William Lovell - Ludwig Tieck - E-Book

William Lovell E-Book

Ludwig Tieck

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Beschreibung

In diesem Briefroman über zehn Bände erzählt Tieck die Geschichte des enterbten Engländer William Lovell. Immer ist er auf der Suche nach seiner Bestimmung, geht aber darüber dennoch zu Grunde.

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Seitenzahl: 821

Veröffentlichungsjahr: 2012

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William Lovell

Ludwig Tieck

Inhalt:

Ludwig Tieck – Biografie und Bibliografie

William Lovell

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Siebentes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Zehntes Buch

William Lovell, L. Tieck

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849637699

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Ludwig Tieck – Biografie und Bibliografie

Dichter der romantischen Schule, geb. 31. Mai 1773 in Berlin, gest. daselbst 28. April 1853, Sohn eines Seilermeisters, besuchte seit 1782 das damals unter Gedikes Leitung stehende Friedrichswerdersche Gymnasium, wo er sich eng an Wackenroder anschloß, und studierte darauf in Halle, Göttingen und kurze Zeit in Erlangen Geschichte, Philologie, alte und neue Literatur. Nach Berlin zurückgekehrt, lebte er von dem Ertrag seiner schriftstellerischen Arbeiten, die er größtenteils im Verlag des Aufklärers Nicolai veröffentlichte. So erschienen in rascher Reihenfolge die Erzählungen und Romane: »Peter Lebrecht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten« (Berl. 1795, 2 Bde.), »William Lovell« (das. 1795–96, 3 Bde.; vgl. Haßler, L. Tiecks Jugendroman »William Lovell« und der »Paysan perverti« des Rétif de la Bretonne, Dissertation, Greifsw. 1903) und »Abdallah« (das. 1796), ferner Novellen meist satirischen Inhalts in der Sammlung »Straußfedern« (1795–98), worauf er, seinen Übergang zur eigentlichen Romantik vollziehend, die bald dramatisch-satirische, bald schlicht erzählende Bearbeitung alter Volkssagen und Märchen unternahm und unter dem Titel: »Volksmärchen von Peter Lebrecht« (das. 1797, 3 Bde.) veröffentlichte. Den größten Erfolg errangen unter diesen Dichtungen die unheimlich düstere Erzählung »Der blonde Eckert« und das phantastisch-satirische Drama »Der gestiefelte Kater«. Die Richtung, die in seinen Schriften immer deutlicher hervortrat, mußte ihn in schroffen Gegensatz zu Nicolai sowie zu Iffland, dem Leiter des Berliner Theaters, bringen, während die Romantiker ihn begeistert anpriesen als ein Genie, das Goethe ebenbürtig sei. Nachdem er sich 1798 in Hamburg mit einer Tochter des Predigers Alberti verheiratet hatte, verweilte er 1799–1800 in Jena, wo er zu den beiden Schlegel, Hardenberg (Novalis), Brentano, Fichte und Schelling in freundschaftliche Beziehungen trat, auch Goethe und Schiller kennen lernte, nahm 1801 mit Fr. v. Schlegel seinen Wohnsitz in Dresden und lebte seit 1802 meist auf dem Gute Ziebingen bei Frankfurt a. O., mit dessen Besitzern (erst v. Burgsdorff, dann Graf Finkenstein) er eng befreundet war. Doch unterbrach er diesen Aufenthalt durch längere Reisen nach Italien, wo er die deutschen Handschriften der vatikanischen Bibliothek studierte (1805), sowie nach Dresden, Wien und München (1808–10). Während dieses Zeitraums waren erschienen: »Franz Sternbalds Wanderungen« (Berl. 1798), ein die altdeutsche Kunst verherrlichender Roman, an dem auch sein Freund Wackenroder Anteil hatte, »Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Geschmack« (Jena 1799), und »Romantische Dichtungen« (das. 1799–1800, 2 Bde.) mit dem Trauerspiel »Leben und Tod der heil. Genoveva« (separat, Berl. 1820) sowie das nach einem alten Volksbuch gearbeitete Lustspiel »Kaiser Octavianus« (Jena 1804), weitschweifige Dichtungen, in denen das erzählende und namentlich das lyrische Element überwiegt, aber aus einem Gewirr mannigfaltigster metrischer Ausdrucksformen gelegentlich doch echte Schönheit hervorleuchtet (vgl. Ranftl, L. Tiecks »Genoveva« als romantische Dichtung betrachtet, Graz 1899). Von den zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen fremder Werke, die T. damals veröffentlichte, seien erwähnt: die fehlerhaften »Minnelieder aus der schwäbischen Vorzeit« (Berl. 1803), die gelungene Verdeutschung des »Don Quichotte« von Cervantes (das. 1799–1804, 4 Bde.), die wertvolle Übersetzung einer Anzahl Shakespeare zugeschriebener, aber zweifelhafter Stücke u. d. T.: »Altenglisches Theater« (das. 1811, 2 Bde.) u. a. Auch gab er u. d. T.: »Phantasus« (Berl. 1812–17, 3 Bde.; 2. Ausg., das. 1844–45, 3 Bde.) eine Sammlung früherer Märchen und Schauspiele, vermehrt mit neuen Erzählungen und dem Märchenschauspiel »Fortunat«, heraus, welche die deutsche Lesewelt lebhaft für T. interessierte. Das Kriegsjahr 1813 sah den Dichter in Prag; nach dem Frieden unternahm er größere Reisen nach London und Paris, hauptsächlich im Interesse eines großen Hauptwerks über Shakespeare, das er leider nie vollendete. 1819 verließ er dauernd seine ländliche Einsamkeit und nahm seinen Wohnsitz in Dresden, wo nun die produktivste und wirkungsreichste Periode seines Dichterlebens begann. Trotz des Gegensatzes, in dem sich Tiecks geistige Vornehmheit zur Trivialität der Dresdener Belletristik befand, gelang es ihm, hauptsächlich durch seine fast allabendlich stattfindenden dramatischen Vorlesungen, in denen er sich als Meister in der Kunst des Vortrags bewährte, einen Kreis um sich zu sammeln, der seine Anschauungen von der Kunst als maßgebend anerkannte. Als Dramaturg des Hoftheaters (seit 1825) gewann er eine bedeutende Wirksamkeit, die ihm freilich durch Angriffe der Gegenpartei mannigfach verleidet wurde. In der Novellendichtung, der sich T. in dieser Dresdener Zeit vor allem widmete, leistete er zum Teil Vortreffliches; aber er bahnte auch jener bedenklichen Gesprächsnovellistik den Weg, in der das epische Element fast ganz hinter dem reflektierenden zurücktritt. Zu den bedeutendsten zählen: »Die Gemälde«, »Die Reisenden«, »Der Alte vom Berge«, »Die Gesellschaft auf dem Lande«, »Die Verlobung«, »Musikalische Leiden und Freuden«, »Des Lebens Überfluß« u. a. Unter den historischen haben »Der griechische Kaiser«, »Dichterleben«, »Der Tod des Dichters« und vor allen der großartig angelegte, leider unvollendete »Aufruhr in den Cevennen« Anspruch auf bleibende Bedeutung. In allen diesen Novellen befriedigt nicht nur meist die einfache Anmut der Darstellungsweise, sondern auch die Mannigfaltigkeit lebendiger und typischer Charaktere und der Tiefsinn der poetischen Idee. Sein letztes größeres Werk: »Vittoria Accorombona« (Bresl. 1840), entstand unter den Einwirkungen der neufranzösischen Romantik und hinterließ trotz der Farbenpracht einen überwiegend peinlichen Eindruck.

