Wilde Geschichten - Ludwig Tieck - E-Book

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Ludwig Tieck

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Beschreibung

Er galt als »König der Romantik«, brachte Deutschland mit seinen Übersetzungen Shakespeare und Cervantes nahe, war genialer Entdecker, Förderer, Vorleser – doch seine eigenen frühen Erzählungen, in denen er Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken literaturfähig macht, gilt es erst noch zu entdecken. Schon als Junge war Tieck ein Bücherfresser par excellence. Und seine eigene Phantasie schlug wilde Volten. Der Fremde, Der Psycholog, Liebeszauber, Der Runenberg und ähnlich heißen seine frühen Geschichten, die freilich kaum jemand kennt. Ein großer Fehler, sagen Jörg Bong und Roland Borgards – und liefern zu Tiecks 250. Geburtstag eine brillante Auswahl davon. Sie erzählen zudem in kurzen Zwischentexten vom Genie ihres Erfinders. Tiecks Erzählungen haben bis heute nichts von ihrer mitreißenden Intensität verloren. Denn sie haben es in sich: Tieck entwickelt darin Arten des Erzählens, die bis heute bestimmend geblieben sind, von der Literatur über das Kino bis zur Netflix-Serie, im Dreiklang von Comedy, Horror und Fantasy.

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Seitenzahl: 316

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Ludwig Tieck

Wilde Geschichten

Hrsg. und mit biographischen Zwischentexten versehen von Jörg Bong und Roland Borgards

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Ludwig Tieck

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (31.5.1773–28.4.1853), erster deutscher Großstadtautor, Übersetzer- und Herausgebergenie. Einer der vielfältigsten, spannendsten und überraschendsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte.

Jörg Bong, geboren 1966, promovierter Literaturwissenschaftler, Autor, freier Publizist sowie ehemaliger Verleger des S. Fischer Verlags (bis 2019). Schrieb unter anderem für die FAZ, DIE ZEIT und den SPIEGEL. Unter dem Namen Jean-Luc Bannalec veröffentlicht er Kriminalromane. Zuletzt Herausgeber des Buches »57 Interventionen für die Kultur« zusammen mit Marion Ackermann, Gesine Schwan und Carsten Brosda.

Roland Borgards, geb. 1968, ist Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und großer Kenner der Romantik

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Über dieses Buch

Er galt als »König der Romantik«, brachte Deutschland mit seinen Übersetzungen Shakespeare und Cervantes nahe, war genialer Entdecker, Förderer, Vorleser – doch seine eigenen frühen Erzählungen, in denen er Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken literaturfähig macht, gilt es erst noch zu entdecken.

 

Schon als Junge war Tieck ein Bücherfresser par excellence. Und seine eigene Phantasie schlug wilde Volten. Der Fremde, Der Psycholog, Liebeszauber, Der Runenberg und ähnlich heißen seine frühen Geschichten, die freilich kaum jemand kennt. Ein großer Fehler, sagen Jörg Bong und Roland Borgards – und liefern zu Tiecks 250. Geburtstag eine brillante Auswahl davon. Sie erzählen zudem in kurzen Zwischentexten vom Genie ihres Erfinders.

Tiecks Erzählungen haben bis heute nichts von ihrer mitreißenden Intensität verloren. Denn sie haben es in sich: Tieck entwickelt darin Arten des Erzählens, die bis heute bestimmend geblieben sind, von der Literatur über das Kino bis zur Netflix-Serie, im Dreiklang von Comedy, Horror und Fantasy.

Inhaltsverzeichnis

Tieck lesen: Nachts

Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben

Tieck lesen: Überdrehte Satire

Der Naturfreund

Tieck lesen: Erkenne dich selbst

Der Psycholog

Tieck lesen: Erfahrungsseelenkunde

Die Freunde

Tieck lesen: Träumen

Der Fremde

Tieck lesen: Schwindel

Der Blonde Eckbert

Tieck lesen: Ausschweifungen der Einbildungskraft

Der Runenberg

Tieck lesen: Poetischer Wahnsinn

Liebeszauber

Tieck lesen: Natur

Die Farben

Tieck lesen: Ökologie

Die Elfen

Tieck lesen: Umwelttrauer

Eine Erzählung, aus einem italienischen Buche übersetzt

Tieck lesen: kein Ende

Anhang

Editorische Notiz

Bibliographische Nachweise der Erzählungen

Über Ludwig Tieck

Ich war auf einige Sekunden wirklich wahnsinnig«, schreibt der 19-jährige Ludwig Tieck am 12. Juni 1792 an seinen Freund Johann Wilhelm Heinrich Wackenroder. Was war geschehen? Was war es, das Tieck für Momente in einen wirklichen Wahnsinn getrieben hatte?

Ein Buch! Ein Leseerlebnis.

Gerade sind der zweite und dritte Band des Schauerromans Der Genius von Karl Grosse erschienen. Tieck ist elektrisiert und lädt zwei Bekannte ein, um ihnen die beiden Bände vorzulesen. Er ist ein begnadeter Vorleser, die Zeitgenossen berichteten es beeindruckt, zudem ein Vorleser mit grandioser Ausdauer: Die beiden Bände, um die es geht, sind zusammen immerhin 600 Seiten stark. Zwar sind Druckseiten im späten 18. Jahrhundert noch nicht ganz so voll wie heutzutage, doch unter einer zehnstündigen Dauerlesung, so warnt Tieck, sei das Ganze nicht zu machen. Die Bekannten nehmen die Einladung an – und Tieck beginnt zu lesen. Laut, dramatisch, exaltiert; es geht um die höchsten Grade der Affekte. Alles andere ist lau, lahm, langweilig.

