Wild Creatures - Die Jagd von Narroway - Rhiannon Williams - E-Book
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Wild Creatures - Die Jagd von Narroway E-Book

Rhiannon Williams

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Beschreibung

Grandiose Tierfantasy für Rebel Girls und Boys – preisgekrönt und unfassbar spannend!

Ottilie und ihr jüngerer Bruder haben sich schon immer alleine durchgeschlagen. Als Gulliver eines Nachts plötzlich verschwindet, setzt Ottilie alles daran ihn wiederzufinden und macht eine schreckliche Entdeckung: Gully wurde von einer geheimen Organisation entführt, die Monster jagt. Als Junge verkleidet mischt sich Ottilie unter die Jäger auf Fort Fiory, doch sie muss schnell feststellen, dass es nicht so einfach ist, Gulliver zu befreien. Gefangen in der Festung, die sich mitten im Reich der Wild Creatures befindet, wäre ein Fluchtversuch tödlich. Während Ottilie nach einem Ausweg sucht, lässt sie sich zur Tarnung als Monster-Reiterin ausbilden – und ist gut darin. Doch wie lange wird sie ihre wahre Identität geheim halten können?

Alle Bände der „Wild Creatures“-Reihe:
Wild Creatures – Die Jagd von Narroway (Band 01)
Wild Creatures – Schatten über Ford Fiory (Band 02)
Wild Creatures – Die Hexe aus dem Brackermoor (Band 03)

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Seitenzahl: 391

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Rhiannon Williams

Die Jagd von Narroway

Aus dem Englischen von Dagmar Schmitz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe: cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 2018 by Rhiannon Williams Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Ottlie Colter and the Narroway Hunt« bei Hardie Grant Egmont. Übersetzung: Dagmar Schmitz Lektorat: Christiane Rittershausen Umschlagillustration: Bente Schlick Karte von Georg Behringer Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik und Typografie aw · Herstellung: AJ Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-24224-4V001www.cbj-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1    Das Blitzlied

2    Die Sumpfgrotten

3    Bill

4    Die Entenklappe

5    Der Sumpfpicker

6    Ein Geschenk von Gurt

7    Von der Landkarte verschwunden

8    Der Marsch durch Narroway

9    Fort Fiory

10    Die Jagd von Narroway

11    Todeskrähen

12    Training

13    Skip, die Geheimnishüterin

14    Rat und Tat

15    Hero

16    Sinneswandel

17    Lampenfieber

18    Die Grünschnabel-Prüfung

19    Mentoren

20    Maestro, der Wingerslink

21    Ranglisten

22    Der Welkende Wald

23    Die Rote Schlucht

24    Der Barroghoul

25    Leos Entscheidung

26    Das Direktorat

27    Die neue Schauflerin

28    Der Fluch

29    Der Wind und der Wächter

30    Genesung

31    Das Ende des Sommers

Danksagung

Für Catrin, die das Geheimnis bewahrte.

1 Das Blitzlied

Ottilie sprang und verlor das Gleichgewicht. »Warte auf mich, Gully!«

Ihr Rock hatte sich in einem der Sträucher verfangen. Panisch riss sie sich los und fiel rückwärts in den Schlamm, der ihr bis zum Nacken hochspritzte. Hastig rappelte sie sich wieder auf und spürte, wie das kalte Wasser in ihre Stiefel sickerte.

»Gully!«, rief sie noch einmal und stolperte ihm durch das kratzige Gestrüpp hinterher. Er war erst sechs, also fast zwei Jahre jünger als sie. Eigentlich sollte Ottilie diejenige sein, die sagte, wo es langging, aber Gully rannte immer voraus.

»Was ist denn, Ottilie?« Gully kam zu ihr zurückgehüpft.

»Ich bin gestolpert.«

Gully grinste breit. »Du bist voller Schlamm.«

»Das ist nicht lustig, Gulliver!«

»Hast du dir das Bein aufgeschürft?« Als Gully vor ihr in die Hocke ging, um es sich anzuschauen, spannten sich seine eigenen Schorfkrusten über seine Kniescheiben. Ottilie dachte manchmal, dass sie aussahen wie eine Inselgruppe auf einer Landkarte.

»Es ist nur mein Rock«, sagte Ottilie.

»Jetzt komm endlich, wir sind fast da.« Gully zog sie weiter.

Ottilie und Gulliver Colter waren ein seltsames Paar. Sie waren nicht besonders groß und ziemlich dürr, hatten beide wilde Locken, kleine Ohren und schief stehende Zähne, aber damit endeten ihre äußerlichen Gemeinsamkeiten auch schon. Ottilie hatte helle Haut und eine mit Sommersprossen übersäte Nase. Gullys Nase und sein Gesicht schimmerten so bronzefarben wie die schartigen Kupfermünzen, die in Market Town in Umlauf waren. Seine großen Augen erinnerten Ottilie an den Mitternachtshimmel.

Ottilie wusste nicht, warum Gully und sie so unterschiedlich waren. Sie nahm es einfach hin. Es sah eben jeder anders aus. Sie kannte sogar einen Jungen, dessen Haare die Farbe von reifen Orangen hatten. Er hieß Peter Mervintasker. Old Moss hatte ihr einmal erzählt, dass Peter Mervintaskers Haare so orange leuchteten, weil seine Mutter vor seiner Geburt zu viele Karotten gegessen hatte, aber diese Geschichte kaufte ihr Ottilie schon seit Jahren nicht mehr ab. In der Umgebung der Sümpfe wuchsen keine Karotten, und um sich welche zu kaufen, hatte Mrs Mervintasker kein Geld. Niemand, den Ottilie kannte, hatte Geld, um sich Karotten zu kaufen.

»Weißt du, wo wir sind?« Gully schob sich zwischen den Farnen durch, die entlang des Longwood Forest wucherten.

»Ich weiß, wie man zum Sonnenbaum kommt, Gully!«

Eigentlich wusste sie es gar nicht. Wenn man immer nur hinterherlief, war es schwierig, sich den Weg zu merken.

Im Longwood Forest war es sogar noch schwieriger. In dem unheimlichen Wald konnte Ottilie nämlich nicht richtig klar denken, und sie wusste erst wieder, wo sie war, als sie auf die Feuchtwiese hinaustraten. Feines Spindelgras, das noch viel grüner als grüne Bohnen war, kitzelte ihre Ellbogen und ihre Füße sanken bei jedem Schritt ein wenig in den weichen Untergrund ein.

Vor ihnen kam der Baum in Sicht. Prompt ließ Gully ihre Hand los und stürmte darauf zu. Es war für sie beide der allerschönste Ort auf der ganzen Welt. Der Sonnenbaum stand mitten auf der Wiese, und seine fast weißen, gewundenen Äste ragten in alle Richtungen. Er hatte keine Blätter, doch auf seinen nackten Zweigen wuchsen riesige goldfarbene Blumen, die ihn in ein warmes Licht tauchten. Sie stanken erbärmlich nach verrottetem Eisen, aber das merkte man erst, wenn man die Nase direkt in die Blüten steckte. Ottilie hatte gelernt, Abstand zu ihnen zu halten, nachdem ihr Gesicht das letzte Mal so schlimm angeschwollen war.

Der Sonnenbaum eignete sich perfekt zum Klettern, aber heute waren sie nicht zum Spielen hergekommen. Sie waren hier, um nach ihrem Schatz zu schauen.

