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Eine geheime Jagd. Eine wahre Heldin.
Ottilie hat es geschafft: Sie ist die erste Monsterjägerin von Fort Fiory – und sie ist entschlossen, dass sie nicht die letzte sein wird. Denn die Festung ist in großer Gefahr: Schattenschlinger sind eingefallen, und niemand ist mehr sicher – vor allem nicht die Mädchen, die dort leben, aber nicht kämpfen dürfen. Ottilie möchte sie zu Kämpferinnen ausbilden, doch es regen sich Widerstände im Jagdorden. Bald kommt es zu weiteren, alarmierenden Vorkommnissen: Der Welkende Wald breitet sich immer weiter aus und außerhalb des Forts rotten sich die Kreaturen zusammen. Ottilie bleibt nicht viel Zeit, um sich auf den großen Angriff vorzubereiten!
Alle Bände der „Wild Creatures“-Reihe:
Wild Creatures – Die Jagd von Narroway (Band 01)
Wild Creatures – Schatten über Ford Fiory (Band 02)
Wild Creatures – Die Hexe aus dem Brackermoor (Band 03)
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Seitenzahl: 385
1 Ein kleiner Vogel
2 Leos Medizin
3 Die Seelanzen
4 Schläferin kommt
5 Die dunklen Stunden
6 Federn
7 Hufe
8 Das Rudel
9 Verletzungen
10 Wachdienst auf der Mauer
11 Geheimnisse und Unterschriften
12 Frost und Feuer
13 Die verfluchten Stallungen
14 Der Knochenturm
15 Whistler
16 Der brennende Wandteppich
17 Vertuschung
18 Die umgekippte Schubkarre
19 Fisch für Hero
20 Eine geheime Klinge
21 Spionage
22 Der Hinterhalt
23 Hexenjagd
24 Ein eiserner Sarg
25 Moth und Moravec
26 Ein Zufluchtsort
27 Ein Besucher
28 Maeves Geheimnis
29 Goedl
30 Vogelgeschichten
31 Siegerin
32 Ranger Kinneys Rache
33 Nox
34 Bills Warnung
35 Die Hexe
36 Geisel
37 Vermisst
38 Die Höhle
39 Fort Richter
40 Varrios Fluch
41 Sieg
42 Knochen und Herzstein
43 Ruhelos
Danksagung
Bill stand in einer Pfütze. Er schlug die flatternden Wimpern nieder und träumte.
Ein Mädchen hockte in einer Ecke in einem dunklen Zimmer. Ihr Haar trieb in vereisten Strähnen über ihren Schultern, und auf beiden Händen verblassten die blauen Flecken, doch eine Hand war seltsam verdreht.
Außer Sichtweite hörte er einen wütenden Streit.
»Wie kannst du es wagen, das vor mir geheim zu halten?«, sagte eine Männerstimme.
»Ich wollte nicht darüber reden!«, antwortete eine Frau. »Wenn das bekannt geworden wäre … wenn die Leute erfahren würden …« Wie eine wütende Katze zischte und fauchte sie die Worte. »Damit könnte ich nicht leben. Es hätte sich wie eine Bestätigung angefühlt.«
»Wovon denn?«
»Es wäre deutlich geworden, dass wir … dass sie unsere Strafe ist.«
»Das steht bereits seit dem Tag ihrer Geburt fest«, erwiderte der Mann. »Zehn Jahre nichts, und dann das, ein Mädchen. Dieses verflixte Wesen ist unser Fluch. Immerhin wird sie uns bald von Nutzen sein und wir können sie einsetzen.«
Drinnen bebten die Schultern des Mädchens.
Bill schlug die Augen auf, betrachtete seine nassen Füße und fragte sich, wie er dorthin gekommen war. Wasser war immer mit Erinnerungen verbunden und neigte dazu, seltsame Träume zu schicken. Nicht zuletzt deshalb vermied Bill es normalerweise, in Pfützen einzudösen.
Mit einem Mal kratzte ihn etwas am Kopf. Zwischen seinen Hörnern saß ein Geisterfink.
»Bin ich deinetwegen schlafgewandelt?«, fragte Bill.
Der Vogel, der offenbar nicht vorhatte zu antworten, pickte stattdessen eine dicke grüne Blattmilbe aus Bills Haaren und verschlang sie.
Bill strengte sich an, damit ihm der Traum nicht entglitt. Erneut war ihm das Mädchen erschienen, das Mädchen mit dem treibenden Haar. Die Vögel erinnerten ihn immer wieder daran. Sicherlich wusste er noch mehr – manchmal war sie schon älter –, doch er bekam es nicht auf die Reihe.
Nie zuvor hatte Bill so viele Erinnerungen an eine Person gehabt, und er überlegte, ob es mit diesem Ort zusammenhing. Er hatte die letzten beiden Jahreszeiten hoch oben in einer Baumhöhle abseits des Hook River verbracht, die er sorgfältig ausgesucht hatte. Dort war er in Sicherheit, niemand konnte ihn sehen, während er einen hervorragenden Ausblick auf die Entenbrut hatte. Er wartete auf jemanden. Bill hatte ihr Haar noch im Rucksack, selbst wenn ihm entfallen war, wie das Mädchen hieß und wohin es gegangen war. Doch er konnte sich an sie erinnern, und sie hatte gesagt, sie würde zurückkommen. Seitdem wartete er auf sie.
Über ihnen ertönte ein Kreischen. Ottilie wurde nach hinten gerissen, prallte an Maestros Flanke und flog von seinem Rücken in den Matsch. Maestro wirbelte herum und fletschte seine riesigen Reißzähne. Sein Atem roch nach gepökeltem Aal. Ottilie zuckte zusammen und musste sich schwer beherrschen, um nicht seitlich wegzutauchen und sich zusammenzurollen, um ihren Bauch zu schützen. Wenn sie ihre Angst zeigte, reizte sie Maestro nur noch mehr.
»Alles klar da unten?«, rief Ned.
Ottilie rümpfte die Nase, als Ned sich über den Zaun beugte und sich das Lachen verkniff.
»Was war das?«, fragte Ottilie, rappelte sich auf und ließ den Blick über den Himmel schweifen.
»Nur eine Eule, glaube ich«, antwortete Ned.
Ottilies Wangen brannten. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie nach oben zur Grenzmauer und entdeckte schemenhaft einige Jäger am blassen Himmel. Selbstverständlich war es kein Schattenschlinger gewesen, sonst hätten die Jäger in Fiory Alarm ausgelöst oder ihn abgeschossen. Das war ihre Aufgabe. Fort Fiory war eine von drei Festungen in Narroway, dem Landstrich zwischen den Usklers im Osten und der Ödnis der Laklands im Westen. Die Jäger in den Stützpunkten Fiory, Arko und Richter hatten den Auftrag, die Schattenschlinger abzuwehren und die bedrohlichen Ungeheuer von den Usklers fernzuhalten.
Ottilie hätte es wissen sollen. Schattenschlinger konnte man eigentlich nicht mit anderen Tieren verwechseln. Obwohl die verschiedenen Schattenschlingerarten vage an vertraute Wesen erinnerten, verhöhnten sie die Gestaltgebung der Natur und lösten darüber hinaus einen Brechreiz aus, wenn man ihnen zu nahe kam. Die Jäger lernten in einem speziellen Abwehrtraining, wie man damit fertigwurde.
