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Im Land des ewigen Schnees steht das Ereignis des Jahres bevor: das große Pferderennen durch die Berge ins Tal des Frühlings. Ažleah, genannt Ash, träumt davon, mit ihrem Hengst Dalibor daran teilzunehmen. Doch nur die jungen Männer des Landes sind zugelassen, die sogenannten "Prinzen". Ash gibt sich mit ihrer Rolle aber nicht zufrieden: Heimlich nimmt sie eine Stelle als Stallbursche auf einem der angesehensten Höfe an und schmuggelt sich auf die Liste der Reiter. Am Abend vor dem Rennen findet der legendäre Prinzenball statt und Ash begegnet auf dem Fest Kuba, dem Sohn des Hofeigentümers. Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick … Doch Kuba ist der Favorit des Wettkampfes – und damit Ashs ärgster Konkurrent!
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Seitenzahl: 404
eISBN 978-3-649-63110-1
© 2018 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Kyra Dittmann
Covergestaltung: Frauke Maydorn, unter Verwendung
von Motiven von © Alina_Stock/www.shutterstock.com,
© Nazarenko LLC/www.shutterstock.com,
© liyasov/www.stock.adobe.com
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Sabine Conrad
www.coppenrath.de
Kyra Dittmann
Das Feuer in deinem Herzenebnet deinen Träumen den Weg zum Ziel.Lass dir niemals weismachen,es könne in Mädchen nicht genauso heiß brennenwie in jedem anderen.
Kapitel 1 Eine Frage der Ehre
Kapitel 2 Nichts für Mädchen
Kapitel 3 Immergrün
Kapitel 4 Falsch gedacht!
Kapitel 5 Vorurteile
Kapitel 6 Etwas Besonderes
Kapitel 7 Gefährliches Duell
Kapitel 8 Die Richtige
Kapitel 9 Kräuterhexe
Kapitel 10 Herausforderungen
Kapitel 11 Freundschaft straining
Kapitel 12 Bei Nacht und Nebel
Kapitel 13 Aufgeflogen?
Kapitel 14 Die Nennung
Kapitel 15 Prinz oder Prinzessin?
Kapitel 16 Masken-Ball
Kapitel 17 Ein verräterischer Beweis
Kapitel 18 Haarscharf
Kapitel 19 Die andere Seite der Berge
Kapitel 20 Schneefeuer
Kapitel 21 Die Legende der Eispferde
Kapitel 22 Die Magie der Liebe
Danksagung
Über den Autor
Proklamation
Alle gesunden jungen Männer, die das siebzehnte
Lebensjahr vollendet haben, werden aufgerufen,
sich zum großen Eispferde-Rennen zu melden.
Die zwanzig besten Bewerber von ihnen erhalten eine
Startlizenz. Ziel ist es, das Schneefeuer aus dem Tal
des Frühlings zu bergen. Demjenigen, der es sicher
in das Land des ewigen Schnees zurückträgt,
wird der Dank unseres Volk sicher sein.
Zugelassen sind ausschließlich reinweiße Pferde.
Die Nennungsscheine werden am ersten Montag
im März im Prinzenchalet ausgegeben.
Die Kälte brannte auf meinen Wangen und der Wind blies mir erbarmungslos ins Gesicht. Aber das Wetter würde mich garantiert nicht davon abhalten, zur Lichtung zu reiten! Ich war es nicht anders gewohnt – immerhin war ich im Land des ewigen Schnees geboren. Was mich beunruhigte, waren vielmehr die fünf Reiter, die ich am Ende der weiten Ebene erblickte. Sie bewegten sich direkt in meine Richtung.
»Ho«, flüsterte ich und zog sanft an den Zügeln. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Waldrand, und die Chancen standen gut, dass mich noch niemand entdeckt hatte.
Ich glitt aus dem Sattel und stapfte geduckt neben Dalibor durch den Schnee. Das weiße Fell des Hengstes hob sich kaum von der Landschaft ab und der Sattel war mit einem hellen Schaffell überzogen. Nur sein schwarzes Ohr konnte uns verraten. Dalibor schnaubte und schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass er viel lieber weiter über die Schneefelder galoppiert wäre. Genau wie ich. Doch die Angst, dass uns jemand erwischen könnte, saß mir beständig im Nacken.
Ich führte mein Pferd hinter eine Reihe dicht gewachsener Tannen und hob die Hand. »Ruhig!«, flüsterte ich, während ich vorsichtig zwischen den Zweigen hindurchspähte.
In der Nacht waren bestimmt zehn Zentimeter Neuschnee gefallen, was das Vergnügen beim Ausreiten nur noch steigerte. Allerdings wuchs dadurch leider auch die Gefahr: Die pudrige Schicht verbarg tückische Felsspitzen und tiefe Mulden, die erst allmählich wieder zum Vorschein kommen würden, wenn die Sonne lange genug vom Himmel schien und Millimeter für Millimeter etwas von dem Land unter dem Schnee zum Vorschein brachte. Abgesehen davon ließen sich die verräterischen Hufspuren natürlich bis in den hintersten Winkel des Waldes verfolgen.
Ich würde meinen Ausflug trotz aller Vorsichtsmaßnahmen also vermutlich auch diesmal nicht vor Novak verheimlichen können.
Vorerst aber war ich wohl gerade noch mal davongekommen. Der kleine Reitertrupp hielt sich zum Glück weiter westlich – auf den sicheren Wegen. Mein einziger Vorteil bei diesem Versteckspiel war, dass sich kaum jemand so gut im Wald und an den Klippen auskannte wie ich. Meistens nutzte ich den Schutz der Dunkelheit zum Reiten, und gerade dann erwies es sich als lebensnotwendig, jeden Stolperstein in der Umgebung auch blind zu finden.
Die Spitze der Reiter führte mein Bruder Jiri an. Er musste immer der Erste sein. Genau genommen war er mein Stiefbruder, aber das Geheimnis meiner Herkunft blieb für den Rest der Welt ebenso sicher hinter den Mauern unseres Hofes verborgen wie die Tatsache, dass ich mich kaum wie ein vollwertiges Familienmitglied fühlte.
Die anderen vier Reiter kannte ich nur vom Sehen. Jiri wechselte seine Freunde so oft, dass ich mir unmöglich alle Namen merken konnte. Unter lautem Gejohle trieben die Jungen ihre Pferde durch den Pulverschnee, der von den Hufen aufgewirbelt durch die Luft stob und die kleine Gruppe in eine glitzernde Wolke aus Schneekristallen hüllte. Der Lärm, den sie dabei veranstalteten, war jedoch weniger beschaulich und übertönte jedes andere Geräusch der Natur. Sonst hätten sie vielleicht den Ruf der Schneeeule gehört, die am Rande des Wäldchens auf einer Tannenspitze saß und mich begrüßte.
Ich drehte den Angebern den Rücken zu und seufzte leise. Wie gerne wäre ich ebenso unbeschwert mit ein paar Freundinnen über die Ebene galoppiert! Aber dazu würde es vermutlich niemals kommen. Ma hatte mich entgegen den strengen Traditionen zwar reiten gelehrt – sie war sogar überzeugt gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis auch Mädchen die Teilnahme am legendären Eispferde-Rennen erlaubt werden würde. Und bis zu ihrem Tod hatte ich diese Hoffnung auch voller Optimismus geteilt. Aber danach hatte sich alles geändert … Trotzdem hätte mich kein Gesetz der Welt davon abgehalten, heute, an Mas Geburtstag, zur Lichtung zu kommen.
