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Maggie Stiefvater

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Beschreibung

Werden die Träumer die Welt vernichten – oder die, die sie jagen? Der Urban-Fantasy-Roman »Wie Träume bluten« ist der 2. Teil der Dreamer-Trilogie von Bestseller-Autorin Maggie Stiefvater. Etwas Furchtbares geschieht mit der Quelle, aus der die Träumer ihre Macht ziehen: Sie wird von etwas blockiert und scheint immer schwächer zu werden. Was wird aus Träumern und Geträumten, sollte die Quelle ganz versiegen? Der Träumer Ronan Lynch hat nicht vor, abzuwarten und es herauszufinden, auch wenn ihn das weit weg führt von seiner Familie und dem Jungen, den er liebt. Die Diebin Jordan Hennessy weiß, dass sie nicht überleben wird, wenn die Träumer scheitern. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als in einer dunklen Unterwelt nach dem einzigen Gegenstand zu suchen, der sie am Leben erhalten kann. Für die Jägerin Carmen Farooq-Lane wird die Welt immer komplizierter: Sie ist aufgebrochen, um Träumer zu töten, weil sie die Gefahr nur zu gut kennt, die von ihnen ausgeht. Doch jetzt muss sie sich fragen, ob es wirklich die Träumer sein werden, die die Welt zerstören – oder zerbricht die Welt beim Versuch, die Träumer zu vernichten? Im 2. Teil der Dreamer-Trilogie treibt Maggie Stiefvater ihre Held*innen in einem unvorhersehbaren Abenteuer rund um Sehnsüchte und Träume, Schicksal und Tod bis an ihre Grenzen. Die Dreamer-Trilogie schließt direkt an die Fantasy-Reihe »Raven Boys« an, kann aber auch unabhängig gelesen werden. Der erste Urban-Fantasy-Roman der Dreamer-Trilogie ist auf Deutsch unter dem Titel »Wie der Falke fliegt« erschienen.

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Maggie Stiefvater

Wie Träume bluten

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Jessika Komina und Sandra Knuffinke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Etwas Furchtbares geschieht mit der Quelle, aus der die Träumer ihre Macht ziehen: Sie wird von etwas blockiert und scheint immer schwächer zu werden. Was wird aus Träumern und Geträumten, sollte die Quelle ganz versiegen?

Der Träumer Ronan Lynch hat nicht vor, abzuwarten und es herauszufinden, auch wenn ihn das weit weg führt von seiner Familie und dem Jungen, den er liebt.

Die Diebin Jordan Hennessy weiß, dass sie nicht überleben wird, wenn die Träumer scheitern. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als in einer dunklen Unterwelt nach dem einzigen Gegenstand zu suchen, der sie am Leben erhalten kann.

Für die Jägerin Carmen Farooq-Lane wird die Welt immer komplizierter: Sie ist aufgebrochen, um Träumer zu töten, weil sie die Gefahr nur zu gut kennt, die von ihnen ausgeht. Doch jetzt muss sie sich fragen, ob es wirklich die Träumer sein werden, die die Welt zerstören – oder zerbricht die Welt beim Versuch, die Träumer zu vernichten?

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Danksagung

Für Melissa

Einer Blumenspur folgend

Machten sie schließlich halt

Bei etwas, das barg

Eines Menschen Gestalt.

 

Robert Frost, »Der Toten Schmuck«

Prolog

 

Es war ein herrlicher Tag, als sie kamen, um den Zed zu töten.

Sie waren in Illinois, wahrscheinlich, oder irgendeinem anderen Bundesstaat mit I. Indiana. Iowa. wIsconsin. Endlose Felder, aber alles andere als malerisch. Keine postkartenwürdigen Scheunen. Kein ästhetisch vor sich hin rostendes landwirtschaftliches Gerät. Nichts als abgemähte Äcker, so weit das Auge reichte. Der Himmel war sehr blau. Die steinigen Stoppelfelder leuchteten. Alles wirkte klar voneinander abgegrenzt. Es war wie ein Urlaub am Meer, nur ohne Meer. Der Highway teilte die Landschaft in zwei Hälften; sehr flach, sehr gerade, mit gräulich weißen Salzspuren auf dem Asphalt.

Weit und breit war nur ein einziges Fahrzeug zu sehen, ein Sattelschlepper mit blitzsauberem rotem Führerhaus und dem Schriftzug WOHN(T)RÄUME • ATLANTA • NEW YORK • NASHVILLE neben der schwarz-weißen Strichzeichnung eines Jugendstilsessels auf der Flanke. Doch der Laster transportierte keine Sessel. Sondern sie. Die Regulatoren. Die Heimmannschaft, das Gewinnerteam, die Heldentruppe, die so unermüdlich versuchte, den Weltuntergang zu verhindern. Oder zumindest stand das auf der Verpackung. Ein Zusammenschluss verantwortungsvoller Erwachsener, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, eine übernatürliche Bedrohung zu bekämpfen, von der nur die wenigsten Menschen je gehört hatten. Die Zeds.

Zed, wie Z, wie zzzzz, wie Schlaf, denn erst im Schlaf wurden Zeds zu gefährlichen Waffen. Zed wie zero, null, denn genau so viel würde von der Welt übrig bleiben, wenn die Regulatoren nicht einschritten.

Sie waren die letzte Bastion.

Bellos fuhr den Möbellaster, obwohl er erst vor Kurzem einen Arm verloren hatte. Auf dem Beifahrersitz lümmelte Ramsay, der in der Nase bohrte und das Ergebnis so provokant an die Tür schmierte, als legte er es auf eine Diskussion an. Aber Bellos reagierte nicht. Ihn beschäftigte Wichtigeres, wie zum Beispiel sein fehlender Arm. Oder die Kreaturen in Declan Lynchs Haus, deren Zähnen er zum Opfer gefallen war. Wahre Höllenhunde! Nachtschwarze Monster wie einer uralten Sage entstiegen, mit lodernden Augen und Schlünden. Was mochte zuerst da gewesen sein? Hatte irgendein antiker Zed die Viecher hergeträumt, woraufhin sie in die Mythologie eingegangen waren? Oder hatten erst die Legenden einen Zed dazu inspiriert, sie Wirklichkeit werden zu lassen?

Irgendwo, daran musste Bellos die ganze Zeit denken, waren diese Monster noch immer. Fest und gasförmig, lebendig und untot. Ihre Existenz baute auf vollkommen anderen Regeln auf als die der Menschheit, und das bedeutete, die Menschheit hatte keine Chance, sie zu besiegen.

Darum mussten die Zeds sterben. Weil sie alles kaputt machten.

Bellos und Ramsay waren nicht die Einzigen in diesem Möbellaster. Normalerweise hätten sie die Mission allein unternommen, aber die jüngsten Vorfälle hatten alle verunsichert. Noch nie war ihnen ein Zed entwischt. Schon gar nicht zwei Zeds. Und erst recht nicht sechs, ohne dass irgendwer den leisesten Schimmer hatte, warum. Es lag nahe, den ersten drei Zeds die Schuld daran zu geben, denen vom Potomac River.

Also mussten eben schwerere Geschütze aufgefahren werden. Der Laderaum war gerammelt voll mit Regulatoren.

Das Wetter war wirklich herrlich.

Theoretisch müssten sie die Zed-Frau bald erreicht haben. Eine Vision hatte ihnen eine grobe Ahnung davon verschafft, wo sie zu finden sein würde, bevor sie die Suche mithilfe der örtlichen Behörden weiter eingegrenzt hatten. Wenn ihnen das Glück hold war, müsste bald der Airstream-Wohnwagen am Rand des Highways auftauchen. Wenn ihnen das Glück dann immer noch hold war, würden sie in circa fünfundzwanzig Minuten die noch als solche erkennbaren Trümmer des Airstreams zusammen mit der Leiche der Frau in den Laster laden. Und wenn ihnen das Glück nicht nur hold war, sondern aufrichtig und liebevoll zugetan, würde ihre Visionärin danach nicht mehr von Bildern eines unausweichlichen, von Zeds herbeigeführten Weltuntergangs geplagt.

»Nähern uns dem Zielobjekt«, sagte Bellos in sein Funkgerät.

»Schön wachsam bleiben«, grollte Lock mit seiner tiefen Stimme vom Laderaum aus zurück.

»Roger«, bestätigte Ramsay, obwohl ein »Okay« vollkommen gereicht hätte.

Wieder meldete sich Lock: »Carmen, sind Sie noch da?«

Ein kurzes Rauschen aus dem Funkgerät, dann ertönte eine ernste, klare Stimme: »Zwei Meilen hinter Ihnen. Sollen wir den Abstand verringern?«

Die Stimme gehörte Carmen Farooq-Lane, einer weiteren Regulatorin. Sie saß am Steuer eines kugeldurchlöcherten Mietwagens, gekleidet in einen makellosen hellen Leinenanzug. Das dunkle Haar trug sie locker hochgesteckt, schmale Goldarmbänder zierten ihre Handgelenke, und ihre Wimpern waren lang und geschwungen. In einem früheren Leben, bevor ihr Bruder sich als Zed und Serienkiller entpuppt hatte, war Farooq-Lane leitende Angestellte in einer Firma für Vermögensberatung gewesen. Dieses Leben hatte jedoch zeitgleich mit dem von Nathan, ihrem Serienkiller-Zed-Bruder, ein abruptes Ende genommen. Aber so ein Weltuntergang war schließlich noch lange kein Grund, sich gehen zu lassen.