Ottilie wandte sich an Ned. »Was machst du überhaupt hier?«, fragte sie genervt, weil er ihr Missgeschick beobachtet hatte.
Ned grinste. »Ich bin auf der Suche nach Leo.«
Als sie den Namen ihres Mentors hörte, verzog Ottilie das Gesicht. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie hier war. »Er ist nicht da«, fauchte sie.
Ned zog eine schwarze Augenbraue hoch.
»Leo ist mit meinen Leistungen nicht zufrieden«, zitierte sie ihn. »Deshalb hat er mir aufgetragen, allein mit Maestro zu üben.«
»Und warum stehst du dann faul mit ihm auf der Koppel?«, fragte Ned und lächelte sie verhalten an.
»Bist du hier, um mich zu überwachen?«
Er lachte schallend.
Aus dem Augenwinkel sah Ottilie Ranger Kinney, den kahl werdenden Hüter der Wingerslinks, der ganz offensichtlich in der Hoffnung zugesehen hatte, sich erneut über sie lustig machen zu können. Ottilie neigte zu der Einschätzung, dass er nur so verbittert war, weil die Wingerslinks ihn alle nicht leiden konnten. Sogar Maestro hatte ihn einmal in ihrer Gegenwart mit dem Schwanz zum Stolpern gebracht, als Kinney vorbeigekommen war. Der Griesgram mit den Goldzähnen hatte stets eine Peitsche dabei, sonst hätten die Tiere ihm niemals gehorcht. Sie hatte noch nie erlebt, dass er davon Gebrauch gemacht hätte, doch die Wingerslinks wussten offenbar sehr genau, wozu sie diente.
Doch es ging um mehr. Die rein männlich bestimmte Jagd von Narroway hatte ihren Bruder Gully geholt, nicht sie. Obwohl sie die langen Haare abgeschnitten und sich als seinen älteren Bruder aus den Sumpfgrotten ausgegeben hatte, war die List schon vor Ablauf des ersten Jahres aufgeflogen. Nachdem man sie erwischt hatte, hatte Ottilie befürchtet, nun von Gully getrennt zu werden. Doch man hatte sie den Schauflern zugeteilt, der Truppe entehrter ehemaliger Jäger. Sie waren dazu verdammt, Schattenschlinger-Knochen zu vergraben. Dann hatte sie aber Leo vor dem grässlichen Kappabak gerettet und war schließlich als erstes weibliches Mitglied in die Jagd von Narroway aufgenommen worden. Die Angst, von ihrem Bruder getrennt zu werden, war jedoch nach allem, was geschehen war, ihr ständiger Begleiter geblieben.
Die Jagd hatte sie nach ihrer Rückkehr nicht gerade mit offenen Armen empfangen, und man hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass viele in Fiory Vorbehalte gegen ihre neue Stellung hatten. Zu ihnen gehörte Kinney, dem es großen Spaß bereitete, wenn Ottilie etwas falsch machte. Er gab auch gerne seinen Senf dazu, doch an diesem Morgen verkniff er sich wahrscheinlich seine Kommentare, weil Ned da war.
»Ich wollte ihm den Sattel auflegen, aber er hat ihn immer wieder abgeworfen«, sagte sie mit einem bösen Blick zu dem großen silberfarbenen Wingerslink. »Und dann hat er mich gebissen.«
Ned runzelte die Stirn. »Er hat dich richtig gebissen?«
»Ja. Na ja, nein. Er hat meinen Arm ins Maul genommen und wieder losgelassen, aber ich hab es kapiert.«
Ned musste erneut lachen.
»Leo wusste genau, dass es so laufen würde!«, rief Ottilie und versetzte Maestro einen Stoß mit der Schulter. »Und dass Maestro mich ohne ihn nicht ranlassen würde!«
»Kann gut sein.«
Als Ottilie ein grollendes Geräusch von sich gab, stimmte Maestro ein. Doch als sie den Ellbogen in sein Hinterteil stieß, fletschte er die Zähne. Während sie ihn mit Blicken zu beherrschen versuchte, verlor sie sich beinahe in seinen großen feurigen Augen.
»Weißt du, wo er ist?«, fragte Ned.
Sie blinzelte. »Wer? Leo? Nein. Was willst du denn von ihm?«
»Ranger Voilies sucht ihn, und ich dachte, du wüsstest es sicher am ehesten.«
»Wenn es nach mir ginge, wäre es nicht so«, brummte Ottilie.
Ned lächelte. »Nur noch zwei Jahreszeiten, dann bist du den auch los.« Er wies mit dem Kopf auf Maestro.
Obwohl sie gerade erst wieder zur Jagd zugelassen worden war, hatte Ottilie bereits die Hälfte ihres Grünschnabeljahrs überstanden. Wenn der Winter vorbei war, würden sie und ihre Freunde die Prüfungen für die jeweiligen Orden machen. Danach wäre Leo nicht mehr ihr Mentor, und Ottilie, wenn sie denn zur Fliegerin ernannt würde, bekäme einen eigenen Wingerslink.
»Ich kann es kaum erwarten.« Dann warf sie einen Blick auf Maestro und bekam ein schlechtes Gewissen. »Und was will Ranger Voilies von ihm? Es wird doch gerade erst hell.« Sie gestikulierte zu dem rosigen Dunst am Morgenhimmel.
»Er hat sich heute früh nicht zum Appell gemeldet«, antwortete Ned mit sorgenvoller Stimme.
Vor einem knappen Monat hatte ein Kappabak Leo in die Enge getrieben. Ottilie hatte ihn gerade noch rechtzeitig gefunden, bevor es noch schlimmer gekommen war und nicht nur sein Bein zerschmettert gewesen wäre. Die Patchies überwachten mit Argusaugen seine Genesung, während Maestro sich deutlich schneller erholt hatte. Wingerslinks hatten ein erstaunliches Heilfleisch und über die gezackte Narbe an seiner Flanke war bereits Fell gewachsen.
»Ranger Voilies braucht ein Hobby. Er ist so besessen von Leo, da wird mir schlecht«, sagte Ottilie schroffer, als sie eigentlich wollte.
Ned runzelte die Stirn. »Alles okay mit dir? Das klingt so gar nicht nach dir.«
»Mich hat gerade ein Wingerslink gebissen«, antwortete sie und mied seinen Blick. Sie hatte keine Lust, über ihre schlechte Laune oder die Gründe dafür zu reden.
»Das ist alles?«, drängte Ned weiter.
Es war keineswegs alles. Beim Frühstück war Igor Thrike dicht an ihr vorbeigegangen und hatte ihr gemeine Dinge ins Ohr geflüstert, und das nicht zum ersten Mal.
»Es ist früh und Maestro hat mich gebissen. Das war’s.« Sie zwang sich, Ned anzusehen, denn sie hatte nicht vor, ihm die Wahrheit zu sagen. Er sollte nicht denken, sie würde allein nicht klarkommen und bräuchte seinen Schutz.
Da Ottilies Laune sich bis zum Mittag nicht gebessert hatte, fand sie die Vorstellung, im Speisesaal zu sitzen, unerträglich. Igor Thrike und Ranger Kinney hatten es nicht als Einzige auf sie abgesehen, denn Maeve Moth und Gracie Moravec nutzten ebenfalls jede Gelegenheit, ihr alle möglichen Gemeinheiten ins Gesicht zu fauchen. Aus diesen Gründen schlief Ottilie schlecht, und ihr war häufiger zum Heulen zumute, als ihr lieb war.