Ich ließ Dalibor zurück und bückte mich unter den Ästen der Nadelbäume hindurch, die ein majestätisches kleines Tor bildeten. Der schmale Trampelpfad führte mich tiefer in den Wald hinein, bis die hohen Tannen kaum noch Licht hindurchließen. Erst als ich mich meinem Ziel näherte, blitzte wieder vereinzelt Helligkeit durch das Grün. Die kleine Lichtung lag wie ein verwunschener Fleck mitten im dichten Wald. Hierhin verirrte sich nie jemand. Mein auserkorener Lieblingsplatz war ebenso einsam wie magisch, weil ich mich Ma nirgendwo so verbunden fühlte wie an diesem Ort.
Ehrfurchtsvoll betrat ich die unberührte Schneefläche und ging hinüber zu dem alten Eschenbaum. Solange ich denken konnte, hatte er nur wenige Monate im Jahr grüne Blätter getragen. Die meiste Zeit über waren seine tief hängenden Äste kahl geblieben, hatten mir aber immer Schutz und Trost gespendet und warteten darauf, im Frühling wieder zu ergrünen. Ich bückte mich und legte den kleinen Kranz, den ich aus Federn und Tannenzapfen gebunden hatte, am Fuß der Esche ab. Ma hatte diesen Ort genauso geliebt wie ich. Wenn es ihre Entscheidung gewesen wäre, würde sie genau hier begraben liegen, und ihre letzte Ruhestätte wäre nicht nur ein unscheinbarer Stein auf dem Dorffriedhof.
Beinahe glaubte ich, ihre Stimme zu hören, so oft hatte sie mir von dem glücklichsten Moment in ihrem Leben erzählt: An einem Frühlingsmorgen im März, vor fast siebzehn Jahren, als die Sonne durch die Zweige der alten Esche brach und die Schneeeule ihren leisen Ruf ausstieß, wurde ich genau hier geboren. Ma war sofort klar, dass ich Ašleah heißen musste – was so viel wie Eschenlichtung bedeutet. Sie glaubte, dass ich mit diesem großartigen Namen bestimmt auch Großes vollbringen würde. Vielleicht ahnte sie aber auch damals schon, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, meinen Lebensweg zu begleiten, und sie wollte mir einfach nur Mut machen – woher auch immer sie wusste, dass ich ihn brauchen konnte. Mittlerweile dachte niemand mehr an die Eschenlichtung, wenn er meinen Namen rief. Ich hieß für jeden einfach Ash – passend zu der Asche, zu der mein Leben seit Mas Tod zerfallen war.
Die Sonne blinzelte mir ins Gesicht und ich verdrängte die trüben Gedanken. Ich erinnerte mich an Mas lachendes Gesicht und musste selbst lächeln. So oft hatte sie mich hier vor sich aufs Pferd gehoben. Sie ritt wie der Teufel und strahlte wie ein Engel, wenn der Gegenwind ihr die Haare aus dem Gesicht blies, und es hatte sie nie jemand zurückgehalten – selbst Novak nicht.
Die Schneeeule stieß einen gurrenden Ruf aus, der mich daran erinnerte, dass ich nicht ewig Zeit zum Träumen hatte. Ich wandte mich ab und verließ die Lichtung.
Dalibor wartete geduldig am Waldrand auf mich. Die Reiter waren bereits hinter dem großen Schneewall verschwunden, der das Dorf gegen den Nordwind schützte, und ich würde mich beeilen müssen, wenn ich vor Jiri zu Hause auf dem Sturmhof eintreffen wollte. Vielleicht hatte ich Glück und er machte noch einen Abstecher ins Dorf.
Ich pfiff leise durch die Zähne und Dalibor hob sofort den Kopf. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchflutete mich. Der Hengst war mein bester Freund. Ma hatte ihn mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt, weil er genau in der Nacht zuvor geboren worden war. Ihre Stute Juliška hatte ihn zur Welt gebracht, und Ma vermutete, dass sie im Jahr davor mit einem wilden Eishengst zusammen gewesen war. Vielleicht war Dalibor also ebenfalls ein echtes Eispferd. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass er beim großen Rennen ganz sicher eines der schnellsten und ausdauerndsten Pferde sein würde. Doch er hatte diesen kleinen, aber entscheidenden Makel: sein schwarzes Ohr. Nur die reinweißen Eispferde durften am Rennen teilnehmen – keiner von uns beiden würde also jemals eine Zulassung zum Start erhalten.
Mit einem Satz schwang ich mich auf Dalibors Rücken und ritt, tief über seinen Hals gebeugt, unter den Zweigen hindurch ins Freie. Die Sonne erhob sich eben hinter den Bergen und tauchte die Schneefläche in sanftes Gold. Ein kurzes Schnalzen und Dalibor verfiel in ruhigen Trab. Erst als die Ebene hinter uns lag, trieb ich ihn an. Der Sturmhof befand sich außerhalb des Ortes. Das letzte Stück zwischen den hohen Hecken, gut geschützt vor den Augen der Dorfbewohner, war ein Teil unserer heimlichen Sprintstrecke. Der Schnee hatte sich bereits festgetreten und bot einen guten Untergrund. Die kleinen Stifte unter Dalibors Hufeisen gruben sich in die Eisschicht und er fegte im Galopp bis zum Stall.
Erhitzt sprang ich aus dem Sattel. Obwohl die Schneekristalle auf meinen Wangen brannten und meine Fingerspitzen in den dünnen Lederhandschuhen vor Kälte taub geworden waren, zählten diese Momente am Morgen zu den schönsten des Tages für mich. Und um nichts auf der Welt hätte ich Mas Reithandschuhe gegen warme Fäustlinge getauscht, wie sie die anderen Mädchen trugen.
Ich führte Dalibor in seine Box, sattelte ihn ab und warf ihm einen Arm voll Heu hin. »Bis heute Abend«, sagte ich zu ihm, »ich habe noch jede Menge zu tun. Es wird bestimmt spät.« Ich klopfte auf sein flauschig weißes Hinterteil und verließ mit einem Lächeln im Gesicht den Stall.
In der Waschkammer zog ich meine Stiefel aus und stellte sie zum Trocknen an den Heizkessel. Jacke und Mütze hängte ich über die Leine daneben. Als ich die Tür zur Küche öffnete, fand ich meine Familie bereits um den Frühstückstisch versammelt.
»Ash!« Trotz des prasselnden Feuers im Kamin umfing mich schlagartig Kälte, als Novaks Stimme ertönte. »Wo warst du?«
Innerlich wappnete ich mich gegen die nun mit Gewissheit folgenden Vorwürfe meines Stiefvaters. »Reiten«, entgegnete ich kurz. Lügen konnte ich nicht ausstehen, obwohl es mir das Leben oft einfacher gemacht hätte.
»Sie lernt es nie.« Jiri fläzte lässig in einem Sessel am Ofen. Er hielt die aufgeschlagene Zeitung vor sich und warf mir einen herablassenden Blick zu. »In drei Wochen finden die Nominierungen für das diesjährige Eispferde-Rennen statt«, las er vor. »Nach alter Tradition erhalten nur die besten Reiter des Landes eine Lizenz zum Start. Bevorzugt werden dabei Empfehlungen namhafter Züchter und Familien.«
Er grinste selbstsicher. Novak war Richter im Dorf, ebenso wie schon sein Vater und Großvater es gewesen waren. Der Name Valenta besaß daher eine fast ebenso lange Tradition wie das legendäre Rennen. Dass auch ich diesen Nachnamen trug, zählte nicht. Ich war nur auf dem Papier eine Valenta.