»Knirsch, knorsch, immer tiefer musst du graben und für deine Taten zahlen«, sang Gully leise vor sich hin.

»Hör auf, Gulliver, du weißt ja noch nicht mal, wie das Lied richtig geht.« Ottilie hasste das Blitzlied.

»Weiß ich wohl!«

»Nein, es heißt: ›… bis ganz tief unten musst du bohren, die Schläferin kommt keinen holen.‹«

»Peter Mervintasker sagt aber, dass es ›… immer tiefer musst du graben undfür deine Taten zahlen‹ heißt. Weil man vom Blitz getroffen wird, wenn man mit dem Lied das Gewitter heraufbeschwört.«

Das behaupteten alle über das Blitzlied. Ottilie hatte es zwar nie geglaubt, aber sie mochte das Lied trotzdem nicht.

»Ist auch egal«, sagte sie. »Komm, lass uns lieber nach unserem Schatz schauen.«

Ihr Schatz war in einer kleinen Holzkiste unter einem niedrig hängenden Ast des Sonnenbaums vergraben, in den Ottilie ein X geritzt hatte. Es dauerte bloß eine Minute, bis sie die Kiste mit den Händen ausgebuddelt hatten. Sie wischte sich die schmutzigen Hände an ihrem Rock ab und klemmte ihre erdverkrusteten Fingernägel unter den Deckel, um ihn aufzuhebeln.

»Krachzack, knister, knaster, der Blitz weiß, wo er einschlagen muss. Prassel, zischel, züngel, bei drei hinterlässt er seinen heißen Kuss«, sang Gully weiter, während er an einer Astgabel vor- und zurückschwang.

Ottilie beachtete ihn gar nicht. Stattdessen überprüfte sie den Inhalt der Kiste, um sich zu vergewissern, dass nichts fehlte. Es lagen mehrere Entenfedern darin, ein sternförmiger Stein, ein Silberknopf, den sie eigentlich lieber in Market Town zu Geld machen sollten, ein mit winzigen gelben Monden bestickter Stofffetzen und diverse andere kleine Kostbarkeiten, die sie über die Jahre gesammelt hatten.

»Weine, greine, Essenszeit, Mum keine Ruhe mehr bleibt.Knirsch, knorsch, immer tiefer musst du graben und für deine Taten zahlen.«

»So geht das Lied nicht.« Ottilie drückte den Deckel wieder auf die Kiste. »Es ist noch alles da.« Seit Peter Mervintasker ihr altes Versteck entdeckt und sich mit ein paar ihrer Schätze auf und davon gemacht hatte, schauten sie regelmäßig nach.

»Bald regnet es wieder.« Gully hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute in den Himmel.

Es waren tatsächlich große dunkle Wolken aufgezogen. Ottilie seufzte. Ihre Sachen waren schon hinüber, da brauchten Gullys Kleider nicht auch noch nass zu werden. In den Sümpfen dauerte es immer furchtbar lange, bis sie wieder trocken waren.

Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Für Ottilie fühlte es sich so an, als würde die Erde unter ihren Füßen beben, und ihre Zähne schlugen aufeinander.

Gully lachte. »Es gibt ein Gewitter!«

Ein Blitz zuckte zwischen den bedrohlich dunklen Wolken hindurch, die ihre Schatten über die Wiese warfen und alles Licht verschluckten.

»Dabei hab ich nur leise vor mich hin gesungen!«

»Das liegt nicht an dem Lied! Komm, wir machen uns lieber schnell auf den Heimweg«, sagte Ottilie und wandte sich zum Wald um.

»Ich will mir aber die Blitze angucken!« Gully schwang sich mit einem Bein auf einen Ast.

»Wir müssen nach Hause!« Ottilie packte ihn am Saum seines Hemds, um ihn herunterzuziehen.

»Ich will aber hierbleiben«, rief Gully und riss sich los.

Wieder zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Ottilie kniff die Augen zusammen, aber es war, als hätte jemand ihre Lider von innen leuchtend weiß angemalt. »Bitte, Gully. Die Sache gefällt mir nicht.«

Gully musterte sie einen Moment. Sie sah ihm an, dass er sie am liebsten ausgelacht hätte. Sie konnte fast hören, wie er sagte: Du bist so ein Hasenfuß, Ottilie! Doch statt sich über sie lustig zu machen, sprang er von dem Ast herunter, nahm ihre Hand und kehrte dem Sonnenbaum den Rücken zu. Auf dem Weg zurück durch das Spindelgras stampfte er zwar missmutig mit den Füßen auf, hielt aber weiter ihre Hand.

Wie aus dem Nichts wurden sie plötzlich von einer eisigen Windböe erfasst, die sie beinahe zu Boden riss. Dann krachte ein Donner über sie hinweg, dem noch im selben Augenblick ein Blitz folgte. Das Gewitter war direkt über ihnen. Ottilie presste, so fest sie konnte, die Augen zu, da hörte sie Gully entsetzt »Oh nein!« rufen und spürte, wie er ihre Hand losließ. Sie riss die Augen wieder auf und sah, wie er zu ihrer Schatzkiste zurückrannte.

Sie hatten sie nicht tief genug vergraben.

»Bleib hier, Gully! Wir sollten lieber schleunigst von hier verschwinden!«

Das nächste Donnergrollen war so ohrenbetäubend laut, dass Ottilie vor Schreck das Gleichgewicht verlor. Sie fiel hin und verfing sich dabei im hohen Spindelgras. Entsetzt lag sie da und starrte zum aufgewühlten schwarzen Himmel hinauf, aus dem ein gleißender Blitz hervorzuckte und mitten in den Sonnenbaum einschlug.

Ottilie drang der Geruch von brennendem Holz in die Nase. Sie hörte das Knistern von Flammen, die an feuchtem Gras leckten. Panisch rappelte sie sich auf und floh vor dem bedrohlich hellen Flackern, stolperte zwischen den Farnen hindurch und verschwand im Longwood Forest.

Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: Weg hier! Sie spürte weder die Dornen der Brombeersträucher, die an ihrem Rock rissen, noch die Zweige, die nach ihren Armen schnappten. Sie rannte einfach immer weiter und immer tiefer in den Wald hinein. Irgendwann blieb sie stehen und presste sich einen Moment lang keuchend an den geschuppten Stamm eines Baumfarns. Dann ließ sie sich im Schutz seiner gewaltigen Farnwedel zu Boden sinken, zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit ihren Armen.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte. Mit klopfendem Herzen schaute sie sich um. Sie war alleine im Longwood Forest. Aber das war nicht der Grund dafür, dass sie sich so schrecklich fühlte. Der Grund dafür war etwas viel Schlimmeres – Ottilie hatte Gully zurückgelassen.

Sie musste sofort umkehren und ihn suchen. Sie musste ihn zurückholen. Ottilie wusste, dass es das Richtige war. Sie wusste, dass es ihre Pflicht war. Aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie gab ihren Armen den Befehl, ihre Beine loszulassen. Steh auf!, dachte sie. Los, beweg dich!

Über ihr peitschte der Wind durch die Zweige und fegte heulend zwischen den Baumstämmen hindurch. Die Minuten rasten vorüber, aber sie war immer noch wie gelähmt.

Plötzlich glaubte Ottilie, aus weiter Ferne eine Stimme zu hören. Die Augen weit aufgerissen und mit tränenüberströmtem Gesicht blickte sie auf.