Entschlossen, sich den Tag nicht verderben zu lassen, entschied sie sich, noch ein wenig zu schlafen und einen neuen Anlauf zu nehmen. Doch als sie ihre Zimmertür öffnete, wurde ihr sofort bewusst, dass daraus nichts werden würde – Leo lehnte an ihrem Fenster.
Ottilie sah ihn wütend an.
»Hey, ich wünsche dir auch einen schönen guten Tag«, sagte Leo.
»Was willst du?«, fauchte sie in Erinnerung daran, wie Maestro ihren Arm zwischen seine mächtigen Kiefer genommen hatte.
Leo zog die Augenbrauen hoch. »Du bist aber schlecht gelaunt.«
»Was hat Ned dir erzählt?«
»Nichts.« Leo winkte ab. »Nur, dass du einen miesen Tag erwischt hast.«
»Und du glaubst, es wird dadurch besser, dass du bei mir einbrichst?« Ottilie stapfte ins Zimmer und ließ sich auf ihr Bett sacken.
»Ja. Zieh dich an und komm mit«, antwortete Leo und ging zur Tür. Obwohl er nicht mehr an Krücken gehen wollte, schonte er weiter sein rechtes Bein.
»Ich bin angezogen.«
Leo reagierte mit einem ungeduldigen Schnauben, das sie an einen jaulenden Hund erinnerte. »Zieh deine Jagdkluft an, wir gehen raus.«
»Wieso?«
»Weil du auf dem sechsundsiebzigsten Platz stehst und ich weiß, wo wir ein Rudel Knopos finden.«
Das interessierte Ottilie jetzt doch. Knopos zählten zu den scheuen Schattenschlingern, für die man viele Punkte bekam. Bisher war sie nur einem einzelnen Exemplar begegnet, keinem Rudel. Das Angebot war zu verlockend.
Für jeden getöteten Schattenschlinger wurden die Jagdleute mit Punkten belohnt. Einige Arten wie die Jivvies, blutdürstige Todeskrähen, waren nur einen mickrigen Punkt wert, während der wilde Kappabak mit einhundertfünfzig Punkten gewertet wurde. Am Ende des Jagdjahres wurden die Jäger mit der höchsten Punktzahl zu Siegern in ihrer Stufe erklärt, was eine große Ehre war.
Ottilie träumte davon, zur Siegerin gekürt zu werden, damit sie endlich von allen ernst genommen würde. Dann würde man sie endlich als rechtmäßiges Mitglied der Jagd von Narroway betrachten. Möglicherweise konnten daraufhin auch weitere Mädchen aufgenommen werden.
Allerdings war es beinahe unmöglich, dass sich Ottilies Traum, Siegerin des Grünschnabeljahrgangs zu werden, erfüllen würde. In den vergangenen Wochen hatte sie rasch aufgeholt, doch vor ihr lag noch ein langer Weg. Als Ottilie erneut zur Jägerin ernannt worden war, hatte man ihren Punktestand zurückgesetzt, und sie musste praktisch von ganz unten mit zwei Jahreszeiten im Rückstand ihr Grünschnabeljahr von Neuem beginnen.
In den ersten Tagen nach dem Zusammenstoß mit dem Kappabak hatte Ottilie bei der Jagd die Führung vor Leo übernommen und in jeder Schicht mehr Punkte gemacht als je zuvor. Auf diese Weise war sie vom siebenundachtzigsten Rang auf Platz sechsundsiebzig aufgestiegen. Wenn Leo wirklich wusste, wo sich ein Knoporudel aufhielt, konnte sie in der Rangliste noch vor Ende dieser Woche weiter nach oben kommen.
Ottilie behielt Maestros Maul im Auge, während Leo den Gurt des Doppelsattels festzurrte. »Wie kommen wir denn raus, wenn wir gar nicht auf dem Einsatzplan stehen?«
»Ich habe Rudolph Sacker überredet, seine Schicht gegen meine von morgen zu tauschen«, antwortete Leo und steckte den Gurt unter den Sattel.
»Tja, das hört sich an, als wolltest du eher dir als mir etwas Gutes tun«, sagte Ottilie. »Eigentlich wollte ich mich hinlegen.«
»Du bist unglücklich«, schnaubte Leo. »Ich muntere dich ein bisschen auf.«
»Klar, dass du beim Thema Aufmuntern nur an Punkte denkst.« Sie zwang sich, nicht zu lächeln.
»Es gibt auch andere Möglichkeiten«, sagte er und hievte sich in den Sattel. »Aber das ist die beste.«
Ottilie konnte ihr Lächeln nicht mehr zurückhalten, als sie hinter Leo aufsaß, die Stiefel in die Steigbügel stellte und sich für Maestros Sprung in die Luft wappnete. Schließlich glitten sie gemütlich über die Baumwipfel, und ihre Sorgen zogen von ihr ab wie ein Schal, der hinter ihr im Wind wehte. »Und wo sind die Knopos nun?«
»In der Dschungelbucht an der Nordküste«, antwortete Leo. »Wir müssen ein ganz schönes Stück durch Narroway, und wenn wir Glück haben, ist unterwegs noch mehr los.«
Das Glück hatten sie allerdings.
Auf dem Flug nach Norden trafen sie auf einen Squail, sechs Morgies, ein Nest bärtiger Kröten, zahllose Jivvies, ein Pack Flare sowie sagenhafte zwanzig springende Ripperspitter – grässliche rattenartige Schattenschlinger mit ätzendem Speichel, den sie den Jagdleuten gerne in die Augen spuckten.
Mit dem Ellbogen stieß Leo den letzten Ripperspitter nach links, wo er sich durch die Lüfte schraubte, bis Ottilie ihm einen Pfeil in den Kopf schoss. Das Nagetier zischte, als sein Fleisch Blasen warf und schmolz, und fiel in den mit Farngestrüpp bewachsenen Talkessel.
Die Dämmerung warf Schatten über die Usklerkiefern, und die Mondsichel leuchtete heller im Zwielicht, als Leo Maestro anwies, auf einer kleinen Lichtung an einem ausgetrockneten Flussbett zu landen.
»Es ist schon ganz schön spät«, sagte Ottilie und zog weitere Pfeile aus der Satteltasche.
Leo löste den Riemen an seinem verletzten Bein und rutschte über Maestros Flanke nach unten. Gleichzeitig warf er Ottilie ein Messer zu, weil sie ihres im schmalen Maul eines Morgies versenkt hatte. Morgies griffen wie tückische Terrier von unten an und versuchten, den Fuß vom Gelenk zu trennen. Einer von ihnen war hochgesprungen und wollte gerade zuschnappen, doch er hatte Pech, und Ottilie stach zu. Am Ende verschluckte er den ganzen Dolch.
Leo grinste. »Willst du etwa nach Hause ins Bettchen?«
»Auf keinen Fall«, antwortete sie mit einem Lächeln.
Von der Lichtung war es nicht mehr weit zur Dschungelbucht, doch Leo gönnte Maestro eine Pause, bevor sie sich die Knopos vornahmen. Bisher konnte die Jagd sie nur selten aufspüren. Sie waren unberechenbar und siedelten sich in allen möglichen Landschaften an: In den Baumkronen im Wald, im Sumpf, im Gebirge, und nun hatte Leo sie auf den Klippen an der Küste entdeckt. Ihre Anpassungsfähigkeit in allen Ehren war das jetzt doch sonderbar, denn dort gab es zwei Phänomene, die alle Schattenschlinger auf den Tod nicht ausstehen konnten: Salz und Regen. Die Küstengebiete waren das reinste Paradies für normale Tiere, da die Schattenschlinger die salzige Gischt mieden und lieber im Landesinneren blieben.