Trotz allen deklamatorischen Engagements: Nach acht Stunden und etwa 480 Seiten, so berichtet Tieck in seinem Brief an Wackenroder, fangen die »beiden Zuhörer alle Augenblicke an einzuschlafen«. Für Tieck kein Grund, aufzuhören: »ich las stets weiter, mit eben dem Enthusiasmus, mit eben dem ununterbrochenen Eifer.« Um vier Uhr nachmittags hatte er begonnen, um zwei Uhr nachts »war das Buch geendigt«. Die beiden Zuhörer verziehen sich zum Weiterschlafen in eine angrenzende Kammer. Der Vorleser aber bleibt wach: »Das Licht ward entfernt, ich war allein, Nacht um mich her.« Die Nacht, sie bietet Zeit und Raum für Phantasien, für erhitzte Einbildungen aller Art, vom Schwärmerischen über das Groteske bis zum Schauerhaften. Tieck durchlebt das ganze Spektrum:

Ich stand gedankenvoll mit dem Arm auf einen Stuhl gelehnt, in jener schönen erhabnen Schwärmerei verlohren, nur für Schönheit empfänglich, süße Töne wie abgebrochene Gesänge schwärmten um mein träumendes Ohr, rosenfarbene Bilder umgaukelten mich mit blauen Schmetterlingsflügeln, – als plötzlich – noch schaudre ich wenn ich daran denke, noch kann ich die Möglichkeit nicht begreifen – als wie in einem Erdbeben alle diese Empfindungen in mir versanken, alle schöne grünenden Hügel, alle blumenvollen Täler gingen plötzlich unter, und schwarze Nacht und grause Totenstille, grässliche Felsen stiegen ernst und furchtbar auf, jeder liebliche Ton wie verweht, Schrecken umflog mich, Schauder die grässlichsten bliesen mich an, alles ward um mich lebendig, Schatten jagten sich schrecklich um mich herum, mein Zimmer war als flöge es mit mir in eine fürchterliche schwarze Unendlichkeit hin, alle meine Ideen stießen gegeneinander, die große Schranke fiel donnernd ein, vor mir eine große, wüste Ebne, die Zügel entfielen meiner Hand, die Rosse rissen den Wagen unaufhaltsam mit sich, ich fühlte es wie mein Haar sich aufrichtete, brüllend stürzte ich in die Kammer. – Jene, in der Meinung, ich will sie erschrecken, schreien ebenfalls, als plötzlich sich die kleine Kammer wie zu einem weiten Saal ausdehnt, in ihnen zwei riesenhafte Wesen, groß und ungeheuer, mir fremd, deren Gesicht wie der Vollmond ist (o jetzt versteh’ ich erst ganz diese vortreffliche Schilderung im König Lear), mir war, als sollt’ ich niederstürzen, die Angst und Wut schüttelte alle meine Glieder, ich hätte beide niedergestochen, hätt’ ich einen Degen in meiner Gewalt gehabt. Ich war auf einige Sekunden wirklich wahnsinnig.

Gepackt vom Schwindel der eigenen Einbildungskraft stürzt Tieck nicht nur ins Schreckliche, sondern auch ins denkbar Ungewisseste: Wo endet die Wirklichkeit, wo beginnt der Wahn? Worauf ist noch Verlass? Und wer ist dieses Ich, dem nur ein griffbereiter Degen fehlt, um zum Mörder zu werden?

Ein auf- und abgeklärter Einwand liegt auf der Hand: Dieser Wahnsinn mag zwar wirklich gewesen sein, aber er war doch auch sehr vermeidbar. Auslöser ist schließlich bloß ein literarischer Text. Tieck weiß von den abgründigen Gefahren, die in der Literatur und im Lesen liegen, im Lesen »schöner Literatur«, wie es hieß, von Geschichten, die weder – wie es zuvor im aufklärerischen Geiste der Fall sein sollte – religiöse noch pädagogisch-didaktische Zwecke verfolgen. Über die Risiken und Nebenwirkungen eines maßlosen Medienkonsums wurde im 18. Jahrhundert längst konsterniert diskutiert, von »Lesewut« und »Lesesucht« war da die Rede, sogar von einer »Leseseuche«. Kein Medium galt als gefährlicher und ungehöriger als das Buch – das literarische Buch. Eine modische Trivialität. Tieck kennt die Berichte, die in Journalen der Aufklärung kursieren, Berichte von Menschen, die an und durch Lektüren verrückt werden. Und auch die aufklärerischen Warnungen vor dem ungesicherten Dunkel der Nacht haben er und seine Freunde oft gehört. Wer also vor einem solchen Erlebnis sicher sein will, muss den Genius ja nicht lesen – erst recht nicht in einer zehnstündigen nächtlichen Performance.

Der Wahnsinn ist also nichts, was Tieck unversehens widerfährt – tollkühn sucht er ihn, ganz gezielt. Was er findet, ist dann zutiefst ambivalent, extremer kann es nicht sein: helles und dunkles Wunderbares, Selbsterfahrung und Selbstverlust, beides zugleich. Beides fällt im Leserausch gar in eins. Das Ich wird in Stücke zerrissen und neu zusammengesetzt, auch noch im spätnächtlichen Versuch, nach dem aufwühlenden Erlebnis doch etwas Schlaf zu finden:

Sobald ich die Augen zumachte, war mir, als schwämme ich auf einem Strom, als löste sich mein Kopf ab und schwämme rückwärts, der Körper vorwärts; eine Empfindung, die ich sonst noch nie gehabt habe; wenn ich die Augen aufmachte, war mir’s, als läge ich in einem weiten Totengewölbe, drei Särge nebeneinander, ich sehe deutlich die weißen, schimmernden Gebeine, alles dehnte sich in eine fürchterliche Länge, alle meine Glieder waren mir selbst fremd geworden und ich erschrak, wenn ich mit der Hand nach meinem Gesichte fasste.

Tieck hat sich selbst mit voller Absicht über eine Grenze geschickt. Jenseits walten ungeheure phantastische Kräfte: schöpferische, konstruktive, vitale – und finstere, zerstörerische, letale. Doch Tieck kommt zurück, und zwar, indem er in und mit dem Brief aus der Lese-Ekstase einen Schreibgegenstand macht: Lesend hat er sich verloren, schreibend gewinnt er sich zurück. Wie lustvoll wird hier formuliert, wie dicht sind die Beschreibungen, wie lebhaft wird alles vor Augen gestellt! So erzählt der Brief an den Freund nicht nur davon, wie jemand jede Fassung verliert, sondern genauso davon, wie jemand Haltung findet: als Schreiber, Erzähler, Dichter.

