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Stell dir vor, du lebst an einem der ärmsten Orte Englands - und deine Mum erzählt dir, sie will einen Baron heiraten und mit dir auf ein Schloss ziehen! Genau das passiert Abby, die ihre Freunde daraufhin kurzerhand "Downtown Abby" taufen. Aber auf Greyson's Castle fühlt Abby sich keineswegs prinzessinnenhaft ... Immerhin kann sie nun endlich reiten, denn zu dem Schloss gehört ein berühmter Rennstall. Als mehrere Pferde erkranken, kommt sie auch dem unnahbaren Grey näher, dem Adoptivsohn des Barons. Doch Grey umgibt ein düsteres Geheimnis: Was geschah bei dem tödlichen Reitunfall seiner Mutter vor vielen Jahren? Was hat die versnobte Lady Camilla damit zu tun, die immer in der Nähe des Barons ist? Abby begibt sich auf Spurensuche und kommt dabei der Adelswelt ganz schön in die Quere ...
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Seitenzahl: 416
eISBN 978-3-649-62909-2
© 2018 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,Hafenweg 30, 48155 MünsterAlle Rechte vorbehalten, auch auszugsweiseText: Kyra DittmannCovergestaltung: Frauke Maydorn,unter Verwendung eines Fotos von Mehmet TuranLektorat: Katharina Jacobi, Frauke ReitzeSatz: Helene Hillebrand
www.coppenrath.de
Kyra Dittmann
Für alle,die es lieben, mit offenen Augengegen den Wind zu reiten.Und ganz besonders für die,die es noch nie gemacht haben.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Danksagung
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Impressum
Titel
Kapitel 1 Böse Vorahnungen
Kapitel 2 Welcome to Wyoming
Die Reiterin lehnte sich vor und klopfte sachte den Hals ihrer Stute. „Schsch, es geht gleich los.“ Das rechte Ohr des Pferdes drehte sich aufmerksam nach hinten. Es wartete auf das Zeichen.
Die junge Frau beobachtete, wie ein Mann den Riegel des Gatters öffnete, während sich die anderen Reiter – es mussten weit mehr als fünfzig sein – in Position stellten und die Pferde unruhig nach vorn drängten. Sie fühlte das Herz ihrer Stute im Gleichtakt mit ihrem eigenen schlagen. Und sie spürte die Aufregung.
Sie liebte das leichte Zittern, das durch ihren Körper ging, bevor das Signal zum Aufbruch ertönte. Es war genau diese Gespanntheit, die das Reiten bei einer Schleppjagd so einzigartig machte.
Heute allerdings fühlte sie noch etwas anderes. Den ganzen Tag schon lag etwas in der Luft. Ein Hauch von Gefahr, der, kaum greifbar, wie ein leiser Windzug um ihren Körper wehte.
Sie ließ den Mann nicht aus den Augen, der in wenigen Augenblicken das Curée freigeben würde – den Pansen, die Beute für die Hundemeute. Als das Tor aufschwang und das Horn zum Aufbruch blies, setzte ihr Herzschlag für den Bruchteil einer Sekunde aus. Pures Adrenalin jagte durch ihren Körper und sie umklammerte die Zügel.
Vorn galoppierten die ersten Reiter an, während ihre Stute unruhig tänzelte. Weitere Pferde stürmten los und die Formation vor ihr löste sich auf. Endlich war der Weg frei. Sie beugte sich tiefer über den Hals ihres Pferdes. „Lauf, Destiny!“
Das Tier sprang pfeilschnell los, obwohl sie sich Mühe gab, es noch zurückzuhalten. Ungeduldig schlug die Stute mit dem Kopf, blieb aber gehorsam hinter der Spitze – während ihre Reiterin aus den Augenwinkeln ein herannahendes Pferd bemerkte. Der Braune holte auf, bis er sich beinahe auf gleicher Höhe mit ihnen befand. Die junge Frau erkannte die andere Reiterin, sie kannte sie nur zu gut. Und sie wusste auch den Blick zu deuten, der mehr als eine sportliche Kriegserklärung war. Beim Jagdreiten gab es weder Sieger noch Verlierer. Es war ein anderes Spielfeld, auf dem sie Konkurrentinnen waren – und es war ein viel gefährlicheres als der Jagdparcours.
Die junge Reiterin schüttelte den Gedanken ab. Sie konzentrierte sich auf ihr Pferd und richtete den Blick nach vorn. Ihre Hände vergruben sich in Destinys Mähne und sie spürte den Ring an ihrem Finger. Er gab ihr Gewissheit.
Während sich der Klang des Jagdhorns entfernte und die Pferde über die Felder stürmten, gab es nur noch sie und Destiny. Alles andere war wie weggewischt, als ob nichts um sie herum noch existieren würde. Der Hauch von Gefahr verflog so schnell wie der Wind, der ihnen entgegenschlug. Die Zeit verging in derselben Geschwindigkeit, mit der unter ihr die Hufe über den Boden donnerten. Sie spürte nur die Muskeln ihres Pferdes unter sich arbeiten, sah den feinen Dampf stoßweise aus Destinys Nüstern treten und hörte ihren schnellen Atem. Die Luft roch nach nassen Wiesen und feuchter Erde.
Sie liebte diesen Moment, wenn alles andere mit einem Mal unwichtig war.
Destiny flog über die Hindernisse. Sie überquerten Büsche und Hecken mit Leichtigkeit. Die Stute reckte ihren sehnigen Körper dem Himmel entgegen und schnaubte zufrieden, wenn sie den Boden wieder mit den Hufen berührte.
Ihre Reiterin hielt den Blick fest geradeaus gerichtet. Während das Blut durch ihre Adern pochte, näherten sie sich der schwierigsten Hürde dieses Jagdritts: der alten Todeseiche, die ein Blitz vor Jahren niedergerissen hatte – dem am meisten gefürchteten Sprung, weil ein tückischer Graben hinter dem mächtigen Baumstamm verlief.
Die junge Frau atmete tief durch und strich mit den Fingern an Destinys Hals entlang. „Schneller!“, flüsterte sie. Ihr Wispern ging im Rauschen des Windes unter. Es musste eher die Gewohnheit sein, als dass die Stute sie wirklich hätte hören können, aber das Pferd legte nochmals an Tempo zu.
Die Bäume rasten wie grüne Schatten an ihnen vorbei. Ihre gesamte Konzentration richtete sich auf den Sprung, der vor ihnen lag. Destinys schmale weiße Ohren stellten sich kerzengerade auf, die Reiterin presste ihre Beine fest an den muskulösen Körper. Dann schloss sie die Augen.
In dem Moment, in dem sie abhoben, musste sie alle Zweifel hinter sich lassen. Voll und ganz vertraute sie ihrem Herzenspferd. Der Wind fegte ihr durch die offenen Haare, die sich unter ihrem Reithelm gelöst hatten. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Und blitzartig überfiel es sie wie eine Ahnung: Es war falsch, sie wusste es.
Unsinn, rief sie sich zur Ordnung. Jetzt keine Zweifel mehr! Vertrau deinem Pferd!
Sie gab die Zügel frei. Wie ein riesiger Adler flog Destiny über den Stamm der Todeseiche, kraftvoll und unbesiegbar. Für einen kurzen Augenblick genoss ihre junge Reiterin das berauschende Gefühl. Sie segelten schwerelos durch die Luft, dann spürte sie, wie sich der Körper ihres Pferdes abwärtsneigte. Stolz durchfuhr sie, weil sie der Angst getrotzt hatte. Gleich würde sie das sanfte Aufkommen auf dem weichen Waldboden spüren.
Doch die Perfektion zerplatzte wie eine Seifenblase, als ein Zucken durch den Körper des Tieres ging. Wie in Zeitlupe fühlte sie den Ruck, als der Steigbügel unter ihr nachgab und sie aus dem Gleichgewicht riss. Im selben Augenblick verlor auch Destiny die Balance. Sie stürzte und im Bruchteil einer einzigen Sekunde schlugen Pferd und Reiterin in dem Graben auf, in dem schweigend ihr gesamtes, kurzes Leben unterging.