»Entfernen Sie sich nur nicht zu weit«, antwortete Lock. »Es sei denn, Sie haben keine Wahl.«

In Wirklichkeit meinte Lock nicht, es sei denn, Sie haben keine Wahl, sondern, es sei denn, Liliana lässt Ihnen keine Wahl. Wie alle Visionäre wurde nämlich auch sie zu einer tickenden Zeitbombe, wenn sich eine ihrer Visionen ankündigte. Außerdem wechselte sie dabei zwischen unterschiedlichen Lebensaltern hin und her. Letzteres war aber wohl eher eine kuriose Randerscheinung. Niemand starb schließlich daran, dass Liliana, der Teenager, sich plötzlich in Liliana, die Greisin, verwandelte oder umgekehrt. Nein, die Menschen starben, weil ihre Eingeweide explodierten, wenn sie Liliana während einer ihrer Visionen zu nahe kamen. Lilianas Vorgänger hatten irgendwann gelernt, diese zerstörerische Energie nach innen zu richten, damit keine Unbeteiligten zu Schaden kamen – was langfristig allerdings zur Folge hatte, dass sie selbst daran zugrunde gingen.

Liliana hatte diese Technik nie erlernt.

Möglicherweise, weil sie es einfach nicht wollte.

»Okay, Leute«, meldete sich Lock kurz darauf erneut übers Funkgerät. »Konzentration jetzt. Ist alles Routine. Also keine Patzer diesmal.«

Westerly Reed Hager. Farooq-Lane hatte ein Foto der Zed-Frau gesehen, ihre Akte gelesen. Sie enthielt hauptsächlich Fünfen, Einsen und Nullen. Fünfzig Jahre alt. Einen Meter fünfundfünfzig groß. Zehn registrierte Wohnsitze innerhalb der letzten fünf Jahre. Fünf Schwestern, zehn Brüder, die meisten davon untergetaucht, von der Bildfläche verschwunden, vom Erdboden verschluckt. Klassische Hippiefamilie. Den Wohnwagen besaß sie seit fünf Jahren, den dunkelblauen Chevy-Pick-up, an den er gekoppelt war, seit zehn. Bei der Polizei war sie mit zehn Delikten aktenkundig: fünfmal Kreditkartenbetrug, fünfmal Sachbeschädigung.

Farooq-Lane hielt es für unwahrscheinlich, dass Westerly Reed Hager den Weltuntergang herbeiführen würde.

»Carmen«, meldete sich Liliana zu Wort, die, aktuell als alte Frau, auf dem Beifahrersitz des ramponierten Mietwagens saß. Alles an ihr wirkte auf entspannte Art kontrolliert, und ihre Hände lagen so ordentlich gefaltet in ihrem Schoß wie ein zugeschlagenes Buch. »Wir sollten uns lieber zurückfallen lassen.«

Ganz von selbst schaltete sich das Autoradio ein, und Opernmusik ertönte. Damit hatte es vor Kurzem angefangen, so wie Farooq-Lane vor Kurzem angefangen hatte, Zeds zu töten. Bei näherem Nachdenken hatte der Weltuntergang sich eigentlich längst vollzogen: in ihr.

Farooq-Lane sah Liliana an. Dann wieder auf die Straße.

Sie bremste leicht ab.

Und das Glück ließ sie fallen wie eine heiße Kartoffel.

Im einen Moment waren die Regulatoren noch allein auf der Straße, an diesem herrlichen Tag, inmitten der leeren Felder. Und im nächsten waren sie es plötzlich nicht mehr. Vor ihnen fuhr ein anderes Auto. Es war nicht direkt aus dem Nichts aufgetaucht – vielmehr schien es schon die ganze Zeit da gewesen zu sein, ohne dass sie es bemerkt hatten.

»Als würde man es vergessen, noch während man hinguckt«, murmelte Bellos vor sich hin.

Er starrte weiter auf das seltsame Auto, aber er sah es nicht mehr. Sah hin, sah es nicht. Sah hin, sah es nicht. Da ist ein Auto, da ist ein Auto, da ist ein Auto, sagte er sich immer wieder, aber jedes Mal entfiel es ihm aufs Neue. Sein Gehirn schaltete auf Störung.

Das Auto wurde langsamer, bis der Möbellaster ihm förmlich am Hintern klebte.

Eine Person erschien. Eine junge Frau. Dunkle Haut, breites, strahlend weißes Lächeln. Sie ragte aus dem Schiebedach des seltsamen Autos.

Es war eine von den drei Zeds, die ihnen am Potomac entwischt waren. Jordan Hennessy.

»Scheiße.« Bellos wollte nach dem Funkgerät grapschen, ehe er merkte, dass es die Hand, die er zum Grapschen gebraucht hätte, nicht mehr gab.

Also schnappte Ramsay es sich und drückte den Knopf an der Seite. »Da ist ein Zed. Es ist diese –«

Hennessy zeigte ihnen den Mittelfinger und schleuderte ihnen etwas entgegen.

Die beiden Männer konnten gerade noch die kleine silberne Kugel ausmachen, bevor sie die Windschutzscheibe traf und den Laster in eine metallisch graue Wolke hüllte.

Die Wolke drang ins Führerhaus. Das Funkgerät – Lock – gab irgendwelches Gebrabbel von sich. Nichts davon spielte mehr eine Rolle. Nichts außer dieser Wolke aus winzigen schimmernden Partikeln, die in ihre Nasen strömten, ihre Nebenhöhlen füllten, sich in ihren Gedanken einnisteten. Sie waren die Wolke.

Der Laster schlingerte von der Fahrbahn, knapp vorbei an Westerly Reed Hagers Wohnwagen. Ein paar Dutzend Meter pflügte er durch die Weizenstoppeln und kam dann ruckartig zum Stehen.

»Was ist passiert?«, plärrte es aus dem Funkgerät.

Keine Antwort.

Die Ladeklappe des Lasters ging auf. Regulatoren sprangen heraus, verschiedenerlei Waffen im Anschlag.

Bis jetzt hatten die Waffen stets gewonnen. Na gut, außer letztes Mal. Und vorletztes. Und vorvorletztes. Und vorvorvorletztes. Aber bis dahin hatte es gut und gerne zweihundert zu null für die Regulatoren gestanden. Womit die Statistik ja wohl ganz klar für die Waffen sprach.

»Obacht!«, bellte Lock.

Etwa auf halber Strecke zwischen Laster und Wohnwagen öffnete sich eine Autotür.

Was recht überraschend kam für die Regulatoren, die wie Bellos und Ramsay Schwierigkeiten hatten, sich das seltsame Auto in Erinnerung zu rufen.

Ein junger Mann stieg aus. Er hatte dunkles, raspelkurz rasiertes Haar und frostig blasse Haut. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über ihnen, schienen jedoch von einem baldigen Wetterumschwung zu künden.

Er zog etwas aus seiner Jackentasche, ein kleines Glasfläschchen. Und schraubte es auf.

Noch einer von denen. Ronan Lynch.

»Scheiße«, fluchte eine Regulatorin namens Nikolenko.

Ronan Lynch ließ ein paar Tropfen aus der zugehörigen Pipette auf die platt gefahrenen Weizenstoppeln fallen, und jeder einzelne entfesselte Wind, Wut und welkes Laub. Ein Wintersturm aus der Konserve.

Unmöglich, geträumt, mit dem Verstand nicht fassbar.

Der Wind riss die Regulatoren von den Füßen und fegte ihre Schüsse ins Nichts, drosch auf ihre Körper und Gedanken gleichermaßen ein. Er war Naturgewalt und Gefühl zugleich, er war die Angst vor der Naturgewalt, die triefnass-niederdrückende Trägheit spätherbstlichen Schmuddelwetters. Er stieß sie zu Boden und durchnässte sie bis auf die Haut.

Westerly Reed Hager war in ihrer Wohnwagentür erschienen und sah zu, wie Ronan, gehüllt in wabernde Wolken, umherlief und Waffen aus Händen trat. Ihm konnte der künstliche Sturm nichts anhaben, weil er ein Teil davon war.

Auch Hennessy stakste zwischen den nicht ganz wachen, nicht ganz schlafenden Regulatoren umher. Rasch ging sie in die Hocke und hob eine fallen gelassene Pistole auf.

Dann, genauso rasch, hielt sie sie ihrem hingestreckten Besitzer an die Schläfe.

Der Mann reagierte nicht; seine Sinne waren von Träumen vernebelt. Hennessy presste ihm den Pistolenlauf an die Wange, so fest, dass sein Mundwinkel sich zu einem grotesken Halbgrinsen hob. Seine Augen blickten glasig ins Leere.

Ronan sah die Waffe an, dann Hennessy. Sie schien drauf und dran, dem Typen das Hirn wegzupusten.

Niemand hätte sagen können, ob der Mann einer der Regulatoren war, die einen Großteil von Hennessys Familie ermordet hatten. Jeder dagegen hätte sagen können, dass Hennessy dieses Detail herzlich egal war.

»Hennessy.«

Die Stimme gehörte dem dritten Zed, der in dem seltsamen Auto gesessen hatte. Ein rötlich blonder, in sich ruhender Bursche mit eng stehenden Raubvogelaugen und einem Gesicht, als wüsste er, was der Rest der Welt über ihn dachte, und sei entschieden anderer Meinung.

Bryde.