Der Dichter, der hier im Brief zu einer ersten Form findet, hat allerdings im Sommer 1792 noch nichts publiziert. Tieck, am 31. Mai 1773 in Berlin geboren, ist ja auch noch jung. Im Frühjahr 1792 hat er in Halle mit dem Studium begonnen, Geschichte und Literatur, erstes Semester. Der Freund Wackenroder weilt noch in Berlin, die gemeinsame Zeit auf dem Friedrichwerderschen Gymnasium liegt noch nicht lange zurück. Wackenroder folgt Tieck bald nach, zusammen studieren sie in den nächsten Jahren in Erlangen und Göttingen. 1794 bricht Tieck sein Studium ab und kehrt nach Berlin zurück. Hier beginnt er – neben einem so rasch aufgenommenen wie wieder abgebrochenen Jurastudium – als Autor zu publizieren, zunächst anonym als Auftragsschreiber in den Straußenfedern, dann unter dem Pseudonym »Peter Lebrecht« und schließlich unter eigenem Namen.

Die Straußenfedern sind ein Projekt des Aufklärers Friedrich Nicolai. In loser Folge publiziert, versammeln sie Erzählungen und Märchen, häufig freie Übertragungen aus dem Französischen. Für das lesebegierige Publikum war Nicolai beständig auf der Suche nach talentierten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Ab dem fünften Band der Straußenfedern, der 1796 erscheint, waren dies für zwei Jahre die Geschwister Ludwig und Sophie Tieck.

Die ersten von den Geschwistern verantworteten Bände sind ein voller Erfolg. Für die Geschichte ihrer Rezeption war dies indes nicht nur von Vorteil: Das Lob des Aufklärers Nicolai und des aufgeklärten Publikums galt als Beleg dafür, dass diese Erzählungen nicht wirklich romantisch sein können, und das heißt: nicht wirklich modern, nicht wirklich gut. Richtig ist an dieser Einschätzung, dass Ludwig und Sophie Tieck sich für ihre Beiträge bei den Konventionen aufklärerischer Literatur bedienen, etwa bei der deutschen Gesellschaftssatire, bei der englischen Schauerliteratur oder bei französischen Märchenstoffen. Übersehen wird hingegen, dass die Geschwister diesen Konventionen nicht einfach folgen, sondern augenblicklich lustvoll mit ihnen zu spielen beginnen. Romantik beginnt genau hier: im Spiel – einem sehr diversen Spiel – mit der Aufklärung. Was heißt: unmittelbar aus ihr heraus, aus ihrem Innersten sich entwickelnd. Und noch interessanter und noch skandalöser: nicht als übermütige Laune, sondern durch die konsequente Anwendung der eigenen aufklärerischen Ideen und Prinzipien. Tieck führt dies in den elf Wilden Geschichten, die in diesem Band versammelt sind, eindrücklich vor.

Was also ist an der nun folgenden Erzählung ›noch‹ Aufklärung, was ›schon‹ Romantik? Oder anders gefragt: Wo bleibt die Erzählung ein launiger Scherz, voller Momente eines – am Ende doch lehrhaften – Kuriosen, und wo erlaubt sie sich eine nicht mehr zu entschärfende Frechheit? Eine nicht mehr zu beruhigende Irritation?[1]

Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben

Es war schon gegen Abend, als ein Wagen vor dem Gasthofe still hielt, und ein junger Mensch munter und fröhlich herausstieg, um sich vom Wirt ein Zimmer anweisen zu lassen. Es entstand ein Laufen im ganzen Hause, Treppe auf und nieder, um Licht und Feuerung zu besorgen, alle Schritte hallten fünffach von den großen Gewölben wider, man führte den Fremden auf sein Zimmer und ließ ihm Wachslichter auf sehr eleganten Leuchtern da, und Herr Siegmund merkte aus allen Zeichen, dass er hier zwar in ein vornehmes, aber gewiss sehr teures Wirtshaus geraten sei.

Mag’s doch!, sagte er ganz laut, indem er mit zuversichtlichen Schritten in seinem Zimmer auf- und abging, und flüchtig die englischen Kupferstiche betrachtete. Ich bin morgen vielleicht schon Rat, und alle Sorgen für die Zukunft sind gehoben.

Er sah aus dem Fenster; es war auf der Gasse noch ziemlich hell, und selbst hell genug, um ein allerliebstes Gesichtchen im gegenüberstehenden Hause zu bemerken, das aufmerksam nach ihm hinüber sah. Seine Augen begegneten ihren freundlichen Blicken, er grüßte endlich, und sie dankte verbindlich.

Der zukünftige Rat sah bei so guten Vorbedeutungen die Stadt mit sehr günstigen Augen an. Er träumte sich hundert angenehme Abenteuer, und sah es sehr ungern, als sich die Schöne von ihrem Fenster zurückzog, und er nur noch hinter ihren Vorhängen das Licht bemerkte, das sehr oft seine Stelle veränderte, und bald näher zum Fenster, bald weiter zurückgesetzt ward.

Er ließ ebenfalls die Vorhänge herunter. Der Ofen wärmte das Zimmer nur wenig, und da er von dem Fahren noch eine gewisse Unruhe im Körper verspürte, so nahm er die Lichter, verschloss die Stube, und bestellte unten in der Küche, dass er zum Abendessen zurückkommen würde. Es wurde ziemlich spät gegessen, und er hatte daher zum Spazierengehn noch Zeit genug.