Leo pflückte eine Raureifpflaume, warf Ottilie auch eine zu und machte es sich auf einem halb verfaulten Baumstamm gemütlich. Maestro legte sich vor ihn und schloss die Kristallaugen, allerdings mit leicht gehobenem Kopf und notfalls startklar.
Sie saßen eine Weile schweigend beisammen – wahrscheinlich, weil die Jagd glatt verlaufen war und Leo keine kritischen Bemerkungen einfielen. Ottilie lächelte in sich hinein.
»Siehst du, ich hatte recht«, sagte Leo. »Ich habe dich schon aufgemuntert! Wir sind noch nicht mal an den Knopos dran und schon grinst du wie ein Idiot!«
»Ich grinse nicht wie ein Idi-« Ottilie erstarrte, sie hatte in der Ferne etwas gesehen.
»Was?« Leo stand auf.
Ottilie hob den Bogen und zielte mit dem Pfeil durch eine Lücke zwischen den Bäumen. »Wir werden beobachtet.«
Der Wind frischte auf und fuhr durch die Bäume, deren Schatten wie Krallen und Zähne schnappten.
Leo stellte sich neben Ottilie, das Buschmesser zur Hand. »Von wem denn?«, fragte er und blickte geradeaus.
Doch das Licht ihrer Leuchtstäbe reichte nicht über die Lichtung hinaus.
»Da war etwas zwischen den Bäumen«, sagte Ottilie und hielt den Bogen weiter gespannt. Sie hatte das schreckliche Gefühl, dass die verhüllte Gestalt, die sie schon zweimal gesehen hatte, sie nun aus nächster Nähe beobachtete.
»Es ist nicht das erste Mal«, berichtete sie. »So war es auch an dem Tag mit dem Kappabak.«
Damals hatte sie Leo nichts davon erzählt und hätte nicht erklären können, warum sie es jetzt tat. Vielleicht weil er bei ihr war und das Ganze bezeugen konnte. Wenn Leo etwas sagte, hörte man ihm zu. Wenn er von dem Gesehenen Bericht erstattete, würde ihm niemand misstrauen oder ihn für ein ängstliches kleines Mädchen halten.
Maestro blickte mit gespitzten Ohren starr geradeaus.
»Er sieht etwas«, sagte Leo und machte einen Schritt nach vorn.
Etwas zuckte über den Himmel – ein Blitz? Nein, ganz falsch, nicht grell, sondern im Gegenteil schwarz wie ein Zucken in den ohnehin schon von der Nacht beschwerten Bäumen. Ottilie schüttelte den Kopf. Sie wollte es gerade auf ihre Einbildungskraft schieben, als es laut rauschte und plötzlich Flügelschlag und ein Schrei ertönten, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ und jedem Squail Konkurrenz machte. Leo und Ottilie machten sich bereit, doch das Wesen ging nicht zum Angriff über, und kurz darauf hörten sie, wie sich der Flügelschlag in der Ferne verlor.
»Nur ein Schattenschlinger«, sagte Leo und tätschelte Maestro, der mit angelegten Ohren leise knurrte.
»Das glaube ich nicht – sieh nur, wie aufgeregt er ist«, widersprach Ottilie.
»Du bist doch nicht aufgeregt, oder, mein Junge?« Leo kraulte ihn am Scheitel und runzelte die Stirn, aber Maestro entspannte sich bei so viel Zuspruch. »Vielleicht ein bisschen durcheinander.« Er sah sie an. »Du hast an jenem Tag jemanden gesehen?«
Sie nickte, immer noch deutlich angespannt. Ihr hektisch wandernder Blick stieß auf einen Baumstumpf zu ihrer Linken, und ihr fiel auf, dass ein Tropfen einer schwarzen Flüssigkeit aus einem Riss in dem verdorrten Holz rann. Es war schwer zu erkennen, doch es erinnerte sie an das ölige schwarze Zeug, das von den Blättern im Welkenden Wald tropfte.
Nachdenklich verzog sie das Gesicht. Das konnte nicht sein, denn das welkende Unheil verbreitete sich aus der Mitte des Welkenden Waldes heraus und tauchte nicht plötzlich an vereinsamten Orten auf. Ottilie trat näher heran und begriff, worum es sich handelte. Es war Schattenschlingerblut. Wahrscheinlich hatte jemand in der Nähe einen getötet und sein Blut verspritzt. Ihre Angst beflügelte ihre Fantasie noch.
»Wieso hast du mir das nicht erzählt?«
»Weiß ich auch nicht«, lautete ihre ehrliche Antwort. »Mir war nicht ganz klar, was ich sagen und wem ich vertrauen konnte. Es ist so viel auf einmal passiert.«
Wie ihr schien, wirkte er ein wenig betroffen, doch dann wandte er sich ab. »Komm, du kannst nach vorne.«
»Wieso?«, fragte sie verblüfft. Seit Leos Bein verheilte, war Ottilie auf dem Sattel wieder nach hinten verbannt worden.
»Weil ich dich zur Jagd auf Knopos mitgenommen habe, um dich aufzuheitern. Deshalb darfst du die Führung übernehmen.« Er wartete kurz und ging dann auf Maestro zu. »Na gut, wenn du nicht willst …« Er machte Anstalten, vorne aufzusteigen.
»Doch, ich will!« Sie huschte vorwärts, sprang in den Sattel und machte sich auf ein Abenteuer gefasst.
Als sie nach Norden zur Dschungelbucht flogen, fiel Ottilie ein, wie sie zum ersten Mal das Meer gesehen hatte. Sie war mit Leo südlich von Fiory durch die Berge geflogen und hatte es zwischen den Berggipfeln entdeckt – ein endloses Band aus tiefem Blau, mit Sonne gesprenkelt. Ottilie hatte nicht vergessen, dass sie den Atem angehalten und sich sehr klein gefühlt hatte, auf die bestmögliche Weise.
Vor ihnen entriss nun eine hakenförmige Halbinsel die Dschungelbucht wie ein gieriger Arm aus Klippen und Höhlen dem dunkel gewordenen Meer. Maestro flog tief über breiten, mit Tau benetzten Blättern und dicken Baumstämmen. Die von dichten Ranken umsponnenen Bäume wuchsen bis an die Wasserkante, wo sich der Nachthimmel spiegelte.
Maestro landete auf einem feuchten Felsblock unterhalb des Kronendaches.
»Hörst du das?«, fragte Leo.
Ottilie nahm nur das sanfte Plätschern der Wellen an die Baumstämme wahr.
»Früher lebten jede Menge Vögel, Frösche und Insekten in der Bucht, all diese Krachmacher«, sagte er. »Daran, dass sie nicht mehr da sind, habe ich gemerkt, dass etwas Neues hier eingezogen ist.«
»Und wo stecken die Knopos?« Als sie sich umschaute, schlug ihr Puls schneller.
