Brian und stützte sich beim Gehen auf Teddy.
»Sie haben die Ruinen gestürmt, bevor wir uns verstecken konnten«, erklärte einer der Waschbären.
»Wie ist das möglich?«, fragte Brian bestürzt. »Der Alarm war doch noch nie zu spät …«
Er ging Pombur und den Waschbären voraus zum Eingangstor der Ruinenstadt. Im schwachen Mondlicht betrachteten sie gemeinsam die bereits verblasste und verwischte weiße Linie, die Jurek ein Jahr zuvor gezogen hatte. Was Brian am meisten befürchtet hatte, war eingetroffen: Die Kraft von Jureks magischer Linie war dabei zu verschwinden. Vielleicht würde es mit dem gesamten Frühwarnsystem von Weiya bald vorbei sein.
»Ältester, was sollen wir tun?«, fragte ein Waschbär besorgt.
»Sorgt euch nicht, die Wölfe haben wir ja jetzt verjagt«, warf Pombur dazwischen, ohne lange nachzudenken.
»Pombur, da ist einiges, was du noch nicht weißt«, sagte Brian. »Im letzten Jahr wurde Weiya immer wieder von den Wölfen heimgesucht. Der Wolfstotem wird nicht ruhen, bis er uns alle getötet hat. Nur dank der magischen Linie waren wir vor dem Eintreffen der Wölfe immer gewarnt und konnten uns rechtzeitig im unterirdischen Palast verstecken. Dort finden sie uns nie und bisher sind sie noch jedes Mal erfolglos wieder abgezogen. Wenn uns dieser Schutz aber fehlt …«
»Nichts leichter als das. Dann laden wir den alten Fuchs einfach ein, herzukommen und einen neuen Strich zu ziehen«, schlug Pombur vor.
»Dafür ist es bereits zu spät. Die beiden Wölfe, die heute entwischt sind, kommen bestimmt bald mit Verstärkung wieder«, sagte Brian ernst. »Verbringe die Nacht sicherheitshalber hier, morgen kannst du mit Teddy gemeinsam abreisen. Waschbären, grabt jetzt die Irrlichtpilze aus und folgt mir nach unten in den unterirdischen Palast. Wir müssen eine Zeit lang wieder in der Dunkelheit leben.«
»Irr… Irrlichtpilze?«, fragte Pombur und leckte sich die Lippen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. »Diese leckeren, leuchtenden Pilze?«
»Hahaha, ich wusste, du vermisst ihren Geschmack bestimmt schon«, lachte Brian laut auf. »Heute bist du unser Gast!«
An diesem Abend aß Pombur mit gutem Appetit — um ganz genau zu sein, tat er den ganzen Abend lang nichts anderes, als zu essen. Die Waschbären sammelten währenddessen alle Pilze ein, die in den Steinhäusern wuchsen, und richteten ihr Gepäck für den Umzug unter die Erde. Pombur schnüffelte an den großen Haufen von Irrlichtpilzen, fraß und grunzte zufrieden. Die Waschbären machten große Augen, als sie sahen, wie viel Pombur fressen konnte: Auf einen Satz verschlang er mehr als zehn große Pilze. Das entsprach ungefähr der Tagesration von mehreren Dutzend Waschbären.
So arbeiteten sie lange weiter. Die dunkle Nacht zog sich langsam zurück, der kreisrunde Himmel, der von der Ruinenstadt im Berg aus zu sehen war, wurde nach und nach heller. Alles, was ihnen in den Steinhäusern zum Leben diente, hatten die Waschbären bereits in den Palast unter der Erde verfrachtet. Die Ruinenstadt war nun noch leerer als zuvor.
Frühmorgens schleifte Pombur seinen rundgefressenen Bauch durch die hohen Gänge von Weiya und Teddy hüpfte ihm aufgeregt hinterher. Es war das erste Mal, dass er sein Zuhause verließ. Das fiel ihm nicht leicht, doch gleichzeitig spürte er eine große Neugierde auf die Welt da draußen — und er vermisste Rubion sehr. Deshalb freute er sich aus ganzem Herzen auf diese Reise.