Siegmund liebte nichts so sehr, als aufs Geratewohl die Straßen einer fremden Stadt zu durchkreuzen, bald hier, bald dort zu verweilen, und die mannigfaltigen wunderbaren Eindrücke in seine Seele aufzunehmen, die die fremden Gegenstände, die unbekannten Häuser in ihm erregten. Es war ein angenehmer Herbstabend, allenthalben stand der Rauch des Abendessens über den Häusern und vermischte sich mit dem Dunste des feuchten Herbstnebels, der tauend in die Gassen niedersank; der Mond fing eben an die Dämmerung gelb zu färben, und aus den Fabriken kehrte jauchzend der Schwarm der jungen und alten Arbeiter nach Hause. Mädchen durchstreiften Arm in Arm die entfernteren Gassen und plauderten laut durcheinander, um die vorübergehenden jungen Leute aufmerksam zu machen, und desto leichter ein interessanteres Gespräch mit diesen anzuknüpfen. Kleine Jungen balgten sich, und die Bettler sumsten ihre Bitten dreister den Eilenden nach.

Siegmund labte sich an den abwechselnden Gestalten, er stand oft still und sah durch ein niedriges Fenster in die sparsam erleuchtete Stube, deren Schein so anlockend, und deren enge von der Lampe schwarzgeräucherte Wände so abschreckend waren. Die Familien der Handwerker saßen um runde Tische und verzehrten froh und lebhaft kauend ihr Abendbrot; in andern Stuben saß eine emsige Alte beim Haspel, und zählte aufmerksam seine Umwälzungen, um morgen ihr gesponnenes Garn abzuliefern. Oft stand Siegmund still, wenn er in der Ferne auf den Fluren der Häuser ein Licht wahrnahm, und die hin und her schießenden Schatten; oder wenn sich eine Tür unter dem Schall einer lauten Klingel eröffnete, und der Hausherr mit vielen Bücklingen einen Besuch entließ, der mit einer ehrbaren Laterne nach Hause schritt. – Siegmund las bei solchen Wanderungen das ganze menschliche Leben gleichsam kursorisch, er dachte sich in jede Familie hinein, und erinnerte sich seiner frühesten Kinderjahre, wo ihm in trüben regnigten Nächten der Schein des Lichts aus den Häusern immer wie ein Feenland gewinkt hatte. – Er bestieg in seinem poetischen Taumel endlich noch den Wall der Stadt, und sah nun auf der einen Seite dunkelflimmernde Lichter, ein dumpfes Geräusch von Wagen und Stimmen durcheinander, die sich ablösenden Wachten und das Schlagen der Glocken, Häuser hinter Bäumen versteckt, und der Abendwind, der im rasselnden Laube nachsuchte, einen Kahn auf dem kleinen Flusse: – auf der andern Seite das freie Feld mit Nebelwolken, mit fernen Hügeln und Wäldern, Bauern, die nach Hause fahren, Mühlen, die ihren einförmigen Takt im kleinen Wasserfall unermüdet wiederholen, Stimmen, von denen er nicht wusste, wo sie hingehörten, wandernde Vögel; – als er so alle die einzelnen zerstreuten Gemälde in ein einziges in seiner Phantasie sammelte, so war er mit sich und seinem Schicksale außerordentlich zufrieden, er dachte sich sein künftiges Leben hier recht schön, und es befiel ihn unter seinen Hoffnungen nur die dunkle Beklemmung, die sich fast jeglichem Menschen in fremden Gegenden nähert.

Siegmund überließ sich seinen Träumereien und ging immer in verkehrten Richtungen, wie sie der Zufall ihm bot. Er überließ sich gern einer unbestimmten Ahndung, um sich mühsam aus kreuzenden Wegen heraus zu finden, und am Ende musste er gewöhnlich doch zum Fragen seine Zuflucht nehmen.

Die Szenen in den Straßen hatten sich jetzt sehr geändert, aus den Wirtshäusern tönte Musik und stampfender Tanz, die Fenster klirrten von fröhlichem Gelächter, Schattenspielleute zogen orgelnd und singend durch die Straßen, und kontrastierten seltsam mit den heiligen Liedern, die aus manchen unerleuchteten Dachstuben herunter winselten; an manchen Orten wurde gezankt, Bettler lehnten betrunken an den Ecken, und nahmen jetzt das Mitleid übel, das sie noch vor kurzem erfleht hatten. Die Grazien wandelten einsamer und stiller und viele waren in männlicher Begleitung; nur aus den vornehmen Häusern rauchten die Schornsteine noch und bewölkten den Mond.

Eben wollte sich Siegmund nach seinem Gasthofe erkundigen, als er ein lautes Gezänk durch die stille Straße schallen hörte; es machte ihn aufmerksam, und er ging dem kreischenden Tone nach. – Auf der steinernen Treppe eines kleinen Hauses stand ein ältlicher wohlgekleideter Mann in einem Winkel und schien in das Haus zu wollen. Eine alte Weiberstimme versagte ihm den Eingang. – »Und Sie wissen ja ein für alle Mal, dass Mamsell nichts mit Ihnen zu sprechen hat«, – rief es zu wiederholten Malen kreischend aus dem Hause heraus; der alte Mann hatte aber immer wieder die Klingel in der Hand, und machte mit gedämpfter Stimme neue Vorschläge, von denen die Alte nichts wissen wollte. Die Kapitulation währte eine geraume Zeit, und Siegmund, der hier eine lustige Szene aus einem komischen Stücke zu sehn glaubte, konnte sich am Ende nicht mehr halten, sondern fing an überlaut zu lachen. Der alte Mann sah sich brummend um, und ging dem Lachenden hart vorüber nach Hause. Dieser erkundigte sich nun nach seinem Gasthofe, und die Reihe, ausgelacht zu werden, war jetzt an ihm, denn er stand dicht davor. – Das Haus, vor welchem die merkwürdige Kapitulation vorgefallen war, war dasselbe, aus welchem in der Dämmerung das allerliebste Mädchengesicht heraus gesehn hatte. –