T. übernahm in Dresden auch die Herausgabe und Vollendung der von A. W. v. Schlegel begonnenen Shakespeare-Übertragung (Berl. 1825–33, 9 Bde.), doch hat er selber nur die Anmerkungen beigesteuert. Die Übersetzungen A. W. v. Schlegels (s. d.) wurden zum Teil mit eigenmächtigen Änderungen wieder abgedruckt, die übrigen Stücke übersetzten Tiecks Tochter Dorothea (geb. 1799) und Wolf Graf von Baudissin (s. d.). Diese beiden verdeutschten auch noch sechs weitere Stücke des alten englischen Theaters, die T. als »Shakespeares Vorschule« (Leipz. 1823–29, 2 Bde.) mit ausführlicher literarhistorischer Einleitung herausgab. Ebenso stammen aus dieser Zeit mehrere mit Einleitungen versehene Ausgaben von Werken deutscher Dichter, auf die er die Aufmerksamkeit von neuem hinlenken wollte. So hatte er schon 1817 eine Sammlung älterer Bühnenstücke u. d. T.: »Deutsches Theater« veröffentlicht (Berl., 2 Bde.). Dann gab er die hinterlassenen Schriften Heinrichs v. Kleist (Berl. 1821) heraus, denen die »Gesammelten Werke« desselben Dichters (das. 1826, 3 Bde.) folgten, ferner Schnabels Roman »Die Insel Felsenburg« (Bresl. 1827) und die »Gesammelten Schriften« von J. M. R. Lenz (Berl. 1828, 3 Bde.). Aus seiner dramaturgisch-kritischen Tätigkeit erwuchsen die wertvollen »Dramaturgischen Blätter« (Bresl. 1825–26, 2 Bde.; Bd. 3, Leipz. 1852; vollständige Ausg., das. 1852, 2 Tle.). 1837 verlor T. seine Frau, seine Tochter Dorothea starb 21. Febr. 1841. In demselben Jahre wurde er vom König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, wo er, durch Kränklichkeit zumeist an das Haus gefesselt, ein zwar ehrenvolles und sorgenfreies, aber im ganzen sehr resigniertes Alter verlebte. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Romantiker« (Bd. 17). Seine »Schriften« erschienen in 20 Bänden (Berl. 1828–46), seine »Kritischen Schriften« in 2 Bänden (Leipz. 1848), »Gesammelte Novellen« in 12 Bänden (Berl. 1852–54), »Nachgelassene Schriften« in 2 Bänden (Leipz. 1855). »Ausgewählte Werke« Tiecks gaben Welti (Stuttg. 1886–1888, 8 Bde.), Klee (mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen, Leipz. 1892, 3 Bde.) und Witkowski (mit Einleitung, das. 1903, 4 Bde.) heraus. Aus Tiecks Nachlaß, der sich in der Berliner Bibliothek befindet, veröffentlichte Bolte mehrere Übersetzungen englischer Dramen, unter andern »Mucedorus« (Berl. 1893). Die Ungleichheit von Tiecks Leistungen ist z. T. auf sein improvisatorisches Arbeiten zurückzuführen, das ihn selten zu reiner Ausgestaltung seiner geist-, phantasie- und lebensvollen Entwürfe gelangen ließ; die Gesamtheit seiner Schriften verrät deutlich die Weite und Größe seines Talents. R. Köpke, der T. in den letzten Berliner Jahren nahe stand, veröffentlichte eine ausführliche Biographie u. d. T.: »Ludwig T., Erinnerungen aus dem Leben etc.« (Leipz. 1855, 2 Bde.). Vgl. außerdem H. v. Friesen, Ludwig T., Erinnerungen (hauptsächlich aus der Dresdener Zeit, Wien 1871, 2 Bde.); »Briefe an Ludwig T.« (hrsg. von K. v. Holtei, Bresl. 1864, 4 Bde.); Ad. Stern, Ludwig T. in Dresden (in dem Werk »Zur Literatur der Gegenwart«, Leipz. 1880); Steiner, Ludwig T. und die Volksbücher (Berl. 1893); Garnier, Zur Entwicklungsgeschichte der Novellendichtung Tiecks (Gieß. 1899); Mießner, L. Tiecks Lyrik (Berl. 1902); Ederheimer, Jak. Böhmes Einfluß auf T. und Novalis (Heidelb. 1904); Koldewey, Wackenroder und sein Einfluß auf T. (Leipz. 1904); Günther, Romantische Kritik und Satire bei Ludwig T. (das. 1907). – Tiecks Schwester Sophie T., geb. 1775 in Berlin, verheiratete sich 1799 mit Aug. Ferd. Bernhardi (s. d.), von dem sie 1805 wieder geschieden wurde, lebte dann in Süddeutschland und mit ihren Brüdern, dem Dichter und dem Bildhauer, längere Zeit in Rom, später in Wien, München und Dresden. 1810 schloß sie eine zweite Ehe mit einem Esthländer, v. Knorring, dem sie in dessen Heimat folgte, und starb dort 1836. Sie hat außer Gedichten, z. B. dem Epos »Flore und Blanchefleur« (hrsg. von A. W. v. Schlegel, Berl. 1822), auch Schauspiele und einige Romane, wie »Evremont« (hrsg. von Ludw. T., das. 1836), geschrieben.

William Lovell

Erstes Buch

1

Karl Wilmont an seinen Freund Mortimer in London

Bondly in Yorkshire, am 17. Mai –

Wie kömmt es denn in aller Welt, daß Du nicht schreibst? Hundert Mutmaßungen sind mir schon durch den Kopf geflogen, aber auch nicht eine hat eine bleibende Stelle finden können. Bald halt ich Dich für tot, bald für verreist, bald glaub ich Dich irgendwodurch erzürnt zu haben, bald Deine Briefe auf der Post verloren. Doch, wie gesagt, von allem kann ich nichts glauben. – Oder bist Du etwa auch ein Überläufer geworden, und hast zur schwarzen Fahne der traurigen, langweiligen Ernsthaftigkeit geschworen? – Es sollte mir leid um Dich tun; aber wenn Du mir nicht launige Briefe schreiben willst, so schicke mir wenigstens ernsthafte: doch, wie gesagt, ich will es nicht von Dir hoffen, denn Du bist wie dazu geboren, aus Deinem ganzen Leben einen Scherz zu machen, und in der Laune, wie in Deinem Elemente zu leben. Ich habe noch bei niemand diese glückliche Mischung des Temperaments gefunden, die ihn mit vollen Segeln über die tanzenden Wellen hinführt, indes ihm die zeitlichen Sorgen schwer, unbeholfen und mit zerrissenem Tauwerk nachrudern, ohne ihn jemals einzuholen. – Ich schreibe Dir diesen Brief als eine Bittschrift, oder als eine Kriegserklärung, antworte mir freundschaftlich oder ergrimmt – nur schreib! – Sei traurig, wehmütig, großherzig, kriegerisch, lustig, ernsthaft; lobe, tadle verachte, schimpfe mich – nur schreib!

Nach dieser pathetischen Anrufung bleibt mir nun nichts weiter übrig, als meinen eigentlichen Brief anzufangen, der Dir also vors erste sagen mag, daß ich hier in dem angenehmen Bondly noch gesund und wohl bin, daß ich an Dich denke, daß ich Dich zu sehn wünsche, daß London nicht Bondly und Bondly nicht London ist, und daß, wenn ich diesen Brief in dieser Manier zu schreiben fortfahre, Du ihn schwerlich zu Ende lesen wirst.

Nicht wahr, Du siehst mir das langweilige Leben hier auf dem Lande schon an? – So abgetrieben war mein Witz nicht, als ich in euren lustigen Gesellschaften in London war, wo Wein, Gesang, Tanz und Küsse von den reizendsten Lippen uns begeisterten, wo unsre Laune mit sechs muntern Pferden über die ebne Chaussee des Leichtsinns und der Vergessenheit aller Wichtigkeiten und Armseligkeiten dieses Lebens dahinrollte – nun, wir werden uns wiedersehn! – Hier komm ich mir vor wie eine Schnecke, die nur immer furchtsam mit halbem Leibe ihre Behausung verläßt, und langsam und schwerfällig von einem Grashalme zum andern kriecht; – zwar ist die Gegend sehr schön, der Garten angenehm, auch veranstaltet uns der Himmel manchen prächtigen Sonnenuntergang- aber was ist eine Gegend, sei sie noch so schön, ohne Freunde, die unsre Freuden mit genießen? nichts als ein Rahm ohne Gemälde: wir sehen nur die Veranlassung, die uns vergnügen könnte. So leb ich hier einen Tag fort, wie den andern, zuweilen bekommen wir Besuche und erwidern sie – und so leben wir im ganzen nicht unangenehm. Wenn nur das ewige Einerlei nicht wäre!