»Hennessy.«

Die Waffe in ihrer Hand schien größer zu werden, je länger sie sie dem Mann an den Kopf hielt. Doch das hatte nichts mit Traummagie zu tun. Sondern mit Gewalt. Gewalt war eine äußerst nachhaltige Energieform. Sie nährte sich selbst.

Hennessys Hand zitterte vor Wut. »Lass mir meinen Spaß«, knurrte sie. »Das steht mir zu.«

»Hennessy.«

»Du bist nicht mein echter Dad«, witzelte Hennessy, doch ihre Stimme klang wie elektrisch geladen.

»Es gibt bessere Möglichkeiten«, sagte Bryde. »Sinnvollere Möglichkeiten. Glaubst du, ich weiß nicht, worauf du aus bist?«

Ein letzter Moment der Anspannung.

Dann ließ Hennessy die Waffe sinken.

»Na los, bringen wir’s zu Ende«, bestimmte Bryde.

Wie gelähmt, wie in Trance, krank vor Furcht und Frust, sahen die Regulatoren zu, wie die Zeds auf Lock zugingen. Bryde gab Ronan und Hennessy ein Zeichen, woraufhin die beiden sich auf den Boden setzten und schwarze Schlafmasken überzogen.

Zwei blinde Banditen, die Sekunden später in sich zusammensackten und einschliefen.

Die Zed-Frau in der Wohnwagentür hatte alles mit schockiert aufgerissenen Augen beobachtet. »Wer sind Sie?«, rief sie jetzt.

Bryde hob den Zeigefinger an die Lippen.

Hennessy und Ronan träumten.

Als sie nach wenigen Minuten wieder zu sich kamen, lag eine Leiche neben Hennessy auf dem Boden. Fälscherin blieb Fälscherin, ob wach oder im Traum. Der Tote glich dem lebendigen Menschen, der ein Stück weiter lag, bis aufs Haar – Hennessy hatte eine perfekte Kopie von Lock geträumt. Außerdem war sie vorübergehend bewegungsunfähig, wie jeder Zed, der etwas in die Wirklichkeit geholt hatte. Ronan hievte sie sich über die Schultern und trug sie zurück zu ihrem schlecht sichtbaren Auto.

Als die beiden weg waren, rollte Bryde den echten Lock auf die Seite, sodass er mit dem Gesicht zu seinem Doppelgänger lag und angemessen entsetzt darüber sein konnte. Dann kauerte er sich hin, wendig wie ein Fuchs zwischen den zwei bulligen Locks.

»Dieser Plan, den Sie verfolgen«, begann Bryde mit beinahe sanfter Stimme, »wird nichts als Elend bringen. Schauen Sie sich doch mal um. Die Regeln ändern sich. Begreifen Sie das nicht? Begreifen Sie nicht langsam, wie viel Macht wir besitzen? Hände weg von meinen Träumern.«

Der lebendige Lock verzog keine Miene. Bryde griff in die Tasche des bewegungsunfähigen Mannes und zog ein kleines Päckchen hervor. Jetzt wurde Locks Blick klar genug, um aufrichtige Panik zu offenbaren, doch die Wirkung von Ronan Lynchs Traumsturm war noch immer so stark, dass er kaum die schlaffe Hand heben konnte.

»Das nehme ich mal mit«, raunte Bryde und ließ das Päckchen in der eigenen Hosentasche verschwinden. Sein Lächeln glich einem Zähnefletschen. »Die Bäume kennen dein Geheimnis.«

Locks Mund öffnete und schloss sich.

Bryde stand auf.

Er ging zum Wohnwagen, wo die gerettete Zed-Frau sich mit Ronan unterhielt. Kurz darauf fuhren sie weg, das Auto in eine Richtung, der Wohnwagen in eine andere. Zurück blieb ein Haufen niedergestreckter Regulatoren in einem stoppeligen Weizenfeld.

Langsam zog der Sturm ab, und die Gegend fand zu ihrer friedvollen Eintönigkeit zurück.

Als wären die Zeds nie dort gewesen.

In sicherer Entfernung, von wo aus sie das Geschehen beobachtet hatten, sagte Farooq-Lane zu Liliana: »Diese drei könnten den Weltuntergang herbeiführen.«

1

 

Ronan Lynch erinnerte sich an den schlimmsten Traum, den er je gehabt hatte.

Es war lange her, sicher zwei Jahre. Oder drei? Vier? Schon als Kind hatte er Zeit als etwas Unstetes, schwer Greifbares empfunden, und heute, als Erwachsener oder wie auch immer man ihn bezeichnen wollte, kam sie ihm launenhafter vor denn je. In jedem Fall war es vorher gewesen, nur darauf kam es an. Eine Weile lang hatte Ronan sein Leben unterteilt in die Zeit vor dem Tod seines Vaters und die Zeit danach, inzwischen jedoch zog er eine andere Grenze. Inzwischen ging es um die Zeit, bevor er gut im Träumen geworden war, und die Zeit danach. Vorher und nachher.

Und das hier war vorher gewesen.

Ronan verfügte bereits über eine ziemlich lange Liste schlimmer Träume. Da waren zum Beispiel Monster, wie sie im Buche standen: Klauen und Zähne, zottiges Fell und regendurchnässte Federn. Dann die klassische öffentliche Blamage: Ein Kinobesuch, den man damit verbrachte, seine laufende Nase zu verbergen und sich den endlosen Strom aus Schnodder mit dem immer widerlicher verschmierten Ärmel abzuwischen. Oder wie wär’s stattdessen mit einem gepflegten Gemetzel? Eine Schere, ein nackter Unterarm, Blut, Knochen, freiliegende Sehnen. Und natürlich bekam auch der gesunde Menschenverstand hin und wieder eine ordentliche Breitseite verpasst: Ronan betrat ein vertrautes Zimmer, aber mit einem Mal erschien ihm alles darin auf verstörende Weise falsch, ein Gefühl, das sich tiefer und tiefer und tiefer grub, bis er schließlich zitternd hochschreckte.

Für jeden Geschmack was dabei.

»Albträume sind wichtige Lektionen fürs Leben«, hatte Aurora, seine Mutter, ihm einmal erklärt. »Sie sind nur deshalb so schlimm, weil du weißt, was in Wirklichkeit richtig ist.«

»Albträume sind Arschlöcher«, hatte Niall, sein Vater, ihm einmal erklärt. »Lächle freundlich zurück, aber gib ihnen bloß nicht deine Nummer.«

»Albträume sind chemische Prozesse«, hatte Adam, sein Freund, ihm einmal erklärt. »Unverhältnismäßige Adrenalinreaktionen auf bestimmte Reize, oft infolge unverarbeiteter Traumata.«

»Mmh, mehr Dirty Talk, bitte«, hatte Ronan in letzterem Fall geschnurrt.

Was Albträume tatsächlich waren: real. Zumindest für Ronan. Das Einzige, was normale Menschen daraus mitnahmen, war kalter Schweiß und ein hämmerndes Herz. Wenn Ronan nicht aufpasste, nahm er alles mit, was in dem Traum vorgekommen war. Früher war ihm das oft passiert.

Und in letzter Zeit passierte es wieder häufiger.

In ihm wuchs der Verdacht, dass sich zwischen vorher und nachher vielleicht doch keine so klare Grenze ziehen ließ.

Das hier war sein schlimmster Traum: Ronan schaltete das Licht ein und sah sich im Spiegel. Sah sich selbst. Und der Ronan im Spiegel sagte: Ronan!

Er schreckte aus dem Schlaf hoch und fand sich in seinem alten Zimmer in den Schobern wieder. Schweiß auf dem Rücken, Kribbeln in den Händen, wumm-wumm-wummerndes Herz. Die üblichen Albtraum-Nachwehen. Der Mond war nicht zu sehen, doch Ronan spürte, wie er ins Zimmer lugte und Schatten hinter Tischbeine und über die Blätter des Deckenventilators zeichnete. Es war still im Haus, der Rest der Familie schlief. Ronan stand auf und ging ins Badezimmer, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er trank es leer und füllte es neu.

Ronan schaltete das Badezimmerlicht ein und sah sich im Spiegel. Sah sich selbst. Und der Ronan im Spiegel sagte: Ronan!

Wieder schreckte er hoch, diesmal wirklich.

Normalerweise war einem nach dem Aufwachen schnell klar, dass der Traum nur so getan hatte als ob. Aber dieser Traum übers Träumen … darin hatte alles so real gewirkt. Die kalten Bodendielen, die gesprungenen Kacheln an der Badezimmerwand, der stotternde Wasserhahn.

Als er diesmal aufstand und sich ein Glas Wasser holen ging, ein echtes, waches Glas Wasser, ließ er die Fingerspitzen an der Wand entlanggleiten, um sich vor Augen zu führen, wie viel konkreter die Wirklichkeit war. Oben der raue Putz, darunter die über Jahre glatt polierte Abschlussleiste der Holzvertäfelung. Der Luftzug aus Matthews Zimmer, als er vorsichtig die Tür aufdrückte, um nach ihm zu sehen.

Du bist wach. Du bist wach.

Im Badezimmer achtete er auf das Mondlicht, das durch die Ritzen der Jalousie sickerte, den blass kupferroten Ring um den Fuß des Wasserhahns. Das hier, machte er sich bewusst, waren Details, wie das schlafende Gehirn sie nicht generierte.

Ronan schaltete das Licht ein und sah sich im Spiegel. Sah sich selbst. Und der Ronan im Spiegel sagte: Ronan!

Wieder wachte er in seinem Bett auf.

Und wieder. Und wieder.

Scheiße.