»Jetzt wird es ganz verrückt«, antwortete Leo und zeigte aufs Wasser hinaus. »Sie sind da draußen. Mach langsam, ich zeige dir, warum.«
Ottilie nahm den Bogen vom Rücken und signalisierte Maestro mit einem Stups, wieder hochzugehen. Während sie auf die Biegung des Kaps zuflogen, bemerkte sie hohe Felssäulen. Vereinzelt ragten sie wie riesige alte Türme aus dem Meer. Andere waren noch teilweise mit der Klippe verbunden und schlugen Brücken aus schartigem Gestein.
»Wir haben die Säulen Seelanzen getauft«, erklärte Leo. »Die Knopos halten sich direkt dahinter in den Höhlen des Vorgebirges auf.«
Sobald sie sich den Höhlen näherten, wurden sie mit schrillem Tröten und ohrenbetäubendem Kreischen begrüßt. Im Schein ihrer Leuchtstäbe entdeckte Ottilie einen Knopo, der aus der Höhle watschelte. Er war doppelt so groß wie Ranger Morse, mit mattem Fell und krummen Reißzähnen. Auf seinen kurzen Beinen vollführte er mit extrem langen Armen wilde Drohgebärden. Dabei schlug er mit Fäusten in der Größe von Wassermelonen auf die Felsen.
Während sie über ihm kreisten, bemerkte Ottilie verstreute Tierknochen am Rand der Klippe. Der Anblick raubte ihr den Atem und erfüllte sie mit tiefer Trauer. Dann zeigte sie auf eine gezackte Felsspitze, die aus dem Wasser ragte und auf der ein verwesender Kadaver lag – möglicherweise ein ehemals riesiger Seelöwe.
»Wie ist er da hochgekommen?«, fragte Leo laut, um die Schreie der Knopos zu übertönen.
»Sie haben ihn wahrscheinlich gezogen«, antwortete Ottilie. »Offensichtlich haben sie so einige Tiere getötet, sieh nur!«
»Kapier ich nicht«, murmelte er.
Während sie auf die Überreste der Tiere aus der Küstenregion blickte, wurde sie schrecklich wütend, legte einen Pfeil an und zielte auf den mächtigen Knopo. Doch der sprang zur Seite und der Pfeil prallte von der Felswand ab. Auf der Stelle erschienen drei weitere, die jedoch deutlich kleiner waren als der erste. Mit gebleckten Reißzähnen brüllten sie wie Phantomaffen.
Schließlich traf Ottilie und durchbohrte die hängende Schulter eines Knopos, der ins Taumeln geriet, weil das Salz sich lähmend auf seinen Gleichgewichtssinn auswirkte. Obwohl sie sein Herz verfehlt hatte, wussten sie nun zumindest, dass die Salzschicht wirkte.
Einen Augenblick lang herrschte Ruhe, aber dann drehten die Knopos durch, grölten, schrien und stampften wilder im Kreis als zuvor.
In dem Versuch, näher an die Angreifer heranzukommen, stürmte ein Knopo auf die Felsen, die sich wie Zahnreihen bis zu den Seelanzen erstreckten. Als Leo ihn abschoss, versank er mit einem lauten Platscher im tintenschwarzen Wasser.
Ein Knopo nach dem anderen rannte auf die Felsen und kraxelte Richtung Seelanzen, bis einer es tatsächlich schaffte und sich unter lautem Johlen daranhängte.
Maestro glitt zwischen den hohen Säulen hindurch, abwärts und zur Seite, um den schwingenden Armen und scharfen Klauen auszuweichen.
Plötzlich ließ sich ein Knopo mit einer Art Urschrei von seinem Platz auf den Felsen über ihnen fallen, und Maestro drehte sich so rasch, dass Leo aufschrie. Die beiden Jagdleute hielten sich krampfhaft am Sattel fest, und Ottilie knirschte so fest mit den Zähnen, dass sie wehtaten. Glücklicherweise verfehlte der Knopo sie knapp und Maestro richtete sich in der Luft wieder auf.
Ottilie holte tief Luft und Leo lachte gezwungen und kraulte mit ausgestrecktem Arm das Fell des Wingerslinks. Maestro reagierte mit einem wohligen Brummen und schoss weiterhin im Zickzack auf und ab, bis die beiden Reiter die gesamte Schar der widerlichen Ungeheuer über den Wogen abgeschossen hatten.
Nachdem das erledigt war, landete Maestro auf der Klippe bei den Höhlen. Überall lagen Gerippe in unterschiedlichen Stadien der Verwesung.
»Sie hatten hier nichts zu suchen«, sagte Leo mit gerunzelter Stirn. »Wenn sie diesen Seelöwen umgebracht haben …« Er schüttelte besorgt den Kopf. »Das Tier müsste doch in Salz gebadet gewesen sein, was jegliche Berührung hätte verhindern sollen.«
Ottilie erschauerte. »Eigentlich hätten sie nicht einmal den Wunsch danach verspüren sollen«, sagte sie mit einem traurigen Blick auf eine Ansammlung von Knochen, die auf einen Katzenwels hindeuteten. »Ranger Voilies hat gesagt, Schattenschlinger würden normale Tiere verschmähen, außer wenn sie sie als Bedrohung oder Hindernis empfinden würden.«
»Grundsätzlich stimmt das«, sagte Leo. »Und die Salzschicht hat ja noch gewirkt.« Er warf einen Blick zu der leuchtenden Mondsichel, die hoch am Himmel stand. »Wir müssen zurückfliegen und Bericht erstatten.« Er wies auf die Gerippe.
Ottilie war es nicht gewohnt, dass Leo eine sorgenvolle Miene aufsetzte, und sie fühlte sich mit einem Mal haltlos, als würde die Klippe unter ihnen schwanken und platzen. Sie drückte Maestro in die Luft und stieg mit ihm immer höher, bis die Bäume nur mehr struppige Schatten waren. Der Flug beruhigte ihre Nerven, bis sie eine Weile das Gefühl hatte, es gäbe gar kein Land oder Meer, keine Welt unter ihnen, sondern nur Flügel, Himmel und Sternenlicht.
Schließlich kam Fiory in Sicht und schimmerte silbern auf der Hügelkuppe. Ottilie spürte, dass Maestro die Muskeln anspannte und zögerte. Kurz darauf hörte auch sie, was er offenbar zuerst wahrgenommen hatte – wildes Glockenläuten aus der Festung, das Heulen der Shepherds und, als sie fast dort waren, das Geschrei.
Als Maestro auf dem oberen Festungsgelände landete, kam ein bebrillter Junge auf sie zugerannt und schwenkte die Arme.
»Ein Wyler ist hier!«, schrie Preddy, hielt sich die Rippen und keuchte. »Im Stützpunkt!«
Die Panik packte Ottilie wie kalte Hände im Dunkeln.
»Wo?«, fragte Leo, sprang aus dem Sattel und versetzte ihr einen Tritt.
»Keine Ahnung«, erwiderte Preddy. »Ich bin gerade erst von der Patrouille gekommen, und Ranger Furdles meinte … es hätte einen Verletzten gegeben und der Wyler wäre entkommen. Alle aus der ersten Garde sind mittlerweile in der Festung und jagen ihn.«
»Was soll das heißen, er ist entkommen?«, zischte Leo.
»Wer ist der Verletzte?«, fragte Ottilie, deren Gedanken wild durcheinanderwirbelten: Gully verletzt, Gully tot, Alba und Skip … Blut und Gift und geschwärzte Reißzähne. Wie war ein Wyler hier hereingekommen?