Mein beständiger Gesellschafter ist William Lovell, der lebhafte, muntre Jüngling, den Du im vorigen Jahre einigemal in London sahst, er ist zum Besuche seines Busenfreundes Eduard Burton hier. William ist ein vortrefflicher junger Mann, der mir noch viel teurer sein würde, wenn er nur einmal erst neben mir festen Fuß fassen wollte; aber er gedeiht in keinem Boden. Kein Adler steht mit dem Äther und allen himmlischen Lüften in so gutem Vernehmen, als er; oft fliegt er mir so weit aus den Augen, daß ich ganz im Ernste an den armen Ikarus denke – mit einem Wort: er ist ein Schwärmer. – Wenn ein solches Wesen einst fühlt, wie die Kraft seiner Fittige erlahmt, wie die Luft unter ihm nachgibt, der er sich vertraute – so läßt er sich blindlings herunterfallen, seine Flügel werden zerknickt, und er muß nachher in Ewigkeit kriechen.

Es mag an feuchten Abenden, besonders für einen Mann im Amte, recht angenehm sein, einen weiten warmen Mantel zu tragen – aber wenn man ihn nie ablegen sollte, wenn man ihn zum Schlafrocke und zum Jagdkleide brauchen müßte, so möcht ich dafür lieber beständig in meinem schlichten Fracke gehn. Der Trank der Hippokrene mag ein ganz gutes Wasser sein, aber sich damit den Magen zu erkälten und ein Fieber zu bekommen, kann doch so etwas besonders Angenehmes nicht sein. Es gibt aber Leute, die sich für die entgegengesetzte Meinung totschießen ließen; und unter diesen steht William wahrhaftig nicht im letzten Gliede. Wir haben sehr oft unsre kleinen Disputen darüber, und was das schlimmste ist, so werd ich jedesmal aus dem Felde geschlagen; aber ganz natürlich, denn wenn ich etwa nur Lust habe, mit leichter Reiterei zu scharmutzieren, so schießt er mir mit Vierundzwanzigpfündern unter meine besten Truppen: wenn sich zuweilen nur ein paar Husaren von witzigen Einfällen an ihn machen wollen, so schleppt er mit einem Male einen ganzen Train schwerer Allgemeinsätze herbei, als: Lachen sei nicht der Zweck des Lebens, unaufhörliche Lustigkeit setze einen Mangel aller feinern Empfindung voraus, u.s.w. Oder er zieht sich unter die Kanonen seiner Festung, seufzt und antwortet gar nicht.

Du wirst gewiß fragen: was den unbefangenen, leichtherzigen William zu einem so schwermütigen Träumer gemacht habe? – Ich will Dir die Ursache entdecken, ob er gleich gegen sich selbst geheim damit tut – er ist verliebt! – Liebe, die den Menschen froher, glücklicher machen, die seinen Ellenbogen einen Zentner Kraft zusetzen sollte, um alle Sorgen aus dem Wege auf die Seite zu stoßen: – die Liebe – o Himmel! was hat die Liebe nicht schon in der Welt Böses getan?

Wenn noch irgendein Stück von dem ehemaligen Mortimer an Dir ist, so wett ich, Du wirst wissen wollen, wer denn die allmächtige Sonne sei, die mit ihren brennenden Strahlen das Herz des armen William – niemand anders, als meine Schwester. – Sie hat gewiß seine Liebe bemerkt, aber er scheint es nicht bemerkt zu haben, daß ihr diese Bemerkung nicht mißfallen hat, denn es fehlt nur wenig, so liebt sie ihn wieder. Es gibt die lächerlichsten Szenen, wie er ihr oft im Garten ausweicht und sie emsig in der nächsten Allee wieder sucht, wie sie Stunden lang miteinander zubringen, ohne fast nur eine Silbe zu sprechen; wie er seufzt und sich wunder wie unglücklich fühlt, daß sie sich ihm nicht freiwillig in die Arme wirft; um kurz zu sein: er ist unglücklich, weil er glücklich ist – aber auch wieder glücklich, weil er an Unglück Überfluß hat, denn glaube mir nur, er würde seine poetischen Leiden um vieles Geld nicht verkaufen.

Plötzlich kam die Nachricht: meine Schwester solle von hier abreisen. Ihr Besuch bei mir und beim alten Burton war so immer schon von einer Woche zur andern verlängert; – der Barometer stieg um viele Grade und immer mehr, je näher es dem Tage der Abreise kam. Fast jedermann bemerkte seine Schwermut, er behauptete aber jedem mit einer kecken, verdrossenen Traurigkeit ins Gesicht: er wäre noch nie so aufgeräumt gewesen. Er machte sich itzt zuweilen an mich, und ging auf den Spaziergängen lange neben mir auf und ab; ich fürchtete immer, plötzlich in die Rolle eines Vertrauten geworfen zu werden, und unter Bedrohung des Totschlages, des Untergangs der Welt, oder einer ähnlichen Kleinigkeit, ein öffentliches Geheimnis zu erfahren; aber nein, ich hatte geirrt, dazu hätt ich wenigstens vorher mein Probestück in Seufzen und Weinen ablegen müssen. – Mit einer so erzwungenen Kälte, daß ihm fast die Tränen in den Augen standen, fragte er mich: ob ich meine Schwester nicht zu Pferde begleiten würde? – nun merkte ich, wo er hinauswollte. – Er wünschte, ich möchte meine Schwester einige Meilen begleiten, damit er einen Vorwand haben könnte, mitzureiten. Es hat mich wirklich gerührt, daß ihm an dieser Kleinigkeit so viel lag, er ist ein sehr guter Junge – ich sagte sogleich ja, und bat ihn selbst um seine Gesellschaft. – Morgen reiten wir also. –

Sind die Menschen nicht närrische Geschöpfe? Wie manches Unglück in der Welt würde sich nicht ganz aus dem Staube machen und sein Monument bis auf die letzte Spur vertilgt werden – wenn nicht jeder sorgsam selbst ein Steinchen oder einen Stein auf die große Felsenmasse würfe – bloß um sagen zu können: er sei doch auch nicht müßig gewesen, er habe doch das Seinige auch dazu beigetragen? Gingen wir stets mit uns selbst gerade und ehrlich zu Werke, ließen wir uns nicht so gern von kränklichen Einbildungen hintergehn, glaube mir, die Welt wäre viel glücklicher und ihre Bewohner viel besser. – Aber denkst Du, daß ich es wage, ihm so etwas zu sagen? – Nie. – Sonderbar, daß ein Mensch vorsätzlich einschlafen kann, und sich nachher nicht aus seinen Träumen will wecken lassen, weil er sich schon wachend glaubt – und ihn mit kaltem Wasser zu begießen, halt ich für grausam.

Du siehst, wie mir die Landluft bekömmt, ich, ich fange an zu moralisieren – doch, auch das gehört unter die menschlichen Schwächen, und irgend eine Abgabe zur allgemeinen Kasse der Menschlichkeit muß doch jeder brave Erdenbürger einreichen.

Gott schenke Dir ein recht langes Leben, damit ich mir keinen Vorwurf daraus zu machen brauche, daß ich Dir durch einen langen Brief so viel von Deiner Zeit genommen habe; doch willst Du mein Freund bleiben, so soll es mich eben nicht sehr gereuen, noch hinzuzusetzen, daß ich bin

Der Deinige.

Nachschrift.Soeben lese ich meinen Brief noch einmal durch und bemerke mit Schrecken, daß ich Dir einen Bündel Stroh schicke, in welchem Du, mit Shakespeare zu reden, auch nicht ein einziges Korn finden wirst. Ich setzte mich nämlich nieder, Dir zu schreiben, daß meine Schwester nach London zurückgeht und daß Du sie nun also kannst kennenlernen; daß ich nicht nach London reise, weil es der alte Burton ebenso ungern als sein Sohn sehen würde – der alte Mann scheint an meiner Gesellschaft Geschmack zu finden – und wer weiß, ob ich es auch außerdem getan haben würde.