Er rang nach Luft wie ein sterbendes Wesen.

Ronan konnte nicht sagen, ob er wach war oder träumte, wusste nicht mehr, woran man den Unterschied erkannte. Fieberhaft suchte er nach Hinweisen, doch es schien keine zu geben.

Er dachte: Geht es jetzt ewig so weiter? Würde er bis in alle Ewigkeit versuchen, aufzuwachen, ohne jemals zu wissen, ob er es geschafft hatte?

Manchmal fragte er sich, ob er nicht noch heute in dem Traum lebte. Vielleicht hatten sich die Abenteuer seiner Highschoolzeit, schön wie schrecklich, der ganze verrückte Kram, der seit dem Ronan! im Spiegel passiert war, ja bloß in seinem Kopf abgespielt. Die Erklärung war genauso plausibel wie jede andere.

Sein schlimmster Traum.

Vorher, dachte er, hatte er den Unterschied zwischen Träumen und Wachsein erkennen können. Zwischen der echten Welt und der eingebildeten. Aber nachher –

 

»Genug gepennt, weißer Mann, wir sind da«, sagte Hennessy.

Ronan wachte auf, als das Auto stehen blieb. Kies knirschte unter den Reifen, und Gestrüpp kratzte über die Seiten. Er hatte auf dem Rücksitz gelegen; jetzt rappelte er sich hoch und rieb sich den steifen Nacken. Neben ihm scharrte Chainsaw, sein geträumtes Rabenmädchen, ungeduldig in seiner Transportbox. Es schien zu spüren, dass sie im Begriff waren auszusteigen. Ronan griff reflexartig nach seinem Handy, um seine Nachrichten zu checken, bevor ihm wieder einfiel, dass es weg war.

Der kalte Nachmittag war in einen warm-goldenen Abend übergegangen. Eine Ansammlung flacher Gebäude drängte sich um den Parkplatz, und die tief stehende Sonne verlieh dem Wasser in den Rinnsteinen einen liebevollen Schimmer. Ronan hatte den Eindruck, es müssten Schulbusse dort stehen, und tatsächlich entdeckte er kurz darauf ein ausgeblichenes Schild: HAUS DER LEBENDIGEN GESCHICHTE. Ein Götterbaum hatte begonnen, sich das Schild einzuverleiben, und der Asphalt ringsum war voller verästelter Risse, aus denen Unkraut wuchs. Dunkelrote und bernsteinfarbene Laubreste kräuselten sich an Stellen, die der Wind nicht erreichte.

Das Haus der lebendigen Geschichte war offenbar seit Jahrzehnten tot.

Womit es exakt in Brydes Beuteschema fiel. In den Wochen, seit sie am Potomac River vor den Regulatoren geflohen waren, hatte er sie zu verlassenen Wohnhäusern, leer stehenden Feriencottages, geschlossenen Antiquitätenläden, verfallenen Flughafenhangars und abgelegenen Berghütten gelotst. Ronan wusste nicht, ob diese Vorliebe der Verschwiegenheit der Orte oder einer bestimmten Ästhetik geschuldet war. Nun war »verschwiegen« ja nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit »heruntergekommen«, aber Bryde schien bewusst Ziele anzusteuern, an denen schon länger kein Mensch mehr gewesen war. Daher ließen diese Unterkünfte es ein wenig an Komfort mangeln, aber Ronan würde sich ganz sicher nicht beschweren. Verrückt genug, dass sie noch am Leben waren – drei polizeilich gesuchte Träumer, die nun unversehrt und voller Saft und Kraft aus ihrem geträumten Auto stiegen.

»Still«, sagte Bryde. »Was hört ihr?«

Das fragte er jedes Mal, wenn sie ein neues Ziel erreichten.

Ronan hörte das trockene Rascheln von gestrandetem Laub. Das ferne Rumpeln der Lastwagen auf dem Highway. Das Dröhnen eines unsichtbaren Flugzeugs. Hundegebell. Das Summen irgendeines Stromgenerators. Das sanfte Hauchen von Chainsaws Flügeln. Der Anblick des schwarzen Vogels, der an diesem seltsam heimeligen Ort über ihnen seine Kreise zog, weckte bei ihm ein Gefühl, das er nicht in Worte fassen konnte, aber immer häufiger verspürte, seit sie auf der Flucht waren. Es war eine Art Erfülltheit. Eine Echtheit, eine Vollständigkeit. Zuvor hatte er sich hohl und ausgeblutet gefühlt. Nein, als wäre er gerade dabei, auszubluten. Immer leerer zu werden. Und jetzt war da plötzlich wieder etwas in ihm.

Still, sagte Bryde, und Ronan war still. Was hörte er? Den Puls in seinen Ohren. Das Rauschen seines Bluts. Die Schwingungen seiner Seele. Das Raunen dieser neuen Fülle in ihm.

Glück konnte es nicht sein, dachte er, so weit weg wie er von Adam und seinen Brüdern war. Er machte sich Sorgen um sie, und wer sich Sorgen machte, war wohl kaum glücklich.

Und doch fühlte es sich so an.

»Selbst wenn der letzte Mensch tot ist, wird immer noch irgendwo ein Flugzeug über einen verlassenen Wald dahinknattern«, sagte Bryde.

Trotz seiner bitteren Worte wirkte Bryde gelassen. Er war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil seiner ungestümen Schüler. Nichts brachte ihn je aus der Ruhe oder ließ ihn an die Decke gehen. Er bekam keine Lachkrämpfe und brach nicht vor Wut in Tränen aus. Er neigte weder zum Prahlen noch zu übermäßiger Tiefstapelei, weder zu Ausschweifungen noch zur Askese. Er existierte einfach. Allein seine Körpersprache ließ durchblicken, dass er kein Raubtier war, sondern weit genug über allem stand, um sich aus jeglichem Raubtier-Beute-Gerangel rauszuhalten. Und das alles mit stets perfekt sitzendem Haar.

Ganz schöner Schnösel, der Typ, hatte Hennessy Ronan am ersten Tag ihrer Flucht leise zugeraunt. Der Super-Schnösel. Hat alle anderen Schnösel aus dem Weg geräumt, und jetzt ist er der Oberschnösel, mit dem man’s erst mal aufnehmen muss, wenn man ihn aus seiner geschniegelten Reserve locken will.

Ronan fand das Wort Schnösel nicht ganz passend, aber er glaubte zu wissen, was Hennessy meinte. Bryde hatte so etwas Oberflächliches, Substanzloses an sich, das in seltsamem Widerspruch zu seinen hehren Absichten stand. Seit Ronans erster Begegnung mit Bryde überlegte er, was es eigentlich war, das ihn permanent an ihm überraschte. Irgendwas ergab da keinen Sinn, als wären in seinem Hirn ein paar Synapsen falsch verknüpft, wie wenn man ein Wort dachte und dann ein ganz anderes aussprach. Was zur Folge hatte, das sich jedes Mal, wenn Ronan Bryde zu lange ansah, eine formlose Frage in seinem Mund bildete.

Aber wie konnte diese Frage lauten? Die Antwort war immer nur Bryde.

»Was fühlt ihr?«, fragte Bryde jetzt.

Hennessy setzte zu einem explosionsartigen Monolog an. Sie war wie ein Tonband, das von vornherein mit doppelter Geschwindigkeit lief, aber seit sie auf der Flucht waren, schien sie komplett auf Fast Forward geschaltet zu haben. »Was ich fühle, willst du wissen? Ich fühle West Virginia. Mach dir keinen Kopf, falls du stattdessen Virginia fühlst. Ist schließlich direkt nebenan, schmeckt aber ein kleines bisschen mehr nach Leder. Und das hier – tja, wonach eigentlich? Das Mundgefühl hat was von … Banjo. Hm, nee. Zither. Genau. Auf jeden Fall irgendein Saiteninstrument. Aber da ist noch was anderes. Kudzubohne vielleicht? Moment, am besten noch kurz atmen lassen. Ist das Schwefel?«

Hennessy bei ihrem Ausbruch stoppen zu wollen hätte keinen Zweck gehabt, also blieb Bryde nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten. Ronan holte unterdessen schon mal seinen Rucksack und sein Schwert mit der Inschrift ZUM ALBTRAUM ERWACHT aus dem Auto, schlang sich beides über den Rücken und schob die Waffe so zurecht, dass sie senkrecht zwischen seinen Schulterblättern hing. Er hatte nicht vor, sich an Brydes Spiel zu beteiligen; gewinnen konnte er es sowieso nicht.

Wenn Bryde Was fühlt ihr? fragte, dann meinte er: Wie viel Ley-Energie?

Und Ronan hatte noch nie die Kraft jener unsichtbaren Energielinien fühlen können, die seine Träume befeuerten. Zumindest nicht in wachem Zustand. Adam schon. Wenn Ronan und Hennessy nicht in der ersten Nacht ihrer Flucht ihre Handys zurückgelassen hätten, damit die Regulatoren sie nicht damit orten konnten, hätte Ronan ihn jetzt vielleicht um Rat fragen können.

Vielleicht aber auch nicht.

Denn Adam hatte bis zum letzten Moment nicht auf seine Nachricht geantwortet. Tamquam, hatte Ronan geschrieben, worauf der andere stets ein alter idem folgen ließ. Aber von Adam war nichts gekommen.

Auf gewisse Weise machte die Funkstille es leichter – das Getrenntsein.

Was fühlt ihr?

Verwirrung.