»Ottilie!«

Jemand rief nach ihr.

Ottilie öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie brachte keinen Ton heraus.

»Wo bist du, Ottilie?«

Jetzt klang die Stimme schon deutlich näher.

»Hier!«

Es war kaum mehr als ein heiseres Piepsen, aber wenigstens war es ihr gelungen, einen Laut von sich zu geben. Mehr schaffte sie nicht. Sie lauschte angestrengt, hörte Laub rascheln und das Knacken brechender Zweige. Das Rascheln und Knacken kam immer näher, bis er plötzlich direkt vor ihr stand. Gully kniete sich neben sie und legte ihr eine Hand aufs Knie.

»Ich wollte umdrehen und nach dir suchen. Das wollte ich wirklich«, sagte Ottilie, immer noch fest die Arme um ihre Beine geschlungen.

»Schon gut«, sagte Gully. »Jetzt hab ich dich ja gefunden.«

2 Die Sumpfgrotten

Fünf Jahre später …

Ihre Grotte war verlassen.

Ottilie zupfte am kleinsten der vielen Löcher in der einzigen Decke ihrer Mutter herum. Das Bett war unberührt, die Wolldecke glatt gezogen und an den Seiten eingeschlagen. Ottilie streckte sich und zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre linke Seite war über Nacht ganz steif geworden, dabei hätte sie gar nicht auf dem Boden zu schlafen brauchen. Seit sie denken konnte, ging es mit der Gesundheit ihrer Mutter Freddie langsam, aber sicher bergab, deshalb hatte Ottilie ihr schon vor Wochen ihre eigene, durchgelegene Matratze abgetreten, damit Freddie es ein bisschen bequemer hatte. Dafür fühlte sich Ottilie jetzt krumm und schief und hatte einen ziemlichen Groll im Bauch.

Dass Freddie nicht da war, überraschte sie nicht weiter – aber wo steckte Gully? Er war noch nicht zu Hause gewesen, als sie sich gestern Abend schlafen gelegt hatte. Das war zwar nichts Ungewöhnliches, aber morgens war er immer da. Ottilie kauerte sich ungelenk auf den glatten Kalksteinboden. Ihre eigene, fadenscheinige Decke fest um die Schultern gewickelt, runzelte sie die Stirn. War es zu früh, um sich Sorgen zu machen?

Nein.

Entschlossen richtete sie sich auf, zog sich die nächstbeste, mottenzerfressene Jacke über ihr Nachthemd, zwang ihre nackten Füße in die durchnässten, schlammverkrusteten Stiefel und entriegelte die Tür.

Die Grotte der Colters gehörte zu den wenigen in der Gegend, die mit einer richtigen Tür ausgestattet waren. Die Sumpfgrotten waren eine Siedlung aus Höhlen und Tunneln am Rand des Brackermoors und wurden von einem Mann verwaltet, der von allen nur »der Wärter« genannt wurde.

Die Höhlen waren jahrelang verlassen gewesen, bevor sich hier die ersten Bewohner niederließen. Niemand wusste, wer die Türen eingebaut hatte, die die einzelnen Kammern voneinander trennten. In der Hauptkammer gab es sogar Fensterläden vor den Löchern, die in den Höhlenwänden klafften. Freddie behauptete, die Grotte des Wärters habe ebenfalls Fensterläden, aber Ottilie war noch nie bei ihm zu Hause gewesen.

Die Sumpfgrotten waren eine allerletzte Zuflucht, die denen ein Dach über dem Kopf gab, die es sich nicht leisten konnten, irgendwo anders zu wohnen. Ottilie war das, was man eine »Brackergeborene« nannte. Sie lebte schon seit fast dreizehn Jahren hier.

Vorsichtig drückte sie die Tür einen kleinen Spaltbreit auf und schlüpfte nach draußen. Nicht dass dieses knarzende, alte Ding irgendjemanden aufweckte, schließlich war es noch früh am Morgen und hier in den Sumpfgrotten war man praktisch von Nachbarn umzingelt. Old Moss und Mr Parch zum Beispiel schliefen in dem Tunnel, der direkt an der Tür der Colters entlangführte. Sie huschte auf Zehenspitzen an ihnen vorbei und hielt den Blick abgewandt. Mr Parch schlief stets mit offenen Augen. Wenn sie ihn so sah, bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut, was wahrscheinlich daran lag, dass Mr Parch schon steinalt war und man nicht wirklich erkennen konnte, ob er schlief oder tot war. Trotzdem war sie froh, dass die beiden immer da waren. Freddie war viel unterwegs, aber mit Old Moss und Mr Parch gleich draußen vor der Tür fühlte sich Ottilie nie allein.

In der Waschgrotte hielt sie inne, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen und von der frisch sprudelnden Quelle zu trinken. Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ottilie erstarrte. Sie hatte gedacht, sie wäre ganz allein hier. Aus den Schatten drang ein Geräusch, das kaum lauter als ein Flüstern war, aber sie hörte es trotzdem – es klang wie ein nackter Fuß auf nassem Stein.

»Gully?«

Keine Antwort.

Bis auf die Tropfen, die unaufhörlich von den Stalaktiten in die Höhlenteiche fielen, war es still in der Grotte. Das sah ihrem Bruder mal wieder ähnlich. Bestimmt würde er gleich hinter irgendeiner Felswand hervorspringen und sich auf sie werfen.

»Gul…«

Diesmal konnte sie das Geräusch eindeutig zuordnen – leises Atmen, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Jemand lauerte in der Nähe der Quelle und dieser jemand war definitiv nicht Gully. Wenn Gully atmete, klang es anders. Nicht so seltsam gurgelnd. Ottilie wollte plötzlich gar nicht mehr wissen, wer dort war. Stattdessen suchte sie schleunigst das Weite.

Als sie es stolpernd und strauchelnd in die tiefer gelegenen Tunnel geschafft hatte, blieb sie keuchend stehen, presste die Wange an die kühle Felswand und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als würde er gleich platzen.

Sie brauchte einen Plan. Das Naheliegendste war, sich zuerst auf die Suche nach Freddie zu machen. Vielleicht wusste sie ja, wo Gully steckte.

»Gurt!«

Ottilie tigerte ungeduldig vor dem schmuddeligen, alten Vorhang auf und ab, der vor dem Durchgang zu Gurts Kammer hing.

»Momentchen noch!«, rief eine krächzende Stimme.

»Ist meine Mum bei dir?«

»Hä? Oh, ähm … ja, Freddie ist hier.«

Ottilie bekam einen Kloß im Hals. »Ich komme jetzt rein.«

»Halt, nicht so schn…«

Hinter dem schäbigen Vorhang klirrte und schepperte es. Ottilie riss ihn zurück und verzog das Gesicht, als ihr ein überwältigender säuerlicher Geruch nach abgestandenem Brombeerbranntwein entgegenschlug.

»He! Vorsicht, hätte mich fast mein Auge gekostet!« Gurt strauchelte rückwärts und knallte der Länge nach hin. Er war über eine der vielen leeren Flaschen gestolpert, die auf dem Boden herumlagen. Mit einem tiefen Seufzer, bei dem es in seiner Brust rasselte wie in einem kaputten Wasserkessel, sammelte er seine klapprigen Knochen ein und rappelte sich wieder auf. »Was kann ich für dich tun, kleine Ott?«

»Wo ist Freddie?«, fragte Ottilie und klang schroffer, als sie es beabsichtigt hatte. Sie konnte es nicht leiden, wenn Gurt sie Ott nannte.