Er ging in das Wirtszimmer, wo man schon stark mit Essen und politischen Gesprächen beschäftigt war. Es war gerade um die Zeit, als Dümouriez sein Heer verlassen hatte,[2] und dieser Schritt den Verstand und die Imagination aller Leute beschäftigte, man schrie und eiferte, um ihn zu verteidigen oder zu verdammen, es wurde seine Gesundheit getrunken und an einer andern Stelle auf ihn geflucht, ein Spieler schalt ihn niederträchtig und sprach mit Enthusiasmus von den hohen Pflichten der Vaterlandsliebe; ein Gelehrter, der kürzlich einen Traktat über die römischen Silbenmaße herausgegeben hatte, bewies, dass Dümouriez den ganzen Feldzug ohne die nötigen taktischen Vorkenntnisse unternommen hätte; ein anderer sprach mit Verachtung von ganz Frankreich, und war schon halb betrunken, das arme Land hatte ihm in seinem eignen Weine Waffen wider sich in den Mund gegeben. –

Aber, meine Herren, der Präsident ist völlig meiner Meinung!, rief ein kleiner untersetzter Mann hinter dem Tische hervor.

Sehr natürlich, antwortete der Spieler, weil Sie immer seiner Meinung sind.

Die ganze Gesellschaft lachte, und der kleine Mann ward rot, er wollte zu verstehen geben, dass er dem Präsidenten gar manches über die Zeitläufte unter den Fuß gebe, allein er fand kein Gehör. Je näher er die Parallele zwischen sich und dem Präsidenten zog, je deutlicher ward es den Zuhörern, dass er nichts als ein Echo seines Gönners sei, und manche spielten ziemlich handgreiflich darauf an, dass er nur durch sein Wiederhallen eine einträgliche Stelle suche. Der Mann ward immer hitziger und röter, und wandte sich vorzüglich mit seinen schutzsuchenden Blicken an Siegmund, dem die Verlegenheit des aufgelaufenen Gesichts wehe tat, und der deswegen eine kleine Pause benutzte, um die Rechtfertigung des Kleinen über sich zu nehmen. –

Muss man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen, fing er an, wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Überzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, dass man unabhängig von ihm leben könne?

Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie ganz aufrichtig, wir geben ihnen manches zu, wovon wir nicht überzeugt sind, wir behalten in den herzlichsten Stunden eine gewisse Lebensart bei, wir schonen ihrer Schwachheiten, um sie nicht gegen uns aufzubringen, und damit sie wieder andere Schwächen an uns übersehn. Hanc veniam damus petimusque vicissim.[3]

Schön, rief der Mann aus, der den Traktat geschrieben hatte – Schade, dass Sie ein Sophist sind, und für Sophistereien einen Spruch des redlichen Horatii zitieren.

Machen wir es in unserm ganzen Leben anders?, fuhr Siegmund fort, und machen sich wohl die edelsten Menschen Vorwürfe darüber? – Wer gibt dem Müller das Recht, einem Wasserfalle sein Mühlenrad unterzustellen, sodass die Wellen, statt frei und ungehindert fortzufließen, erst angespannt werden, um mit Mühe ein ungeheures Rad zu drehen? –

Eine seltsame Ideenkombination!, rief der Traktatenschreiber. –

Nicht so seltsam kombiniert, antwortete der Mann, der in Verlegenheit gewesen war, und dessen Gesichtswellen sich jetzt zur Ruhe legten: – nicht so seltsam, als Sie die Ode Justum et tenacem etc.[4] erklärt haben. –

Sutor ne ultra crepidam!,[5] antwortete kaltblütig der Gelehrte, und warf sein Motto wie einen Fehdehandschuh über den Tisch hinüber. Der Gegner hatte eine außerordentliche Fertigkeit im Rotwerden, denn schneller als in einem erhitzten Thermometer stieg nun das Blut wieder in die aufgedunsenen Wangen. Er schöpfte frischen Atem, als Siegmund wieder von neuem anfing:

Wenn wir die Schwäche eines Menschen ertragen, so ist dies nichts als eine Pflicht der Menschenfreundlichkeit; bringt es aber der Zufall mit sich, dass wir durch diese Schonung irgend einen Vorteil erlangen können, so sind wir große Toren, wenn wir uns nicht an dem Geländer festhalten, das uns einen steilen Pfad hinauf begleitet. Wer wird nicht bergunter langsam gehen, und einem bergabrollenden Steine aus dem Wege treten?

Der Freund des Präsidenten ward ein Freund Siegmunds, und bekräftigte alles, was dieser sagte, mit sehr gewichtvollen Blicken, die er langsam in der Gesellschaft herumgehn, und dann an dem überwundenen Gelehrten hängen ließ. Siegmund war ohne es zu wollen der Sprecher in diesem langweiligen Parlamente geworden, und alle Augen waren nach seinem Munde gerichtet. Man fragte den Wirt heimlich, wer der verständige Fremde sei; dieser aber wusste es selber nicht, und man hatte von Siegmund nur eine desto größere Hochachtung, da man seinen Namen und Charakter nicht kannte.

Die Gäste zerstreuten sich nach und nach, nur der kleine dicke Mann blieb mit Siegmund im Zimmer; dieser spürte jetzt einen weit größeren Mut, da er mit seinem Verteidiger das Feld behalten hatte. Er wagte es jetzt dreister, sich in philosophischen Sentenzen zu ergießen, und Siegmund war gutmütig genug, alles zu bestätigen, da er einmal sein Sekundant geworden war. Beide versprachen es sich, Freunde zu bleiben und sich öfters zu besuchen. – Man trennte sich und Siegmund ging schlafen.