»War’s das?«, wandte Bryde sich schließlich trocken an Hennessy. »Dann zurück zur Ley-Linie. Was fühlt ihr? Wie viel?«

»Ein bisschen?«, riet Hennessy. »Mehr, als in einen Brotkasten geht, aber weniger als in eine Regentonne? Auf jeden Fall genug, dass Ronan Lynch später noch richtig Mist damit bauen kann.«

Ronan zeigte ihr träge den Mittelfinger.

»Lass deine Sinne sprechen, Ronan, nicht deine Finger«, mahnte Bryde. »Die Unterscheidung zwischen deinem wachen und deinem schlafenden Ich ist eine rein künstliche; glaub mir, es wird dich nicht glücklich machen, dazwischen eine Grenze zu ziehen. Hol deine Sachen, Hennessy. Wir bleiben heute Nacht hier.«

»Na, Gott sei Dank.« Hennessy setzte sich in Bewegung, die Arme vor sich ausgestreckt wie ein Zombie. »Mist, jetzt ist Burrito schon wieder weg. Sag mal warm oder kalt, Ronan Lyn– uff, danke, hat sich erledigt.«

Burrito, wie sie das Auto getauft hatten, war nicht wirklich unsichtbar, denn Bryde warnte sie stets davor, etwas Unsichtbares zu träumen. Er wollte nichts allzu Absolutes, Dauerhaftes, Wiederkehrendes, Irreversibles. Nichts, was einen bleibenden Fußabdruck hinterließ, nachdem der Besitzer des Fußes längst nicht mehr da war. Darum war das Auto nicht unsichtbar. Es war übersehbar. Ronan war ziemlich stolz darauf. Bryde hatte ihn um ein unauffälliges Gefährt gebeten, ohne auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, dass Ronan ihm das Gewünschte liefern würde. Es war schön, dass jemand ihn brauchte. Ihm so vertraute. Klar hätte der Prozess des Herträumens an sich etwas eleganter vonstattengehen können, aber gut … man konnte eben nicht alles haben.

Während Hennessy sich ihr Schwert umhängte, das Ronans zum Verwechseln ähnlich sah, außer dass die Gravur auf dem Griff AUS DEM CHAOS lautete, rief Ronan nach oben: »Chainsaw, komm!«

Der Rabe ging in den Sturzflug und nahm Kurs auf seine Schulter. Ronan drehte im letzten Moment den Kopf zur Seite, um sich keinen Kratzer auf der Wange zu holen.

Bryde drückte die Eingangstür des Museums auf.

»War die nicht abgeschlossen?«, fragte Hennessy.

»Kann sein«, entgegnete Bryde. »Nach euch.«

Von innen war das Haus der lebendigen Geschichte ziemlich schäbig und dazu unfreiwillig komisch. Enge, vollgerümpelte Flure führten an Zimmern voller historischer Requisiten und ausgeblichenen Schaufensterpuppen vorbei. Hier lauschten Schüler in Latzhosen und/oder mit Zöpfen in einem altmodischen Klassenzimmer einer Lehrerpuppe. Dort untersuchte ein wohlgenährter Arzt einen weitaus weniger wohlgenährten Patienten in einem Feldlazarett. Hier demonstrierten Aktivistinnen für das Frauenwahlrecht. Dort verschwanden Bergarbeiter in einer Mine aus Beton. Die Gesichter der Puppen waren cartoonhaft schlicht. Und es stank, mehr als man von einem Gebäude erwarten sollte, das seit den Siebzigern leer stand.

»Dieses Haus beobachtet mich«, sagte Ronan. »Und was mieft hier eigentlich so?«

»›Das Haus der lebendigen Geschichte bietet Ihnen die Möglichkeit, mit allen Sinnen in die Vergangenheit einzutauchen.‹« Hennessy hatte eine Broschüre gefunden und las daraus vor, während sie im Slalom um die überall herumstehenden Kisten und Möbelstücke lief. »›Über fünfhundert einzigartige Duftkompositionen untermalen unsere mannigfaltigen‹ – mannigfaltigen? Im Ernst? – ›Dioramen und nehmen den Besucher mit auf eine unvergessliche Reise in die Welt von damals.‹«

»Helft mir mal hier«, sagte Bryde.

Er hatte bereits zwei Schaufensterpuppen auf den Gang geschleppt und machte sich soeben auf den Weg, um eine dritte zu holen. Schulter an Schulter reihte er sie auf. Er musste nicht erklären, warum er das tat. In dem spärlichen Licht wirkten die Puppen beunruhigend lebensecht und würden jeden Eindringling zumindest kurz stutzen lassen. Eine Scheinarmee.

Ronan dämmerte allmählich, dass Bryde immer als Erstes die Psyche ins Visier nahm. Zwar war er durchaus bereit, zu kämpfen, aber wenn seine Feinde sich vorher bereits selbst außer Gefecht setzten, umso besser.

»Willst du weiter einfach da rumstehen?«, fragte Ronan Hennessy, während Bryde und er der Reihe nach einen Geschäftsmann in flottem Dreiteiler, eine Trümmerfrau in geblümtem Kittel und drei Kadetten in staubigen Uniformen auf dem Gang arrangierten.

»Ich fasse keine minderwertige Kunst an.« Hennessy zeigte auf einen Matrosen mit unterschiedlich großen Augen. »Nicht, dass das noch auf mich abfärbt. Wäre doch ’ne Schande, auf die Weise meine Kräfte zu verlieren.«

»Wenn ich dieselbe Strategie in Bezug auf Träumer fahren würde, wärt ihr beide jetzt nicht hier«, merkte Bryde ohne eine Spur von Gehässigkeit an.

Ronan stieß einen leisen Pfiff aus und drehte einen Lokführer zu ihnen um. »Treffer, versenkt. Der Typ hier guckt auch schon ganz beeindruckt. Oder eher … als hätte er Verstopfung. Na ja, jedenfalls –«

»›Zudem‹«, schnitt Hennessy ihm das Wort ab und hob erneut ihre Broschüre, »›steht das Haus der lebendigen Geschichte für Geburtstagsfeiern und Schulausflüge mit Übernachtung zur Verfügung. Vergünstigter Eintritt für Gruppen ab vier Personen.‹ Ja, Scheiße. Da hätten wir jetzt richtig fett Kohle sparen können, wenn wir ein Träumer mehr wären! Collegegeld für Ronan Lynch. Also nicht, damit er studieren kann, wenn er mal groß ist, sondern für den Tag, an dem er unweigerlich eins abfackelt und die Versicherung nicht zahlt. Bryde-Schätzchen, wollen wir nicht einen Tramper aufnehmen? Einen weiteren Träumer, von dem du vielleicht weniger enttäuscht bist als von mir? Wir im Viererpack, wäre doch super!«

Bryde trat von den Puppen zurück und klopfte sich den Staub von den Händen. »Hättet ihr gern einen weiteren Träumer?«

Darüber wollte Ronan nicht mal nachdenken, denn allein die Vorstellung versetzte ihn zurück an so manchen Abend in den Schobern, wenn er mal wieder in einer Gedankenspirale feststeckte. Wenn er sich ausmalte, wie er nach langer Beziehung mit Adam starb – an Altersschwäche oder einem ungesunden Lebensstil oder sonst was – und Adam jemand Neues kennenlernte. Wie sie dann später im Himmel plötzlich zu dritt waren und Adam, anstatt die Ewigkeit mit Ronan zu verbringen, seine Zeit zwischen ihm und diesem Nachfolger, der sich in Adams Witwerherz gewieselt hatte, aufteilen musste, was den Himmel gleich weitaus weniger himmlisch wirken ließ. Und da war er noch nicht mal bei der Frage angelangt, ob Adam es mit seinen agnostischen Tendenzen überhaupt je in den Himmel schaffen würde.

»Drei ist doch ’ne gute Zahl«, brummte Ronan mit einem finsteren Blick in Hennessys Richtung, während sie weiter ins Museum gingen. »Und mehr passen sowieso nicht in Burrito.«

»Auf den Rücksitz gehen ja wohl noch locker zwei Leute zusätzlich«, wandte Hennessy ein.

»Nicht wenn die Person auf dem Rücksitz sich hinlegen will.«

»Im Gegenteil – jetzt wo du’s sagst: In Löffelchenstellung wäre da hinten wahrscheinlich sogar für vier oder fünf Leute Platz. Und im Kofferraum noch mal für zwei mehr.«

»Träumer!«, brachte Bryde sie zum Schweigen.

Er war vor einer Flügeltür am Ende des Puppenflurs stehen geblieben, die Hand schon auf der Klinke. Alles, was man im Halbdunkel von ihm erkennen konnte, waren sein heller Schopf, der bleiche Hals und die weißen Längsstreifen an den Ärmeln seiner grauen Jacke. Dadurch erinnerte er ein bisschen an ein Strichmännchen oder ein Skelett, reduziert auf ein Minimum an menschlicher Form.

Als er die Tür aufschob, fiel warmes Licht in den Flur.

Der Raum dahinter war turnhallengroß, das Dach eingestürzt, und das wohl schon seit langer Zeit, denn ein von wildem Wein umschlungener Baum wuchs durch die gezackte Öffnung der Abendsonne entgegen. Staubkörnchen glitzerten im Licht. Es roch nach echtem Leben, nicht nach einem von fünfhundert einzigartigen, die mannigfaltigen Dioramen untermalenden Duftkompositionen.

»Ja«, sagte Bryde wie zur Antwort auf eine Frage.