Wieso? hör ich Dich fragen. – Könnt ich nun den Brief nicht schließen, und Dich mit Deiner Frage im offnen Munde stehnlassen und das Petschaft besehn? – Hättest Du nicht Gelegenheit, in einem Briefe an mich Deinen Scharfsinn zu zeigen und mir tausend Erklärungen zu schicken, ohne auch nur der wahren mit einer Silbe zu erwähnen? – –

Der junge Burton – (der wirklich ein vortrefflicher Jüngling ist; schade, daß ich zeitlebens nicht so sein werde) – der junge Burton also hat eine Schwester, die zugleich die Tochter des Alten ist –

Sei nur ruhig, ich werde nie in die Grube fallen, die sich Lovell gegraben hat!

Ich habe mir ernsthaft vorgenommen, daß es keine Liebe werden soll – denn – sieh, wie schön das zusammenhängt! – denn mein Vermögen ist gegen das ihrige viel zu geringe. –

Du lachst? – Und würde die Welt nicht über Dich lachen, wenn Du den Zusammenhang hier vermißtest? –

Auch William Lovell kömmt nächstens nach London, und darum bilde Dir ein, daß ich so viel von ihm geschrieben haben könnte –

Ich bin noch einmal – (denn so etwas kann man nicht zu oft sein) – Dein zärtlichster Freund.

Karl Wilmont.

2

William Lovell an Eduard Burton

am 18. Mai –

Ich schreibe Dir, Eduard, aus einem Wirtshause hinter York, es ist Nacht und Karl schläft im Nebenzimmer – alles umher ist feierlich und still, die Glocke eines entfernten Dorfes tönt manchmal wie Grabgeläute zu mir herüber. –

Einsam sitz ich hier, wie ein Elender, der aus einem goldenen Traume in seiner engen Hütte erwacht. – Die schmelzenden Akkorde der Symphonie sind geschlossen, das Theater ist zugefallen, ein Licht nach dem andern erlischt. – In diesem Gefühle schreib ich Dir, Freund, Bruder, meine Seele sucht Teilnahme und findet sie bei Dir am reinsten und wärmsten.

Ich bin nie so aufmerksam, als in diesen Augenblicken, darauf gewesen, wie von einem kleinen Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft die Wendung unsers Charakters abhängt. Ein unmerklicher Schlag richtet und formt unsern Geist oft anders; wer kennt die Regeln, nach denen unser schützender Genius umgewechselt wird? – Eduard, eine dunkle, ungewisse Ahnung hat mich befallen, als sei hier, in diesen Momenten eine der Epochen meines Lebens; mir ist, als säh ich meinen guten Engel weinend von mir Abschied nehmen, der mich nun unbewacht dem Spiel des Verhängnisses überläßt – als sei ich in eine dunkle Wüste hinausgestoßen, wo ich unter den dämmernden Schatten hin und wider schwankende feindselige Dämonen entdecke.

Ja, Eduard, spotte nicht meiner Schwäche, ich bin in diesen Augenblicken abergläubig wie ein Kind, Nacht und Einsamkeit haben meine Phantasie gespannt, ich blicke wie ein Seher in den tiefen Brunnen der Zukunft hinab, ich nehme Gestalten wahr, die zu mir emporsteigen, freundliche und ernste, aber ein ganzes Heer furchtbarer Gebilde. Der ebne Faden meines Lebens fängt an, sich in unauflösliche Knoten zu verschlingen, über deren Auflösung ich vielleicht vergebens meine Existenz verliere.

Bis itzt ist mein Leben ein ununterbrochner Freudentanz gewesen, kindlich habe ich meine Jahre verscherzt und mich lachend der flüchtigen Zeit überlassen, in der hellen Gegenwart genoß ich und weidete mich an Träumen einer goldenen Zukunft, in der glücklichsten Beschränktheit liebt ich Gott wie einen Vater, die Menschen wie Brüder und mich selbst als den Mittelpunkt der Schöpfung, auf den die Natur mit allen ihren Wohltaten ziele. Itzt steh ich vielleicht auf der Stufe, von wo ich in die Schule des Elends mit ernster Grausamkeit verwiesen werde, um mich vom Kinde zum Manne zu bilden: und werd ich glücklicher sein, als ich war, wenn ich vom harten Unterrichte zurückkehre?

Und hab ich denn ein Recht über mein Unglück zu klagen? und bin ich wirklich unglücklich? – Liebt mich denn Amalie, ist sie mein, daß mich ihre Entfernung traurig machen darf? Bin ich nicht der Sohn eines zärtlichen Vaters, der Freund eines edlen Freundes? und ich spreche von Elend? – Wozu dieser Eigensinn, daß ich mir einbilde, nur sie sei meine Seligkeit? Ja, Eduard, ich will meiner Schwäche widerstehn, aber Sehnsucht und Wünsche sind nicht Verbrechen. Ich will nicht mit dem Schicksal rechten, aber Klagen sind der Schwäche des Menschen vergönnt; wer noch nie seufzte, hat noch nie verloren.

Wie ein Gewicht drückt eine ängstliche Beklemmung meine Brust, wenn ich an die wenigen glücklichen Tage in Bondly zurückdenke, und damit die lange, lange freudenleere Zukunft vergleiche. Die Liebe zeigte mir das Licht, das Morgenrot schwang durch den Himmel seine purpurrote Fahne, alle Berge umher glühten und flammten im freudenreichen Scheine – itzt ist die Sonne wieder untergesunken, eine öde Nacht umfängt mich. Ich habe meinen lieben Gefährten verloren und rufe durch den dunkeln Wald vergeblich seinen Namen, ein hohles Echo wirft mir ihn ohne Trost zurück, die weite einsame Leere kümmert sich nicht um meinen Jammer. Ein schneidender Wind bläst schadenfroh über mein Haupt dahin und schüttelt das letzte Laub von den Bäumen.

Schwarz war die Nacht und dunkle Sterne brannten,

Durch Wolkenschleier matt und bleich,

Die Flur durchstrich das Geisterreich,

Als feindlich sich die Parzen abwärts wandten

Und zornge Götter mich ins Leben sandten.

Die Eule sang mir grause Wiegenlieder

Und schrie mir durch die stille Ruh

Ein gräßliches: Willkommen! zu.

Der bleiche Gram und Jammer sanken nieder

Und grüßten mich als längst gekannte Brüder.

Da sprach der Gram in banger Geisterstunde:

Du bist zu Qualen eingeweiht,

Ein Ziel des Schicksals Grausamkeit,

Die Bogen sind gespannt und jede Stunde

Schlägt grausam dir stets neue blutge Wunde.

Dich werden alle Menschenfreuden fliehen,

Dich spricht kein Wesen freundlich an,

Du gehst die wüste Felsenbahn,

Wo Klippen drohn, wo keine Blumen blühen,

Der Sonne Strahlen heiß und heißer glühen.

Die Liebe, die der Schöpfung All durchklingt,

Der Schirm in Jammer und in Leiden,

Die Blüte aller Erdenfreuden,

Die unser Herz zum höchsten Himmel schwingt,

Wo Durst aus selgem Born Erquicken trinkt,

Die Liebe sei auf ewig dir versagt.

Das Tor ist hinter dir geschlossen,

Auf der Verzweiflung wilden Rossen

Wirst du durchs öde Leben hingejagt,

Wo keine Freude dir zu folgen wagt.

Dann sinkst du in die ewge Nacht zurück!

Sieh tausend Elend auf dich zielen,

Im Schmerz dein Dasein nur zu fühlen!