»Dahinten.« Er deutete mit dem Kopf in eine Ecke. »Sie schläft.«

Ottilie schaute zu einem Haufen dreckstarrender Kleider und Decken, aus denen Freddie Colters schütterer, angegrauter Wuschelkopf hervorlugte.

»Hast du ihr etwa wieder von deinem Gesöff gegeben?« Ottilie traten Tränen in die Augen.

»Was heißt denn hier Gesöff? Das ist der beste selbst gebraute Brombeerbranntwein der ganzen Sumpfgrotten-Siedlung.«

»Nur dass es ihr danach immer noch schlechter als sowieso schon geht. Weil du nämlich keine Ahnung von dem Zeug hast und bloß alles wild zusammenpanschst.«

»Was weißt du schon, Ott? Hast du ihn überhaupt schon mal probiert?«

»Nein«, gab Ottilie finster zurück.

Gurt griff nach der nächstbesten Flasche und prüfte, ob noch etwas drin war. »Hier, noch halb voll. Die geb ich dir zum halben …«

Aber Ottilie beachtete ihn gar nicht mehr, sondern trat stattdessen zu ihrer Mutter. »Mum.«

Freddie rührte sich nicht.

»Mum!«

Der von grauen Fäden durchzogene, strubbelige Haarschopf bewegte sich hin und her wie ein altes Opossum, das sich durch einen Abfallberg wühlt. Ottilie ging in die Hocke und zog die Decken weg. Freddie drehte sich stöhnend auf die andere Seite.

Ottilie hätte nicht sagen können, ob sie ihrer Mutter auf irgendeine Art ähnlich sah. Ihre eigenen Haare waren lang und wild gelockt; die von Freddie hingen strähnig und stumpf herunter. Ottilie hatte leuchtend graugrüne Augen, die an die Farbe des Moors erinnerten; in den dunklen Augen von Freddie schien jedes Leben erloschen zu sein. Und im Gegensatz zu Ottilies rundem, herzförmigem Gesicht war das von Freddie mit jeder vergehenden Jahreszeit immer schmaler und faltiger geworden.

Ihre Mutter fing langsam an, wie die Strichmännchen mit den breiten Mündern und fedrigen Kronen auszusehen, die in den verlassenen Tunneln über der Hauptkammer auf den nackten Fels gemalt waren. Old Moss sagte, dass diese alten Höhlenmalereien auf Überlieferungen aus dem verschollenen »Buch der Weisheit« beruhten. Die Figuren mit den Federkronen stellten Fiorns dar, die auserwählten Kinder des Gottes Fiory, dem Herrn der Raubvögel. Aber Fiorns waren furchterregende, magische Geschöpfe, und Freddie war so ziemlich das am wenigsten furchterregende und magische Geschöpf, das sich Ottilie nur vorstellen konnte.

»Mir ist kalt, Ottilie«, murmelte Freddie. Ihr Atem roch sauer und faulig.

»Hast du Gully gestern Abend noch gesehen, Mum?«

»Gestern Abend?«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

»Gestern …« Freddies halb geschlossene Lider waren gelb verkrustet. »Gestern Morgen.«

»Aber hast du ihn danach noch mal gesehen?«

»Mhm. Da hab ich ihn zuletzt gesehen. Du weißt ja, wie er ist. Ständig verirrt er sich.«

Ottilies Wangen färbten sich rot vor Wut. »Nein, Mum. Er hat sich noch nie verirrt. Kein einziges Mal.«

»Bestimmt treibt er sich in den Sümpfen herum. Das ist doch sein Lieblingsort.«

Ihr wurde schwer ums Herz. »Es ist mein Lieblingsort, Mum. Gully hasst die Sümpfe.«

»Oh.« Freddie fielen die Augen zu.

»Könnte es nicht sein, dass ihn sich die Laklander geschnappt haben?« Old Moss verengte die Augen, unter denen sich dicke Tränensäcke wölbten, zu schmalen Schlitzen.

»Nein!«, entgegnete Ottilie. »Hier in der Gegend gibt es keine Laklander …«

Die Laklander waren einst die ärgsten Feinde des Königreiches gewesen. Ottilie war sich sicher, dass es sie nicht mehr gab, dass sie genauso ausgestorben waren wie die vorzeitlichen Riesen und ihre mit einem Schuppenpanzer bedeckten Rosse, deren Gebeine man in den Dünen der Nordinsel entdeckt hatte. Nur dass die Laklander aus einer weit jüngeren Vergangenheit stammten und sehr viel realer waren. Was man über ihre Gräueltaten munkelte, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken, es kam deshalb nicht von ungefähr, dass sie stets eine tragende Rolle als Bösewichte in Ottilies und Gullys aufregendsten Spielen besetzten.

Ottilie schaute Mr Parch an. »Bei uns hier gibt es doch keine Laklander, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte Mr Parch und warf Old Moss einen vorwurfsvollen Blick zu.

Ottilie hatte Gully überall gesucht und jeden nach ihm gefragt, der ihr über den Weg lief. Die Antwort lautete fast immer gleich: »Er ist ein abenteuerlustiger junger Bursche … Keine Sorge, der taucht schon wieder auf.« Aber Ottilie kannte ihn besser. Er würde niemals einfach so verschwinden, ohne ihr etwas zu sagen. Er würde sie nie allein zurücklassen.

Als der Nachmittag schließlich anfing, in den Abend überzugehen und das geschäftige Treiben in der Siedlung einer gemächlicheren Gangart wich, war Ottilie schweren Herzens nach Hause zurückgekehrt.

»Woher kommen eigentlich diese ganzen Gerüchte über die Laklander?«, fragte Ottilie.

Fast alles, was sie wusste, hatte ihr Mr Parch beigebracht, nur nicht das Lesen – diese Aufgabe hatte Old Moss übernommen. Old Moss’ ganzer Stolz war der Besitz eines Buches mit dem Titel: Die Welt, in der wir leben, Band sechs: Die Usklers und die Laklands. Es war aus echtem Pergament und unfassbar wertvoll. Nicht wie die Bücher, die man in Market Town kaufen konnte und deren Seiten aus gepressten alten Lumpen bestanden.

Das Buch war das Kostbarste, was Old Moss besaß. Das Kostbarste, was Mr Parch besaß, war seine Brille. Sowohl Old Moss als auch Mr Parch weigerten sich strikt, ihren jeweiligen Schatz zu Geld zu machen, lieber hungerten sie und hausten weiter in dem zugigen Durchgangstunnel. In diesem Punkt waren die beiden stur wie Maulesel, was zu regelmäßigen Zankereien zwischen ihnen führte.

»Das sind bloß Geschichten, Ottilie. An ihnen ist nichts dran«, sagte Mr Parch.

»Aber irgendwie müssen sie ja entstanden sein. Ich hab gehört, dass sich die Laklander nur Jungen holen. Aber warum? Was machen sie mit ihnen?«

»Sie zerhacken sie und verfüttern sie an die Vögel.«

»Moss!«

»Was denn?«, gab Old Moss gereizt zurück. »Sie schleichen nachts umher und schnappen sich kleine Jungs, um aus ihnen Vogelfutter zu machen.«

»Unsinn«, sagte Mr Parch kopfschüttelnd.