»Der Prinzenball zu Ehren der jungen Männer«, las Jiri weiter, wobei er das letzte Wort besonders betonte, »die das siebzehnte Lebensjahr vollendet haben, findet wie immer im großen Saal des Rathauses statt …«
»Oh, ich bin schon so aufgeregt«, fiel ihm Julie ins Wort. Sie warf ihr hellblondes Haar schwungvoll zurück und klatschte in die Hände. »Ich kann es kaum erwarten, mit einem der Prinzen zu tanzen.«
Novak lächelte sie nachsichtig an. Als er den Kopf hob und mich ansah, änderte sich sein Ausdruck jedoch abrupt. »Du solltest dir ein Beispiel an deiner Schwester nehmen. Sie verhält sich genau so, wie es ein Mädchen in ihrem Alter tun sollte.«
»Du fändest es besser, wenn ich Jungs hinterherstarren würde?«, fragte ich kühl.
»Ich erwarte, dass du dich an die Regeln hältst, nicht reitest und nicht dauernd im Pferdestall bei diesem Bastard von Gaul rumhängst.«
Jiri grinste breit.
Ich presste die Lippen aufeinander. Unabhängig davon, dass ich die Einzige in unserer Pseudofamilie war, die ganz sicher nicht rumhing, hatte Novak kein Recht dazu, Dalibor zu beleidigen. Keines der anderen Pferde in unserem Stall – Jiris reinrassiges Eispferd Moc eingeschlossen – hatte Dalibors Klasse. Seine Eleganz und Ausdauer waren einzigartig.
»Eine edle Abstammung ist leider keine Garantie für einen edlen Charakter«, sagte ich, mühsam beherrscht. »Weder bei Pferden noch bei Menschen.« Ich drehte mich um und stürmte aus der Küche. Die Tür fiel etwas zu laut hinter mir ins Schloss, und obwohl ich wusste, dass es Ärger geben würde, bereute ich kein einziges Wort. Ich rannte die Treppe hinauf in mein kleines Dachzimmer und verschloss die Tür hinter mir.
Es dauerte nicht lange und ich hörte schwere Schritte auf den Stufen. Meine Familie kam selten zu mir hoch, niemand hatte Lust, sich die schmale Treppe hinauf ins Dachgeschoss zu zwängen, nur um mich zu besuchen. Umso wichtiger musste der Grund diesmal sein.
Jemand rüttelte an der Klinke. Ich rutschte aus dem alten Hängesessel, den ich so vor dem Fenster unter der Dachschräge befestigt hatte, dass ich einen einmaligen Ausblick auf das schneebedeckte Land hatte. Bei gutem Wetter konnte ich bis zum Ende der weiten Ebene sehen, hinter der die Klippen steil in den Abgrund stürzten.
»Mach die Tür auf, Ash!« Novaks Stimme klang ärgerlich.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum und öffnete einen Spaltbreit. Doch mein Stiefvater schob sich mit grimmigem Brummen ins Zimmer.
»Wir waren noch nicht fertig mit unserer Unterhaltung.«
»Nein? Ich wusste nicht, dass es etwas zu besprechen gab …«
»Dann hör mir zu. Die Ernte ist in den letzten beiden Jahren mager ausgefallen. Wie du weißt, gab es keinen Sieger bei den letzten Rennen, und wir müssen auf die Reserven der Gewächshäuser zurückgreifen.«
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das? Jeder wusste, dass die Rennen in den letzten Jahren nicht erfolgreich gewesen waren. Denn erst wenn der Sieger mit einer Blüte des Schneefeuers zurückkehrte, entfaltete sich die Magie der seltenen Blume, die nur an der Grenze zum Tal des Frühlings wuchs und den Schnee in unserem Land zum Schmelzen brachte, sodass der Boden zu fruchtbarem Leben erwachte. Nach der Ernte setzten die Stürme wieder ein und Eis und Frost umschlossen die Dörfer und Höfe. Nach und nach versank das Land des ewigen Schnees wieder unter der weißen Decke, die ihm seinen Namen verliehen hatte.
»Auch die Heupreise sind teurer geworden. Wenn du nichts dazuverdienst, kann ich Dalibor nicht länger mit durchfüttern«, fuhr Novak fort.
»Wie meinst du das?«, stotterte ich, obwohl es eigentlich sonnenklar war.
Novak straffte seine Schultern, wodurch er ein wenig zu wachsen schien – was unter den niedrigen Dachschrägen natürlich kaum möglich war. »Wenn du nicht ab sofort jeden Monat für seine Ration bezahlst, werde ich Dalibor verkaufen.«
Seine Worte schlugen mir wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Meine Wangen brannten, obwohl er mich nicht berührt hatte, und mein Hals war so eng, dass keine Worte hindurch kamen. Er wusste genau, dass mir die anfallenden Arbeiten auf unserem Hof keine Zeit ließen, einen bezahlten Job anzunehmen. Da Jiri und Julie nicht mithalfen und Novak sein Amt als Richter ausübte, musste ich alles allein erledigen. Hilflos schüttelte ich den Kopf.
Doch Novak zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Glück und findest unter den Anzeigen eine Putzstelle im Dorf.« Er warf die Tageszeitung auf mein Bett.
Erst als er sich abgewandt hatte und schon halb wieder auf der Treppe war, löste sich meine Schockstarre. »Das kannst du nicht machen!«, stieß ich hervor. »Du hast Ma versprochen, dass ich Dalibor behalten darf.«
Novak hielt inne. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder zu mir umdrehte, doch die Kälte, die in seinem Blick lag, sagte alles. »Die Zeiten ändern sich«, erwiderte er nur und stieg die schmalen Stufen hinunter.
Ich starrte ihm hinterher, auch als er längst verschwunden war. Immer noch konnte ich nicht glauben, was er gerade angedroht hatte. Er wusste, wie viel mir Dalibor bedeutete – und dass die Putzstellen im Dorf sehr begehrt bei den ärmeren Familien und dementsprechend rar waren. Nicht, dass ich mir zu fein dafür gewesen wäre, aber seine Forderung war ebenso gehässig wie aussichtslos. Mit Tränen in den Augen schloss ich meine Zimmertür wieder und ließ mich aufs Bett fallen. Meine Hände zitterten, als ich die Zeitung aufschlug und die Stellenanzeigen überflog. Die meisten Jobs erforderten eine Ausbildung, die Novak niemals bezahlen würde. Eine Putzfrau suchte natürlich keiner. Mein Blick fiel auf den Artikel über das große Rennen.
»Eine Frage der Ehre«, lautete die Überschrift. Und obwohl ich wusste, dass ich danach nur noch trauriger sein würde, konnte ich nicht anders und las weiter.
»Als größter Favorit des Rennens wird in diesem Jahr Jakub Kral gehandelt. Der älteste Sohn des Kralshofs kann hervorragende Trainingszeiten vorweisen, und die reinrassigen Eispferde, die die Familie in langer Tradition züchtet, haben bereits in früheren Jahren mehrere Siege errungen.« Diesen Teil hatte Jiri natürlich nicht vorgelesen. »Da in den beiden vergangenen Jahren keiner der Prinzen das Schneefeuer heimgebracht hat, legt die gesamte Bevölkerung ihre Hoffnung in das diesjährige Rennen.«
Darunter war ein Foto von einem grauhaarigen Mann zu sehen, der etwa in Novaks Alter sein musste. Im Hintergrund war ein hübsches weißes Haus mit rotem Ziegeldach zu erkennen. Neben dem Bild stand klein gedruckt: »Die Reserven sind langsam aufgebraucht, unsere Ressourcen werden knapper. Ein Sieg ist in diesem März so wertvoll wie noch nie, und wir bauen darauf, dass Jakub unserer Familie Ehre bringen wird.« Der Mann musste Herr Kral sein. Ich hatte schon viel von ihm gehört, weil er ein bekannter Pferdezüchter war, doch begegnet war ich ihm nie.