Ja erst im ausgelöschten Todesblick

Begrüßt voll Mitleid dich das erste Glück. –

Ich komme mir in vielen Momenten wie ein Kind vor, welches jammert, ohne selbst zu wissen, worüber. Ich komme soeben von einem kleinen Spaziergange aus dem Felde zurück: der Mond zittert in wunderbaren Gestalten durch die Bäume, der Schatten flieht über das Feld und jagt sich hin und her mit dem Scheine des Mondes; die nächtliche Einsamkeit hat meine Gefühle in Ruhe gewiegt, ich sehe mich und die Welt gemäßigter an und kann itzt mein Unglück nur in mir selber finden. Ich ahne eine Zeit, in welcher mir meine jetzigen Empfindungen wie leere Träume vorschweben werden, wo ich mitleidig über diesen Drang des Herzens lächle, der itzt meine Qual und Seligkeit ist – und soll ich es Dir gestehen, Eduard? – Diese Ahnung macht mich traurig. – Wenn dieses glühende Herz nach und nach erkaltet, dieser Funke der Gottheit in mir zur Asche ausbrennt und die Welt mich vielleicht verständiger nennt – was wird mir die innige Liebe ersetzen, mit der ich jetzt die Welt umfangen möchte? – Die Vernunft wird die Schönheiten anatomieren, deren holder Einklang mich itzt berauscht: ich werde die Welt und die Menschen mehr kennen, aber ich werde sie weniger lieben – sobald man die Auflösung zum sinnreichsten Rätsel gefunden hat, erscheint es abgeschmackt.

Mein Brief scheint mir itzt übertrieben, ich möchte ihn zerreißen, ich bin unwillig auf mich selbst – aber nein, ich will mir meine Beschämung vor Dir nicht ersparen. Ich will Dir daher auch gestehen, daß, indem ich schrieb, eine Art von Trost für mich in dem Bewußtsein lag, daß ich auch Dich nun bald verlassen müsse; dadurch schien mir meine Bitterkeit gegen mein Schicksal gerechtfertigt. – Doch itzt sind alle diese Träume verschwunden, itzt fühl ich es innig, daß Du meiner Existenz unentbehrlich bist, aber ebenso tief empfind ich es auch, daß mir das Andenken an Amalien nie wie ein trüber Traum erscheinen wird, in einem Momente nur konnte mich diese Ahnung hintergehn – ihre Gegenliebe würde mich unaussprechlich glücklich machen. Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem sie mich so oft betrachtet hat, die holdselige Güte, mit der sie zu mir sprach, alles, alles hat sich so in alle meine Empfindungen verflochten, so innig bis an meine frühesten Erinnerungen gereiht, daß ich nichts davon verlieren kann, ohne an Glück zu verlieren. Ach, Eduard – wenn sie mich liebte! – Mein volles Herz will vor Wehmut bei dem Gedanken zerspringen – wenn sie mich liebte – warum bin ich dann nicht an ihren Busen gesunken – warum sitz ich dann hier und schreibe nieder, was ich empfinde und empfinden könnte? – Als der freie Platz im Walde kam, wo wir Abschied nehmen wollten – alle Bäume und Hügel schwankten um mich her – eine unbeschreibliche Angst drängte und wühlte in meinem Busen – der Wagen wollte halten, ich ließ ihn weiterfahren und so immer in Gedanken von einem Baume zum andern fort – immer noch eine kurze Frist gewonnen, in der ich sie sah, in der ich den Klang ihrer Stimme hörte – endlich stand der Wagen. – Wir stiegen ab. – Sie umarmte ihren Bruder lange Zeit, ich nahte mich zitternd, ich wünschte diesen Augenblick im Innersten meines Herzens vorüber, sie neigte sich mir entgegen, ich schwankte und sahe sie an – ich war im Begriffe in ihre Arme zu stürzen – – ich bog mich ihr entgegen und küßte ihre Wange – eine eisige Kälte überflog mich – der Wagen rollte fort.

Da wurzelte mein Auge in das Gras, es schwärmte in dem Laub der Bäume, und alles schien mir grüner und glänzender, von den Strahlen ihrer letzten Blicke beleuchtet. Ich atmete tief auf, und hätte von Bäumen und Gras diesen Geist, der mich anglänzte, in mich ziehen mögen.

Bei einer Waldecke sah sie noch einmal mit dem holden göttlichen Blicke zurück – o mir war's, als würd ich in ein tiefes unterirdisches Gefängnis geschleppt. –

Warum hab ich ihr nicht gesagt, wie viel sie meiner Seele sei? – Wenn ich ihren letzten Blick nicht mißverstand – war es nicht Schmerz, Traurigkeit, die daraus sprachen? – aber vielleicht für ihren Bruder? – Doch die Innigkeit, mit der sie mich betrachtete? – Oh, eine schreckliche Unruhe jagt das Blut ungestümer durch meine Adern!

Itzt schläft sie vielleicht. Ich muß ihr im Traume erscheinen, da ich so innig nur sie, nur sie einzig und allein denken kann. – Bald kömmt sie nun in London an, macht Bekanntschaften und erneuert alte, man schwatzt, man lobt, man vergöttert sie, schmeichlerische Lügner schleichen sich in ihr Herz – und ich bin vergessen! – Kein freundlicher Blick wendet sich zu mir in die Einsamkeit zurück, ich stehe dann da in der freudenleeren Welt, einer Uhr gleich, auf welcher der Schmerz unaufhörlich denselben langsamen, einförmigen Kreis beschreibt.

Ihr Bruder Karl lächelte als wir zurückritten. Ich hätte weinen mögen. – Oh, warum müssen denn Menschen so gern über die Schmerzen ihrer Brüder spotten? – Wenn es nun auch Leiden sind, von denen sie keine Vorstellung haben, oder die sie für unvernünftig halten, sie drücken darum das Herz nicht minder schwer. – Ich bedurfte Mitleid, ein empfindendes Herz – und ein spottendes Lächeln, eine kalte Verachtung – – oh, Eduard, mir war, als klopft ich, im Walde verirrt, an eine Hütte, und nichts antwortete mir aus dem verlassenen Hause, als ein leiser, öder Widerhall. –

Lebe wohl. Ich will itzt gleich auf einige Tage meine Tante Buttler in Waterhall besuchen – grüße Deine liebe Schwester und verzeih mir meine Schwäche: doch ich kenne ja Dein Herz, das alle Leiden der Menschheit mitempfindet, über nichts spottet, was den Mut des schwächern Bruders erschüttert, das sich mit den Fröhlichen freut und mit den Weinenden weint. –

3

Der alte Willy an seinen Bruder Thomas, Gärtner in Waterhall

Bondly.

So wie ich's vernommen, so hält sich ja jetzt mein lieber junger Herr auf Deinem Gute auf. Bewirte ihn recht ordentlich und ich will es ansehen, als wäre es dem alten Willy geschehn. Er ist also, wie gesagt, entweder schon da, oder er wird noch hinkommen, zu Pferde saß er wenigstens schon vorgestern, und das so hübsch und geschickt, als nur ein Mensch in den drei Königreichen zu Pferde sitzen kann, der ein Frauenzimmer begleiten will, das in einer Chaise nach London fuhr. Wie gesagt, Fräulein Malchen ist vorgestern also auch abgereist. So wird's nun nach und nach bei uns leer, aber der lustige Herr Wilmont ist gestern schon mit seinem Schimmel zurückgekommen, er war ordentlich etwas müde und hatte nebenher ein Eisen verloren.

Der alte Toby hier im Dorfe ist nun endlich wirklich gestorben, von dem wir es immer schon vor 20 Jahren zusammen prophezeiten, und ich dachte dabei an Dich, guter Tom, denn Du bist fast ebenso alt, als er nun gewesen ist – aber ich hoffe, Gott wird Dir noch einmal einen kleinen Vorschuß tun, wie vor zehn Jahren, als Du die große Krankheit hattest und ich immer des Nachts so viel für Dich beten mußte. Dafür rechne ich nun aber auch auf Dich, was das Beten anbetrifft, vollends da ich nun bald in fremde Länder komme, wo man meine Sprache nicht mehr versteht.

Ja, lieber Tom, Du kannst Dich immer wundern, ging es mir doch um kein Haar besser und ich hatt es doch schon vorher gewußt. – Ich soll mit meinen alten Augen noch fremde Länder sehn – Italien, Frankreich – je nun, wenn's nur nicht in die Türkei geht, solange ich noch Religionsverwandte antreffe, denk ich immer noch unter guten Freunden zu sein, wo aber die Türken angehn, da ist es mit der Freundschaft aus, denn wer nicht meinen Gott liebt, der kann auch mich nicht lieben; sie sollen apart einen Gott ganz für sich haben, und des Brot ich esse, des Lied ich singe.