»Aber es stimmt doch, dass immer wieder Jungen verschwinden, oder?«, flüsterte Ottilie.

»Es verschwinden alle möglichen Leute«, erwiderte Mr Parch. »So ist nun mal der Lauf der Dinge, aber es kommt nicht besonders oft vor, also zerbrich dir nicht den Kopf darüber!«

»Kleine Jungs werden aber öfter vermisst als andere«, sagte Old Moss. »Es heißt, dass ungefähr jedes Jahr zwei aus der Sumpfgrotten-Siedlung oder den umliegenden Dörfern verschwinden. Aber in dichter besiedelten Gebieten soll die Zahl noch viel höher sein. Meine grässliche Schwester, möge sie nicht in Frieden ruhen, lebte in Wikric Town und erzählte ständig von irgendwelchen Jungs, die plötzlich wie vom Erdboden verschluckt waren. Klar, die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist, aber es ist auch immer ein Fünkchen Wahrheit dran. Das sollte dir zu denken geben.«

Über so was wollte Ottilie am liebsten gar nicht nachdenken.

»Moss! Das reicht! Du machst dem Mädchen Angst«, sagte Mr Parch. »Hör nicht auf sie, Ottilie. Was hältst du davon – sollte Gully bei Einbruch der Dunkelheit immer noch nicht wieder aufgetaucht sein, werde ich den Wärter bitten, sich darum zu kümmern.«

Old Moss stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Du glaubst doch wohl nicht, dass der widerliche alte Fettwanst auch nur einen Finger rühren wird?«

»Moss …«

»Wahrscheinlich steckt er mit den Übeltätern unter einer Decke und verhökert die Jungs an sie!«

»Nun halt endlich den Mund, Moss!«

»Sag du mir nicht, ich soll den Mund halten!«

»Ich sag dir, dass du den Mund halten sollst, wenn ich will, dass du den Mund hältst, du gefühllose alte Schildkröte!«

Moss stieß empört die Luft aus, griff nach ihrem Krückstock und richtete ihn wie einen Speer auf Mr Parch.

»Moss!« Ottilie wrang den Krückstock aus Old Moss’ erstaunlich festem Griff.

»He! Gib ihn mir sofort wieder, Ottilie!«

»Nein. Man darf andere Leute nicht einfach so mit dem Krückstock bedrohen, Moss.«

»Ich hätte ihm schon kein Haar gekrümmt!«

Ottilie reichte es. Sie hatte gerade wirklich genügend eigene Sorgen. »Ich gehe jetzt, und den hier nehme ich mit.« Den Krückstock unter den Arm geklemmt, marschierte Ottilie ohne ein weiteres Wort davon.

Es blieb nur noch ein Ort übrig, an dem sie nach Gully suchen konnte. Ottilie schlug den Weg zum Longwood Forest ein, der an den Rand des Sumpfgebietes grenzte. Der Brackersumpf war ein wundersamer Ort, an dem es immer wieder etwas Neues zu entdecken gab, was auch der Grund war, warum Ottilie ihn so mochte. Es hatte allerdings wenig Sinn, dort nach Gully zu suchen – ihr Bruder hielt sich stets von den Sümpfen fern. Im Gegensatz zu Ottilie, die liebend gern einen Abstecher dorthin gemacht hätte. Sie wusste genau, wie sie entlang der verborgenen morastigen Pfade ihre Schritte setzen musste. Sie liebte es, von einer moosbewachsenen Insel zur nächsten zu springen, über glitschige, umgestürzte Eukalyptusbäume zu klettern und mit gegabelten Stöcken tiefe Pfützen aufzuwirbeln, so wie die Meerhexen vor Urzeiten in ihren Gezeitentümpeln gerührt hatten.

Aber am meisten liebte Ottilie es, über die aus dem Wasser wachsenden Äste der Süßwasser-Feigenbäume zu balancieren und sich eine geeignete Stelle zu suchen, von der aus sie nach den Lichtern Ausschau halten konnte, die weit unten in der Tiefe leuchteten.

Auf einmal hörte sie über sich ein knirschendes Geräusch. Ottilie fuhr erschrocken herum und zog abwehrbereit die Schultern hoch. Sie sog die Luft ein; Old Moss’ Krückstock, den sie immer noch unter ihrem Arm klemmen hatte, gab ihr das Gefühl, wenigstens nicht ganz schutzlos zu sein. Die Grotten, die hinter ihr aufragten, waren von Felsspalten und kleinen Höhleneingängen übersät, die in weit entlegene Tunnel führten, zu denen noch nie jemand vorgedrungen war. Gully hatte schon öfter versucht, dort hochzuklettern, war aber nie weit gekommen.

»Gully!« Ihre Stimme klang ängstlicher, als sie wollte.

Ein kaum wahrnehmbares Schlurfen drang an ihr Ohr, gefolgt von einem leisen Seufzen.

Das war nicht Gully. So viel war sicher. Außerdem kamen die Geräusche aus einer der am höchsten gelegenen Felsspalten, bis zu denen es kein normaler Mensch schaffen konnte.

Ottilie umklammerte den Krückstock so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und zwang sich weiterzugehen. Als sich der morastige Untergrund allmählich in festen Boden verwandelte, begann ihr Herz immer heftiger zu schlagen. Sie hasste den Longwood Forest. Sie hasste diesen unheimlichen Wald! Die Luft hatte sich merklich abgekühlt und sie schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper.

Angeblich sollte es in den hintersten Winkeln von Longwood versteckte Laklander-Lager geben, wobei sie diesen Gerüchten nie besonders viel Glauben geschenkt hatte. Es war der Longwood Forest selbst, der ihr Angst einjagte. Dieser Wald hatte etwas Gespenstisches an sich. Der Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstrich, schien ihr bedrohliche Worte zuzuflüstern, bei denen sich ihr die Nackenhaare aufstellten und sie vor Panik die Zähne aufeinanderbiss.

So ging es nicht nur ihr. Obwohl der Longwood Forest reich an Holz, Nüssen, Früchten und wohlgenährten Vögeln war, hielten sich die Leute von ihm fern. Selbst die Ärmsten der Armen aus der Sumpfgrotten-Siedlung wagten sich nur dann in den Wald hinein, wenn sie kurz vor dem Verhungern waren oder nichts mehr hatten, was sie dem Wärter als Mietzins für ihre Unterkunft anbieten konnten, der jeden Monat fällig war.

Die moosbewachsenen Stämme standen nun dicht an dicht und wurden immer dicker. Es drang kaum noch Licht zwischen ihnen hindurch. Zitternd holte sie Luft.

»Gully?« Es war kaum mehr als ein Wispern.

Ottilie schauderte. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, in dem man einen Gegner in die Flucht schlagen wollte, aber keine Kraft in den Fäusten hatte und stumme Hilferufe ausstieß, die niemand hörte. Ottilie setzte ein entschlossenes Gesicht auf und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das hier war kein Albtraum. Sie war sehr wohl in der Lage, ihre Stimme zu benutzen.

»Gully!« Diesmal war sie laut und deutlich zu hören, auch wenn sie vielleicht ein bisschen höher klang als sonst.

Sie erhielt keine Antwort.

Zitternd trat sie einen Schritt zurück. Sie musste hier raus.

Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass sie kaum noch die Hand vor Augen sah, und als sie es zu den Sumpfgrotten zurückgeschafft hatte, funkelten bereits die ersten Sterne am Himmel. Schwer atmend lief sie durch die Tunnel zurück nach Hause.

»Gibt’s irgendwas Neues, Mr Parch?«

»Bedauere, Ottilie.« Mr Parch schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich morgen früh als Erstes mit dem Wärter sprechen.«

»Kann ich jetzt bitte endlich meinen Stock wiederhaben?«, sagte Old Moss ungehalten.

»Nein.«

Ottilie schlüpfte in ihre Grotte und knallte die Tür hinter sich zu. Die Stirn gegen das rissige Holz gelehnt, schloss Ottilie die Augen und wünschte sich etwas. Sie wünschte es sich sehnlicher, als sie sich jemals etwas gewünscht hatte. Sie wünschte sich, dass Gully schlafend in seinem Bett liegen würde, wenn sie sich jetzt umdrehte. Sie wünschte sich, dass er unbemerkt an Old Moss vorbeigehuscht war, während diese ihr Nachmittagsschläfchen gehalten hatte, und ihn Mr Parch nur deshalb nicht bemerkt hatte, weil ihm seine Brille ständig von seiner großen Nase rutschte, seit Old Moss sie ihm letzte Woche heruntergeschlagen hatte. Sie wünschte sich, dass Gully erschöpft von seinen Abenteuern noch vor Sonnenuntergang eingeschlafen war.

Ottilie zählte bis drei. Dann drehte sie sich langsam um und öffnete die Augen.

Ihre Grotte war leer.

3 Bill

Ottilie schlug die Augen auf. Irgendetwas war anders als sonst. Mittlerweile musste es schon weit nach Mitternacht sein. Freddie war nicht da. Gully noch nicht zurückgekehrt. Sie war die Einzige in der Grotte, und doch hing der Geruch von etwas Fremdem in der Luft. Ein Geruch nach Pfütze und regennasser Baumrinde. Sie war nicht allein. Während sie schlaftrunken, noch halb im Traum verloren dalag und ins Dunkel starrte, drang es ganz allmählich zu ihr durch – das leise, aber bestimmte Gefühl, dass sich jemand Fremdes in der Kammer befand.

Ottilie erstarrte. In ihrem Kopf war nur ein einziger Gedanke: Laklander.

In diesem Moment hörte sie es wieder. Das merkwürdige, gurgelnde Atmen vom Tag zuvor. Mit hämmerndem Herzen richtete sie sich kerzengerade im Bett auf. In der Dunkelheit konnte sie einen Schatten ausmachen, der sich über Gullys leeres Bett beugte.

Genau im gleichen Augenblick sprangen sie und der Laklander auf, stießen einen gellenden Schrei aus und suchten, in panischem Gleichtakt atmend, Zuflucht auf der jeweils anderen Seite der Höhle. Ottilie griff nach Old Moss’ Krückstock und hielt ihn drohend in die Höhe.

Sie holte tief Luft und fixierte mit vor Entsetzen geweiteten Augen die dunkle Gestalt, die ihr gegenüber an der Wand kauerte. Ihr schien, der Laklander hatte Angst vor ihr. Das war absurd. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, aber kurz bevor er ihr über die Lippen gehen konnte, presste sie die Kiefer aufeinander.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte sie, den Krückstock gezückt – bereit zuzuschlagen.

»Du hast mich erschreckt.« Seine Stimme klang eigenartig belegt. Heiser und gurgelnd, als wäre er stark erkältet.

»Ich habe dich erschreckt?« Ottilie stieß mit dem Stock in seine Richtung.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Etwas an seiner Haltung war sonderbar, genau wie sein Geruch. Aus irgendeinem Grund war sich Ottilie plötzlich ziemlich sicher, dass dieser Eindringling kein Mensch war – und das bedeutete, er konnte kein Laklander sein.

»Was …« Was bist du?, wollte sie eigentlich fragen, entschied dann aber, dass dies eine ziemlich unhöfliche Frage war, und formulierte sie um. »Was … machst du hier?«

Er schluckte hörbar. »Bloß nachgucken.«

Ottilie sah nur seine dunkle, gegen die Wand gepresste Kontur. »Nachgucken? Was denn?«

»Ob der Junge in seinem Bett ist.«

Sie fasste den Krückstock fester. »Wie bitte?«

»Meine Gedanken verhaspeln sich manchmal. Dann denke ich an etwas, das lange her ist, und vergesse, wohin die Erinnerung gehört.«

»Was weißt du über meinen Bruder?«

»Das ist alles«, murmelte er. »Ich war mir nicht sicher. Ich musste nachgucken.«

»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Ottilie. Den Krückstock wie ein Schwert auf ihn gerichtet, bewegte sie sich rückwärts aus der Grotte in den Tunnel hinaus, wo Old Moss und Mr Parch tief und fest schliefen. Ottilie huschte an ihnen vorbei, zog mit zitternder Hand eine lodernde Fackel aus der nächstgelegenen Wandhalterung und eilte zurück.

Sie stieß die Tür mit der Schulter auf und trat wieder in die Kammer. Ein Schweißtropfen kroch langsam ihren Nacken hinunter, während sie den Eindringling im Licht der Flamme musterte.

Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Er war das absonderlichste Geschöpf, das sie je gesehen hatte. Das Merkwürdigste an ihm war allerdings nicht seine Andersartigkeit, sondern die Ähnlichkeit, die er mit einem Menschen hatte.

Das Wesen war größer als Ottilie und ziemlich dünn. Es trug ein verschlissenes graues Hemd und eine Hose und hatte sich einen rissigen Ledersack um seine hängenden Schultern geschlungen. Seine Haut war äußerst ungewöhnlich. Genau genommen sah sie eher aus wie … Fell. Sehr kurze, feine, glatte Härchen, so wie sich Ottilie das glänzende Fell von Seehunden vorstellte. Hell und blassrosa wie menschliche Haut, allerdings mit einem deutlichen Stich ins Graue.

Das Wesen hatte eine schmale Nase und seine Augen standen eng zusammen und waren von zarten Wimpern umrahmt, die ebenso schlammfarben waren wie die feinen, längeren Haare auf seinem Kopf, aus denen zwei stumpfe Hörner hervorragten. Als es mit der Hand seine Augen vor der Flamme abschirmte, konnte Ottilie zwischen seinen langen, knotigen Fingern dünne Schwimmhäute erkennen.

Sie verengte die Augen und holte tief Luft. »Was … ähm … ich meine, wer bist du?«

»Niemand … Böses.« Sein Blick huschte zwischen Ottilie und der brennenden Fackel hin und her.

Ottilie straffte die Schultern. Sie war entschlossen, sehr viel mutiger zu erscheinen, als sie es war. »Warum hast du nach meinem Bruder geschaut?«

»Ich wollte von dem … Jungen erzählen. Aber mein Kopf hat sich verhaspelt und ich musste mich erst vergewissern, ob …« Er wandte blinzelnd den Blick von dem Licht ab. »Ob der Sumpfpicker ihn wirklich erwischt hat.«

»Der wer?«

»Der Sumpfpicker entführt Jungen aus den Dörfern am Longwood Forest und rings um das Brackermoor.«

Ottilie wurde kurz schwarz vor Augen. Es war, als hätte ihr jemand einen Sack über den Kopf gezogen. »Entführt? Wo bringt er sie hin?«

»Runter durch die Tunnel unter Wikric Town. Bis dahin bin ich ihm gefolgt.«

Wikric war die größte Stadt im Westen. Warum sollte irgendjemand Gully dorthin entführen?