Er wachte mit den angenehmsten Vorstellungen auf, die Sonne schien hell in sein Zimmer, und die freundlichen Tapeten und ihre Kupferstiche lachten ihm entgegen; er ließ sich frisieren und zog sich an. – Das hübsche Mädchen lag wieder im gegenüberliegenden Fenster, er grüßte, sie dankte, er sah noch einige Mal hinüber, und stellte sich dann vor den Spiegel, um seinen Anzug und Anstand zu mustern. Dann ging er gedankenvoll im Zimmer auf und ab, und sagte zu sich selbst:

Es kann mir nicht fehlschlagen, meine Empfehlungen sind zu gut und dringend; es wäre Beleidigung des Generals, wenn man mir die Stelle versagte: Und warum sollt’ ich eine unnütze und lächerliche Deutschheit und Biederkeit und wie die närrischen Titel weiter heißen mögen, affektieren? Man empfiehlt sich den Menschen immer auf das vorteilhafteste, wenn man recht demütig erscheint, und sich gar nicht zu empfehlen sucht; man darf nur die Leute selber sprechen lassen, und sie finden, dass man ganz außerordentlich vernünftig redet. – Bis jetzt haben die eingebildeten Weltreformatoren noch nichts genützt, aber wohl sich und andern geschadet. – Wenn es in unserer Welt dazu gehört, dass man schmeichelt, um ein Amt zu bekommen, eben so, wie man sich examinieren lässt, – je nun, so kann ich nicht begreifen, warum ich nicht etwas schmeicheln sollte, um in einen Zustand zu geraten, dass ich mir kann schmeicheln lassen. Das Ganze ist doch wahrhaftig nicht unangenehmer, als wenn ich auf der Hierherreise mit dem Wagen umgeworfen und einen Arm gebrochen hätte, und doch wäre es wahrlich auch nur geschehn, um hier Rat zu werden. Der Präsident hat viele Schwächen, sie sollen mir eben so viele Haken werden, um mein Glück zu ergreifen.

Als er diese Rede geendigt hatte, ging er zum Wirt hinunter, um sich jemand von seinen Leuten auszubitten, der ihn zum Präsidenten führen könne. – Was ist das für ein Mädchen, die dort drüben wohnt?, fragte er den Wirt zu gleicher Zeit ganz vorübergehend.

Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – Es ist eine von denjenigen, sagte er halb lächelnd und halb böse – nun, Sie verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigne Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich nur vor der boshaften Person in Acht, setzte er spottend hinzu, sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!

Siegmund hatte nicht Zeit, um den Schmähungen des Wirts noch länger zuzuhören, er ging und sah nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.

Nachdem sie durch mehrere Straßen gegangen waren, zeigte ihm der Bediente gerade vor ihm ein sehr ansehnliches Haus, dessen vornehme Treppe, die großen Fenster und alles von dem aristokratischen und reichen Besitzer zeugten. Das Herz fing ihm an etwas zu klopfen, da er nun in kurzem den Mann persönlich vor sich sehen sollte, der seinem Glücke den Ausschlag geben konnte. Er hatte sich den Präsidenten so viel als möglich gedacht, aber es war doch immer ein fremder Mensch, mit dem er jetzt in Unterhandlungen treten sollte; sein Anzug erschien ihm jetzt bei weitem nicht so vorteilhaft, und auf dem hallenden, mit Marmor gepflasterten Flure schien es ihm sogar, als wäre er nicht Menschenkenner genug, um den Präsidenten so ganz in seine Gewalt zu bekommen, als er sich erst eingebildet hatte.

Er ward in das Vorzimmer geführt, um auf die Ankleidung des Präsidenten zu warten, er schickte ihm die Briefe des Generals hinein, und hatte Muße genug, um ängstlich die prächtige Möblierung des Zimmers zu mustern.

Als er in Gedanken seine Komplimente wiederholt, mehrmals leise und zahm auf dem getäfelten Boden auf- und abgegangen war, seine Uhr aufgezogen, ob es gleich noch nicht Zeit war, Tabak aus einer recht eleganten Dose, einem Präsente, genommen hatte, um es sich von neuem ins Gedächtnis zu rufen, dass er doch auch schon ehemals mit vornehmen Leuten, und zwar auf einem ziemlich vertrauten Fuße, umgegangen sei, trat der Präsident endlich zu ihm in das Zimmer, und hielt nachlässig den Brief des Generals in der Hand.

Verbeugungen, gnädig und demütig, und von beiden Seiten ein Schritt plötzlich zurück, Verlegenheit, besonders auf Siegmunds Gesichte, indem man sich gegenseitig erkannte: denn der Präsident war Niemand anders, als der alte Mann, den er gestern im Mondenscheine vor der Tür seines Gasthofs so derb ausgelacht hatte.

Das Benehmen des Präsidenten setzte sich leicht wieder zu einer zurückstoßenden Kälte, die den vornehmen Leuten so leicht zu Gebote steht. Siegmund war in einer Verwirrung, die alles konfundierte, was er dachte und was er sagen wollte, die prästabilierte Harmonie war auf einige Minuten in ihm gestört, und er stammelte dem Präsidenten eine unzusammenhängende Entschuldigung ins Gesicht, dass er ihn gestern Abend unbekannterweise in der bewussten Gegend ausgelacht habe. Der Präsident fragte sehr ernsthaft und wie verwundert, was er meine, und Siegmund vermochte es kaum, sich auf seinen Beinen aufrecht zu erhalten.

Als er sich etwas erholt hatte, sah er ein, dass ihm unter diesen Umständen nur zwei Wege offen ständen, entweder sogleich den Präsidenten zu verlassen, Pferde zu nehmen, und nach seiner Geburtsstadt zurückzureisen, oder den Versuch zu machen, alles auf eine feine Art wieder ins Geleise zu bringen. Er entschloss sich zum letzten, da er sich erinnerte, dass er die gehoffte Stelle schon immer als sein Eigentum angesehen und darnach alle Einrichtungen getroffen habe. Er fiel sich in den Zügel, und suchte bei der Dämmerung aller Sinne und Begriffe den rechten Weg wieder zu finden. Aber ich möchte den Mann sehn, der nach so vielen Unglücksfällen noch fein sein kann und doch ein Deutscher ist.

Der Präsident war verstockt genug, dem armen Sünder auch nicht einen einzigen Schritt entgegen zu tun, oder ihm Pardon anzubieten; er hatte vielleicht ein Wohlgefallen an den Krümmungen und wunderbaren Windungen des Supplikanten, der die Füße in alle mögliche Tanzpositionen brachte, der die Uhrkette und die Augenbraunen kniff, und nichts sehnlicher wünschte, als der Präsident möchte seine goldene Dose zur Erde fallen lassen, um sie ihm mit der demütigsten Behändigkeit wieder reichen zu können.