Wenn ich aber meinen lieben Bruder nicht wiedersehn sollte? Denn der Herr William sprach da so etwas von ein paar Jahren, die die Reise kosten würde (das Geld abgerechnet); ja, wollt ich nur sagen, wenn ich nun so wiederkäme und hätte die ganze Welt gesehn, was hälf es mir, wenn ich meinen Bruder Tom nicht mehr sehen könnte? – Mir war schon immer, als säh ich ein schwarzes Kreuz auf einem grünen Hügelchen da in der Ecke des Kirchhofs stehn, wo der große Nußbaum gewachsen ist, und Deinen Namen, Thomas, mit großen Buchstaben darauf, so recht als mir zur Kränkung; oh, lieber Bruder, ich würde lieber wünschen, mit Dir hinterm Ofen gesessen zu haben, um uns von Krieg und Frieden und vom Schottischen Kriege zu erzählen. Darum besuche mich. Ich hätte gestern fast geweint, und das schickt sich doch nicht, Thomas, für so einen alten Mann.

Vom Gelde sprich nicht wieder. Du bist ja mein Bruder, wir sind ja alte Männer; könnt ich Dir mit aller meiner Armseligkeit noch Leben ankaufen, frage nicht, ob ich's täte. Komm nach Bondly, oder laß Dich herfahren, denn Deine Füße sind in dem Alter nicht mehr zum Gehn geboren. Das Geld ist Dein, Du bist lange krank gewesen, und mein Herr gibt mir immer mehr als ich brauche. – Wie kann ein Bruder dem andern etwas schuldig sein? Gott sind wir alles schuldig, und der behüte Dich deswegen.

Willy, Dein Bruder bis ewig.

4

Eduard Burton an William Lovell

Bondly.

Ich vermute, daß Du einige Tage in Waterhall bleiben wirst, und darum schick ich Dir diesen Brief, der gestern angekommen ist. Wie sehr ich Dich liebe, habe ich bei Lesung Deines Briefes empfunden. Stets hab ich Dich um die Lebhaftigkeit Deiner Phantasie, um die Reizbarkeit Deines Gemütes beneidet, aber ich fange auch an, sie zu fürchten. Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Glaube, sie sind Leben und Glück, aber sie gedeihen nur in gesunden Herzen, sie verlangen Mut und Ruhe. Oh, Lieber, gewiß gibt es Dämonen, sie sind jene Zweifelsucht, jene dunkle Angst, jene Lust an Unglück und traurigen Vorstellungen, der sich unsre Seele nur zu gern ergibt. Ist das Leben erst so dunkel geworden, daß kein Strahl wahrer Freude hereinbrechen kann, da regieren sie in der Finsternis und führen auch wohl jene Verhängnisse herbei, die wir früher aus der Ferne mit stummer Angst wahrgenommen haben. Wirf Dich in die Arme der Freundschaft und Liebe, und laß dann die Zeit gewähren, es geht und wandelt sich alles ebenso oft in das Bessere, an das wir nicht glauben konnten, als es sich zum Schlimmern lenkt. Je inniger Du liebst, je stärker soll Dein Vertrauen sein. –

Eduard Burton.

5

Der alte Lovell an seinen Sohn (Einlage des vorigen)

London.

Du hast lange nicht geschrieben, lieber William, und daraus schließe ich, daß es Dir noch immer in den Armen Deines Freundes und der schönen Natur gefalle. – Diese Jahre, in denen Du lebst, sind die Jahre des reizendsten Genusses, darum genieße, wenn Du auch etwas von dem vergessen solltest, was Du ehemals wußtest: wenn Dein Geist in der stillen Betrachtung der Natur und ihrer Schätze bereichert wird, so kannst Du gewisse Gedächtnissachen indes als ein Kapital irgendwo unterbringen, und Du bekömmst sie nachher mit reichen Zinsen zurück. Vielleicht wird dadurch auch Deine Gesundheit so sehr befestiget, daß Du nicht, wie ich, von tausend Unfällen zu leiden hast, und ungehindert alle Deine Kräfte in der glücklichsten Tätigkeit wirken können, wenn der Schwächere erst von tausend umgebenden Kleinigkeiten die Erlaubnis dazu erbitten muß.

Seit einigen Tagen bewohne ich ein Landbaus, ganz nahe bei London, dasselbe, von dem ich Dir schon mehrmals geschrieben habe, das ich vielleicht kaufen würde. – Meine Unpäßlichkeiten scheinen zurückgeblieben zu sein, ich halte die Luft hier in der Ebene für reiner und gesunder, als dort auf den Bergen. – Meine neuliche Krankheit hat mich aber wieder auf die Zerbrechlichkeit des Lebens aufmerksam gemacht; ich komme in ein Alter, in welchem man sich mehr von der Welt zurückzuziehen wünscht, und einen kleinen lieben Zirkel zu bilden, in dem ein jeder Gedanke und jedes Gefühl bekannt ist. Oh, lieber William, ich hab es mir so schön ausgemalt, was für ein Leben ich führen will, wenn Du nun als gebildeter Mann von Deinen Reisen zurückgekehrt sein wirst, wie mir dann meine letzten Tage in vollem, frohem, unbefangenem Genuß hinfließen sollen: ja ich will von allen Stürmen ausruhn, die so oft den Horizont meines Lebens trübten. Nur muß ich mich hüten, diesen Genuß zu weit hinauszuschieben, ich muß anfangen mit meinen Stunden zu sparen; ein Jahr ist schon eine große Summe für mich, welches der verschwendende, im Überflusse frohlockende Jüngling oft so gleichgültig vergeudet. Mein Haar wird grau, meine Kraft zerbricht, darum wünscht ich sehnlich, daß Du Deine Reise sobald als möglich antreten mögest, noch früher, als wir neulich ausgemacht hatten. Antworte mir doch hierauf sogleich, oder besuche uns lieber selbst. Für einen ältern Freund zu Deiner Begleitung will ich indessen Sorge tragen. – Lebe wohl, bis ich Dich wieder an mein Herz drücken kann.

Dein Vater, Walter Lovell.

6

William Lovell an Eduard Burton

Waterhall.

In einigen Tagen komme ich zu Dir zurück, um auf lange Abschied zu nehmen. Mein Vater wünscht meine Abreise aus England früher; er ist fast immer krank und ich fürchte für sein Leben, daher ich jedem seiner Wünsche zuvorkomme. Es möchte sonst eine Zeit eintreten, wo es mich sehr reuen würde, nicht ganz seine Zärtlichkeit gegen mich erwidert zu haben. – Mein Vater wohnt itzt nahe bei London – und Eduard, ich werde sie wiedersehn! – Meine traurigen Ahndungen sind itzt nichts als Träume gewesen, über deren Schrecken man beim Aufgange der Sonne lacht. Hoffnungen wachen in meinem Busen auf, ich vertraue der Liebe meines Vaters. Wenn ich es nun wagte, ihm ein Gemälde von dem Glücke zu entwerfen, wie ich es in ihren Armen genießen werde, wenn ich ihn in das innerste Heiligtum meines Herzens führte und ihm jenes reine und ewige Feuer zeigte, welches der holden Gottheit lodert? Würde er so hart sein, mich von dem Bilde zurückzureißen, mir meine schönsten Empfindungen zu nehmen, die Hallen des Tempels zu schleifen, um von den Ruinen eine armselige Hütte zu erbauen? – Aber ich fürchte, mein Vater betrachtet mein Glück aus einem ganz verschiedenen Standpunkte; er ist älter und jenes schöne Morgenrot der Phantasie ist von der Gegend verflogen, er mißt mit dem Maßstabe der Vernunft die Verhältnisse des Palastes, wo der jüngere Enthusiast in einer trunkenen Begeisterung anstaunt – ach Eduard, er berechnet vielleicht mein Glück, indem ich wünsche daß er es fühlen möchte, er sucht mir vielleicht eine frohe Zukunft vorzubereiten und schiebt mir seine Empfindungen unter; er knüpft Verbindungen, um mir Ansehn zu verschaffen, um mich in der großen Welt emporzuheben, ohne daran zu denken, daß ich den ländlichen Schatten des Waldes vorziehe und in jener großen Welt nur ein unendliches Chaos von Armseligkeiten erblicke.