»Wieso hast du es überhaupt mitbekommen?«

»Ich wohne in der Nähe, in den Höhlen.« Er zeigte unbeholfen in die Höhe.

Ottilie folgte seinem Finger und starrte zur zerklüfteten Felsdecke ihrer Grotte empor. »Wie lange wohnst du schon da oben?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Aber … wie alt bist du denn?« Eigentlich sah er aus wie ein Kind, nicht viel älter als sie.

»Ich habe nicht mitgezählt.«

Ottilie starrte ihn an. Seine kleinen dunklen Augen waren kummervoll geweitet. Er wirkte aufrichtig. Allmählich gewann sie ihre Fassung zurück und ihr Atem normalisierte sich wieder. Und dann wurde ihr plötzlich etwas klar. »Du bist mir gestern gefolgt!« Sie senkte die Fackel.

Das Wesen ließ den Arm sinken und stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Ich wollte herausfinden, ob ihr zu zweit wart.«

»Waren wir.«

Seine Augen weiteten sich abermals und er sog gurgelnd Luft ein. »Oje. Das ist nicht gut. Ich hab’s befürchtet.«

»Mein Bruder ist verschwunden.« Ottilie war überrascht, wie ruhig und fest ihre Stimme auf einmal klang. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, fügte sie noch hinzu – mehr an sich selbst als an ihn gerichtet. Sie hatte plötzlich das überwältigende Bedürfnis, sich hinzulegen, die Augen zu schließen und einfach zu schlafen.

Ottilie bemerkte, dass das Geschöpf versuchte, sich von der hellen Flamme wegzudrehen, und trat einen Schritt zurück. Jetzt schien die Anspannung ein wenig von ihm abzufallen, aber er rieb sich unbehaglich die schwimmhäutigen Finger ineinander und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Kannst du mir zeigen, wohin man ihn gebracht hat?« Die Frage schien ihr naheliegend.

»Oh, nein. Nein …« Er starrte zu Boden. »Ich … ähm … ich könnte es dir aber erklären …«

»Nein, du musst es mir zeigen.« Sie würde ihm folgen. Etwas anderes konnte sie nicht tun. »Ich kenne mich in den Wikric-Tunneln nicht aus und darf keine Zeit verlieren. Bitte! Ich brauche deine Hilfe.«

Er blinzelte heftig und rieb sich die Nase. »Na gu… Nein. Oder doch … ja. Ich kann dir ein Stück weit den Weg zeigen.«

»Danke.« Ottilie runzelte die Stirn und dachte scharf nach. Sie musste losziehen und nach Gully suchen, oder? Das war das Einzige, was sie tun konnte. Sie war ganz durcheinander. Ihr schwirrte der Kopf und sie hatte das Gefühl, nicht klar denken oder planen zu können. Gully war verschwunden, und dieses Wesen wusste, wohin man ihn gebracht hatte. Das genügte. Dieses Wesen …

»Wie heißt du?«

Er blickte verwirrt drein. »Wenn ich über mich spreche, sage ich nur mich.«

Sie blinzelte. »Du musst doch einen Namen haben. Ich kann dich ja schlecht mit mich anreden.«

»Die Vögel nennen mich Bill.«

»Die Vögel nennen dich Bill?«

Er nickte.

»Du kannst mit Vögeln sprechen?«

»Du nicht?«

»Nein.«

»Oh.«

Es trat eine ziemlich lange Pause ein.

»Na schön, dann also Bill … und ich heiße Ottilie.«

4 Die Entenklappe

Ottilie packte eilig ein paar Sachen zusammen. Sie hatte jetzt schon einen ganzen Tag verloren und wollte Gully unbedingt finden, bevor man ihn zu weit fortbrachte. Viel packte sie nicht ein: einen Trinkschlauch, zwei Äpfel, einen Kanten altbackenes Brot, ein paar verschrumpelte Bohnen und eine Handvoll blassgoldene Brackernüsse, die Gully und sie ein paar Tage zuvor im Longwood Forest gesammelt hatten. Sie achtete darauf, genug für Freddie in der Vorratskiste übrig zu lassen. Schließlich wusste sie nicht, wann sie zurückkehren würden, und ohne Ottilie und Gully würde sich Freddie von dem wenigen Geld, das sie besaß, etwas zu essen kaufen müssen. Wahrscheinlich würde sie auf die Reste angewiesen sein, die der Wärter verteilte.

Ottilie überlegte, Old Moss’ Krückstock als Waffe mitzunehmen, brachte es aber nicht übers Herz, weil sie wusste, dass die alte Frau ihn brauchte. Stattdessen nahm sie Freddies einziges Messer und verstaute es sorgsam in ihrem Bündel. Nur für alle Fälle. Der Krückstock wäre ihr lieber gewesen.

Ottilie hievte sich das Bündel über die Schulter und ließ den Blick noch einmal durch die Höhle schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie nichts vergessen hatte. Es war ein seltsames Gefühl wegzugehen, aber irgendwie … gut. Einen Wimpernschlag lang spürte sie ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch.

Die Tür knarzte unheilvoll, als Ottilie sie hinter sich zuzog. Sie wollte den Krückstock gerade wieder neben Old Moss legen, als Bill einen erschrockenen Satz zurück machte und gegen sie prallte, sodass sie mit dem Ellbogen gegen die Felswand knallte.

Ottilie schluckte ihren Schmerz hinunter. »Pass doch auf!«, fauchte sie.

Bill deutete auf Mr Parch, der rücklings, mit weit geöffneten Augen, in seinem Kokon aus Decken auf dem Boden lag. »Entschuldigung«, flüsterte Bill. »Aber ich … ich glaube, er ist tot.«

Sie sahen beide auf Mr Parch hinunter, als der plötzlich ein Schnauben ausstieß, sich auf die Seite drehte und laut schnarchend weiterschlief.

Ottilie rieb sich den Ellbogen und funkelte Bill an. »So schläft er immer.«

»Er sollte ein Schild neben sich aufstellen«, sagte Bill. »Bin nicht tot! Schlafe nur!«

Ottilie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten. Es war seit vielen Stunden das erste Mal, dass ihr ein bisschen leichter zumute war.

»Wohin jetzt?«, flüsterte sie.

»Es gibt eine Abkürzung, aber da passt du nicht durch. Wir werden durch euren Eingang hinausgehen und eine Weile die Straße entlangmüssen.«

»Wieso sollte ich nicht durchpassen? Du bist größer als ich.«

»Ich kann mich aber … zusammenfalten.«

Ottilie taxierte ihn in der Dunkelheit von oben bis unten. »Aha.«

Weiter als bis nach Market Town war Ottilie nie gekommen. Ein- oder zweimal im Monat legten Gully und sie die lange, gewundene Strecke zu der Stadt im Süden zurück, um zu schauen, ob sie die nützlichen Dinge, die sie gesammelt hatten, auf dem Markt an den Mann oder die Frau bringen konnten. Spindelgras eignete sich gut zum Weben und in den wärmeren Monaten gab es Wasserfeigen und Brombeeren, die man verkaufen konnte. Früher hatten sie immer auch Feuerholz mitgenommen, aber vor zwei Jahreszeiten hatten sie ihren Karren verkaufen müssen, um eine Arznei für Freddie zu besorgen, weshalb ihnen jetzt keine Möglichkeit mehr blieb, etwas Schweres zu transportieren.