»Einer aus der vierten Stufe. Sie haben ihn auf die Krankenstation gebracht, und ich glaube, es geht ihm schon besser«, antwortete Preddy.
Sie schluckte ihre Erleichterung herunter und rieb sich den blauen Fleck am Bein. Leo knurrte lediglich und rannte auf die Lichter zu.
Vor Angst wäre Ottilie am liebsten in ihr Zimmer gelaufen und hätte die Tür verriegelt, doch das kam nicht infrage. Es ging einfach nicht. Sie musste die ganze Zeit an Skip denken. Gully wusste, wie man mit einem Schattenschlinger umsprang, und Alba hatte Montie, die zwar kein Training durchlaufen hatte, auf deren mütterlichen Instinkt jedoch Verlass war. Skip dagegen hatte niemanden.
Ottilie nahm ihren Mut zusammen, stieg ab und zog einen langen Dolch aus dem Stiefel.
»Ranger Morse hat den Befehl ausgegeben, dass wir uns raushalten sollen«, sagte Preddy und blickte mit aufgerissenen Augen auf das Messer. »Die erste Garde –«
»Los, komm, Preddy.« Sie zog ihn mit sich.
Dabei wusste sie genau, dass sie keinen Wyler jagen konnte. Wie sollte sie ihn denn in den halbdunklen Steingängen ohne Rascheln und Knirschen, ohne Spuren im Boden aufspüren?
Doch in Fort Fiory gab es unbewaffnete Bedienstete, die Mädchen, die von der starrsinnigen Jagd nicht unterrichtet wurden und nur nach Narroway gebracht worden waren, um den Jagdleuten zu dienen und Ordnung zu halten. Skip war eine einfache Magd, eine Dienerin im Innenbereich. Ottilie wollte zunächst zu ihrem Flur, um nach Skip zu sehen.
Wohin sie auch blickte, alle Türen waren verschlossen. Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Gänge, voller Angst, den Wyler anzulocken. Hin und wieder begegneten sie einem Mitglied der ersten Garde, doch niemand riet ihnen, sich zu verstecken. Es war kein Ranger vor Ort, der ihnen Befehle erteilen konnte. Vermutlich hatten die sich in dem Glauben in ihren Zimmern eingeschlossen, sie könnten ohnehin nichts gegen einen Schattenschlinger ausrichten. Wie jeder in Narroway waren sie davon überzeugt, dass diese Ungeheuer nur von Unschuldigen – Kindern – besiegt werden konnten. Ottilie war sich da nicht so sicher. Mit Alba hatte sie viel gelesen, um Antworten auf ihre Fragen zu suchen, doch sie hatten immer noch keinen handfesten Beweis für oder gegen die Unschuldsregel gefunden.
Keine Spur von Leo, auch Gully und Scoot waren ihnen nicht begegnet. Ottilie hatte sich an diesem Tag in ihrer schlechten Laune gesuhlt und überhaupt nicht darauf geachtet, was die anderen machten.
»Weißt du, wo Gully ist?«, flüsterte sie.
»Was?«, fragte Preddy. Er bückte sich und musste sich halb zusammenfalten, um sein Ohr näher an ihren Mund zu halten.
»Sind Gully und Scoot drinnen oder draußen?«
»Gully ist mit Ned auf Nachtjagd, aber nach dem Glockengeläut sind sie vielleicht zurückgekommen. Scoot ist heute Nacht in der Festung, glaube ich.«
Sie wusste nicht, wer sicherer war, Scoot in seinem abgeschlossenen Zimmer oder Gully in Narroway.
»Denen geht’s bestimmt gut«, murmelte Preddy mehr zu sich selbst als zu Ottilie.
Die Stille lastete auf ihr, als wäre sie tief unter Wasser. Mit jedem Schritt wurde sie nervöser, bis ihr sogar das Atmen schwerfiel. Fiory galt als sicher. Innerhalb der Grenzmauern war seit dem Vorfall mit den Yickern im Auenhain nichts mehr passiert und das war absolut ungewöhnlich gewesen. Hauptmann Leier hatte ihnen jedenfalls versichert: Schattenschlinger kamen niemals herein.
Jetzt waren sie im Quartier der Mägde. Preddy war Ottilie einen Schritt voraus, als er plötzlich vornüberfiel. Das Knirschen seiner Brillengläser glich einem Tritt in die Zähne.
»Preddy!« Ottilies Herz setzte einen Schlag aus. Christopher Crow war auf die gleiche Weise gefallen.
»Alles okay«, murmelte ihr Freund und kroch zur Seite. »Ich bin über etwas gestolpert.« Seine Stimme klang dünn, während er das Hindernis fixierte.
Ein Stück weiter vorn, an der Tür der Mägdekammer, hing eine schwache Lampe, und Ottilie richtete den Blick geradeaus auf den Boden. Dort entdecke sie eine große Gestalt direkt hinter dem Lichtkreis.
»Ahh!« Wie ein verschreckter Krebs krabbelte Preddy weiter weg. Dann trat er mit dem Fuß aus und etwas kullerte klirrend über den Steinboden. Ottilie musste blinzeln, es drehte ihr den Magen um. Es war ein Daumen, der abgerissene linke Daumen eines Jägers, an dem wie durch Magie noch der schmale Bronzering steckte.
Die Ringe dienten dem Schutz jener Jagdleute, die erst lernen mussten, wie man die Übelkeit abwehrte, die von den Schattenschlingern ausgelöst wurde. Die Metallbänder sollten verlässlich dafür sorgen, dass ihre Herzen weiterschlugen, wenn eins dieser Ungeheuer in der Nähe war. Ottilie wurde eng um die Brust. Schläferin kommt keinen holen. Diese Worte waren in ihre Ringe eingraviert. Sie blickte auf die glänzende Bronze, weil sie der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte. Die Schläferin war doch gekommen. Der Ring gehörte einem Jäger und dieser Jäger lag ein paar Meter weiter vorn.
Wyler waren schlau. Sie stürzten sich als Erstes auf die Ringe. Das hatte sie in einem Bestiarium gelesen oder Leo hatte es ihr erzählt. Sie wusste es nicht mehr.
Leo. Ottilie wippte auf den Fersen, als die heiße Panik ihren Nacken hochkroch. War er das womöglich, besiegt von einem Wyler?
Nein, Unsinn. Die erste Garde brauchte die Ringe nicht mehr und hatte sie abgelegt. Da vorn lag ein junger Jäger, ein Grünschnabel oder einer aus der zweiten Stufe. Einen fürchterlichen Augenblick lang überlegte sie, ob es Gully sein könnte, aber im Grunde wusste sie, dass er es nicht war. Sie hätte ihn auch aus diesem Abstand sofort erkannt.
Ottilie schüttelte den Kopf und zwang sich, den Blick von dem abgetrennten Daumen zu wenden.
Preddy beugte sich über die Leiche. »Das ist kein Grünschnabel«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie er heißt.«
»Kommst du klar?« Als sie zu ihm ging, um ihm aufzuhelfen, hatte sie selbst das komische Gefühl, sie könnte ihre Beine nicht spüren.
»Ich weiß nicht, wie er heißt«, sagte Preddy noch einmal.
»Das ist nicht schlimm, Preddy, du warst fast die ganze Zeit in Richter –«
»Kennst du seinen Namen?«, fragte er hörbar verzweifelt.