Die Rollen meines Boards ratterten im Gleichtakt zur Musik aus meinen Kopfhörern über das Pflaster. Ich schloss die Augen. Wie immer versuchte ich, den Moment hinauszuzögern, in dem die Panik von mir Besitz ergriff. Lange hielt ich es nie aus. Die Furcht, beim Skaten von der Spur abzukommen und in den Fluss zu stürzen, war leider auch nicht unberechtigt. Nur wenn man sich konzentrierte und seine Balance im Griff hatte, klappte es. Und so versuchte ich zum x-ten Mal, so lange wie möglich mit geschlossenen Augen den Pier entlangzufahren, um meine Angst unter Kontrolle zu bekommen.
Der Wind blies mir ins Gesicht, und der Geruch nach Großstadt und Freiheit kitzelte in meiner Nase, während ich langsam bis zehn zählte. Dann riss ich die Augen auf und schaffte gerade noch eine Drehung an einem der schwarz lackierten Begrenzungspoller. Am Rande des Piers hielt ich an. Mit einem schnellen Grab hob ich mein Board auf und hockte mich mit klopfendem Herzen auf eine Bank. Der Ausblick auf den River Mersey war die beste Belohnung für mein Angsttraining. Ich konnte mir keinen schöneren Ort vorstellen als das Albert Dock. Wenn die Abendsonne den Fluss in schimmerndes Rot tauchte, wollte ich genau hier sein und nirgendwo anders: in Liverpool.
All meine Erinnerungen an Dad waren mit dieser Stadt verknüpft. Unsere gemeinsamen Lesestunden im Prince’s Park vermisste ich ebenso wie die Stunden am Pier des River Mersey, wenn wir zusammen den Sonnenuntergang beobachteten und darauf warteten, dass Mums Schicht im Hotel endete. Aber die schönste Erinnerung an Dad war mit dem Tag vor meinem sechsten Geburtstag verbunden. Während Mum Kuchen backte, hatten wir einen Spaziergang zu dem neuen Pferdestall in Merseyside gemacht. Die Reitstunden waren natürlich viel zu teuer. Doch Dad tröstete mich damit, dass ich nur fest genug daran glauben musste, dann würden alle meine Wünsche in Erfüllung gehen. Wenn ich es also wirklich wollte, würde ich ganz sicher eines Tages reiten. „Mit offenen Augen und ausgebreiteten Armen gegen den Wind“, wie Dad immer gesagt hatte. Ich lächelte bei der Erinnerung, wie schön ich diese Vorstellung als kleines Mädchen gefunden hatte. Dad war immer der Meinung gewesen, dass man alles schaffen konnte, solange man seine Träume eisern verfolgte.
Ein heftiger Schlag gegen meine Schulter riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich fuhr erschrocken herum … und blickte in Dannys grinsendes Gesicht. „Hi, Sis!“
„Von wegen Sis!“, knurrte ich. „Das Ende unserer Freundschaft ist näher, als du denkst, wenn du so weitermachst.“
„Wie jetzt? Das ist ein ehrenhafter Skatergruß, Abby!“ Völlig unbeeindruckt ließ er sich neben mich auf die Bank plumpsen. „Außerdem würdest du es niemals übers Herz bringen, mich im Stich zu lassen.“ Er lächelte zufrieden.
Ich rollte mit den Augen, schaffte es aber leider nicht, dabei ernst zu bleiben. „Trotzdem könntest du dir eine etwas charmantere Begrüßung angewöhnen.“
„Und wie sollte die aussehen?“, fragte er irritiert.
„Vielleicht Hallo, bezaubernde Abby, wie geht’s dir heute?“, kicherte ich.
Danny sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Hast du zu viel ‚Downton Abbey‘ gesehen?“
Ich musste noch mehr grinsen. „Mum gefällt’s.“
„Dann bin ich echt froh, dass du nicht wie deine Mum bist … sondern einfach nur Downtown-Abby!“ Ich tat, als müsste ich ein Gähnen unterdrücken bei seinem Standardwitz. Danny schüttelte den Kopf. „Diese Serie würde mich verrückt machen. Und wenn du mir dann noch dauernd vorschwärmen würdest, wie schön es wäre, auf einem Schloss zu leben …“
Ich knuffte ihn in die Seite. „Hey, jeder darf träumen, klar?“
„Klar, aber doch nicht von irgendwelchen Lords und muffigen Schlössern!“ Danny schnaubte. „Deine Mum sollte mal ein paar coole Skate Moves ausprobieren, dann hätte sie genügend Abwechslung im Leben.“
„Oh mein Gott!“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Bloß nicht! Oder willst du ihr das beibringen?“
„Yeah! Dann könnt ihr als die Baker-Girls auftreten.“
Ich verschluckte mich fast vor Lachen. „Auf keinen Fall! Aber wolltest du nicht heute beim Contest im Skatepark mitmachen?“
Danny wand sich sichtlich. „Ich weiß nicht, vielleicht …“, antwortete er zögerlich. Obwohl er einer der besten Skater diesseits des River Mersey war, machte er sich nicht besonders viel aus Wettbewerben. Er fand es spannender, mit mir und unserer Skatercrew die Straßen von Liverpool unsicher zu machen und ganz nebenbei seine Tricks zu üben.
„Diesmal gibt es keine Ausreden!“ Ich rückte meine Cap zurecht, fischte eine Packung Kaugummis aus der Hosentasche und bot ihm einen an. „Also, was ist? Kommst du?“
Danny schnappte sich blitzschnell meine Cap und hätte mir dabei beinahe die Kaugummipackung aus der Hand geschlagen.
Ich stemmte empört die Hände in die Hüften, doch sein breites Grinsen entkräftete meinen Protest. „Komm schon, ich lade dich vorher noch zu einem Eis ein. Besänftigt dich das?“
Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr. „Nein. Wenn wir nichts verpassen wollen, müssen wir los!“
Danny sah mich entrüstet an. „Für Eis sollte man sich immer Zeit nehmen!“
„Ach, und wieso?“
„Du weißt nie, was als Nächstes passiert.“ Danny zuckte die Schultern. Er war davon überzeugt, dass Eis die beste Vorbereitung auf jede Art von Katastrophe wäre.
„Was soll schon passieren, du verrückter Chaot?“
„Keine Ahnung. Aber das ist es ja gerade. Das Leben wäre nicht halb so cool, wenn man das wüsste.“
Ich gab es auf. „Okay, für den Fall, dass gleich eine unvorhersehbare Sintflut über uns hereinbricht, darfst du mir noch rechtzeitig vorher ein Eis spendieren.“
Als Ausdruck seiner Zustimmung legte Danny einen perfekten Kickturn hin.
Ich lächelte immer noch in mich hinein, während ich mit gleichmäßigen Schwüngen neben ihm den Pier entlangrollte, und beschleunigte mein Board mit schnellen Tritten, als wir die Docks hinter uns ließen. Nur wenige Minuten später passierten wir St. John’s Garden und ich sah schon von Weitem die hell erleuchteten Fenster des Museums, das direkt neben der Bibliothek auf der anderen Seite der Straße lag.
Danny bemerkte meinen sehnsüchtigen Blick. „Na, Abby-Bücherwurm, hast du noch genug zu lesen?“, neckte er mich.
Ich streckte ihm die Zunge heraus. Ich liebte diesen Ort mindestens genauso wie das Albert Dock. Und egal, wie sehr sich Danny darüber lustig machte, Lesen hatte etwas Umwiderstehliches für mich. Wenn ich in die Buchwelt eintauchte, fühlte ich mich wie von Zauberhand in ein anderes Universum versetzt. Es waren die vielen Geschichten meiner Kindheit, die mich auch heute noch glauben ließen, dass es diese wirklich magischen Momente im Leben gab, die alles verändern konnten.
Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an, der sich wie immer bildete, wenn ich daran dachte, dass Dad sein letztes Versprechen nicht mehr hatte halten können. Auch so viele Jahre nach seinem Tod fiel mir der Gedanke an diesen Augenblick schwer. Was hätte ich dafür gegeben, wenn so ein magischer Moment sein Schicksal verändert hätte! Ich vermisste ihn immer noch schrecklich.
„Hey, schläfst du?“
Ich schluckte. „Mum will mir heute Abend ihren neuen Freund vorstellen“, lenkte ich schnell ab. „Du weißt schon, diese Art Freund. Er lädt uns zum Essen ein, angeblich in ein total cooles Restaurant.“
Danny lachte. „Sieh es positiv. Am Ende gehört ihm der neue Imbiss am Queen Square. Der soll ziemlich gut sein und dann könntest du dich demnächst mal bei mir für die vielen Eisbecher revanchieren.“
„Träum weiter!“ Ich tippte mir gegen die Stirn. „Außerdem ist es mir nicht wichtig, ob er einen Imbiss besitzt oder nicht. Er soll Mum glücklich machen.“
„Wo bleibt die Rebellin in dir, Abby? Du musst doch auch mit ihm klarkommen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt habe ich einfach keine Lust auf dieses Treffen heute. Mum schafft es bestimmt auch ohne mich, sich einen netten Kerl auszusuchen.“ Insgeheim hoffte ich so sehr, dass sie endlich jemanden fand, der die Traurigkeit in ihren Augen vertrieb, dass ich tatsächlich keine besonderen Wünsche hatte, wie er sein müsste.
„Hey, wo bleibst du, Abby?“, rief Danny, duckte sich gegen den Wind und beschleunigte. Der Himmel zog sich bereits zu, und ich hoffte, dass es nicht zu Dannys heraufbeschworener Sintflut kommen würde, bevor wir die Eisdiele erreichten.
„Wieso rast du denn so?“, fragte ich atemlos, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte: Den Weg zur Icecream Factory legte Danny grundsätzlich in sagenhaftem Tempo zurück.
Erst kurz vor der Eisdiele bremste er scharf, kickte sein Board an und fing es mit einer Hand auf. Lässig schlenderte er durch die Eingangstür.
„Einmal von allem!“, rief er Richtung Theke und drehte sich zu mir um. „Und du, Abby?“
„Ich nehme nur eine Kugel, du eissüchtiger Irrer!“ Ich knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. „Wir wollten doch zum Skatepark, schon vergessen?“
„Denk an meine Worte, Abby!“ Danny deutete erst theatralisch zur Eiscafédecke hinauf und raunte dann: „Sintflut!“
Ich warf Signore Riccione ein diplomatisches Lächeln zu. „Wir nehmen beide eine Kugel Cookie and Cream. In der Waffel, das geht schneller.“ Während mein Lieblingseisverkäufer schmunzelnd die Waffeln füllte, warf ich Danny einen warnenden Blick zu. „Beschwer dich bloß nicht!“
„Du hättest mir wenigstens zwei bestellen können!“, schmollte er, strahlte aber trotzdem, als er seine Eistüte entgegennahm.
Wir winkten Signore Riccione und rollten gemächlich die Smithdown Road entlang.
„Eigentlich solltest du mir dankbar sein.“ Danny grinste selbstgefällig vor sich hin. „Du bekommst ein Eis als Entschädigung, nur weil ich dich mit einem absolut liebevollen Boxhieb begrüßt habe –“
Sein Grinsen erstarb mit dem Schlag, der ihn daraufhin traf. Der gezielte Stoß, der ihn von seinem Board stolpern ließ, kam allerdings nicht von mir.
„Hey, Sugar Kids! Wenn ihr Geld für Eis übrig habt, könnt ihr sicher noch ein paar Pence für etwas Lebensnotwendiges opfern.“ Der Typ, der sich vor uns aufbaute, überragte sogar Danny um mehrere Zentimeter und roch unangenehm nach Bier. Angesichts des Messers in seiner Hand fand Danny ihn wohl sehr überzeugend, denn er starrte ihn mit kreidebleichem Gesicht an.
Ich reagierte, ohne lange über mögliche Folgen nachzudenken. „Verzieh dich!“, schrie ich ihn an. Den Moment der Überraschung nutzte ich, um mein Skateboard so hochzukicken, dass es ihm das Messer aus der Hand schlug. Danny drückte ihm geistesgegenwärtig seine Eiswaffel ins Gesicht. Im selben Moment stieß ich mich ab und gab Gas. „Los, Danny! Lass uns verschwinden!“
Wir preschten die Smithdown Road hinunter, bis mir der Wind um die Ohren pfiff und die Flüche hinter uns leiser wurden.
„Du spinnst“, keuchte Danny endlich.
„Wieso?“, protestierte ich. „Er hat uns bedroht!“
„Warum gibst du ihm dann nicht einfach dein Geld, anstatt uns in Gefahr zu bringen?“
Wie bitte? Ich sollte uns in Gefahr gebracht haben? Ich hielt an und stemmte die Hände in die Hüften, während Danny sich ängstlich umschaute. „Du glaubst doch nicht, dass ich die paar Pfund, die ich besitze, einfach so einem Verbrecher gebe. Widerstandslos auch noch!“ Ich starrte ihn kampflustig an.
„Okay, okay. Aber jetzt komm weiter, Abby. Ich weiß, dass du irgendwie nie Angst hast. Im Gegensatz zu mir: Dieser Typ meinte es nämlich verdammt ernst.“ Danny zerrte energisch an meinem Arm und zog mich hinter sich her, während ich locker mit dem Fuß mittrat.
„Wenn du immer gleich einen Herzinfarkt bekommst, solltest du vielleicht besser aufs Land ziehen. Da ist es ruhig und beschaulich.“
„Lach nur! Warum nicht? Da ist es bestimmt schön. Bloß Skaten kann man dort wahrscheinlich nicht so gut.“
„Eben.“ Ich schnaubte. „Ich würde niemals freiwillig von hier wegziehen.“
„Du bist eben ein Stadtmädchen durch und durch, Downtown-Abby“, neckte mich Danny, während er sein Tempo verlangsamte und sich sein Pulsschlag offenbar wieder im Normalbereich einpendelte. „Mit dir befreundet zu sein, gleicht jedenfalls einem Leben am Rande eines Vulkans. Aber zum Glück stehe ich ja auf geografische Wunder.“
Ich kicherte. „Sorry, aber du magst allenfalls Geografie. Und das auch nur, weil wir eine hübsche Referendarin haben.“
„So ein Quatsch. Ich mag Geografie, weil ich in dem Kurs neben dir sitze“, konterte Danny.
„Jetzt spinnst du!“ Ich beschleunigte mein Board wieder, sodass ich nicht Gefahr lief, Danny in die Augen zu sehen.
Manchmal war ich mir nicht sicher, ob er wirklich nur mein bester Kumpel sein wollte oder vielleicht doch mehr. Ich hoffte nicht, denn unsere Freundschaft war mir wirklich wichtig. Ich konnte mir keinen Tag ohne Danny vorstellen.
Atemlos bog ich in die Queens Road ein. Eine Windböe jagte eine verbeulte Bierdose über die Straße. Ich konnte gerade noch ausweichen. Im Gegensatz zu den riesigen Mülltonnen wirkten die Reihenhäuser dahinter geradezu winzig. Sie glichen mehr einer Aneinanderreihung von Schuhkartons, als dass sie die Bezeichnung Haus verdient hätten.
Eilig schloss ich die Tür auf und schlüpfte hinein. Ich war eine halbe Stunde zu spät, weil Danny in der Wood Street bei einem seiner legendären Nightmare Flips in eine Baustelle gekracht war und wir erst die wütenden Arbeiter hatten besänftigen müssen.
Hoffentlich schaffte ich es rechtzeitig, mich umzuziehen, bevor Mums Freund eintraf. Mit der Fußspitze tippte ich mein Bord an, das gehorsam unter die Garderobe rollte, und streckte meinem total durchgeschwitzten Spiegelbild im Vorbeigehen die Zunge heraus. Als ich mich umdrehte, blickte ich in das amüsierte Gesicht eines fremden Mannes. Schnell zog ich meine Zunge wieder ein.