Ottilie und Bill nahmen die Drifters Bridge über den Hook River und marschierten die Schotterpiste entlang, die durch eine Spindelgras-Wiese und dann den grauen, spitz zulaufenden Brackerhügel hinaufführte. Nur eine dünne Mondsichel stand am Himmel, die wenig Licht spendete. Die Dunkelheit war so undurchdringlich wie dichter Qualm und der Boden uneben. Als sie die Hügelkuppe passierten, verlangsamte Ottilie ihre Schritte. Sie wusste, irgendwo zu ihrer Linken ging es jäh bergab, auch wenn sie den Rand des Abgrunds nicht sehen konnte.

»Augenblick.« Bill zog ein schmales Glasgefäß aus seinem Rucksack. »Hast du Wasser mit?«

Ottilie reichte ihm ihren Trinkschlauch. Bill entkorkte das Gefäß und füllte es bis zum Rand. Ein Licht flackerte darin auf, dann noch eins und noch eins. Im Wasser schwammen jetzt drei grün glühende, dünne Zweiglein.

»Leuchtstäbchen«, erklärte Bill. »Aus dem Sumpf.«

Ottilie fielen die Lichter im Wasser wieder ein, die sie gesehen hatte – strahlende Augen, die ihr aus der Tiefe zugezwinkert hatten. Sie hielt das Gefäß wie eine Laterne in die Höhe, um den Felsbrocken und Kratern auszuweichen.

So menschenleer hatte sie den Weg noch nie gesehen. An Markttagen war er gewöhnlich von zwielichtigen Händlern gesäumt, die ihre angeblichen Zauberwaren anpriesen. Viele hatten sich Schnüre um die Handgelenke geknüpft, an denen Vögel festgebunden waren, und trugen große, breitkrempige Hüte, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatten. An Kunden bestand kein Mangel. Auf dem Weg wimmelte es stets von Menschen aus den Dörfern der Umgebung. Sie zogen schwere Karren, führten schwarze Ziegen mit gebogenen Hörnern mit sich, schleppten Fässer voller Silbersalz, das sie im Hook River gewonnen hatten, erzählten einander Geschichten und tauschten die neuesten Nachrichten aus Wikric aus, der größten Stadt im Westen.

Der König und sein Hof regierten das Reich der Uskler von den vier bedeutendsten Städten aus. All Kings Hill im Osten war die Hauptresidenz. Aber es gab auch noch Rupimoon Rock im Norden, Stavey Bay im Süden und eben Wikric Town. Ottilie fragte sich, ob dem König das Treiben der Entführer bekannt war, wenn sie das Tunnelsystem in der Tiefe Wikrics benutzten.

Ottilie wusste nicht viel über den König. Für sie war er kaum mehr als eine Märchengestalt. Auch wenn sie sich sicher war, dass es den König tatsächlich gab, waren Gerüchte über ihn für sie nicht wirklicher als das Gerede über Hexen oder über die Gräueltaten der Laklander.

»Wer hat meinen Bruder entführt, Bill? Wer sind die Sumpfpicker?« Sie begriff es nicht. Warum entführten sie kleine Jungen?

Bill schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht … Ich weiß nur, dass sie Jungen von überallher holen, quer durch das Land der Uskler, und sie kommen alle durch Wikric. Ich nehme an, sie bringen sie tiefer in den Westen.«

»Aber wir sind doch im Westen. Westlich von Longwood Forest gibt es nur noch …« Ottilie schluckte. Sie wusste, was hinter der Westgrenze lag. »Die Laklands.«

Ihr lief es kalt den Rücken hinunter. Hatte das alles womöglich doch etwas mit den Laklandern zu tun? Eigentlich konnte es nicht mehr viele von ihnen geben. Die Laklands waren schon vor über hundert Jahren zerstört worden. Die Uskler hatten die Laklander besiegt und ihre Heimat unbewohnbar gemacht. Zumindest hatte man ihr das so erzählt.

»Aber warum ausgerechnet dorthin?«

Bill zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, dass euer Wärter den Pickern Listen mit den Namen von Jungen gibt, die sie mitnehmen sollen.«

Ottilie wurde übel. Sie kannte den Wärter nicht gut und mochte ihn auch nicht besonders, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich immer um Freddie gekümmert, ihr Schulden erlassen und sie mit Essen versorgt, wenn die Lage verzweifelt war. In Ottilies Augen brannten Tränen.

»Aber normalerweise sind die Jungen älter als dein Bruder«, fügte Bill hinzu.

»Gully sieht jünger aus, als er ist.« Ottilie schniefte heftig. »Er ist Anfang des Frühlings elf geworden.«

Bill schüttelte den Kopf. »Ich glaube, gewöhnlich sind sie dreizehn.« Er deutete mit seinem schwimmhäutigen Finger Richtung Longwood Forest. »Wir müssen jetzt von der Straße runter.«

»Aber wir gehen doch nicht in den Wald, oder?« Ottilies Stimme schraubte sich ein klein wenig höher als beabsichtigt.

»Äh … n-nein …« Bill erschauderte. »Ganz bestimmt nicht. Auf keinen Fall gehen wir da rein. Nur in die Richtung, bis wir wieder auf den Fluss treffen. Ab da geht es unter die Erde. Dort ist ein Tunnel. Den erreichst du bei Sonnenaufgang oder kurz vorher, wenn du schnell bist.«

»Bei Sonnenaufgang!« Ottilie hob den Blick zum Himmel; bis die Sonne aufging, dauerte es noch Stunden. »Aber was ist, wenn wir zu spät kommen?«

»Die Jungen werden in Zellen unterhalb von Wikric gefangen gehalten, bis die Picker aus dem Norden mit ihrer Beute eintreffen. Ich habe sie darüber reden gehört.«

Ottilie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Ich dachte, du könntest dich nicht erinnern.« Bill war ein merkwürdiges Geschöpf. Sie wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte.

»Ich hab’s gehört. Ich dachte bloß, ich hätte es vielleicht vor langer Zeit gehört, aber dann ist mir eingefallen, dass es eben erst war und nicht zu einer anderen Zeit, weil du deinen Bruder gerade verloren hast.«

»Ich glaube, das ergibt keinen Sinn«, sagte Ottilie.

»Tut es wohl.«

Bill zog sie am Ärmel und von der Straße fort zum Ufer, das mit Moos und glatten Kieseln bedeckt war. Der Longwood Forest erhob sich gleich auf der anderen Flussseite, aber dank der Barriere aus strömendem Wasser hatte Ottilie keine allzu große Angst. Sie senkte den Blick und bemerkte zum ersten Mal Bills nackte Füße.

»Bill!«

Er blieb so plötzlich stehen, dass Ottilie geradewegs in ihn hineinlief. »Was ist?«, fragte er und hielt sie fest, damit sie nicht stolperte.

»Du trägst ja gar keine Schuhe! Ist dir nicht kalt an den Füßen? Tun sie dir nicht weh?«

Bill schaute verblüfft. »Doch. Aber ich habe keine Schuhe. In den Höhlen brauche ich keine.«