Das Ganze war eine Kathedrale des Verfalls. Ein paar Tauben flatterten jäh aus einem dunklen Winkel. Ronan prallte erschrocken zurück; Hennessy riss reflexartig die Hände über den Kopf. Nur Bryde zeigte keine Reaktion, sondern sah zu, wie die Vögel durch das Loch im Dach verschwanden. Chainsaw nahm mit einem begeisterten arrk, arrk, arrk, das sie riesig und bedrohlich klingen ließ, die Verfolgung auf.

»Fuck«, fluchte Ronan, wütend, sich so erschreckt zu haben.

»You«, erwiderte Hennessy.

Ein Stück weiter erhob sich ein weiterer kleiner Vogelschwarm aus einer blütenstaubüberzogenen Kutsche und brachte dabei eine der Puppen zu Fall, die platt auf dem Gesicht landete.

»Heute ist das hier ein Museum für etwas völlig anderes«, sinnierte Bryde. »Und im Grunde ein sehr viel ehrlicheres.«

Zwischen all dem Laub und wuchernden Unkraut war kaum mehr zu erkennen, was das Diorama ursprünglich dargestellt hatte, aber ein halb unter Efeu verborgener Feuerwehrwagen nicht weit von der Kutsche ließ eine Straßenszene vermuten. Bryde liebte es, sich auf vergangene menschliche Errungenschaften zu besinnen.

»Wie viele Jahre es wohl gedauert hat, bis es hier aussah wie heute?«, überlegte er laut. Er strich mit der Hand über den mächtigen Baumstamm und sah hoch zum kaputten Dach. »Wie viele Jahre lang musste das alles unberührt bleiben, damit hier wieder ein Baum wachsen konnte? Und wie viele Jahre müssen noch vergehen, bis es komplett verschwunden ist? Wird es überhaupt jemals verschwinden? Oder bleibt ein ehemaliges Museum bis in die Ewigkeit ein Museum für die Menschheit? Wie lange bleibt etwas bestehen, das wir in die Wirklichkeit träumen? Darum dürfen wir nichts Permanentes träumen, nichts Dauerhaftes. Wie egoistisch wäre es, einfach davon auszugehen, dass unser Traum für alle Zeiten erwünscht oder nützlich sein wird? Wir müssen uns gut überlegen, was aus unseren Träumen werden soll, wenn wir irgendwann nicht mehr da sind. Aus unserem Vermächtnis.«

Ronans Vermächtnis waren ein verwüstetes Wohnheimzimmer in Harvard, ein unsichtbares Auto und ein Schwert mit der Inschrift ZUM ALBTRAUM ERWACHT.

Alles Lebendige, was er je geträumt hatte, würde in der Sekunde seines Todes in tiefen Schlaf fallen.

Hennessy erstarrte.

Sie erstarrte so vollständig, dass Ronan es ihr unwillkürlich nachtat und sie fragend ansah, bis auch Bryde sich schließlich zu ihnen umdrehte.

»Ah«, sagte er schlicht.

Seelenruhig bückte er sich und griff ins Dickicht zu Hennessys Füßen. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine schwarze Schlange in der Hand. Er hatte sie knapp hinter dem Kopf gepackt, und ihr muskulöser Körper wand sich träge in seinem Griff.

Bryde betrachtete das Tier. Das Tier betrachtete ihn.

»Ist doch viel zu kalt für dich, Kleine«, sagte er. »Solltest du nicht lieber schlafen?« An Ronan und Hennessy gewandt, fügte er hinzu: »Das hier ist bei Weitem nicht das gefährlichste Wesen in diesem Raum. In freier Wildbahn würde diese Schlange vielleicht zehn Jahre alt werden und nicht mehr Mäuse töten, als sie zum Überleben braucht. Elegant. Effizient. Faszinierend, wenn ihr mich fragt. Sie ist das Sinnbild eines bewussten Atemzugs. Ein, aus.«

Er hielt Hennessy die Schlange hin.

Falls Hennessy Angst hatte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Vorsichtig nahm sie Bryde die Schlange ab und hielt sie auf dieselbe Weise fest wie er.

Einen Moment lang zappelte das Tier wie wild, krümmte und kringelte sich, und auch Hennessy krümmte und kringelte sich aus der Reichweite des wütend durch die Luft peitschenden Schwanzes. Irgendwann schienen Schlange und Frau zu einer Übereinkunft zu kommen und standen einträchtig im wuchernden Grün.

»Hammer«, hauchte Hennessy. »Die würde ich gern malen.«

»Schau sie dir an«, sagte Bryde. »Schau sie dir ganz genau an. Präg sie dir ein. Welche Regeln liegen ihr zugrunde? Wenn du sie träumen solltest, was müsstest du dann über sie wissen?«

Ronan hatte die Highschool geschmissen und nie akademische Ambitionen gehabt, aber das hier mochte er. Er mochte alles daran. Er mochte es, die perfekt symmetrische Anordnung der Schuppen auf sich wirken zu lassen. Die kühle, trockene Haut, die nur so lange wie ein starrer Panzer wirkte, bis die Schlange sich bewegte und sich das ganze Konstrukt dehnte und zusammenzog, als führten die Muskeln darunter ein Eigenleben.

Er mochte es, seine Gedanken über die Schlange in Beziehung zu seinen Träumen zu setzen.

Schließlich nahm Bryde Hennessy die Schlange wieder ab und setzte sie behutsam zurück ins Gestrüpp. »Wenn das hier ein Museum für die Wachen ist, wie würde wohl eins für Träumer aussehen?«, fragte er mit einem Anflug von Verbitterung. »Hier geht es um eine Zivilisation, die sich über ihre eigene Unzulänglichkeit und Vermessenheit derart im Klaren ist, dass sie alles tut, um die Lebenszeichen einer anderen Spezies mit ihrer eigenen Kakofonie aus gescheiterten Ansprüchen und übersteigertem Geltungsdrang zu übertönen. Ein paar wenige Stimmen versuchen, dagegen anzuschreien, und jetzt stellt euch vor, diese Stimmen befänden sich plötzlich in der Mehrheit. Was für eine andere Welt das wäre! So. Masken auf.«

Ronan zog seine Schlafmaske aus der Jackentasche. Die beiden schlichten Seidenbinden waren das Erste, was Hennessy und er unter Brydes Anleitung geträumt hatten – Masken, die ihre Träger unverzüglich einschlafen ließen und die Bryde für sicherer hielt als Ronans geträumte Schlaftabletten.

Träume sollte man niemals zu sich nehmen, hatte Bryde ihn belehrt. Im besten Fall machen sie dich hungriger denn je, und im schlimmsten Fall übernehmen sie die Kontrolle über deinen Körper. Träume sind wie Wörter, wie Gedanken. Sie haben immer mehr als bloß eine Bedeutung. Bist du sicher, dass diese Dinger dich nur haben schlafen lassen?

Ronans Hände wurden heiß; sein Herz fing an zu klopfen. Die Maske hatte nur ein paar Wochen gebraucht, um einen pawlowschen Reflex in ihm auszulösen.

Bryde ließ den Blick durch den verwüsteten Raum schweifen. »Kommt, suchen wir uns ein Plätzchen zum Träumen.«

Zum Träumen. Zum Träumen: geplant, gezielt. Zum Träumen: gemeinsam mit zwei anderen Träumern.

Ronan spürte ein vertrautes, überwältigendes Gefühl von Wärme, so stark, dass er es endlich einordnen konnte:

Zugehörigkeit.

2

 

Im Traum sah Hennessy das Gespinst.

Es war immer derselbe Traum.

Darin herrschte Dunkelheit. Sie selbst war nicht von Bedeutung. Kein Rädchen im Getriebe, kein Grashalm auf der Wiese. Allerhöchstens ein Staubkorn im Auge einer dahinpreschenden Kreatur, schnell weggeblinzelt. Aber nicht mehr.

Ganz langsam hellte der Traum sich auf, und das Licht brachte etwas zum Vorschein, was schon die ganze Zeit dort gewesen sein musste. Etwas. Ein Objekt? Eher eine Präsenz. Eine Situation. Die Kanten waren geometrisch gezackt, filigran zerfranst, wie eine Schneeflocke unter dem Mikroskop. Es war gewaltig. Und zwar nicht gewaltig wie ein Sturm oder ein Planet, sondern gewaltig wie Trauer oder Hass.

Das war das Gespinst.

Es war nicht direkt etwas, was man sah. Eher etwas, was man spürte.

Als Hennessy Jordan geträumt hatte, hatte Jordan zusammengerollt hinter ihr gelegen, ihre Nähe gleichermaßen tröstlich wie verstörend. Tröstlich, weil sie warm und vertraut gewesen war, eben genau wie Hennessy. Aber auch verstörend, weil Hennessy immerhin zehn Jahre lang allein geschlafen hatte und daher erschrocken hochgefahren war, als Jordans Atem ganz sachte die Härchen in ihrem Nacken streifte. Niemand kann sich für den schleichenden Schock wappnen, der mit der Erkenntnis einhergeht, eine Kopie seiner selbst geschaffen zu haben. Hennessy wusste nicht, was sie Jordan in dieser Welt der Wachen schuldig war, nachdem sie sie hergeholt hatte. Sie wusste nicht, ob sie und Jordan beste Freundinnen oder Rivalinnen sein sollten. Sie wusste nicht, ob Jordan versuchen würde, Hennessy ihr Leben streitig zu machen. Sie wusste nicht, was aus ihr werden sollte, wenn Jordan nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte und auf eigene Faust in die Welt hinauszog. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn Jordan sich häuslich bei ihr einrichtete und beschloss, für immer zu bleiben. Möglicherweise würde Hennessy keinen Tag mehr allein sein, und sie wusste nicht, ob das gut war oder schlecht.