„Ähem“, ich räusperte mich. „Hi!“
Das war hoffentlich nicht Mums Freund, der mich hier bei unserer ersten Begegnung mit einer Kindergrimasse erwischte!
Während ich fieberhaft überlegte, was ich sagen könnte, trat Mum hinter ihm aus der Küche. „Hi, Darling.“
Ich lächelte etwas gequält. „Hi, Mum. Sorry, dass ich zu spät bin, aber Danny … wir …“
Die Erklärung, dass ich mit Danny in die Straßenabsperrung gesaust war und mir ein – ausnahmsweise unfreiwilliges – Loch in die Hose gerissen hatte, wollte mir angesichts des gut gekleideten Mannes neben Mum nicht so recht über die Lippen kommen. Er trug einen dunkelblauen Strickpullover, unter dem ein polarweißes Hemd hervorblitzte. Der oberste Knopf stand offen, aber die dunkle Anzughose und die glänzenden Lederschuhe wirkten alles andere als salopp. Die schlanke Hand, die er mir nun entgegenstreckte, hätte gut und gerne aus einem Nagelstudioprospekt stammen können.
Ich starrte beschämt auf meine schmutzigen Finger, während ich zögerlich seine Rechte ergriff.
„Du musst Abby sein.“
Ich nickte und schluckte unauffällig meinen Kaugummi herunter.
„Abby, das ist Ambrose! Ich finde es so schön, dass ihr euch endlich kennenlernt“, freute sich Mum. „Keine Sorge, ich bin auch gerade erst nach Hause gekommen. Ich hatte Mo versprochen, sie ein paar Stunden in der Küche zu vertreten, weil sie übers Wochenende zu ihrer Schwester fahren wollte. Aber Ambrose war so nett, mich abzuholen.“
Mum sah müde und abgearbeitet aus, und obwohl ich wusste, wie sehr sie ihren Job mochte, war mir ebenso klar, wie anstrengend die Schichten im Hotel sein mussten. Trotzdem verbreitete sie wie immer gute Laune und strahlte mich an. „Sollen wir gleich los?“
Meine verdreckte, völlig unpassende Kleidung schien ihr gar nicht aufzufallen, was bestimmt daran lag, dass sie nur Augen für Ambrose hatte. Ambrose – was für ein altmodischer Name! Und dazu sein piekfeines Outfit … Der Abend versprach besonders zu werden.
Wir mussten nicht mal mit der Bahn fahren. Ambrose hatte einen Leihwagen organisiert. Und zwar einen, den ich eher zu einer Hochzeit gemietet hätte – wenn überhaupt. Ich verstand allerdings nicht, wieso er es für nötig hielt, Mum mit solchen Dingen zu beeindrucken. Kannte er sie so schlecht? Die winzige neue Imbissbude am Queen Square gehörte ihm jedenfalls garantiert nicht.
Mum quasselte fröhlich drauflos, während wir in Richtung River Mersey fuhren – wo sich nur vornehme Restaurants befanden. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, seit Mum und ich das letzte Mal auswärts essen gewesen waren. Doch dank Mo kamen wir trotzdem häufig genug in den Genuss eines Drei-Sterne-Menüs: Mo war nicht nur die Küchenchefin des Shankly Hotels, sondern auch eine Freundin von Mum und sowieso ein herzensguter Mensch. Erst gestern war Mum mit zwei Portionen Riesengarnelen, die ich abgöttisch liebte, nach Hause gekommen. Den Nobelschuppen, vor dem Ambrose nun hielt, hätten wir ohne ihn allerdings nie von innen gesehen.
„In dieses Restaurant gehen wir?“, fragte Mum überrascht.
Ambrose stieg aus und übergab den Schlüssel ganz selbstverständlich einem herbeieilenden Bediensteten.
Ernsthaft jetzt?!, hätte ich beinahe gerufen. Ich konnte die Rechnung förmlich vor mir sehen: Auto geparkt – 150 Pfund.
Doch Ambrose lächelte nur und reichte Mum formvollendet den Arm. „Wenn es dir nicht gefällt, können wir auch woanders hingehen.“
„Nein, also …“ Mum war sprachlos und schüttelte nur den Kopf. „Es ist wundervoll“, sagte sie endlich. „Was meinst du, Abby?“
Ich verschwieg ihr, dass ich eigentlich gerade überlegte, wie ich diesem Dreier-Date entfliehen könnte.
„Das Panoramic 34 hat nicht nur eine ausgezeichnete Küche, sondern auch einen atemberaubenden Ausblick.“
Ambrose hatte durchaus überzeugende Argumente, wobei sein Lächeln auf Mum offensichtlich atemberaubender wirkte, als es jeder Ausblick vermocht hätte. Sie strahlte, griff nach meiner Hand und drückte sie. „Das ist der Wahnsinn, nicht wahr, Abby?“
Das war allerdings der reine Wahnsinn. Ich wollte nicht wissen, wie viel ein Essen hier kostete – und davon abgesehen war es sowieso eher ein Restaurant für ein romantisches Dinner. Ich fühlte mich fehl am Platz. Oder noch schlimmer: überflüssig. Wir waren definitiv einer zu viel.
„Mum, ich weiß nicht. Ich will euch nicht den Abend verderben oder stö…“
„Es ist mir eine Ehre, mit zwei wunderschönen Damen zu dinieren.“ Ambrose sagte wirklich „dinieren“. Aber er sah aus, als ob er es ernst meinte.
Mir fiel keine passende Antwort ein.
„Heute gibt es keine Ausrede, Abby“, verkündete Mum. „Wir werden diesen ganz besonderen Abend genießen!“
Ich musste zugeben, dass ich noch nie zuvor einen so herrlichen, unverbauten Ausblick auf den River Mersey gehabt hatte. Allein deshalb hätte ich schon für Ambrose gevotet, aber so weit wollte ich jetzt noch nicht denken.
Wie besonders dieser Abend wirklich war, zeigte sich sowieso erst, als er sich dem Ende entgegenneigte. Halbwegs zufrieden, dass ich den noblen Restaurantbesuch ohne peinliche Zwischenfälle überlebt hatte – von meiner Löcherjeans mal abgesehen –, stieg ich kurz vor Mitternacht in der Queens Road aus Ambrose’ Wagen. Ich verdrückte mich, so schnell es ging, um nicht noch Zeuge einer romantischen Verabschiedung zu werden. Doch ich war gerade glücklich in mein Zimmer geflüchtet, als es schon an der Tür klopfte.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Mum.
Natürlich würde sie jetzt wissen wollen, wie ich ihn fand – ihren Mister Wunderbar. Aber ich konnte ihr unmöglich ehrlich sagen, was ich dachte. Sie hätte bestimmt nicht hören wollen, dass er weniger als gar nicht zu uns passte und mir ein Imbissbudenbesitzer doch deutlich lieber gewesen wäre als dieser feine Anzugträger.
„Klar, komm rein“, antwortete ich möglichst neutral.
Mum setzte sich zu mir aufs Bett. „Ich wollte eigentlich noch ein bisschen warten, bis ich es dir erzähle, aber ich denke, ihr habt euch so gut verstanden, dass du begeistert sein wirst.“
Zumindest in dieser Beziehung brauchte ich nicht zu lügen. Wir hatten uns tatsächlich gut verstanden! Ambrose hatte mir zugehört, Fragen gestellt und meine Antworten ernst genommen. Er hatte mich wie eine Erwachsene behandelt und nicht mit einem milden Lächeln auf den Teenie vor sich herabgeblickt.
Trotzdem konnte ich Mum nicht so ganz folgen. Wovon genau sollte ich begeistert sein?
„Weißt du, Ambrose wohnt nicht in Liverpool.“
„Nein?“, fragte ich rein rhetorisch.