Es war Hochsommer. Der Himmel jenseits des Berges strahlte in der aufgehenden Sonne und hüllte die Erde in einen leuchtenden Mantel aus goldenem Rosa. Die Waschbären brachten Teddy und Pombur bis zum Tor der Ruinenstadt und winkten ihnen zum Abschied.
»Pombur, Teddy, passt gut auf euch auf!«, rief Brian ihnen zu.
»Macht euch keine Sorgen um uns. Aber ihr solltet besser schnell nach unten«, murmelte Pombur.
Teddy warf einen Blick zurück. Als er den anderen Waschbären ein letztes Mal zuwinkte, strahlte er über das ganze Gesicht. Dann drehte er sich wieder um und lief Pombur hinterher. Über den gewundenen Steinpfad zwischen den hohen Felsen traten sie ihre Reise an.
Sie wanderten eine knappe Stunde lang durch eine immer gleichbleibende Landschaft. Die Aufregung, die Teddy erfasst hatte, wich einem tiefen Bedürfnis nach Schlaf. Er gähnte mehrmals hintereinander und immer wieder kippte sein Kopf vor Müdigkeit nach unten.
»Bist du müde?«, fragte Pombur.
»Hmm …«, murmelte Teddy mit halb geschlossenen Augen.
»Du wirst dich an einen anderen Tagesrhythmus gewöhnen müssen«, sagte Pombur. Großzügig fügte er hinzu: »Erst einmal kannst du auf meinem Rücken reiten und dich ausruhen!«
»Onkel Pombur, das …«, stammelte Teddy ein wenig verlegen.
»Ist schon in Ordnung. Ich dachte immer, es sei eine große Schande, geritten zu werden. Aber seit Rubion das letzte Mal auf mir geritten ist, fehlt mir dieses eigenartige Gefühl beinahe ein wenig …« Pombur blieb stehen und blickte in die Ferne. Dann atmete er tief durch. »Einfach mal nicht nachdenken zu müssen. Dem Befehl eines Reiters auf dem eigenen Rücken zu folgen, ohne an irgendetwas anderes zu denken, das ist ein wunderbares Gefühl! Wenn lange Zeit niemand mehr auf mir geritten ist, dann juckt es mich sogar ein wenig. Vielleicht ist es meine Bestimmung, ein gutes Reittier zu sein!«
»Also dann …« Teddy kletterte etwas unbeholfen auf Pomburs Rücken.
»Dafür habe ich sogar eine Auszeichnung vom Kaiser von Sirocco bekommen!«, sagte Pombur stolz. »Die kaiserliche Küche vermisse ich wirklich sehr …« Pombur versank so tief in der Erinnerung an die siroccanische Palastküche, dass er sogar ein paarmal laut schmatzte.
Teddy schlief auf Pomburs Rücken ein und bald lag Weiya bereits weit hinter ihnen …
KAPITEL 2
Eichendorf
Pombur und Teddy wanderten tagelang über Stock und Stein, bis sie die abgelegene Gebirgsregion hinter sich gelassen hatten. Nach und nach wurde es wärmer und die Luft wurde feuchter, das Gras wuchs üppiger und in der Luft lag ein Duft von Wildblumen. Es war das erste Mal, dass Teddy sein Zuhause verlassen hatte. Er staunte über diese neue Welt und war aufgeregt wie eine Biene, die von Blüte zu Blüte fliegt. Am liebsten hätte er an allem geschnuppert oder es zumindest angefasst.