Nach den gewöhnlichen Eingangsredensarten, von – »Leid tun« – »wünschen, ein andermal dienen zu können« – den Trauerkutschen, die unsre Hoffnungen so oft zu Grabe begleiten, kam endlich die abschlägige Antwort zum Vorschein, die schon lange den armen Kandidaten wie ein herannahendes Gewitter geängstigt hatte. Siegmund war ohne Trost, als jetzt der kleine Bellmann durch den Saal ging und ihn der Präsident sehr freundlich in sein Zimmer beschied, in welches er ihm sogleich folgen würde. Es fiel ihm schneidend ein, wie er gestern den Gönner des kleinen Mannes gespielt habe, und dieser heut mit einem Menschen so vertraut umging, der ihm fürchterlich war. Der Präsident suchte jetzt absichtlich die Visite abzukürzen, so wie Siegmund sie verlängerte, ohne eigentlich zu wissen, warum er es tat: – Der Präsident sagte ihm endlich, dass der Mann, den er eben gesehn habe, derjenige wäre, dem die Stelle schon versprochen sei, auf die er gehofft habe. Siegmund fiel aus den Wolken.

Es gibt Momente im Leben, wo die Verlegenheit Stoß auf Stoß so auf uns einstürmt, dass wir uns endlich in blinder Verzweiflung widersetzen. Dies ist der Augenblick, wo alles Tierische im Menschen gewöhnlich die bessere geistige Materie zu Boden ringt, der gefährliche Augenblick, in welchem der Mensch allen feinere Empfindungen Abschied gibt, wo er in seinem Gegner den fühlenden Menschen verkennt und bloß den Feind wahrnimmt. In diesem stürmischen Augenblicke entdeckte Siegmund dem Präsidenten seine ganze Lage; wie er seinen vorigen Posten aufgegeben habe, weil er die hiesige Ratsstelle gewiss geglaubt, wie er Geld aufgenommen und nun nicht wieder zu bezahlen wisse, wie ihn jetzt plötzlich tausend Unannehmlichkeiten bestürmten, an die er bis dahin gar nicht gedacht habe.

Der Präsident zuckte die Schultern, eine Mitleidsbezeugung, mit der die Leute noch freigebiger sind, als mit Seufzern. Es kam ihm sogar ein Einfall, den er für witzig hielt, sodass er ihn unmöglich unterdrücken konnte.

Sie glaubten, sagte er mit sehr spitzigem Munde, dass guter Rat hier so teuer sei, dass man Sie auf den Händen tragen würde.

Man sieht, es war ein Wortspiel, die verschrienste Abart unter den verschiedenen Arten des menschlichen Witzes; dass es außerdem noch unartig war, bedarf gar keiner Erwähnung.

Sie bringen mich zur Verzweiflung!, rief Siegmund so aus, als wenn er schon wirklich verzweifelt wäre; der Präsident erschrak bei diesem Sprunge über die gewöhnliche Lebensart hinweg, er sicherte sich hinter einen prächtigen Sessel, vor dem Siegmund wie ein begeisterter Prophet stand und Reden führte, wie die verfolgte Tugend.

O wehe mir, dass ich sah, was ich sah, fuhr er fort zu klagen, und wandte eine Stelle aus dem Ovidius Naso auf seine Umstände an. Was konnte ich dafür, dass man Sie nicht in das bewusste Haus hineinlassen wollte? Was konnte ich dafür, dass ich Sie dort traf und wider meinen Willen lachen musste? Ist Ihnen das Glück eines Menschen nicht teurer, als dass Sie es ganz so vom Zufalle und Ihren Launen abhängen lassen? – O, widerrufen Sie Ihr Urteil und verhöhnen Sie mich nicht in meinem Unglücke, denn ich hab’ es nicht verdient, schicken Sie mich nicht so ohne Trost fort, und bestrafen Sie, wenn Sie können, den Zufall, nicht mich. –

Mein Freund, antwortete der Präsident mit einer unausstehlichen philosophischen Kälte – Ihr Unglück besteht ja eben darin, dass Sie mit diesem Zufall zusammengetroffen sind. Ist dies nicht vielleicht ein Wink des Verhängnisses, dass Sie unglücklich sein sollen? Ja, es ist Ihr Verhängnis, denn Sie sind ja unglücklich und haben nicht die Kunst verstanden, mein Herz zu Ihrem Vorteil einzunehmen, weil es das Schicksal nicht so haben will. Bewundern Sie die Anzahl von Zufällen, die sich gleichsam mühsam aneinandergereiht haben, um diese Wirkung hervorzubringen.

Ich sehe nichts als Ihren Zorn und Unwillen, Ihre Hartherzigkeit mit meinem Unglücke, antwortete Siegmund. – Können Sie, ohne Reue zu fühlen, so ungerecht sein?

Ungerecht? Der Präsident fing unwillig dies Wort auf. – Und wo liegt denn, mit Ihrer Erlaubnis, die Ungerechtigkeit? – Wenn ich einen Freund habe, der mir schon seit lange eine Menge von Gefälligkeiten erzeigt hat, und ich finde nun endlich Gelegenheit, ihm wieder etwas Vorteilhaftes zuzuwenden, sollt’ ich es da unterlassen, und diesen Nutzen einem Menschen gönnen, der mir fremd ist? Warum soll ich meinem Freund nicht nützen, wenn ich die Gelegenheit dazu in Händen habe? – Ich halte es nicht für ungerecht, sondern für meine erste Pflicht. – Sie können nicht für den Zufall, aber ich eben so wenig für den, dass die Stelle schon meinem guten Freunde versprochen ist. – Leben Sie wohl.