„Nein.“ Sie sah mich mit großen Augen an. „Er lebt auf einem, nun ja … Anwesen, einem richtigen Schloss genauer gesagt. Er besitzt nicht nur Land, sondern hat dort auch einen eigenen Pferdestall.“
„Dort? Und wo genau soll das sein?“, hakte ich argwöhnisch nach.
„In Chilgrove, einem kleinen Ort südlich von London.“
Die darauffolgende Stille verursachte mir geradezu körperliche Schmerzen. Mir war nicht ganz klar, was Mum mir sagen wollte – oder aber mein Gehirn weigerte sich, das Offensichtliche anzunehmen.
„Es ist ein hübscher Ort“, fügte Mum hinzu, als ob das irgendetwas ändern würde.
„Du warst schon dort?“, fragte ich ungläubig.
„Nein, aber Ambrose hat mir Fotos gezeigt, und ich bin mir sicher, dass …“ Sie brach ab. „Weißt du, er ist ein Baron, aber ich wollte, dass du ihn unvoreingenommen kennenlernst“, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort. „Ohne ein vorheriges Urteil über seinen Titel, seinen gesellschaftlichen Status oder sonst etwas, das mit Geld zu tun hat. Ich liebe Ambrose nicht deswegen.“ Sie lächelte. „Er ist so ruhig und besonnen, kein bisschen aufbrausend. Seine Freigiebigkeit wirkt nie provokant oder herablassend. Und er hat ein großes Herz, auch wenn man das erst auf den zweiten Blick erkennt, weil der dicke Geldbeutel vermeintlich das Wichtigste ist, was er zu bieten hat.“
Ich fühlte mich ertappt. Mein Schlucken war das einzige Geräusch im Raum.
„Wie wäre es“, sagte Mum und holte tief Luft, „wenn wir die Sommerferien auf seinem Schloss verbringen würden?“
Sie sah mich mit einem seltsamen Leuchten in den Augen an. Und in genau diesem Augenblick ahnte ich, dass Ambrose nicht einfach nur ihr neuer Freund war. Er musste ihr wesentlich mehr bedeuten.
Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nur eines: Es wäre furchtbar ungerecht von mir, Mum zu enttäuschen.
Die Stille war geradezu gespenstisch.
„Du wirst es ganz bestimmt lieben, Abby!“, flüsterte Mum.
Ich nickte.
„Allein schon wegen der Pferde.“
„Ja, das ist toll, Mum.“ Ich schluckte tapfer. „Hauptsache, es gibt Pferde.“
Mein Lächeln fiel etwas verdreht aus, aber genauso fühlte ich mich in diesem Augenblick auch. Es war geradezu ein magischer Moment – denn wer hätte gedacht, dass mir ausgerechnet meine Pferdeliebe zum Verhängnis werden würde?
Wir bogen an einem Feldweg ab und ließen somit auch das letzte bisschen Zivilisation hinter uns. Zumindest kam es mir so vor. Der vertraute Trubel der Großstadt fehlte mir bereits seit geraumer Zeit. Nach und nach lichtete sich das watteartige Gefühl, das mich seit Mums Ankündigung eingehüllt hatte, als ob es mich vor der Realität beschützen wollte. Die letzten Wochen waren schneller vergangen, als mir lieb war. Am schlimmsten war der Abschied von Danny gewesen, obwohl er jede Menge Tricks gefunden hatte, um mir die Abreise zu erleichtern.
Bei der Erinnerung daran wurde mir ganz warm in meinem Bauch.
„Hey!“ Danny hatte mich zaghaft in die Seite geboxt. „Es sind doch bloß zwei Wochen“, versuchte er, mich aufzumuntern.
„Klar, du hast ja recht.“ Ich nickte lahm. „Ich verpasse hier bloß alle wichtigen Skate-Events des Sommers.“
„Komm schon, Abby. Dafür residierst du auf Hargrave Abbey! Du kannst dich auf eine Liege in den Schlossgarten legen, vielleicht gibt es sogar eine Bibliothek und jeden Tag Kuchen.“
„Ich stehe mehr auf Eis.“ Ich versuchte zu lächeln.
„Außerdem bist du dann eine richtige Downton-Abby! Ich kann mir vorstellen, dass deine Mutter ausgeflippt ist vor Freude.“
Ich sah ihn misstrauisch an. „Bist du der echte Danny? Oder wessen Freund warst du noch mal?“
„Ich mache dir nur das Schlossleben schmackhaft.“ Danny grinste. „Zieh dir die letzten DA-Folgen vorher noch mal rein, damit du weißt, wie du die Leute herumkommandieren musst. Du bist jetzt schließlich für zwei Wochen eine Lady.“
„Na ja … So schnell wird aus einem Downtown-Girl keine Lady.“
„Hey!“ Danny nahm meine Hand. „Nichts wird uns trennen, Sis. Klar?“
Ich lächelte tapfer. „Ich werde dir regelmäßig darüber Bericht erstatten, was ich alles Märchenhaftes erlebt habe.“
Während die Landschaft von Südengland an mir vorbeizog, fühlte ich mich tatsächlich ein kleines bisschen besser bei dem Gedanken an meinen besten Freund.
„Ist alles okay, Abby?“, fragte Mum besorgt.
„Natürlich.“ Ich nickte. „Ich bin nur gespannt, wie es dort ist.“
Mum wirkte erleichtert – und eines stimmte zumindest: Gespannt war ich wirklich.
Vor uns lag ein schmaler Weg, der sich schnurgeradeaus hinzog. An beiden Seiten wölbten sich die Kronen der Bäume über die Allee und bildeten einen Tunnel. Doch trotz des frischen Grüns, des hellen Lichts und der zwitschernden Vögel fühlte ich mich immer unbehaglicher. Ich spürte, dass wir unserem Ziel näher kamen.
Der Tunnel öffnete sich zu einer breiten Schotterstraße, bis der Wagen nach ein paar Biegungen vor einem großen schmiedeeisernen Tor hielt. Ich dachte schon, wir sollten aussteigen, als sich wie von Geisterhand die beiden Türflügel öffneten und der Wagen weiterfuhr. Links und rechts erstreckten sich Rasenflächen, die so gleichmäßig gewachsen waren, dass ich mir spontan vorstellte, wie jemand regelmäßig mit einer Nagelschere die überstehenden Grashalme entfernte. Sogar die Büsche präsentierten sich in seltsam geometrischen Formen, als ob sie der Natur eins auswischen wollten. Wie konnte man Pflanzen schön finden, die wie künstliche Gebilde aussahen? Ich hatte immer geglaubt, dass Naturliebhaber auf Individualität standen. Aber das hier wirkte vielmehr so, als wollte jemand mit Gewalt die Flora und Fauna in Förmchen pressen, um jedes Maß an Eigenständigkeit zu unterdrücken.
Ich rutschte tiefer in die weichen Lederpolster, die trotz der warmen Temperaturen draußen Kühle ausstrahlten.
„Ungewöhnlich heiß heute. Ebenso ungewöhnlich wie Besuch aus Liverpool bei uns auf dem Schloss“, näselte der Fahrer und ich fühlte mich augenblicklich wie eine Fremde. Seine Wangenknochen stachen aus dem schmalen Gesicht hervor wie Warndreiecke. Sein Blick war reserviert und ebenso kühl wie die Lederpolster und die Luft aus der Klimaanlage. Er schien seine Stellung sehr ernst zu nehmen, und ich war mir sicher, dass er mindestens ein halbes Jahrhundert nicht mehr gelacht hatte.
Mum hingegen lächelte freundlich. „Ja, nicht wahr? Wenn das mal kein warmherziger Empfang ist!“
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. So heiß konnte es draußen gar nicht sein, dass die Außentemperatur die Ausstrahlung dieses Mannes hätte aufwiegen können!