Sie folgten Rubions Anweisungen und reisten in Richtung des Sonnenuntergangs, den fernen Alpen entgegen. Sie wateten durch Bäche, wanderten über flache Ebenen und überquerten hohe Berge. Überfiel sie der Hunger, dann zeigte Pombur Teddy, wie er Nahrung fand. Waren sie müde, so suchten sie sich eine Höhle oder ein Fleckchen weiches Gras und legten sich schlafen. Ab und zu erzählte Pombur Teddy von seiner Wildschweinfamilie in den Schwarzwindbergen oder von seinen Abenteuern mit Rubion und Jurek. Die meiste Zeit über war er jedoch recht einsilbig oder murmelte zusammenhanglose Sätze, die Teddy eher verwirrten. Immer wieder fiel Teddy außerdem hinter Pombur zurück, denn so lange war er noch nie zu Fuß unterwegs gewesen. Jedes Mal, wenn das geschah, hob Pombur ihn auf seinen Rücken und trug ihn einen Teil des Weges. Die anderen Tiere, die einen Waschbären auf einem Wildschwein reiten sahen, wunderten sich sehr darüber. Pomburs kräftiger Körperbau und sein grimmiges Aussehen hielten ihnen jedoch alle Störenfriede vom Leib. Selbst die wilden Hunde und Wölfe zogen es vor, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Wochenlang waren die beiden unterwegs, bis sie endlich die bezaubernde Landschaft am Fuße der Alpen erreichten. Unter einem strahlend blauen Himmel erhob sich ein schneebedecktes Gebirge mit grünen Feldern und Wäldern, schön wie ein Gemälde. Doch sie hatten keine Zeit, um diesen Anblick zu genießen. Ohne eine Pause einzulegen, steuerten sie auf eine Schlucht zwischen zwei hohen Gipfeln zu, hinter der sich der einzige Weg nach Eichendorf verbarg.
Drei Tage später erreichten sie endlich den kühlen Gipfel. Pombur schnaufte und fluchte die meiste Zeit über, denn Klettern würde mit Sicherheit niemals zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählen. Bald hatten sie den kahlen Flecken gelber Erde gefunden, den Rubion ihnen in seinen Briefen beschrieben hatte. Überrascht betrachtete Teddy die vielen kleinen Erdhügel, die Erdlöcher und die kleinen Tierknochen davor. Ein seltsamer Geruch schlug ihnen entgegen. Es sah ganz so aus, als lebte hier ein ziemlich Angst einflößendes Tier.
In dem Moment bewegte sich etwas in der Erdhöhle neben ihnen. Ein unglaublich schmutziges Tier wühlte sich aus der Erde und sah Teddy an. Seine Augen waren trüb und es war von oben bis unten mit Dreck und Erde bedeckt. Ob es sich wohl gerade ausgiebig im Schlamm gewälzt hatte?
»Uhkaka!« Mit runden, blutunterlaufenen Augen starrte das wieselartige Tier Teddy an.
»Uhkaka?« Ängstlich wich Teddy ein paar Schritte zurück und versteckte sich hinter Pombur. Da erst blickte das Wiesel auf und sah Pombur vor sich stehen.
»Uhkaka!«, kreischte das Wiesel erschrocken und schoss zurück in sein Erdloch.
»He, warte doch!«, rief Pombur. Doch in dem Erdloch bewegte sich nichts mehr.
Es herrschte völlige Stille. Verstohlen steckten ein paar Wiesel aus anderen Erdlöchern ihre Köpfe hervor. Sobald sie Pombur erblickten, flogen ihnen vor Schreck die Augäpfel beinahe aus den Köpfen.
»Entschuldigt bitte. Eichendorf …« Pombur hatte seinen Satz noch gar nicht beendet, da hatten sich die Wiesel auch schon wieder in ihren Höhlen verkrochen. Pombur konnte sich ihre Reaktion nicht erklären. Er hatte sie weder bedroht noch ihnen auf irgendeine Weise wehgetan. Woher kam ihre Furcht vor einem Wildschwein?
»Onkel Pombur, ist das hier Eichendorf?«, fragte Teddy leise.
»Sieht nicht so aus, finde ich. Unmöglich, dass Rubion an einem solchen Ort leben könnte«, murmelte Pombur. »Lass uns weitersuchen!«
Pombur ging Teddy voraus an den vielen kleinen Erdhügeln vorbei, bis sie schließlich vor einer steilen Felswand standen. Sie kletterten über den Gipfel auf die andere Seite des Berges. Dort erwartete sie ein üppiger grüner Wald, an dessen Fuße ein breiter Fluss in der aufgehenden Sonne glitzerte.