Dieses Gefühl.

Das war das Gespinst.

Nachdem Hennessy June geträumt hatte, ihre zweite Kopie, war sie spätnachts barfuß den Flur der schicken neuen Vorstadthütte ihres Vaters hinuntergetappt. Im Gehen hatte sie die Finger an der Wand entlanggleiten lassen, weil ihre Mutter einmal gesagt hatte, saubere Flächen mit Fettfingern zu verunzieren sei ein kleiner Akt der Rebellion. Und dann hatte sie sich plötzlich selbst am anderen Ende des Flurs stehen sehen. Wie kann das denn sein?, hatte sie gedacht, ich hab Jordan doch in meinem Zimmer gelassen, ehe ihr June wieder eingefallen war. Doch der Gedanke hatte sie kein bisschen getröstet, weil es nämlich nach Jordan gar keine weitere Kopie von ihr mehr hätte geben dürfen, und was, wenn June gar keine echte Kopie von ihr war, sondern bloß ein Monster mit Hennessys Gesicht, und was, wenn Hennessy nach June noch eine Kopie von sich träumen würde, und dann noch eine, und irgendwann hatte Hennessy angefangen zu schreien, schreien, schreien, woraufhin auch June angefangen hatte zu schreien, schreien, schreien, bis schließlich Hennessys Vater aus dem Schlafzimmer gebrüllt hatte, was denn da draußen los sei, und wenn Hennessy Hilfe brauche, solle sie herkommen und das sagen oder gefälligst die Klappe halten und ihn schlafen lassen, verdammt noch mal.

Dieses Gefühl.

Das war das Gespinst.

Als Hennessys Mutter, J. H. Hennessy, noch am Leben gewesen war, hatte sie ihre Tochter manchmal zu sich gewinkt, wenn sie gerade arbeitete, und ihr einen Rotmarderpinsel in die Hand gedrückt. Stolz und Panik hatten Hennessy erfüllt, während sie die ersten Spuren auf einem Gemälde hinterließ, das womöglich einmal seinen Weg zu reichen Kunden oder in eine Galerie finden würde. Minuten und Stunden verbrachten Hennessy und ihre Mutter in friedlichem Schweigen vor der Leinwand, bis kaum mehr zu sagen war, wer von ihnen welchen Strich gesetzt hatte. Aber irgendwann kam unweigerlich Bill Dower nach Hause, Hennessys Vater, und kaum dass Jay unten die Haustür zufallen hörte, entriss sie Hennessy so energisch den Pinsel, dass sie dabei mitunter die Farbpalette umstieß oder die Leinwand bespritzte. Mutter ab. Auftritt Ehefrau. Jay vereinte zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten in sich, und die Verwandlung von einer zur anderen war jedes Mal dramatisch. Und auch Hennessy machte in diesen Momenten eine Verwandlung durch: innerhalb weniger Sekunden von überbordender Freude zu Verwirrung und Scham.

Dieses Gefühl.

Das war das Gespinst.

Zehn Jahre lang war Hennessy zwischen Liebe und Verachtung für ihre Klone hin- und hergerissen gewesen, hatte sich gesorgt, sie könnten sie verlassen, sich gewünscht, sie wären nicht so abhängig von ihr, bis Jordan ihr eines Tages eröffnet hatte, die anderen seien allesamt von den Regulatoren abgeknallt worden und Hennessy würde sie nie wiedersehen, womit sich das Ganze erledigt hatte.

Dieses Gefühl.

Das war das Gespinst.

Gewaltig, allumfassend, unentrinnbar.

Kraftraubend.

»Hennessy«, sagte Bryde.

Und das Gespinst verschwand.

So war es immer, wenn Bryde in ihrem Traum auftauchte. Was für ein cooler Trick. Das Gespinst hatte Angst vor ihm. Hennessy wollte wissen, warum.

»Ist nicht wichtig«, sagte Bryde. »Was fühlst du?«

Seit sie Ronan und Bryde kannte, fragte sie sich andauernd, wie andere träumten. Sie selbst träumte vom Gespinst. Immer, ausnahmslos. Aber die meisten Leute hatten jede Nacht unterschiedliche Träume. Und obwohl auch Hennessys Träume irgendwann mal von etwas anderem gehandelt haben mussten, konnte sie sich nicht daran erinnern, es sich nicht mal mehr vorstellen.

Sie fragte sich, wie Ronan und Bryde es überhaupt schafften, sie in der Traumwelt ausfindig zu machen. Sie schliefen ein, träumten ihre eigenen Träume und dann –

»Bleib bei der Sache«, fuhr Bryde fort. »Lass deine Gedanken nicht abschweifen. Wie viel Kraft spürst du?«

Beschissen viel, dachte Hennessy. Genug, um was richtig Großes zu träumen. Genug, um das komplette Gespinst in die Wirklichkeit zu holen.

»Hör auf, es zu rufen«, sagte Bryde. »Ich lasse nicht zu, dass es zurückkommt.«

Ich hab es nicht gerufen.

Bryde schenkte ihr ein schmales Lächeln. Viele Menschen gaben etwas über sich preis, wenn sie lächelten. Die knallhärtesten Kerle verwandelten sich in Knuddelbären; mütterliche Nachbarinnen entpuppten sich als bösartige Lästermäuler; schüchterne Mauerblümchen mauserten sich zu Entertainern; die größten Klassenclowns offenbarten tiefe Depressionen. Aber nicht Bryde. Bryde war und blieb ein Rätsel.

»Wo ist deine Stimme? Bleib bei der Sache. Und jetzt guck dich um. Ich hab dir eine Leinwand gegeben, und du hast sie einfach weiß gelassen.« Bryde deutete um sie. Seit das Gespinst weg war, bestand der Traum nur noch aus ihrem Gespräch, sonst nichts. »Erfolg führt unweigerlich zu Faulheit. Wer, der sich gerade eine steile Leiter hochgequält hat, käme auf die Idee, direkt die nächste in Angriff zu nehmen? Der Ausblick ist schließlich schon gut genug. Du gibst dir überhaupt keine Mühe. Warum nicht?«

Hennessys Stimme war weiterhin nichts als ein Gedanke. Es gibt ein Wort für Leute, die immer wieder dasselbe versuchen und trotzdem auf ein anderes Ergebnis hoffen.

»Künstler?«, schlug Bryde vor. »Früher hattest du kein Problem damit, zu scheitern.«

Er hatte recht, und das wurmte sie.

Hennessy hatte ihre gesamte Jugend hindurch mit der Beschaffenheit verschiedener Pigmente experimentiert, hatte getestet, inwiefern Dachshaarpinsel sie anders verteilten als welche aus Eichhörnchenfell, Schweineborsten oder Kolinskypelz, hatte untersucht, welche Farben einander Leuchtkraft verliehen oder entzogen, hatte die Form des menschlichen Skeletts unter der Haut studiert, hatte jede freie Fläche in Reichweite bearbeitet. Sie hatte sich ausprobiert, war gescheitert. Immer wieder. Genauso viel Zeit, wenn nicht sogar mehr, hatte sie damit verbracht, ihren Geist zu schulen. Wahrnehmung und Vorstellungsvermögen waren die zwei größten potenziellen Schwachpunkte eines Künstlers. Augen neigten dazu, zu sehen, was sie sehen wollten, nicht das, was wirklich da war. Schatten gerieten zu dunkel. Winkel wurden schief. Formen dehnten sich aus, zogen sich zusammen. Man musste dem Gehirn erst beibringen, zu sehen, ohne dabei zu fühlen, und erst nach und nach die Gefühle wieder zulassen.

Ausprobieren, scheitern, ausprobieren, scheitern.

Hennessy wusste nicht, woher sie damals die Energie dafür genommen hatte, über so viele Stunden und Tage und Wochen und Jahre hinweg.

»Schon besser«, sagte Bryde.

Der Traum hatte die Gestalt eines Ateliers angenommen.

Hennessy hatte ihn nicht bewusst dazu gemacht, aber Träume waren eben manchmal hinterlistige Biester. Sie gaben einem das, was man wollte, nicht das, was zu wollen man behauptete.

Das Atelier wirkte absolut real. Es roch herrlich nach Produktivität, irgendwie erdig, chemisch. Überall standen Staffeleien mit Leinwänden in sämtlichen Größen. Farbe glitzerte auf Paletten. In leeren Gläsern lagerten Pinsel mit den Borsten nach oben wie struppige Blumensträuße. Die alten Bodendielen waren unter Abdeckplanen verborgen. Bryde saß auf einem Stuhl vor einer großen Fensterfront, die Beine übereinandergeschlagen, einen Arm lässig über die Rückenlehne gehängt. Jordan hätte sicher angemerkt, dass er ein gutes Porträtmodell abgeben würde. Den Hintergrund bildeten eine Stadt aus historischen Bauten und dichter Wald, zerschnitten von Highways. Vom Horizont her zog ein Gewitter auf, die Wolken fleckig und verschlissen.

Wie so typisch für Träume, setzte auch dieser alles daran, Hennessy das Gefühl zu geben, sie wäre schon mal hier gewesen, dabei wusste sie, dass das nicht stimmte.