Und dann – das Schloss! Genauer gesagt: Hargrave Abbey. Hätte ich nicht fest in meinem Lederpolster gesessen, wäre ich garantiert vom Sitz gefallen. Das uralte Gemäuer erstreckte sich mindestens über die Länge eines Sportplatzes. Das imposante Gebäude ragte mehrere Stockwerke hoch in den blauen Himmel, hier und da mit einem Türmchen versehen. Unzählige efeuumrankte Sprossenfenster, sorgfältig mit Gardinen gegen unerwünschte Einblicke geschützt, ließen offen, ob es heimliche Beobachter unserer Ankunft gab. Das Haus glich einer Festung, die keine Eindringlinge mochte. Ich fühlte mich unerwünscht. Von der ersten Sekunde an.
Der Fahrer war inzwischen aus dem Wagen gestiegen und öffnete Mum die Tür. Bevor ich an meiner Seite selbst zum Griff fassen konnte, trat ein vornehm gekleideter Mann an den Wagen, öffnete mir die Tür und vollführte eine einladende Geste. „Schön, Sie zu sehen, und willkommen auf Hargrave Abbey“, murmelte er, ohne mich jedoch anzuschauen.
„Hi“, erwiderte ich verunsichert und stieg aus.
Die für England wirklich ungewöhnlich warme Luft schlug mir entgegen. Und während Mum in fröhliche Begeisterungsrufe ausbrach, betrachtete ich unsere neue Unterkunft mit schweigendem Misstrauen. Der Bedienstete, der mir die Autotür geöffnet hatte, schloss sie wieder und verzog sich diskret. An seiner Stelle erschien eine drahtige Frauengestalt, die vermutlich vor einem halben Jahrhundert aus der Militärschule entlassen worden war. Der straff hochgesteckte Haarknoten war so ziemlich das Lässigste an ihr. Der eiserne Blick und die kerzengerade Haltung passten hervorragend zu den gestutzten Bäumen ringsum. Die ganze Erscheinung dieser verkappten Generalin wirkte zurechtgerückt und steif.
„Lord Hargrave befindet sich noch in einer Besprechung“, verkündete die Frau, die wohl so etwas wie die Hausdame war. „Er hat Sie erst in zwei Stunden erwartet. Deshalb werde ich Ihnen derweil Ihre Zimmer zeigen, damit Sie sich einrichten können, bis er Sie in Empfang nimmt.“ Sie versuchte anscheinend zu lächeln, aber ihre gebleckten Zähne erschienen mir eher wie eine Drohung. Mum streckte ihr dennoch unerschrocken die Hand entgegen, die die Generalin jedoch mit entsetztem Blick beäugte – ohne sie zu ergreifen.
„Bitte folgen Sie mir, Madam“, sagte sie nur. Abrupt drehte sie sich um, als könne sie unseren Anblick keine Sekunde länger ertragen.
Ich zog einen Kaugummi aus meiner Tasche hervor und wickelte ihn mit fahrigen Fingern aus dem Papier, in der Hoffnung, dass mich das Kauen beruhigen würde. Dann riss ich mich zusammen und folgte der Generalin.
Die doppelflügelige Eingangstür aus schwerem Holz verzierte ein antiker Türklopfer. Er hatte die Form eines Pferdekopfs und war aus blank poliertem Messing. Ich hätte zu gerne gewusst, wie viele Hände bereits nach diesem Knauf gegriffen hatten. Unwillkürlich musste ich an den Moment denken, als ich unsere kleine Haustür in der Queens Road hinter mir zugezogen hatte. Der Lack am Griff war über die Jahre abgewetzt vom vielen Öffnen und Schließen – und barg Hunderte von Erinnerungen, die mir nun die Kehle zuschnürten. Obwohl es doch nur zwei Wochen waren, die ich mein Zuhause vermissen würde.
Ehe ich jedoch ins Grübeln geraten konnte, betraten wir die wirklich beeindruckende Eingangshalle. Der Raum war fast so groß wie die Aula unserer Schule. Die hohen Wände, die riesige Wandgemälde von vermutlich edlen Vorfahren schmückten, und der übertriebene Prunk ließen mich unwillkürlich schrumpfen. Hier musste sich jeder Gast wie eine Ameise in der Löwenhöhle vorkommen. Eine breite Treppe mit schwulstigem Geländer führte ins Obergeschoss. Mein Blick blieb an dem dunkelgrünen Teppich hängen, der sich schwer und dick über die Stufen legte. An der linken Wandseite befand sich eine kleine Vitrine mit Fotos und Pokalen. Wahrscheinlich bei irgendwelchen Golf- oder Poloturnieren gewonnen, überlegte ich. Anhand des Alters konnte man die Generationen erkennen, die bereits dieses Gemäuer bewohnt hatten. Mir fiel eine Lücke in der Bilderreihenfolge auf. Ein kaum wahrnehmbarer Staubrand deutete darauf hin, dass hier vor Kurzem noch ein weiteres Bild gestanden hatte.
Ich ging langsam weiter und lauschte dem schlurfenden Geräusch, das meine Chucks auf dem Teppich verursachten. Es klang seltsam und fühlte sich an, als watete ich durch einen dichten Pelz.
Gedankenverloren lief ich prompt von hinten in die Hausdame hinein. Sie quietschte erschrocken auf, als ich ihr in die Hacken trat. Ebenso entsetzt hielt ich mir die Hand vor den Mund, um nicht auch noch aufzuschreien.
„’tschuldigung!“, murmelte ich zwischen meinen Fingern hindurch.
Die Augen der Generalin durchbohrten mich. Hektische Flecken verteilten sich wie eine Armee über ihr blasses Gesicht. Eine steile Falte grub sich senkrecht in ihre Stirn, und ich wartete geradezu darauf, dass eine Alarmlampe an ihrem Haarknoten aufleuchten würde.
Mit einem nervösen Schlucken wiederholte ich, dass es mir leidtat. Dummerweise vergaß ich dabei, das Kaugummikauen zu unterdrücken, und formte aus lauter Gewohnheit am Ende meiner Entschuldigung eine Blase. Der geräuschvoll vor meinem Gesicht zerplatzende Ballon ließ die Generalin erneut zusammenzucken. Ich dagegen hoffte inständig, dass der Kaugummi, der wie eine zweite Haut auf meinem Gesicht klebte, wenigstens das Rot verdeckte, das unaufhaltsam meine Wangen heraufkroch.
Stumm vor Empörung wandte sich die Generalin ab und schritt uns voran die Treppe hinauf. Ich musste mich wohl damit abfinden, dass wir keine Freundinnen werden würden.
Zum Glück hatte Mum nichts von alldem mitbekommen. Sie stand immer noch andächtig vor der Vitrine, während ich versuchte, die Kaugummifäden von meinen Wangen zu zupfen. Ich zerrte gerade als letzte Rettung meine Cap aus meiner Tasche hervor, um meinem heißen Gesicht Luft zuzufächeln, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung erhaschte.
Neugierig drehte ich den Kopf und wünschte im selben Moment, ich hätte es nicht getan. Denn nur wenige Schritte entfernt stand ein Junge. In lässiger Pose lehnte er an einem der Türrahmen, die Arme abweisend vor dem Körper verschränkt. Er schien etwas älter als ich zu sein, sein pechschwarzes Haar fiel ihm wild in die Stirn und unter den dunklen Brauen blickten mich zwei düstere Augen an.
Ich starrte wie hypnotisiert zurück. Es gelang mir nicht, den Blick abzuwenden, obwohl er sich insgeheim bestimmt köstlich über mich amüsierte. Allerdings war das schwer zu sagen – nicht einmal seine Mundwinkel zuckten. Aber vielleicht war lächeln in diesem Haus ja verboten? Wäre Danny hier gewesen, hätten wir bestimmt die ganze Zeit zusammen gekichert und er hätte mir vor Freude in die Seite geboxt.
Ich verdrängte den Gedanken daran, wie viel lieber ich jetzt zu Hause gewesen wäre, und fühlte mich fast ein wenig schuldig. Ich hatte sonst keine Geheimnisse vor Mum, aber in diesem Fall hatte ich ihr einfach nicht die Wahrheit sagen können – nämlich, wie wenig Lust ich auf diese Ferien hatte. Sie war so wahnsinnig glücklich darüber gewesen, gemeinsam mit mir Ambrose zu besuchen.