Plötzlich fiel mein Blick auf einen kleinen Kasten unter dem Artikel: »Der Kralshof sucht vor dem Eispferde-Rennen einen tatkräftigen Stallburschen zur Unterstützung.« Es folgte die Adresse des Hofes.
Frustriert warf ich die Zeitung zu Boden und betrachtete das Foto auf meinem Nachttisch, das Mas lachendes Gesicht zeigte. Es wäre die perfekte Stelle für mich gewesen. Wenn die Sache nicht einen Haken gehabt hätte: Der Kralshof suchte einen Stallburschen – aber ich war nun mal ein Mädchen.
Ich legte Lancelot das Schlittengeschirr um den Hals und verspannte die Riemen. Der alte Wallach war ein dunkelbrauner Kaltblut-Mix, mit Sicherheit das geduldigste Kutschpferd der Welt und neben Dalibor das einzige Pferd auf dem Sturmhof, das keine reine Abstammungslinie vorzuweisen hatte. Sein freudiges Schnauben, als ich das Tor öffnete und frischer Wind in den Stall hineinwehte, entlockte mir trotz meines Kummers ein Lächeln. Lancelot liebte seinen Job und konnte enorme Kräfte aufbringen. Selbst wenn die langen Behänge an seinen Beinen mit dicken Eiszapfen verzottelt waren, zog er den kleinen Einspänner noch im Trab den Berg hinauf.
»Ich weiß, Dalibor, ich wünschte auch, es wäre anders. Aber immerhin sind wir heute Morgen schon gemeinsam unterwegs gewesen.« Ich kitzelte mein Pferd zur Aufmunterung an den Nüstern, weil es mich wie immer etwas beleidigt ansah, wenn ich es nicht mitnahm. Doch mein Ausflug führte mich ins Dorf und ich konnte mich schlecht vor den Leuten auf einem Pferderücken zeigen. Kutschieren wurde für Frauen gerade noch so geduldet.
Ich hatte Novak gesagt, dass ich zum Markt fahren würde, woraufhin ich prompt diverse Aufträge erhalten hatte, die erledigt werden mussten. Plötzlich flog die Tür auf, die vom Waschraum in den Stall führte. »Warte, ich komme mit!«, rief Julie.
»Du willst mit zum Einkaufen?«, fragte ich überrascht. Ich war ziemlich sicher, dass ihr Vorschlag kein Hilfsangebot sein sollte, und machte mir prompt Sorgen, dass sie meine Pläne durchkreuzen könnte.
»Die Schneiderin stellt heute ihre neuen Stoffe für den Prinzenball vor, und ich werde nicht warten, bis mir eines der anderen Mädchen den schönsten weggeschnappt hat.« Julie ignorierte meinen genervten Blick. Ihre Wangen leuchteten rosa unter der gleichfarbigen Pudelmütze hervor. Sie trug eine ebenfalls rosa glitzernde Wolljacke und silberne Schneeboots. Bestimmt hatte sie Novak um Geld für ein Kleid angebettelt, und ich würde wetten, dass er ihr, ohne zu murren, etwas gegeben hatte. Julie bekam immer, was sie wollte.
Ergeben nickte ich. Mir blieb sowieso nichts anderes übrig. »In Ordnung.«
Hoffentlich würde ich sie im Dorf möglichst schnell wieder loswerden, damit ich all meine Vorhaben umsetzen konnte! Ich kletterte auf den Kutschbock und half ihr hoch, um mir wenigstens ihre Nörgeleien zu ersparen.
Doch kaum war sie oben, ging es auch schon los: »Uff, ist das unbequem!« Sie verdrehte die Augen, als sie neben mir auf die Sitzbank plumpste. Unbequem war eines ihrer Lieblingswörter. In Julies Welt war so ziemlich alles unbequem, jegliche Art von Arbeit ebenso wie die kleinste körperliche Anstrengung, die nichts mit Posieren für ein Foto zu tun hatte.
Ich schnalzte mit der Zunge und Lancelot trabte los. Der Weg ins Dorf dauerte eine knappe Viertelstunde, in der ich gerne vor mich hinträumte und die Ruhe der verschneiten Felder um mich her genoss. Das Land des ewigen Schnees hatte einen seltsamen Charme. Einerseits liebte ich die trotzige Kälte, das Knistern der Eisflächen und die Stille, in der man jeden noch so leisen Schritt wahrnahm; andererseits wusste ich genau, welche Gefahren sich dahinter verbargen. Der Schnee war ein gefährlicher Freund, der sich jederzeit gegen einen wenden konnte. Man durfte ihm niemals vertrauen.
»Wie hältst du das nur aus?«, fragte Julie nach wenigen Minuten gereizt.
»Was denn?«, erwiderte ich irritiert.
»Na, dieses öde Geschaukel.« Sie rieb ihre dicken Fäustlinge aneinander, obwohl ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie darin fror. Meine Fingerspitzen kribbelten bereits von der Kälte, aber öde war diese Fahrt allenfalls wegen Julie.
»Ich komme jede Woche zweimal hier entlang«, klärte ich sie auf. »Ich bin es also nicht anders gewohnt.« Offenbar hatte sie bisher nicht bemerkt, wie oft ich ins Dorf fuhr und vor allem für sie Einkäufe und Besorgungen erledigte.
»Wenigstens ein Polster hätte ich mir mitnehmen sollen. Ich bekomme bestimmt blaue Flecken von den Schlaglöchern auf dieser holprigen Strecke.«
Verwundert suchte ich die glatte Schneedecke nach Bodendellen ab.
»Jiri hat erzählt, dass heute ein Treffen im Prinzenchalet stattfindet. Bestimmt sind dort eine Menge gut aussehender Jungs!«, plapperte Julie weiter. Ich warf ihr einen Seitenblick zu. Sie konnte innerhalb von Sekunden das Thema wechseln, ohne auch nur einen Gedanken an den vorherigen Satz zu verschwenden. »Würdest du nicht auch gerne mal mit einem Prinzen tanzen?«
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht.« Mir reichten Julies ausführliche Berichte über Probleme mit Jungs völlig aus. Ich war mir sicher, dass ich nichts weniger in meinem Leben brauchte als Liebeskummer. Und die Prinzenanwärter fand ich sowieso durchweg unsympathisch.
»Du bist echt seltsam«, kommentierte meine Stiefschwester. In ihren Augen war ein Leben ohne Jungs vermutlich noch öder als eine Schlittenfahrt.
Ich zuckte mit den Schultern. Sollte sie denken, was sie wollte. Julie hatte zwar alles, was sie brauchte, aber sie wusste dennoch nicht, was ihr fehlte. Um nichts auf der Welt hätte ich einen Ausritt mit Dalibor gegen eines ihrer Kleider getauscht. Und der Tanz mit einem der »Prinzen«, wie die arroganten Typen genannt wurden, die für das Eispferde-Rennen nominiert waren, rangierte noch weiter unten auf meiner Wunschliste.