Ottilie biss die Zähne zusammen und betrachtete den toten Jungen. »Das ist Tommy«, antwortete sie schließlich mühsam. Einer aus der zweiten Stufe, seinen Nachnamen kannte sie nicht.
Sie waren hier nicht sicher und mussten schleunigst verschwinden. Ottilie ließ den Blick durch den Flur schweifen und bemerkte wie nebenbei, dass ihre Wangen tränenüberströmt waren. Am Boden war Blut, doch es hätte viel mehr sein können. Der Wyler hatte sich nicht lange aufgehalten.
»Los, Preddy, wir müssen hier weg und uns vergewissern, dass sie in Sicherheit sind.« Sie zog ihn hoch. Dabei ging sie beinahe selbst in die Knie, doch sie hielt ihn fest am Arm, und so stützten sie sich gegenseitig.
Vor Skips Zimmertür hielten sie inne und lauschten auf ein Anzeichen, ob der Wyler noch in der Nähe war. Ottilie fing Preddys Blick auf. Sie fasste den Riegel, doch bevor sie ihn verschieben konnte, schrie jemand auf der anderen Seite der Tür.
Die Panik fühlte sich an, als wäre Ottilie mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Tür gerannt. Benommen und gleichzeitig entschlossen riss sie die Tür auf. In dem Raum drängten sich mindestens dreizehn Mädchen in zwei Ecken und starrten auf ein Bett an der Wand, die nach Westen ausgerichtet war.
»Was ist passiert?«, fragte Preddy in die Runde.
Skips dunkelblonder Schopf tauchte hinter Gracie Moravec auf. »Der Schattenschlinger ist hier. Niemand wurde verletzt. Wir haben ihn auf dem Bett da gesichtet und glauben, er ist jetzt da drunter.« Ihre Stimme klang ruhig – konzentriert.
Preddy schaute entsetzt zum Bett. »Wie ist er da hinge-«
»Egal«, sagte Ottilie und hielt das Messer in Bereitschaft.
»Einer von uns muss Alarm schlagen«, sagte Preddy. »Wer weiß, ob jemand den Schrei gehört hat?«
Ottilie konnte nicht mehr klar denken. »Mach du das, ich habe schon mal einen gesehen.«
Preddy rannte hinaus. Erst als seine lauten Schritte verhallt waren, fiel ihr ein, dass auch eine der Mägde hätte gehen können. Dann wären wenigstens noch zwei Jagdleute im Raum geblieben. Das war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie brauchten Hilfe, und zwar schnell.
Hinter ihr rührte sich etwas.
»Gib mir ein Messer«, murmelte Skip.
Ottilie reichte ihres an sie weiter und zog ein neues aus dem Gürtel. Skip stellte sich neben sie und hob kampfbereit den Dolch.
Worauf wartete das Ungeheuer?
Ottilie wollte nichts tun, was es zum Angriff verleiten konnte, und verharrte deshalb bewaffnet zwischen dem Wyler und den Mägden, während sie auf Hilfe wartete. Preddy würde gleich zu einem Wachturm gelangen oder bereits auf dem Weg dahin einen aus der ersten Garde treffen. Während sie noch überlegte, ob sie unter dem Bett nachsehen sollte und ob er auf sie losgehen würde, wenn sie ihm ins Auge blickte, hörte sie einen dumpfen Aufprall und das Klirren von Metall auf Stein.
Ottilie drehte sich blitzschnell um. Ein orangefarbener Blitz und ein zuckendes Schwanzende, das rasch unter einem Bett am Fenster verschwand, und wieder schrie jemand. Ein Mädchen am Rande der Gruppe hielt seine Hand umfasst. Blut troff von ihren Knöcheln, während sie den Stumpf betastete, an dem eben noch ihr Daumen gesessen hatte.
Bei dem Anblick gerann Ottilie selbst das Blut in den Adern. Sie hatte versagt. Sie hatte sie bereits im Stich gelassen.
»Bringt sie raus!«, fauchte Skip. »Bringt sie weg von ihm!«
Eine andere Lösung gab es nicht. Der Ring des Mädchens war mit dem Wyler unter einem der Betten verschwunden und keiner konnte seinen eigenen entbehren. Ottilie erwog, sich der Übelkeit zu stellen, doch es war zu gefährlich, sich freiwillig zu schwächen – selbst wenn sie bisher keine große Hilfe gewesen war.
Das Mädchen fiel auf die Knie und würgte. Ein Mädchen, das neben ihr stand, bückte sich, um ihr beizustehen, doch auch sie wagte es nicht, sich auch nur einen Schritt von den anderen zu entfernen.
»Bringt sie raus!«, forderte Skip noch einmal.
In den Armen der Freundin erschlaffte das Mädchen und ihre blasse Hand sank wie ein toter Tintenfisch herab. Ihre Freundin schloss in dem Versuch, die Blutung zu stillen, ihre eigenen Hände darum. Wenn sich niemand rührte, würde das Mädchen in den nächsten Minuten sterben, so viel war klar. Skip huschte zu der Verletzten.
»Hilf mir«, sagte sie zu dem anderen Mädchen, und dann brachten sie sie gemeinsam hoch und schleppten sie zur Tür.
Ottilie war wie gelähmt und spürte eine seltsame Leichtigkeit in den Beinen und dem unteren Rücken. Sie fühlte keine Verbindung, keine Stabilität mehr. Wie sollte sie ihnen jemals helfen?
»Machst du heute noch irgendetwas?«, zischte Maeve Moth. Ihr dunkles offenes Haar warf wie ein Trauerschleier Schatten über ihr Gesicht. Zwischen den dichten Strähnen loderten ihre leuchtenden Augen.
»Wenn ich das Ungeheuer angreife, geht es auf euch los«, erwiderte Ottilie.
»Es geht doch schon auf uns los!«, sagte Maeve.
Ottilie blickte starr auf die rote Blutlache und ihre Finger zitterten am Schaft des Messers.
Maeve knurrte vor Enttäuschung. »Bring es um, sonst tut es das gleich wieder!« Mit wilden Gesten zeigte sie auf den blutbespritzten Boden.
Ottilie rührte sich nicht. War es richtig, auf Hilfe zu warten? Oder hatte sie nur zu viel Angst vor dem Wyler?
Mit einem Mal veränderte sich etwas, erst ganz leise, doch dann hörte sie die Schritte, die in ihre Richtung liefen. Hilfe war auf dem Weg. Leider spürte der Wyler es auch und schoss wie ein brennender Pfeil unter dem Bett hervor. Die Mägde rannten verschreckt in alle Richtungen.
Chaos brach aus. Einigen gelang die Flucht aus dem Zimmer, doch dabei stießen sie andere zu Boden. Maeve zog das Buschmesser aus der Scheide auf Ottilies Rücken und stellte sich neben sie wie eben noch Skip.
»Stellt euch auf die Betten!«, rief Ottilie in dem Versuch, den Lärm zu übertönen. Sie wollte den Boden im Blick behalten.
Während alles in Bewegung war, entdeckte Ottilie eine zusammengesunkene Gestalt an der Rückwand. Mausgraues Haar verdeckte das Gesicht des Mädchens und fiel auf seine Brust, wo es auf seinem Nachthemd wie Sumpfgras mit Blut verklumpte.
Nun war sie endgültig gescheitert. Obwohl Ottilie mit ihnen in einem Raum war, hatte sie nichts unternommen, doch darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Sie musste sich konzentrieren.