Der Präsident machte ihm eine nachlässige Verbeugung, und der kleine Bellmann trat wieder aus dem Zimmer des Präsidenten; der Beschützer zog sich zurück, und der kleine Mann begleitete unsern Helden bis an die Treppe. Siegmund machte den Versuch, diesen wieder wie gestern zu imponieren; aber alle seine Kunst war vergebens, der kleine Mann kannte jetzt das Verhältnis, in welchem sie beide standen, und war fast ebenso unhöflich als der Präsident selbst. Er bot ihm ein kaltes Lebewohl, und ging dann hochmütig wieder in die Tür zurück.

Auf der Straße sah sich Siegmund ein paarmal um, um frische Luft zu schöpfen; er betrachtete die Vorübergehenden genau, um das Gesicht des Präsidenten in seinem Gedächtnisse zu verwischen; aber dieses stand mit allen seinen kalten und verhöhnenden Zügen wie angenagelt in seiner Phantasie da. Er ging in die erste Straße hinein, um nur das vornehme Haus aus den Augen zu verlieren, das ihm gleich beim ersten Anblick von so übler Vorbedeutung gewesen war. Es kam ihm vor, als wenn ihn alle Menschen höhnisch betrachteten, als wenn seine ganze Unterredung mit dem Präsidenten auf seiner Stirn geschrieben stehe.

Wie anders erschienen ihm alle Straßen jetzt, als gestern Abends! Das Gewühl der Menschen, die Kaufläden, die Tätigkeit, alles schlug ihn nieder, denn alles war ein Bild des Erwerbes, des Strebens nach Wohlstand; eine Vorstellung, die ihm gestern Abend so wohl getan hatte, und die ihm jetzt verhasst war. – Wie tief war er in seinen Ideen seit einer Stunde gesunken!

Wenn ein Mensch in einer großen Verlegenheit ist, geht er gewöhnlich sehr schnell, er will allen unangenehmen Gedanken vorübereilen nach einem Moment der Ruhe und Zufriedenheit hin, der boshaft mit jedem seiner Schritte wieder einen Schritt voranläuft. Siegmund stieß an manche Lastträger, die ihm ihre Flüche nachschickten; Kutscher schimpften von ihrem Bocke herunter, weil er ihnen zwischen die Pferde lief; eine alte Frau fing ein jämmerliches Geheul an, weil er ihr einige Töpfe zerbrochen hatte, die er in der zerstreuten Eil mit dem sechsfachen Preise bezahlte. – Er ward des Getöses überdrüssig, und bestieg jetzt langsam, um sich wieder zu erholen, den Wall der Stadt.

Siegmund ward sehr verdrüsslich, als er auch hier die gehoffte Ruhe und Einsamkeit nicht fand. Geputzte Herren und Damen schritten vorbei, um gesehn zu werden. Männer gingen laut disputierend vorüber; – kein einziger Spaziergänger, der sein Auge an der schönen Natur erquickt hätte, und auch Siegmund tat es nicht, denn er überlegte bei sich sein künftiges Schicksal.

O hätte ich nur meine gestrigen Empfindungen zurück! und lehnte sich an einen Baum. – Ich Tor! dass ich mich gestern des Kleinen so lebhaft annahm, und mir mein Genius nicht zuflüsterte, dass ich für meinen ärgsten Feind die Waffen ergreife! – Was soll ich nun anfangen? – dem General meine Verlegenheit melden? – Er ist froh, dass er sich seiner Verbindlichkeiten gegen mich entledigt hat. – Eine andre Stelle suchen? – Aber welche? –

Alles machte ihn betrübt, er sah in die Straßen der Stadt hinein, und verachtete das Treiben und Drängen der Menschen recht herzlich. Die Glocken riefen die Leute vom Spaziergange zum Mittagsessen; aber er hörte es nicht; der Wall ward nach und nach leer, doch er achtete nicht darauf, und befand sich in der Einsamkeit ungestörter und glücklicher. Es währte aber nicht lange, so kamen die Spaziergänger zurück; ja ihre Anzahl war größer, als vormittags, die Damen waren noch geputzter und sahen ängstlich nach dem Himmel, ob die drohenden Herbstwolken näher ziehen und durch einen Regenguss ihren Anzug verderben würden. Aber die Sonne brach immer wieder mit neuer Wärme hervor, und der Spaziergang machte alle Gesichter froh und heiter.

Ein hagerer Mann gesellte sich durch einen Zufall zum melancholischen Siegmund; es war der Zeitungsschreiber des Orts, der gern allenthalben nach Neuigkeiten forschte. Dieser vaterländische Dichter hatte es aus dem Gesicht, dem Gange und der Kleidung Siegmunds herausgebracht, dass er ein Fremder sein müsse, er wollte daher einige Traditionen aus ihm herausziehen, um sie in Briefform mit andern Wendungen seinem Blatte einverleiben zu können. Siegmund war ziemlich einsilbig, seine Szene mit dem Präsidenten war für ihn jetzt die größte Weltbegebenheit, an diese dachte er unaufhörlich, und war sehr gleichgültig für alle politischen Bemerkungen seines neuen Bekannten, der viele Sachen prophezeite und andre Prophezeiungen widerlegte.

Ein Pferd trabte hart an ihnen vorüber, und machte dann viele von den närrischen Geberden, die den Tieren mit großer Mühe in den Schulen beigebracht werden, um nicht ganz geschickte Reiter bei irgendeiner schicklichen Gelegenheit in die Gefahr zu bringen, herunter zu stürzen. Dies war auch hier der Fall; der Reiter wankte von einer Seite zur andern, und wollte doch auch nicht gern den edlen Paradeur in seinen schönen Figuren unterbrechen. Der Reiter war Niemand anders, als der furchtbare Präsident. – Sehn Sie, sagte der Zeitungsschreiber heimlich, den wunderbaren Mann an. Glauben Sie wohl, dass er sich bloß unsertwegen die Mühe gibt!

Unsertwegen?, unterbrach ihn Siegmund. Nicht anders, antwortete der hagere Mann; dieser Herr bildet sich auf nichts in der Welt so viel ein, als auf seine