Als ich die ersten Dächer der Häuser hinter dem Schneewall auftauchen sah, atmete ich erleichtert auf. »Soll ich dich direkt bei der Schneiderin absetzen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich komme erst mit zum Markt. Vielleicht finde ich dort ein paar schicke Accessoires, bevor ich mich unter die Konkurrenz mische.« Sie kicherte.
Ich unterdrückte ein Stöhnen und lenkte Lancelot in Richtung Kutschplatz.
»Wo willst du hin?«, rief Julie aufgebracht. »Du glaubst doch nicht, dass ich den ganzen Weg bis zum Marktplatz laufe! Wenn die Pailletten an meinen Boots schmutzig werden, sind die Schuhe komplett ruiniert.«
Ich warf einen Blick auf ihre lächerlich unpraktischen Stiefel. »Also, mitten auf dem Markt kann ich nicht stehen bleiben.«
»Was?« Julie sah mich verständnislos an. »Hey, da sind Krystina und Zuzana. Warte mal!«
Julie rief lauthals nach ihren Freundinnen. Dann sprang sie eilig vom Wagen und ich musste Lancelot abrupt zum Stehen bringen, sonst wäre sie vermutlich der Länge nach hingefallen. Ihre Schuhproblematik hatte sie offenbar schon wieder vergessen. Die beiden anderen Mädchen kreischten erfreut auf, als sie sie erblickten, was – angesichts ihrer Konkurrenz um die Gunst der Prinzenanwärter – in meinen Augen die reinste Ironie war. Trotzdem fiel Julie ihnen unter quietschenden Begeisterungsrufen um den Hals, als sie die beiden erreichte. Mich hingegen würdigte sie keines Blickes mehr. Aber alles war mir lieber als ihr ständiges Geplapper. Außerdem musste ich mich beeilen, immerhin wusste ich nicht genau, wie lange sie bleiben wollte. Und selbstverständlich würde sie erwarten, dass ich sie später bei der Schneiderin wieder abholte.
»Tschüss, Julie«, murmelte ich leise, während ich Lancelot antrieb. Schnaubend setzte sich der Wallach in Bewegung, schüttelte seine lange Mähne und trabte fröhlich zum Kutschplatz. Bestimmt war er genauso erleichtert wie ich, dass wir sie endlich los waren.
Ich lockerte die Riemen und stellte Lancelot einen kleinen Eimer mit Hafer hin. Dann machte ich mich auf den Weg zum Markt.
Die große Turmuhr neben der Kapelle zeigte bereits kurz vor elf und das halbe Dorf war auf den Beinen. Heute war Markttag, das bedeutete eifriges Rangeln und Feilschen um die frische Ware. Wegen der schlechten Ernte waren die Preise gestiegen – Novak hatte leider recht – und die Händler nutzten die Not der Menschen schamlos aus.
Am ersten Stand kostete ein Winterapfel so viel wie sonst ein ganzes Kilo, obwohl die rote Schale bereits einige braune Stellen zeigte. Sie eigneten sich mehr als Futteräpfel, aber ich hatte leider nicht genug Geld, um den Pferden welche zu kaufen. Ich seufzte. Dalibor würde in Zukunft auf seine Leckereien verzichten müssen. Ich musste froh sein, wenn ich das Heu bezahlen konnte.
Ich hielt nach günstigeren Angeboten Ausschau. Ein paar Stände weiter gab es noch etwas schrumpeligere Äpfel – dafür zum halben Preis. Ich kramte meine letzten Ersparnisse hervor und kaufte zwei. Als ich die kostbare Errungenschaft in meinem Korb verstauen wollte, rempelte mich jemand so heftig von hinten an, dass einer der beiden Äpfel zu Boden fiel und zwischen den Füßen der anderen Marktbesucher davonkullerte. Ich bückte mich und versuchte, ihn einzuholen, doch er wurde immer wieder ein Stück weiter getreten, bis er gegen eine Hauswand prallte. Als ich ihn endlich aufhob, sah er äußerst unappetitlich aus – selbst für ein Pferd.
»Mist!«, murmelte ich und fast kamen mir die Tränen. Ich schluckte, hob den Kopf und … schaute in zwei strahlend grüne Augen. Irritiert blinzelte ich.
Ich stand direkt vor einem Fenster, von der anderen Seite der Scheibe aus blickte mich ein Junge an. Er hatte ohne Zweifel die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Das kräftige Grün erinnerte mich an den Frühling. Etwas Rastloses lag in seinem Blick. Er lächelte nicht, aber er wandte sich auch nicht ab, sondern starrte mich genauso neugierig an wie ich ihn.
Erst als ihn jemand anstieß, brach unser Blickkontakt ab. Er drehte sich um, und ich hätte ihn am liebsten zurückgehalten. Doch dann bemerkte ich die anderen Jungs hinter ihm, und mir dämmerte, dass ich genau vor dem Prinzenchalet stand – eine Art Jugendclub, in dem sich die Prinzenanwärter trafen. Die Mädchen zog es automatisch ebenfalls dorthin, denn jede wollte sich in der Nähe der umschwärmten Jungs aufhalten, mit ihnen reden oder wenigstens einen Blick auf sie werfen, um von einem Tanz im Ballsaal zu träumen. Ganz besonders Julie, Krystina und Zuzana.
Mir wurde ganz flau im Bauch bei dem Gedanken, dass ich womöglich einem der zukünftigen Prinzen in die Augen gesehen hatte. Allerdings weniger, weil ich diese Tatsache so aufregend fand, sondern vielmehr, weil ich eine innere Abneigung gegen Jungs wie Jiri hegte. Da konnte dieser Typ noch so grüne Augen haben! So sehr ich immer schon von der Teilnahme am großen Rennen geträumt hatte, so wenig wollte ich etwas mit einem der Prinzenanwärter zu tun haben. Ich drehte mich abrupt weg und beeilte mich, meine Einkäufe zu erledigen. Ich hatte wirklich genug zu tun.
Als ich mit vollen Körben zurück zum Kutschplatz ging, sah ich Julie und die anderen Mädchen gerade in Terezas Schneiderei verschwinden. Schnell verstaute ich die Einkäufe auf der Ladefläche und zurrte die Riemen fest.
»Pass gut auf unsere Sachen auf, Lancelot!« Ich klopfte dem alten Wallach auf sein etwas zu knochiges Hinterteil. »Vielleicht habe ich Glück und finde einen Job, von dem ich auch dir ein bisschen extra Heu kaufen kann.«
Lancelot schnaufte leise und ich machte mich auf den Weg zur Vermittlungsstelle. Fast alle Stellenangebote liefen über diese Zentrale. Das kleine Büro am Rande des Dorfes war brechend voll. Ich konnte kaum die Tür öffnen, ohne gegen einen der Wartenden zu stoßen. Bei der Bandbreite an unterschiedlichen Menschen, die hier vor dem großen Tresen an der gegenüberliegenden Seite des Raumes anstanden, musste doch eigentlich für jeden das Richtige dabei sein, dachte ich. Große, kräftige Kerle waren ebenso vertreten wie kleine, schmächtige Männchen, die schon auf den ersten Blick nach Büroarbeit aussahen. Auch Frauen jeden Alters waren darunter: strenge Hauswirtschafterinnen, mollige Köchinnen, zarte Näherinnen, Hebammen, die ordentlich zupacken konnten, und Putzfrauen, die ihre Haare mit einem Tuch zurückgebunden hatten. Ich musste beinahe schmunzeln, so treffsicher hätte ich sagen können, wer welche Art Job suchte.