Das hier ist Jordans Atelier, beharrte der Traum. Wenn du es nicht erkennst, liegt das nur daran, dass du sie so lange nicht mehr gesehen hast. Warum meldest du dich nicht mal bei ihr?

»Sie meldet sich ja auch nicht bei mir«, verteidigte sich Hennessy.

»Na also. Klingt, als hätte da jemand seine Stimme wiedergefunden«, merkte Bryde an. »Du bist nicht zwei Hennessys auf einmal. Die schlafende und die wache. Was dich ausmacht, ist mehr als die Summe deiner Gefühle, mehr als dein Es. Was dich ausmacht, ist auch die Art, wie du das alles zu bewältigen gelernt hast. Träumen, Aufwachen. Für dich ist beides dasselbe; wann glaubst du mir das endlich? Nimm die Leinwand und lass dich darauf aus. Die Ley-Linie hört dir zu. Bitte sie um das, was du gern hättest.«

Hennessy trat vor eine Leinwand, die ihr bis zur Stirn reichte. In ihrer Hand lag ein Pinsel, der gleichzeitig ein Messer war. Sie stellte sich vor, wie sie die Klinge in die Leinwand stieß, wie das Gewebe einer Wunde gleich aufklaffte. Das dramatisch erhebende Gefühl, die perfekte Ebenmäßigkeit dieser unberührten Fläche zu zerstören.

»Ich will Hennessy, die Künstlerin«, forderte Bryde. »Hennessy, die Schöpferin, nicht die Zerstörerin. Was würde diese Hennessy jetzt tun, wenn ihren Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt wären?«

»Du meinst wohl Jordan«, schnaubte Hennessy. »Sie ist die Künstlerin von uns; ich bin bloß die Fälscherin.«

»Ihr seid ein und dieselbe Person.«

»Ich glaub, du brauchst ’ne Brille, Kumpel.«

»Du warst schon eine Künstlerin, bevor du Jordan geschaffen hast.«

Doch so weit konnte Hennessy sich nicht zurückerinnern. Jedenfalls nicht an das, was wirklich zählte.

»Okay, von mir aus«, fuhr Bryde unwirsch fort. »Dann zeig mir eben, was Jordan jetzt machen würde. Vielleicht hört die mir ja besser zu.«

Wie würde Jordan diesen Traum nutzen? Was wäre, wenn Hennessy der Traum wäre und Jordan diejenige mit dieser unfassbaren Fähigkeit?

Kunst, hatte Jordan einmal zu Hennessy gesagt, ist größer als die Realität.

Das Messer verschwand; Hennessy malte. Unter dem Pinsel entstand ein Streifen satten Purpurrots, ein Purpurrot, wie noch kein Mensch es je zu Gesicht bekommen hatte.

Jordan wäre begeistert. Neben dieser Farbe würde selbst ihr echtes Purpur verblassen.

Warum hatte Jordan nicht vehementer darauf bestanden, Hennessy auf ihr Abenteuer zu begleiten?

Das weißt du genau, knurrte der Traum.

Jordan hatte nur sehr halbherzig protestiert und sich dann eilig mit Declan vom Acker gemacht. Sie hatte ewig auf eine Gelegenheit gewartet, Hennessy loszuwerden, und jetzt hatte sich endlich eine geboten.

Das Gewitter draußen kam näher; die Wolken wurden immer finsterer und scharfkantiger.

»Nicht abschweifen«, warnte Bryde.

Die Farbe auf der Leinwand nahm die Form eines purpurroten Mundes an. Es war Hennessys Mund. Nein. Jordans. Nahezu gleich und doch in ein paar wesentlichen Punkten unterschiedlich. Jordans Mund lächelte. Hennessys fälschte sein Lächeln, indem er die Form fremder Lippen nachahmte.

Sorgfältig fügte Hennessy eine Schattierung hinzu, um den Lippen Kontur zu verleihen. Das Schwarz war dunkler und wahrhaftiger, als schwarze Farbe in der Welt der Wachen es je sein konnte.

Bryde stand so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihm umkippte. »Ja. Ja, genau so. So geht Träumen. Fabrizier keine vegane Kopie eines Burgers. Iss Gemüse und genieß es, verdammt noch mal.«

Ob Declan und Jordan sich schon geküsst hatten? Wahrscheinlich. Hennessy tauchte den Daumen in das zarte Hellrosa auf ihrer Palette und setzte damit einen Glanzpunkt auf der Unterlippe. Sofort wirkte das Lippenpaar feuchter, geschwungener, erwartungsvoller. Das Bild war mehr als real. Es war hyperreal. Es zeigte nicht bloß einen Mund. Es zeigte, wie der Mund sich anfühlte. Es war Anblick, Erinnerung und Empfindung zugleich, auf eine Weise, wie es nur im Traum möglich war.

»Stopp«, sagte Bryde. »Das nimmst du mit in die Wirklichkeit. Lass dich darauf ein. Es darf sich nicht mehr verändern. Bitte die Ley-Linie, dir zu helfen. Sie kann –«

Er verstummte, und sein Blick wirkte plötzlich abwesend.

Räder, schoss es Hennessy aus heiterem Himmel durch den Kopf.

Räder?

»Ronan Lynch!«, bellte Bryde. »Hör sofort auf damit!«

Hennessy registrierte gerade noch, dass sich plötzlich keine Luft mehr im Raum befand, was seltsam war, weil Atmen in ihrem Traum gar keine Rolle gespielt hatte.

Und dann verschwand alles.

3

 

Hennessy schreckte hoch.

Sie bewegte sich.

Und zwar ziemlich schnell.

Es war wie in einem Film. Sie sah sich selbst von oben, blickte auf sich hinab wie Gott auf seine Schöpfung. Eine schlanke, junge Schwarze Frau mit irgendwelchen Fitzeln im Haar, purzelte Hals über Kopf über Arsch einen riesigen Berg aus gestapelten Heuballen hinunter. Sie steckte in etwas fest, was einem riesigen hölzernen Hamsterrad glich.

Es kam selten vor, dass die Welt der Wachen verrückter schien als die Traumwelt. Dennoch erschloss sich ihr das große Ganze erst, als sie unten auf dem Boden der Scheune landete, und zwar mit solcher Wucht, dass es ihr die Luft aus den paralysierten Lungen trieb.

Und das große Ganze war: Räder! Räder! Räder!

Tatsächlich bestand das Gebilde, in dem sie gefangen war, aus mehreren ineinander verkeilten Rädern – ein kleiner Teil der unzähligen, die die gesamte Scheune füllten. Hennessy sah muskulöse Traktorräder, filigrane Fahrradreifen, winzige Spielzeugräder. Mannshohe Kutschenräder aus Holz. Plastiklenkräder, gemacht für Kinderhände. Von den Dachbalken baumelten Speichen. Zwischen den Heuballen klemmten Felgen. Die Räder lehnten an Schaufensterpuppen und Türen. Und jedes von ihnen war mit einem einzigen Wort versehen, aufgedruckt oder eingebrannt: tamquam. Es wirkte wie eine Kunstinstallation. Ein Schülerstreich. Schierer Wahnsinn.

Hennessys Gehirn schaltete auf Störung.

Aus einer Nische ihres Bewusstseins kam ein Flüstern: Es ist alles wie immer. Die Räder waren schon immer hier. Aber der Rest von ihr wusste es besser. So war es jedes Mal, wenn sie den Traum eines anderen Träumers Gestalt annehmen sah. Die Dinge erschienen nicht einfach wie durch Zauberhand. Nein, es war, als würde die Traummagie einen Teil ihres Gedächtnisses überschreiben. Nicht vollständig natürlich. Sondern gerade genug, um zwei Wirklichkeiten zu erschaffen. Eine, in der die Traumobjekte schon immer existiert hatten, und eine, in der es sie nicht gab.

Störung.

»Ronan.« Bryde klang verärgert.

Ein zarter Lichthauch erhellte Bryde auf halber Höhe des Heustapels. Während eines Erkundungsgangs durchs Museum hatten sie drei geeignete Orte zum Träumen gefunden: eine enge U-Boot-Kabine, ein Himmelbett im Schlafgemach irgendeiner historischen Persönlichkeit und diese altertümliche Scheune, die so realistisch wirkte, dass sie womöglich noch aus den Tagen stammte, bevor das Gebäude zum Museum geworden war.

Bryde kletterte die Heuballen hinunter. »Wird das nicht irgendwann mal langweilig?«, brummte er.

Denn das hier war nicht der erste Raum, den Ronan verwüstet hatte, seit sie mit Bryde unterwegs waren. Zuvor hatte er blutende Felsen aus dem Boden einer Berghütte wachsen lassen. Einen Minitornado durch das Wohnzimmer eines leer stehenden Bungalows gejagt. Die Außenwand eines schmuddeligen Motels mit einem unsichtbaren Auto eingerammt. Er hatte Räume voller toter Regenwürmer, rauschender Mikrofone, Schulbücher und abgelaufenem Frühstücksspeck hinterlassen, jedem Postleitzahlenbereich, in dem sie untergeschlüpft waren, seinen eigenen unauslöschlichen Ronan-Stempel aufgedrückt.

Hennessy musste zugeben, dass irgendein kleiner, ziemlich arschiger Teil von ihr froh über all das war. Denn solange Ronan Lynch, der große Ronan Lynch, auf diesem Level Mist baute, erschien ihr ihre eigene Unfähigkeit, das Gespinst aus ihren Träumen zu verbannen, nicht ganz so gravierend.

»Hennessy, bist du wach?«, fragte Bryde ins Nichts.