Zwei Wochen, Abby!, rief ich mich zur Ordnung. Das wird man ja wohl aushalten können!
Konnte man? Ich wusste es nicht.
„Hier vorn liegen Ihre Gemächer.“ Die Generalin deutete mit steifem Finger auf zwei alte Holztüren, die mich an den Eingang zu einem Kerker erinnerten. Aus welchem Jahrhundert stammte das Anwesen wohl? „Lord Hargrave hat darauf bestanden, dass Sie die Zimmer im Südflügel bekommen, weil es die Räume mit der schönsten Sonneneinstrahlung sind.“ Sie wirkte richtig stolz auf diese unglaubliche Entscheidung des Hausherrn.
Mum ging voll darauf ein. „Das ist ja fantastisch!“, rief sie, kaum dass sie einen Fuß in das erste der Zimmer gesetzt hatte. „Sieh nur, Abby! Dieser Ausblick!“
Ich sah nichts als Grün.
„Der Tee wird um Punkt sechzehn Uhr im großen Salon serviert“, unterbrach die Generalin Mums Begeisterungsstürme. Ihre Aussprache klang so akkurat wie die Audio-Lektionen zu meinem Englischbuch.
„Ach, bis dahin sind wir längst fertig mit Auspacken, nicht wahr, Abby? Dann werden wir uns einfach ein wenig umsehen, bis Ambrose seine Arbeit beendet hat.“
Die Generalin rümpfte die Nase und sagte mit besonderer Betonung: „Lord Hargrave sieht es nicht gern, wenn Fremde sich im Haus herumtreiben.“
Diesmal war Mum mindestens so geschockt wie ich.
Mit einem maskenhaften Lächeln verabschiedete sich die Haushälterin und ließ uns leicht verwirrt zurück.
„Sieh doch mal in dein Zimmer, Abby! Es gibt sogar eine Verbindungstür“, versuchte Mum, diesen seltsamen Auftritt zu überspielen.
„Danke, aber ich bin ja nicht mehr so klein, dass ich nachts zu dir ins Bett kriechen möchte“, erwiderte ich abwehrend. Das fehlte noch, dass ich in ein Techtelmechtel mit dem Lord hereinplatzte!
Mum sah mich mit einem mitfühlenden Blick an, was fast noch schlimmer war, als wenn sie gemeckert hätte, weil ich mich so anstellte. Das Problem war: Ich stellte mich gar nicht an. Ich versuchte ernsthaft, mich damit abzufinden, dass ich die nächsten zwei Wochen in diesem gruseligen Schloss verbringen würde. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Das hatte Mum nämlich definitiv nicht verdient. Und ich war alt genug, um zu kapieren, dass auch Mütter ein Leben hatten, das sich außerhalb von Familie und Arbeit abspielte.
Ich gönnte es ihr, dass sie glücklich war.
Wirklich.
Aber hätte sie sich nicht einfach einen normalen Mann in Liverpool suchen können?! Ich trauerte ein bisschen Dannys Vision des Imbissbudenbesitzers hinterher.
Seufzend schloss ich die Verbindungstür hinter mir und sah mich resigniert in dem altmodischen Zimmer um. Jedes Detail erinnerte an längst vergangene Zeiten. Das schwere Himmelbett mit massiven Säulen aus dunklem Holz bildete den Mittelpunkt. Selbst die strahlend weißen Vorhänge brachten keinerlei Leichtigkeit in den Raum. Alles wirkte düster, geheimnisvoll und eben alt.
Vorsichtig ließ ich mich auf die dicke Matratze plumpsen. Das Bettzeug gab fluffig unter mir nach und ich wippte ein paar Mal auf und ab. Dicke Troddeln hielten die Vorhänge an den Bettpfosten zusammen. Die Vorstellung, hinter geschlossenen Vorhängen zu schlafen, war mir nicht ganz geheuer.
Automatisch musste ich lächeln. Danny glaubte tatsächlich, dass ich vor nichts Angst hatte. Ich konnte es nie über mich bringen, ihm zu gestehen, dass ich in Wahrheit vor ziemlich vielen Dingen ziemlich viel Angst hatte. Ich versuchte bloß immer, dieses unnütze Gefühl zu überspielen. Angst war ein Feind, der hinter der Tür lauerte, bis man ihn herausließ. Und ein freigelassener Feind konnte viel besser angreifen als ein gefangener, hatte Dad mir beigebracht.
Mein Blick fiel auf die große Holztruhe am Fußende des Bettes. Ich rutschte näher heran und versuchte, den Deckel zu öffnen. Nichts tat sich. Entweder war die Truhe verschlossen oder der Deckel zu schwer für mich. Gegenüber dem Bett stand anstelle eines normalen Kleiderschranks ein wuchtiges, verschnörkeltes Monstrum mit unglaublichen Ausmaßen. Ich verspürte nicht die geringste Lust, meinen Trolley auszupacken und meine Klamotten in diesem mittelalterlichen Ding zu verstauen.
Leise schlich ich zur Verbindungstür und lauschte. Mum pfiff fröhlich vor sich hin, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie freudestrahlend durchs Zimmer tänzelte.
Ich wagte einen Blick auf die Uhr. Erst kurz nach drei. Noch eine Dreiviertelstunde bis zur angekündigten Teatime. Ich seufzte erneut und trat ans Fenster. Tatsächlich bot der Ausblick doch etwas mehr Abwechslung als Grün: In einiger Entfernung erstreckte sich ein lang gezogenes Gebäude, bei dem es sich – obwohl es mir dafür reichlich groß vorkam – um den von Mum so besonders hervorgehobenen Stall handeln musste. Die umliegenden sandigen Flächen konnten demnach nur die Reitplätze sein. Ich suchte die Umgebung nach Pferden ab, konnte aber keine entdecken. Vielleicht standen sie im Stall? Ich musste zugeben, ein winziges bisschen regte sich die Neugier in mir. Das Verbot der Generalin, mich „herumzutreiben“, reizte mich sehr. Ein Rundgang durch Hargrave Abbey erschien mir jetzt genau das Richtige.
So leise wie möglich drückte ich die Klinke herunter, um Mum nicht auf mich aufmerksam zu machen. Obwohl sie bei ihrer Pfeiferei vermutlich ohnehin nichts hörte.
Ich öffnete die Tür und streckte meinen Kopf durch den Spalt, um den langen Flur hinunterzuspähen. Verwundert betrachtete ich die Ritterrüstungen, die sich wie eine Wachgarde zu beiden Seiten des Ganges aufreihten. Vorhin waren sie mir nicht aufgefallen – vielleicht hatte mich der Anblick des Jungen mit den düsteren Augen zu sehr verwirrt.
Nein, korrigierte ich mich: Es war genau umgekehrt, diese ganze Reise mitsamt dem spukigen Schloss und seinen Bewohnern hatte mich so nachhaltig verwirrt, dass mich sogar der bloße Anblick irgendeines Jungen aus dem Konzept brachte.
Was hatte er schon Besonderes an sich gehabt?
Nichts! Ich unterband jeden anderen Vorschlag meines Gehirns und huschte entschlossen den langen Flur hinunter.
Der dicke Teppich zeigte seine Berechtigung. Hier ließ es sich wunderbar schleichen. Ich folgte dem dunkelgrünen Läufer ins Untergeschoss, wobei ich wachsame Blicke nach links und rechts warf, aber niemand war zu sehen. Nur die Ölschinken an den Wänden und die Fotos in der Vitrine erweckten den Eindruck, als würde mich die gesamte Ahnengalerie beobachten. Ich ermahnte mich im Stillen zur Ruhe. Immerhin war ich weder ein Dieb noch ein Herumtreiber. Ich wollte mich lediglich in meiner Ferienunterkunft umsehen, auch wenn ich mich nach den Vorschriften der Generalin damit mindestens in einer legalen Grauzone bewegte. Unbemerkt schlüpfte ich durch die schwere Holztür ins Freie.