Auf der anderen Seite des Tresens saßen drei Frauen mittleren Alters, die die Schlange der Reihe nach abarbeiteten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich so weit vorgerückt war, dass ich mitbekam, wie der Ablauf war. Nach eingehender Befragung, endlosem Kopfschütteln und grimmigen Blicken händigten die Frauen jedem Arbeitssuchenden einen Bogen mit einer Liste weiterer Fragen aus.
Meine Nervosität stieg. Was, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht wurde? Jeder, der seinen Zettel ausgefüllt hatte, steckte ihn in einen kleinen grünen Kasten mitten auf dem Tresen. Die Menschen verließen die Vermittlungsstelle ohne Ausnahme mit deprimiertem Gesichtausdruck.
Als ich an der Reihe war, lächelte ich höflich. »Guten Tag, ich suche dringend …«
»Das tun sie alle«, unterbrach mich die Frau auf der anderen Seite des Tisches. Mit der riesigen Brille, die ihre Augen stark vergrößerte, wirkte sie wie ein großes Insekt. »In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, hat noch nie jemand auf Anhieb eine Stelle gefunden.«
»Oh, mir ist es ganz egal, was ich mache«, sagte ich schnell. »Hauptsache …«
»Natürlich, Schätzchen, aber den Arbeitgebern ist es nicht egal, wer bei ihnen anfängt. Jeder eignet sich für etwas Bestimmtes. Die Kunst liegt darin, zwei zu finden, die zusammenpassen.«
Ich sah sie erwartungsvoll an, doch sie drückte mir nur ein Blatt Papier in die Hand.
»Sie haben mich noch gar nichts gefragt«, erinnerte ich sie.
Die Frau lächelte milde. »Zu jung, zu unerfahren und vor allem zu zart gebaut. Die Chancen stehen ehrlich gesagt nicht besonders gut.«
»Oh …« Ich nickte niedergeschlagen und nahm den Bogen entgegen.
Als ich etwa eine halbe Stunde später meinen Fragebogen in die grüne Kiste steckte, hatte sich mein Mut verflüchtigt wie eine Schneeflocke im Frühling. Die Frau hatte vermutlich recht, die Aussichten, dass ich hier einen Job finden würde, waren unterirdisch. Mit hängendem Kopf schlich ich die Straße entlang. Ich hatte so große Erwartungen in die Vermittlungsstelle gesetzt. Und ich hatte keinen Plan, was ich jetzt machen sollte.
Neben mir flog eine Tür auf und dröhnendes Gelächter drang mitsamt einer Qualmwolke aus dem Haus. Ich hustete und wollte mich gerade abwenden, als ich Kalle zwischen den Männern in der Kneipe ausmachte. Der Schmied war ein Raubein erster Güte, aber ein Mann mit Herz. Er war mein Freund, seit ich als kleines Mädchen schon die Hufe angehoben hatte, wenn er zum Beschlagen auf den Sturmhof gekommen war. Ich musste daran denken, wie er mich immer gelobt hatte für mein Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Pferden.
Und da hatte ich eine Eingebung.
Ich änderte die Richtung und steuerte auf den Eingang zu. Die verwunderten Blicke der Männer ignorierte ich ebenso wie die dummen Bemerkungen.
»Na, suchst du deinen Papa?«
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge zu Kalle und tippte ihm auf den Arm. »Hey, Kalle, du könntest doch bestimmt jemanden gebrauchen, der dir beim Beschlagen hilft, oder?«, fragte ich voller Hoffnung. »Einen, der die Pferde festhält oder das Werkzeug säubert …?«
Kalle sah mich fragend an. »Sag bloß, dein Bruder sucht Arbeit.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Ich wollte …«
Schallendes Gelächter ertönte um mich herum.
»Der Pimpf hat ja noch nicht mal den Stimmbruch hinter sich.« Der Dicke hielt mich offenbar für einen Jungen. Zwar sah ich in meinen einfachen Klamotten sicher nicht aus wie die anderen Mädchen, aber meine langen, zum Zopf gebundenen Haare hätten zumindest ein eindeutiger Hinweis sein müssen. Vielleicht waren sie auch unter meinen Schal gerutscht, aber es ärgerte mich trotzdem.
Ich atmete einmal tief durch und wollte zu einem weiteren Versuch ansetzen, doch ein kräftiger Schlag auf den Rücken ließ mir die Worte im Hals stecken bleiben.
»Vielleicht findest du ja eine Stelle auf einem Gutshof. Bestimmt wird irgendwo jemand gesucht, der als Windstopper zwischen die Ritzen passt.« Die Männer lachten erneut.
Ich kniff die Augen zusammen und fixierte den Kerl, dessen ledrige Haut an einen alten Stiefel erinnerte.
»Lass sie in Ruhe, Kremp! Ašleah ist ein Mädchen und sie sucht ganz bestimmt keine Arbeit im Stall. Und bei mir in der Schmiede …« Kalle lächelte mich bedauernd an und mein Herz sackte ab. »… tut mir leid, aber das geht wirklich nicht. Frag doch mal bei Magda in der Küche.«
Ich warf einen letzten Blick in die grinsenden Gesichter um mich herum und nickte langsam.
Zögerlich drückte ich mich zwischen den Stühlen hindurch und wollte gerade an die Küchentür klopfen, als sie von innen aufgestoßen wurde.
»Verschwinde, Betty! Ich habe ohnehin zu viele Leute in der Küche, die ich nicht bezahlen kann!«
Die Tür fiel scheppernd wieder ins Schloss und eine hagere junge Frau drehte sich zu mir um. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Drecksladen!«, sagte sie zu mir. »Ich habe sowieso keine Lust mehr, noch drei weitere Monate auf mein Geld zu warten.«
Sie stapfte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzuwenden. Und vermutlich war das auch das Beste, was ich tun konnte.
Dalibors Schnauben begrüßte mich. Ich hatte Lancelot ausgespannt und in seine Box gebracht, Julie war mit ihren Schätzen im Wohnzimmer verschwunden. Leise öffnete ich den Riegel und schlüpfte in Dalibors Box. Novak musste nicht alles mitbekommen. Ein Pferd war seiner Meinung nach zum Arbeiten da und Reiten erfüllte auch nur den Zweck der Fortbewegung – mehr nicht. Dass ich Dalibor als meinen Freund betrachtete, dafür fehlte ihm jedes Verständnis. Ich schlang meine Arme um den Pferdehals. Der Geruch allein vertrieb normalerweise schon meine Sorgen – aber nun war genau dieses Glück in Gefahr. Wenn ich keinen Job fand, würde ich Dalibor verlieren!
Ich wischte meine Tränen an seinem dichten Fell ab. Jeder Versuch, im Dorf eine Stelle zu finden, war eine Katastrophe gewesen. Besonders die Idee, bei Kalle nachzufragen – Schmied war natürlich genauso ein Männerjob wie Stallbursche. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Wie dumm von mir, dass ich gedacht hatte, Kalle würde mich einstellen!
Ein richtiges Mädchen war ich aber offenbar auch nicht, sonst hätten die Männer mich wohl kaum mit einem Jungen verwechselt. Ich musste an den Witz des Dicken denken, mich als Windstopper auf einem Gutshof zu bewerben. Aber zum Lachen war mir nicht zumute. Mir fiel die Zeitungsannonce vom Kralshof wieder ein. Stallburschen wurden auf den Zuchthöfen jetzt überall gesucht, so kurz vor dem großen Rennen. Was hätte ich dafür gegeben, ein Junge zu sein und einfach das zu tun, wozu ich Lust hatte!