Ich habe hier einige Tage in einer süßen Schwermut verlebt, mir selbst und meinen Empfindungen überlassen, ich behorchte in mir leise die wehmütige Melodie meiner wechselnden Gefühle. – Der Wald sprach mir mit seinem ernsten Rauschen freundlichen Trost zu, die Quellen weinten mit mir. Man kann nirgend verlassen wandeln; dem leidenden Herzen tritt die Natur mütterlich nach, Liebe und Wohlwollen spricht uns in jedem Klange an, Freundschaft streckt uns aus jedem Zweige einen Arm entgegen.

Itzt lacht der Himmel mit mir in seinem hellsten Sonnenscheine, die Blumen und Bäume stehn frischer und lieblicher da, das Gras nickt mir am See freundlich entgegen, die Wellen tanzen ans Ufer zu mir heran. – Nein, ich will nicht verzweifeln, nie wird mein Schmerz mich so unedel machen können, daß ich in wilder Verzerrung Liebe und Freundschaft von mir stoße. Auch das größte Leid soll der edle Geist mit Anstand tragen.

Lovell.

7

Eduard Burton an William Lovell

Bondly.

Ich freue mich innig, daß Du heitrer bist, komm bald nach Bondly, und ich will noch einige frohe Tage mit Dir genießen. Dann wirst Du mir entrissen, um jenen Traum als Wirklichkeit zu begrüßen, den wir so oft miteinander geträumt haben; Natur und Kunst, Menschen und herrliche Städte empfangen Dich und nur meine herzlichsten Wünsche, meine Gebete können Dich begleiten.

Ja könnt ich selbst Dein Begleiter sein! Aber ich habe diese, einst meine liebste Hoffnung, schon seit lange aufgegeben; mein Vater würde die Zeit, die ich auf diese Art anwendete, für verloren ansehn, und abtrotzen möchte ich ihm seine Einwilligung nicht. Er haßt die Begeisterung, mit der ich zuweilen von den Heroen des Altertums, oder der Göttlichkeit eines Künstlers spreche, er sieht mit Verachtung auf diese kindischen Aufwallungen des Bluts hinab, wie er jeden Enthusiasmus nennt; an die hohen Gefühle der Freundschaft glaubt er nicht, alles, was in Dir so gut und heftig ist, belächelt er, und prophezeit aus seinem Unglauben, daß wir uns niemals verstehn und unsre sogenannte Freundschaft nur betrübt für uns beide endigen könne. Er liebt Menschen, die sich nie aus den Gegenständen, von denen sie umgeben werden, verlieren können, er spottet über alles, was man Erhabenheit der Gedanken und Gefühle nennt. Es gibt vielleicht wenig Menschen, welche die Vorurteile und Begriffe der Konvention so tief in ihr ganzes Dasein haben verwachsen lassen. – Ist dies Menschenkenntnis, die aus ihm spricht, o so beneide ich sie ihm nicht, doch muß er sie teuer erkauft haben, da er sie für so richtig hält – Aber wir glauben so oft einen Blick in die Seele anderer getan zu haben, wenn wir bloß das Flüstern unsers eignen Geistes vernommen hatten.

Er verzeihe mir die Bitterkeit, die zuweilen und itzt eben in mir aufsteigt, aber ich muß zu oft von seiner Kälte leiden. Er ist älter als ich, er kann oft betrogen sein, die schönsten Gefühle sind vielleicht an ihm meineidig geworden, er hat wohl mit Mühe alles aus seinem Busen vertilgt, was ehemals so schön und herrlich blühte; aber er soll nicht verlangen, daß ich seinen Erfahrungen ungeprüft glaube, oder wenn ich sie bestätigt finde, daß ich darum ein Hartherziger werde und den Glauben an jeden harmonischen Klang verliere, weil alle Tangenten, die ich anschlage, auf zersprungene Saiten treffen – nein, er soll in mir einen Sohn erziehen, der einst die Schuld bezahlt, die er mir zum Erbteile läßt – es tut mir weh, denn er ist mein Vater – aber glaube mir, William, ich werde manchen Armen zu trösten und mancher Waise zu erstatten haben.

Zu Dir und zu niemand anders darf ich also sprechen. – Wie beneid ich Dich Glücklichen! Du gehst Raffaels und Michelangelos Gebilden entgegen, allen großen Erinnerungen aus der Geschichte – indes ich eingekerkert hier in Bondly sitze.

8

Amalie Wilmont an ihren Bruder Karl Wilmont

London.

Ich bin gestern in London angekommen, das Gewühl der Stadt, das Geräusch der Wagen und die lärmende Munterkeit kontrastierte sehr mit der Ruhe des Landes, die ich soeben verließ. Es war traurig, wieder in die Straßen hineinzufahren, die ich so freudig verlassen hatte, mir war es, als wären es die Mauern eines großen Gefängnisses.

Seitdem hab ich oft an Dich und an meinen schönen Aufenthalt in Bondly gedacht. Die Gegend war so reizend, die kleine Gesellschaft so traulich, alle machten gleichsam nur eine Seele – und alles das im Glanze der Frühlingssonne – ach, ich bin vielleicht in sehr langer Zeit nicht wieder so glücklich.

Grüße Lovell und danke ihm für seine freundliche Begleitung.

London kömmt mir, ohngeachtet der vielen Menschen, sehr einsam vor, meine Zimmer sind mir ganz fremd geworden, alles ist so eng und düster, man sieht kein Feld, keinen Baum; und wenn ich dagegen die reizenden Hügel und schönen Gebirge denke, an jene Seen und Wasserfälle, den dichten rauschenden Wald, und an das mannigfaltige Leben der Natur, so möchte ich gleich wieder umkehren, um dieses vielfach bewegte, aber tote Chaos wieder hinter mir zu haben.

Unsre Eltern sind wohl, sie freuten sich recht herzlich, mich wiederzusehn. –

Lieber Bruder, weiter hätt ich Dir nun nichts mehr zu sagen, außer daß Du Lovell grüßen sollst – doch das hab ich ja schon einmal gesagt, das widerwärtige Lärmen auf den Straßen hat mich verwirrt gemacht.

9

Mortimer an Karl Wilmont

London.

Warum ich Dir so lange nicht geschrieben habe? Du solltest Dich doch schon daran gewöhnt haben, daß es in dieser Sterblichkeit eine Menge von Vorfällen, Wirkungen, Handlungen, und Unterlassungen ohne Ursache gibt. – Es gibt Leute, die bei einem Allegro weinen können, oder die beim schmelzendsten Adagio einen unwiderstehlichen Beruf zum Tanzen fühlen, wer wird hier nach den Ursachen fragen? Ebenso habe ich zu gewissen Zeiten Perioden von Trägheit, wo mir jede Feder zuwider ist, wo mich ein Billet, was ich schreiben soll, in Schrecken setzen kann; ich bin aber noch nie darauf gefallen, tiefsinnige philosophische Betrachtungen darüber anzustellen, ob die Seele oder der Körper daran schuld sei, von welchen Mittelideen und Kombinationen diese Sache abhängen möge.

Wir wollen also ganz davon abbrechen, erwarte keine Entschuldigungen, denn ich habe keine, ich kann Dich auch nicht um Verzeihung bitten, denn ich weiß, Du hast es nicht übelgenommen; nur soviel will ich Dir zur Entschädigung sagen, daß diese Trägheit mit zu jenen Eigenschaften gehört, die ich mir mit der Zeit abgewöhnen will.

Deine Mutmaßung ist übrigens nicht ganz unrichtig, daß ich, wenn Du es durchaus so nennen willst, ernsthafter geworden bin. Mit Dir verließ uns der Geist unsrer lustigen Gesellschaften, und man darf nur etwas aufrichtig gegen sich selbst sein, so liegt so etwas Oberflächliches in dieser sogenannten genußreichen Art zu leben, eine Nüchternheit, in der ich mir oft die Langeweile des Tantalus recht lebhaft habe denken können. Ich habe mich itzt darum aus dieser Gesellschaft mehr zurückgezogen, ich bin mehr allein und – Du wirst vielleicht lachen – ich habe oft wieder angefangen zu studieren und mich dessen zu erinnern, was ich auf meinen Reisen gelernt habe.