Sofort war es vorbei mit der Stille. In einiger Entfernung klapperten Hufschläge und ich vernahm sogar ein lautes Schnauben. Meine Neugier trieb mich den Kiesweg entlang zum Stall hinüber. Allein das Tor hatte so riesige Ausmaße, dass man glauben konnte, die Tiere auf dem Anwesen wären dreimal so groß wie normale Pferde. Auch hier konnte ich niemanden entdecken, sonst hätte ich mich vermutlich doch nicht getraut hineinzugehen.
Mit angehaltenem Atem öffnete ich die große Schiebetür. Dahinter war es etwas dunkler als draußen, sodass sich meine Augen erst an die Umstellung gewöhnen mussten.
Hohe, holzvertäfelte Decken und der lang gestreckte Gang ließen den Raum schier unendlich wirken. Auf der rechten Seite der Stallgasse reihten sich die Boxen aneinander. Neugierige Pferdeköpfe hoben sich, als ich vorbeiging, und ein Schimmel schob vorwitzig seine Nase durch die Gitterstäbe.
Langsam ging ich näher heran. „Hey“, flüsterte ich. „Bist du auch unfreiwillig hier?“
Vorsichtig berührte ich seine Oberlippe, die an der Verriegelung spielte. Ich musste lächeln, als ich die weichen Nüstern unter meinen Fingern spürte – es machte mich schlagartig glücklich, dieses samtige Fell zu streicheln. Die großen dunklen Augen des Pferdes blickten mich interessiert an, und ich wäre vielleicht versucht gewesen, die Box zu öffnen, wenn nicht seine Körpergröße so beeindruckend gewesen wäre. Ich wanderte weiter zur nächsten Box, in der ein ebenso imposantes wie anmutiges Pferd stand. Das glatte Fell glänzte wie frisch poliert, und ich fragte mich, ob hier überhaupt so etwas wie Dreck existierte. Kein einziger Heuhalm lag auf dem Boden der Stallgasse.
An den dicken Pfosten der Boxen waren messingfarbene Verzierungen mit blattförmigen Schnörkeln angebracht. Selbst die Verriegelungen der Boxen sahen eigentlich zu wertvoll aus, um sie an eine Stalltür zu schrauben.
Das dunkelbraune Pferd vor mir schnaubte leise und ich nickte ihm freundlich zu. „Wenn ich ein eingesperrtes Pferd wäre, würde ich mir auch so eine Box wünschen.“ Mit großen Augen schlenderte ich weiter und betrachtete die verschiedenen Tiere. Alle waren wunderschön und wirkten ausgesprochen sanftmütig auf mich.
Nur der Schwarze in der vorletzten Box schien unruhiger als seine Stallkollegen zu sein. Er trat fordernd gegen die Seitenwand, seine Augen gingen hektisch hin und her. Sein Körper war schlank und sehnig. Er musste ein Sportpferd sein. Seine gesamte Erscheinung zeugte von der ungebändigten Kraft seiner Muskeln. Ehrlich gesagt, machte er mir ein bisschen Angst. Aber diese Boxentüren hielten vermutlich selbst das stärkste Pferd zurück. Hier würde garantiert niemand ausbrechen können.
Ich hörte Stimmen und folgte den Geräuschen, bis die Stallgasse eine Biegung machte. Am Ende des Ganges lag eine doppelflügelige Holztür. Ich wagte nicht, einfach hineinzuspazieren, zumal dahinter offensichtlich gerade eine angeregte Unterhaltung stattfand.
„Wo ist Greyson?“, fragte eine schrille Frauenstimme, die so gar nicht in das friedliche Stallambiente passte.
„Noch nicht hier“, erwiderte jemand kurz angebunden.
Ein verächtliches Schnauben folgte. „Nun denn, wir fangen um 15:30 Uhr an. Wie immer.“ Es klang ziemlich verärgert.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. 15:28 Uhr. Theoretisch kein Grund sich aufzuregen, fand ich. Die Frau musste es mit der Pünktlichkeit sehr genau nehmen.
„Ich habe kein Problem damit, wenn wir noch ein paar Minuten warten“, bemerkte eine wesentlich jüngere weibliche Stimme.
„Nein, mein Liebling, Greyson wird ein Problem haben, wenn wir noch länger warten müssen.“
„Mum …“, setzte die jüngere Stimme an.
„Wärm dein Pferd auf, Gwenyfar“, wies die Ältere sie zurecht.
Einen Moment lang hörte ich nur das dumpfe Geräusch von Pferdehufen auf weichem Boden.
„Haben Sie meine Anweisungen ausgeführt, Monsieur Chevalier?“, fragte die Frau in strengem Tonfall.
„Madame, natürlich.“ Der Mann räusperte sich. „Obwohl es bei einem sportlichen Wettkampf nicht zulässig ist, die Pferde mit Senföl einzureiben.“ Er räusperte sich erneut.
„Wir befinden uns nicht bei einem Wettkampf, falls Sie das vergessen haben sollten.“
„Nein, eben deshalb …“
„Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, Monsieur Chevalier“, erwiderte die Frau bissig.
Mein Neugierbarometer stieg wie das Quecksilber bei einem Fieberpatienten. Ich hätte zu gern gesehen, wer sich hinter diesem unangenehmen Charakter verbarg. Anscheinend musste man sich vor der Frau in Acht nehmen.
In ein paar Metern Entfernung entdeckte ich einen kleinen Raum mit einem Fenster, durch das man vermutlich seitlich in die Reithalle blicken konnte. Ich pirschte mich aufgeregt heran.
Es handelte sich um eine Art Büro, aus dem man aber dummerweise beim besten Willen nicht heraussehen konnte, ohne selbst entdeckt zu werden. Vorsichtig drückte ich mich an dem übervollen Schreibtisch vorbei, als ich plötzlich ein Geräusch hinter mir vernahm. Ich erstarrte augenblicklich, während sich in Windeseile eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
Die dunkle Stimme in meinem Rücken verstärkte nur das Kribbeln, das von meinem Körper Besitz ergriffen hatte.
Ich wagte nicht, mich umzudrehen.
„Oder bist du hier eingebrochen?“
„Nein!“ Ich fuhr entsetzt herum. „Ich …“
„Gut, ich kann Schnüffler nämlich nicht ausstehen“, wurde ich barsch unterbrochen.
Vor mir stand dieser Junge mit den düsteren Augen, der mich bei unserer Ankunft schon so unterkühlt gemustert hatte. Jetzt wirkte er beinahe wütend. Na ja, immerhin schnüffelte ich hier ja wirklich herum.
„Du bist doch die Tochter von Ambrose’ Freundin?“
Ich atmete tief durch. Warum ließ ich mir das eigentlich gefallen? Normalerweise duldete ich es nicht, wenn jemand in diesem Ton mit mir sprach, aber ich war wie hypnotisiert. Schon wieder. Das musste an dieser komischen dunklen Graufärbung seiner Augen liegen. Sie war fast wie ein Sog, in dem mein Blick zu versinken drohte. Das Kribbeln auf meiner Haut wurde zu einem Flimmern in meinen Adern. Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch es gelang mir nicht.
„Bestimmt wirst du schon im Schloss zur Teatime erwartet!“, knurrte er schließlich. „Und ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Das Flimmern verstärkte sich, es war, wie wenn man an einem besonders heißen Tag eine lange Straße hinunterblickt und die Hitze über dem Asphalt Trugbilder erzeugt. Ich nickte mühsam. Dann drehte er sich zum Glück um und öffnete eine Schublade unter dem Schreibtisch. Ich hatte das Gefühl, gerade einer gefährlichen Grauzone entkommen zu sein.
„Greyson!“ Eine schrille Stimme durchbrach die Stille und löste endgültig meine Schockstarre.
Ich zuckte zusammen und bemerkte gerade noch, dass auch der seltsame Junge kurz in seiner Bewegung innehielt und unauffällig etwas in seiner Jacke verschwinden ließ.
Ich runzelte die Stirn.