Gedankenverloren ließ ich ein paar Strähnen meiner Locken durch meine Finger gleiten. Musste man nicht größere Opfer bringen, wenn einem etwas wichtig erschien? Ma hatte immer zu mir gesagt: »Manche Chancen im Leben ergeben sich nur ein einziges Mal. Aber du wirst es fühlen, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie zu ergreifen.«
Vielleicht war dieser Zeitpunkt ja nun gekommen? Ich hob den Kopf. Mein Blick streifte das kleine Fenster über Dalibors Box, in dem sich mein Gesicht im schwachen Schein der Stallbeleuchtung spiegelte. Nachdenklich schaute ich in Dalibors dunkle Augen. Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
Ich huschte durch den Stall zu dem Schrank, in dem ich das Werkzeug aufbewahrte. Nach kurzer Suche fand ich die Schere und flitzte zurück in Dalibors Box, schob mein Pferd etwas beiseite und stellte mich auf die Zehenspitzen. Ungeachtet des erschrockenen Blicks, den mir mein Spiegelbild im Stallfenster entgegenwarf, umfasste ich mit der freien Hand meinen Zopf.
Und schnitt ihn einfach ab.
Vorsichtig öffnete ich Jiris Zimmertür und schlich zu seinem Schrank. Zum Glück wusste ich genau, dass das linke Scharnier beim Öffnen quietschte und an welcher Stelle die Dielen knarzten – das war der Vorteil davon, dass ich die gesamte Hausarbeit allein erledigte. Aber den regelmäßigen Atemzügen nach zu urteilen, schlief mein Stiefbruder ohnehin tief und fest. Ganz behutsam zog ich an dem Griff und öffnete so langsam wie möglich den Kleiderschrank. Ich suchte mir einen dunkelgrünen Thermopullover und eine schwarze Mütze heraus, die Jiri von Novak bekommen hatte, aber nie trug.
Nicht, dass meine übliche Kleidung besonders mädchenhaft gewesen wäre, aber ich wollte sichergehen, dass ich kein Detail übersehen hatte und man mich an meinem Outfit nicht erkennen konnte. Meine alten Hosen würden mich ebenfalls nicht verraten, und in der Waschkammer hatte ich ein paar ausrangierte Stiefel und eine Winterjacke von Jiri gefunden, die ihm längst zu klein geworden waren.
Mit klopfendem Herzen schloss ich die Schranktür und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Sonne war gerade hinter den Bergen aufgegangen, aber ich brauchte nicht zu befürchten, dass Novak mir über den Weg laufen würde. Er wusste, dass ich mich um die Pferde kümmerte und es für ihn keinen Grund gab, früh aufzustehen. Er würde sich erst wundern, wenn er in die Küche kam. Ich hatte meine Arbeiten für diesen Tag bereits in aller Frühe erledigt, damit mir niemand etwas vorwerfen konnte, falls ich später als geplant nach Hause kam.
Ich zog Jiris Sachen über, steckte Mas Reithandschuhe ein und ein Stück Brot vom Vortag als Proviant und verließ so leise wie möglich das Haus.
Im Stall schlug mir der vertraute Geruch nach Heu und Pferden entgegen. Ich verteilte die morgendlichen Rationen und sah zu, wie Dalibor auf seinem Frühstück kaute.
»Es hört sich zwar verrückt an«, murmelte ich, während ich mit den Fingern durch sein Fell fuhr, »aber weißt du, jede ungenutzte Möglichkeit ist ein Schritt in die falsche Richtung.« Das hätte Ma zumindest behauptet.
Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie gefragt hatte, wann ich endlich mit Dalibor beim großen Rennen starten dürfte. Er war drei Jahre alt gewesen und ich gerade mal acht. Jiri hatte mich später ausgelacht und erklärt, dass Mädchen gar nicht zum Rennen zugelassen würden. Ma aber hatte gelächelt und mein Gesicht in beide Hände genommen.
»Glaube nur fest daran, dass sich Träume erfüllen können«, hatte sie gesagt. »Wenn das Feuer in deinem Herzen heiß genug brennt, wird es dir jeden Weg ebnen, den du gehen willst.« Sie tippte mir gegen die Brust. »Genau diese Kraft hat auch das Schneefeuer, und deshalb brechen die Prinzen jedes Jahr auf, um die lange Reise bis ins Tal des Frühlings anzutreten.« Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. »So beschwerlich sie auch ist, versuchen sie es immer wieder aufs Neue – so wie dein Vater es vorhatte. Es ist ein tragisches Unglück, wenn man schon auf dem Weg zur Erfüllung seiner Träume ums Leben kommt. Aber ohne Träume fängt man gar nicht erst an zu leben.« Sie hatte mich fest in den Arm genommen, und ich wusste, dass Pa stolz auf sie gewesen wäre.
Wieder fiel mein Blick auf das kleine Stallfenster über Dalibors Box. Mein Spiegelbild sah mich neugierig an, obwohl ich mich eigentlich kaum verändert hatte. Unter Jiris Mütze kam ein Stück von meinem Zopf zum Vorschein. Der einzige Unterschied war, dass ich ihn mit einem Clip befestigt hatte – für den Fall, dass mich unterwegs jemand erkannte. Sicherheitshalber tastete ich noch einmal nach dem gefalteten Zeitungsausschnitt in meiner Hosentasche. Er war noch da. Ich musste mich gar nicht erst kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.
Schon von Weitem erkannte ich das Haus von dem Foto. Die weiße Farbe fügte sich harmonisch in die Landschaft. Feine Schneewehen zogen sich über das Dach und ließen nur vereinzelt rote Ziegel durchblitzen. Das Gebäude war beeindruckend groß, und ich fragte mich, wie viele Angestellte dort wohnen mochten.
Der Kralshof lag wie der Sturmhof abseits des Dorfes, was mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit war. Die hohen Fenster erinnerten eher an den Saal des Rathauses, in dem der jährliche Prinzenball stattfand, und die großzügigen Stallungen waren mit nichts zu vergleichen, das ich bisher gesehen hatte. Die Pferde mussten sich hier so wohlfühlen, dass sie sich vermutlich sogar freiwillig einquartiert hätten.
Ich hielt den Schlitten an und versank in ehrfurchtsvollem Staunen. Neben dem Hauptgebäude gehörten zwei kleinere Anbauten zu dem Gutshof der Krals. Das Anwesen war noch viel imposanter, als ich es mir vorgestellt hatte. Am schönsten allerdings fand ich die vielen liebevollen Details: Kleine Sprossenfenster in derselben karminroten Farbe wie das Dach ermöglichten den Ausblick aus dem Stall. Eine schmiedeeiserne Darstellung eines Schlittengespanns zierte das Stalltor. Und über dem Eingangsportal des Haupthauses war eine riesige Uhr in der Wand eingelassen, deren Zeiger ebenfalls aus kleinen Pferden bestanden. Ich hatte noch nie einen hübscheren Hof gesehen. Ich war geradezu verliebt – vom ersten Augenblick an.
Mit einer Hand schob ich mir die Mütze vom Kopf und löste mit der anderen den Clip. Ich ließ den Zopf in meiner Jackentasche verschwinden. Dann strubbelte ich mir einmal durch die Haare, bevor ich die Mütze wieder aufsetzte und tief in die Stirn zog. Ma hatte mir immer versichert, wie besonders schön meine langen Haare waren, und ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals abschneiden würde. Aber in diesem Moment bereute ich gar nichts. Ich musste diese Stelle haben. Um jeden Preis der Welt.