Plötzlich bewegte sich links von ihr etwas. Ottilie wirbelte herum und tauchte ab, doch der Wyler war schneller. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er weiter nach links jagte, ahnte, was er vorhatte, und warf sich vor Maeve, die nicht auf ein Bett gesprungen war.
Ottilie trat zu und traf mit dem Stiefel den gehörnten Kopf. Als der Wyler daraufhin durchs Zimmer flog, stöhnte sie vor Schmerz auf. Das benommene Ungeheuer bewegte sich nun deutlich langsamer. Ohne sich um ihren pochenden Fuß zu kümmern, legte sie einen Pfeil an und schoss – eine Sekunde zu spät. Der Pfeil traf die Wand, während der Wyler unter das nächste Bett raste.
Die Mägde auf diesem Bett sprangen auf ein anderes und wurden mucksmäuschenstill.
Ottilie gab Maeve ein Zeichen. Gemeinsam gingen sie auf das Bett zu, kippten es um und schoben es zur Seite. Der Wyler stürmte vor, sprang wie eine Katze und verscheuchte die Mägde auf dem Nachbarbett. Ottilie warf den Bogen weg, denn es war viel zu gefährlich, in diesem Durcheinander zu schießen.
Die Schritte wurden lauter, und schließlich stürmte Igor Thrike, gefolgt von Bacon Skitter und Preddy, ins Zimmer. Bacon ging direkt auf den Wyler los, der auf der Bettkante lauerte und ihm ins Gesicht springen wollte. Bacon duckte sich und gab unwillkürlich ein Sprungbrett für den Wyler ab, der sich von dort ans andere Ende des Raums katapultierte. Igor schwenkte seinen Hammer, traf ihn, konnte ihn jedoch nicht wirklich niederschlagen. Der Wyler wälzte sich herum und richtete sich wieder auf. Als Ottilie ihn mit dem Messer ritzte, drang das Metall oberflächlich in sein Fleisch, und einen Augenblick lang schien der Wyler verschwunden zu sein. Alle im Raum erstarrten.
Maeves leise Stimme brach das Schweigen. »Gracie!«
Die Mägde machten Platz. Gracie Moravec betrachtete mit ihren sonderbaren hellen Augen vage interessiert ihren Unterarm. Aus mehreren Bissspuren rann Blut auf den Boden.
Mit einem Mal griff der Wyler Maeve an. Er war nicht mehr so schnell und verlor schwarzes Blut aus dem Schnitt, den Ottilie ihm zugefügt hatte. Preddy warf sich vor sie und schwang sein Buschmesser. Es zischte, etwas schlug dumpf auf, und dann rollte der gehörnte Kopf des Wylers bis vor Gracies Füße. Dort blieb er kurz liegen, bevor das Fleisch schmolz und nur klebrige Knochen und matte orangefarbene Fellknäuel übrig blieben, die zu Braun und Grau verblassten. Schließlich schrumpften sie vor aller Augen zu einem krossen Schwarz.
»Ich glaube nicht, dass man drinnen nachts die doppelte Punktzahl bekommt. Tut mir leid, Noel«, sagte Igor Thrike.
Ottilie sah ihm in die Augen und spuckte auf den Boden. So etwas hatte sie noch nie getan, doch der Anblick der Magd, die mit zerfetzter Brust auf eine Trage gelegt wurde, ging ihr nicht aus dem Kopf. Außerdem schien es in diesem Moment angebracht.
»Hey, Schauflerin, das war echt nicht ladylike«, spottete Igor. »Zieh dir lieber eine Schürze an und räum hier auf.«
Ottilie schwieg zähneknirschend, zumal Preddy sie ablenkte. Er lehnte mit dunklen Blutspritzern im Gesicht an der Wand und sah elend aus. Sie machte sich Sorgen. Hatte der Wyler ihn noch gebissen oder gekratzt? Das Gift dieser Ungeheuer war widerwärtig und ein Biss konnte bereits das Ende bedeuten. Bacon und Maeve waren mit Gracie zur Krankenstation geeilt, nachdem der Wyler ihr den Arm aufgeschlitzt hatte.
Ottilie packte Preddys Handgelenk. Sein Blick war verschleiert und ernst.
»Geht’s einigermaßen?«, fragte sie, als müsste sie ein Tier aus seinem Versteck locken.
Er gab keine Antwort.
»Preddy, bist du verletzt?« Sie hatte ihre Stimme nicht mehr im Griff.
Er schüttelte den Kopf und schluckte. »Es ist so anders, draußen zu jagen. Anders, als Leute zu beschützen und zu versuchen, sie zu retten.«
»Du hast sie gerettet«, sagte sie. »Du hast das Ungeheuer daran gehindert, Maeve wehzutun.«
»Aber das Mädchen.« Sein Blick zuckte zu der blutverschmierten Wand. »Und der Junge im Flur.«
»Dagegen hättest du nichts tun können. Du warst ja nicht einmal hier, als …« Ottilie konnte den Satz nicht beenden. Schließlich war sie im Zimmer gewesen und hatte nichts getan. Plötzlich drehte sich alles, und ihr wurde schwarz vor Augen, doch sie zwang sich, dem nicht nachzugeben. Preddy wurde nicht damit fertig und sie musste ihm helfen.
Ihr fiel ein, dass Preddy noch nie jemanden gesehen hatte, der schwere Verletzungen durch einen Schattenschlinger davongetragen hatte. Sie erinnerte sich, welch ein Schock der entsetzliche Tod von Christopher Crow für sie gewesen war, und nahm Preddys Hände. Beinahe hätte sie aus alter Gewohnheit diesen Impuls unterdrückt.
»Aber wie ist er in diese Schlafkammer gelangt?«, hörte sie Ranger Voilies an der Tür fragen.
Ottilie interessierte sich mehr dafür, wie er über den Festungswall gekommen war. Sie blickte zur Tür, als würde Ranger Voilies es verraten, sobald er den Raum betrat.
Hauptmann Leier kam herein, mit Ranger Voilies auf dem Fuße, der sehr rot im Gesicht war. Seine Haut glänzte, als hätte er stundenlang vor Angst geschwitzt. Dagegen bewahrte Hauptmann Leier in seiner gewohnten blauen Jacke deutlich mehr Haltung, doch unter seinem schwarzen Bart hatte er den Mund zu einem dünnen Strich verzogen – keine Spur von seinem fröhlichen Grinsen.
»Ich kann Ihnen sagen, wie der Wyler hier hereingekommen ist«, meinte Maeve Moth, die hinter den beiden eingetreten war. Offensichtlich war sie schrecklich wütend. Das war zwar nicht ungewöhnlich, aber Ottilie fragte sich, warum sie nicht bei Gracie auf der Krankenstation geblieben war.
»Ach ja?«, fragte Ranger Voilies schrill. Seine Stimme kippte.
»Ja«, antwortete sie mit funkelnden Augen. Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie eingeschüchtert von dem Gespräch mit einem Ranger und einem Direktor. Über den Direktoren stand kaum noch jemand – nur Eminenz Edderfed, die graue Eminenz von Fiory. Hauptmann Leier war einer der drei Direktoren von Fiory und wurde als Hauptmann bezeichnet, weil er der Zeremonienmeister war. Ottilie vermutete, dass er sich den Titel selbst verliehen hatte.
Nun richtete er seinen Blick auf Maeve. »Was ist passiert?«, fragte er gleichmütig.