Sachte schwang ich die Zügel und schnalzte Lancelot zu. Der Rest des Weges verging beinahe zu schnell. Zu gerne wäre ich noch einmal in Gedanken durchgegangen, was ich sagen wollte, um mich vorzustellen, da stand ich schon vor dem Haupteingang. Als ich den schweren Messingring umfasste und an der Tür klopfte, zitterten meine Finger ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufschwang und eine rundliche kleine Frau erschien. »Ja, bitte?«
Ich räusperte mich, um meine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen. »Ähem, ich möchte mich auf die Stallburschenstelle bewerben.« Meine Worte erschienen mir besonders piepsig und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.
Die Frau runzelte kurz die Stirn, lächelte aber freundlich. »Soso«, sagte sie und sah mich interessiert an.
Ich glaubte meine Tarnung schon verloren, doch sie öffnete die Tür weiter und bat mich herein. Sie trug eine weiße Schürze, die mit etlichen kleinen Flecken übersät war. Die Hausherrin – falls es überhaupt eine gab – war sie garantiert nicht.
»Ich werde Herrn Kral Bescheid geben. Warte hier!« Sie drehte sich um, ging den Flur hinunter und verschwand hinter einer der Türen.
Ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während ich mich umsah. Der alte Holzboden war an einigen Stellen bereits abgewetzt, aber die hohen Decken ließen den langen Flur dennoch herrschaftlich wirken. Ölgemälde von Pferden in unterschiedlichen Jahreszeiten hingen an den Wänden. Fasziniert schaute ich mir die Bilder an. Im Sommer hatte der Maler die Bäume und Sträucher mit saftigen grünen Blättern gefüllt, sodass man keinen Ast mehr erkennen konnte, und das Gewicht der reifen Erntefrüchte zog die Zweige bis zum Boden. Der Herbst hingegen erstrahlte in allen Gold- und Rottönen, die die Farbpalette zu bieten hatte. Mit der Realität, die ich kannte, hatten diese Darstellungen nichts gemein. Solange ich zurückdenken konnte, war schon der Frühling ein Ereignis. Der Sommer hielt kaum Einzug, dann fielen die ersten Blätter bereits zu Boden. Und noch bevor der Wald in bunten Farben erstrahlen konnte, bedeckte der Schnee wieder die Bäume.
»Herr Kral möchte dich sehen«, riss mich die Stimme der Frau aus meinen Betrachtungen.
Ihre Worte hallten wie ein Echo in meinen Ohren, während ich in ihre Richtung ging. Obwohl sie mich aufmunternd anlächelte, sackte mein Mut mit jedem Schritt eine Etage tiefer.
»Keine Angst. Er knurrt manchmal, aber er beißt nicht«, sagte sie leise, als ich an ihr vorbei ins Zimmer trat. Ich lächelte dankbar und sie zwinkerte mir zu.
Hinter einem wuchtigen dunklen Eichenschreibtisch saß ein grauhaariger Mann mit kurz geschorenem Bart. Ich erkannte ihn sofort von dem Foto aus der Zeitung wieder. Seine eindrucksvolle Erscheinung vereinnahmte den ganzen Raum.
»Na, mein Junge«, sagte er in etwas barschem Ton, doch um seine Augen herum konnte ich winzige Fältchen entdecken, die darauf hindeuteten, dass er in seinem bisherigen Leben das ein oder andere Mal gelacht hatte. Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Du willst also als Stallbursche arbeiten?« Seine Frage klang belustigt.
»Ja, Herr Kral.« Ich bemühte mich, eine gerade Haltung einzunehmen, damit ich etwas größer wirkte. Mir war klar, dass ich nicht durch meine Statur punkten würde. Seinem Blick nach zu urteilen, konnte Herr Kral sich nicht einmal vorstellen, dass ich überhaupt eine Heugabel halten konnte.
Einen endlosen Moment lang schaute er mich nur an. Seine Augen hatten eine unergründliche dunkelbraune Farbe. Doch ich hielt seinem prüfenden Blick stand. Diese Masche hatte Novak schon etliche Male angewendet, mit reinem Niederstarren konnte mich niemand einschüchtern.
»Ich kann zur Probe arbeiten«, schlug ich vor.
Seine dichten Brauen zogen sich kaum merklich zusammen, es entging mir dennoch nicht. Er strich sich mit dem Zeigefinger über den Bart, als müsste er über meinen Vorschlag nachdenken. »Es ist so«, sagte er schließlich. »Außer dir haben sich noch ein paar andere Bewerber gemeldet …« Mein Herz klopfte gespannt. »… ihre Gehaltsvorstellungen hatten allerdings wenig mit ihrer Arbeitsleistung gemein. Probe arbeiten wollte keiner von ihnen.« Er kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Wie hoch ist dein Gehaltswunsch?«, fragte er.
Hervorragend, dachte ich – denn darüber hatte ich mir in meiner Aufregung keine Gedanken gemacht. Ich rief mich zur Ruhe. Ma hatte mir immer geraten, ehrlich zu sein, und wenn ich mein Arbeitsverhältnis schon mit der größten Lüge aller Zeiten begann, sollte der Rest wenigstens der Wahrheit entsprechen, fand ich.
»Ich brauche pro Monat so viel, wie ein Ballen Heu kostet«, antwortete ich mit fester Stimme. So sehr ich diesen Job brauchte, daran gab es nichts zu verhandeln.
Herr Kral sah mich aufmerksam an.
»Nicht mehr und nicht weniger«, fügte ich etwas leiser hinzu.
Herr Kral erhob sich abrupt und ging zur Tür. Mein Herz sackte mir in die Hose. Jetzt hatte ich verloren!
Mit unbewegter Miene drehte sich der Gutsherr zu mir um und hielt mir die Tür auf. »Morgen früh um sieben Uhr zum Probearbeiten.«
Ich starrte ihn einen Augenblick lang ungläubig an, bevor der Sinn seiner Worte zu mir durchdrang. Dann nickte ich schnell. »Vielen Dank!«
Obwohl ich mich enorm bremsen musste, um nicht laut aufzujauchzen, ließ ich mir nichts anmerken. Lange würde ich mich jedoch nicht zurückhalten können. Ich hatte es geschafft! Zumindest den ersten Schritt. Natürlich war es ein Test, aber ich würde alles daransetzen, um ihn zu bestehen!
Meine Füße kribbelten, während ich den langen Gang hinunterging. Als ich hörte, wie sich die Tür hinter mir schloss, begann ich zu laufen. Ich konnte es kaum erwarten, ins Freie zu kommen. Schwungvoll riss ich die Eingangstür auf – und wäre fast mit jemandem zusammengestoßen. Nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht meines Gegenübers bremste ich ab und blickte in zwei seltsam vertraute grüne Augen.
Ich hatte meinen Wecker auf fünf Uhr dreißig gestellt, doch ich wachte sogar noch vor dem ersten Klingeln auf. Wie ein gespitzter Pfeil schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass heute der entscheidende Tag war. Die erste Prüfung hatte ich bestanden. Was auch immer Herr Kral für einen Eindruck von mir gehabt hatte – mein Rollenspiel musste ihn überzeugt haben. Er hatte mich nicht rausgeworfen und ich durfte zur Probe arbeiten. Ich konnte es kaum erwarten! Eilig sprang ich aus dem Bett. Ich hatte genau eineinhalb Stunden Zeit, um mir die Zähne zu putzen, mich anzuziehen, die Stallarbeit zu erledigen und zum Kralshof zu reiten.