Halte mich aber nicht für einen so schwachen Menschen, der aus einer Anwandlung von Langeweile sich gleich über Hals und Kopf in eine so steinharte Ernsthaftigkeit wirft, daß ihn die Hunde auf der Straße anbellen; denke nur etwa nicht, daß ich itzt mit einem essigherben Gesichte dasitze und wunder wie sehr meinen Geist zu beschäftigen glaube, indem ich mit philosophischem Anstande gähne und grübelnd eine Prise Tabak zwischen den Fingern zerreibe. Halte mich nicht für ein Wesen, das sich seine Zeit verdirbt, indem es sich tausend unnütze Geschäfte macht und sich selbst zur Bewunderung über die Menge seiner Arbeiten zwingt – nein Karl, ich bin noch immer der unbefangene Mortimer, der noch ebenso gern lacht, als zuvor, und der nichts sehnlicher wünscht, als einmal mit Dir ein herzliches Duett lachen zu können. O ich möchte meine Dinte in schwarze Klagelieder ergießen, oder die erste beste Stelle aus Youngs Nachtgedanken abschreiben, um es Dir recht fühlbar zu machen, wie sehr Du mir fehlst.

Wenn das alles wahr ist, was Du mir von William Lovell schreibst, so steht es schlimm mit ihm; es tut mir jedesmal weh, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der sich selbst um die Freuden seines Daseins bringt. – Gibt es etwas Abgeschmackteres, als zu seufzen, zu weinen und alle Freuden der Welt aus einer Metapher in die andere zu jagen – und zwar, wie äußerst sinnreich und vernünftig! – weil ein andres Wesen nicht auch jammert und klagt – und zwar darüber, weil ich es tue. – Denn wahrlich, ich habe schon Liebhaber gesehn, die so geliebt wurden, daß nur noch ein Gran gefehlt hätte, und es wäre ihnen selber zur Last gefallen – die aber beständig die unglücklichsten Geschöpfe in der Welt waren; denn ihr Mädchen war ihnen lachend entgegengekommen, und sie hatten sie sich gerade weinend gedacht, weil sie einen Abschied auf zwei ewig lange Stunden nehmen sollten, um eine große Reise in die nächste Gasse zu ihrem Onkel zu tun, der ihnen einen Wechsel auszahlen wollte. – Es sind Schauspieler, die sich einen ellenhohen Kothurn angeschnallt haben, der nur dazu dient, sie in jedem Augenblicke fallen zu machen; sie sind unendlich über alle fade Sinnlichkeit erhaben, und sitzen da und können sich tagelang von ihrer Geliebten über die Farbe eines Bandes unterrichten lassen; der Schoßhund ihres Mädchens ist ihnen mehr wert, als ein halbes Menschengeschlecht, sie schwärmen in allen Regionen der Phantasie umher, um endlich doch dahin zurückzukommen, wo sie sich wieder in die Reihe der übrigen sterblichen Menschen finden; denn, ich hoff es zur Ehre der Menschheit, daß von diesen Mondsüchtigen noch keiner die Ansprüche gemacht hat, seine Geliebte ohne Augen zu sehn und ohne Ohren zu hören, wenn sie auch vergessen haben, daß die Sinne zu dem Hause, das sie bewohnen, die erste Etage ausmachen – am Ende sind sie oben dem Winde ausgesetzt, und sie ziehen wieder herunter.

Merkutio hat recht, wenn er sagt, das fadeste Gespräch hätte mehr Sinn, als das Selbstpeinigen dieser verlornen Söhne der Natur, die sich von Trebern nähren, und diese in einem beklagenswürdigen Wahnsinne für Ambrosia halten.

Deine Schwester hab ich heut schon besucht, sie ist schön und scheint ebenso verständig, außer – daß sie traurig war und gewiß um Lovell – es tut mir leid um sie. –

Es wäre übrigens wohl möglich, daß Du Dich in Deiner Einsamkeit ganz ernsthaft verliebtest. Dein Auge sieht keinen andern Gegenstand, der Dich zerstreuen könnte, und die Gewohnheit ist auch hierin die zweite Natur. Diese allmächtige Gottheit macht ja sogar, daß so mancher mit seiner Frau zufrieden ist, die er außerdem gegen einen Star austauschen würde. Dazu ist Emilie, die Schwester Deines Freundes Burton, schön und liebenswürdig, und liebt, wie alle jungen Mädchen, die hohen Spannungen des Gemütes, es ist daher keinem Zweifel unterworfen, daß Deine Stimmung die ihrige erschaffen kann, oder umgekehrt.

Ich erwarte also nächstens einen Brief voller Seufzer und mit einer Träne gesiegelt; bis dahin bin ich Dein treuer Freund

Mortimer.

10

William Lovell an Eduard Burton

London.

Ich bin auf dem Landhause meines Vaters, nahe bei London, ich sehe die Türme der Stadt, die Amalie bewohnt, ich höre ihre Glocken aus der Ferne – oh, das Herz schlägt mir ängstlich und ungestüm, daß ich sie so nahe bei mir weiß und sie noch nicht gesehen habe – ja, ich muß sie heut noch sprechen.

Mein Vater war ungemein fröhlich, da er mich wiedersah, seine Freude hatte einen Anstrich von Melancholie, die mich gerührt hat, er sah bleich und krank aus, er umarmte mich mit einer Herzlichkeit, in der ich ihn noch nie gesehn habe, er findet überhaupt sein Glück in dem meinigen und in der Zukunft, die er mir ebnen will; er sprach so manches von Verbindungen, die er meinetwegen suchen würde; er schien mir ankündigen zu wollen, wie sehr er einst meine Verheiratung mit der einzigen Tochter und Erbin des Lord Bentink wünschen würde – wer weiß, wie viel Unglück mir noch die trübe Zukunft aufbewahrt. – Ich überlasse mich zuweilen mit einer unbegreiflichen Trägheit der Zeit, daß sie den Knäuel auseinander wickele, der mir zu verworren scheint.

Von Dir hab ich also nun auf lange Abschied genommen? – Bald werden sich Städte und Meere zwischen uns werfen, bald wird ein Brief von Dir zu mir Wochen auf seiner Reise brauchen. – Den Abend vor meiner Abreise von Bondly ging ich noch einmal durch die mir so bekannten Gärten, ich nahm von jedem Orte Abschied, der mir durch die Zeit, oder irgendeine Erinnerung wert geworden war. Aus den Wipfeln fiel eine schwere Ahndung auf mich herab, daß ich nie dort wieder wandeln würde, oder im Verluste aller dieser großen Gefühle, die den Geist in die Unendlichkeit drängen und uns aus unsrer eigenen Natur herausheben.

Wenn ich nun einst wiederkehrte, den Busen mit den schönsten Gefühlen angefüllt, mein Geist genährt mit den Erfahrungen der Vorwelt und eigenen Beobachtungen, wenn ich nun bemüht gewesen wäre, die Schönheiten der ganzen Natur in mich zu saugen, um dann ein fades, alltägliches Leben zu führen, von der Langeweile gequält, von allen meinen großen Ahndungen verlassen; – wie ein Gefangener, der seinen Ketten entspringt, im hohen Taumel durch den sonnbeglänzten Wald schwärmt – und dann zurückgeführt, von neuem an die kalte gefühllose Mauer geschmiedet wird. –

Doch, ich sehe Dich lächeln – nun wohl, ich gebiete meiner Phantasie, und diese schwarzen Gestalten sinken mit ihrem nächtlichen Dunkel vom Tuche herab, und ein liebliches Morgenrot dämmert empor – da hebt sich nun die ganze Landschaft majestätisch und schön aus dem chaotischen Nebel empor, wie von der Hand eines Gottes angerührt steht die Natur in ihrer reizendsten Schöne da und die Phantasie verliert sich in den Gebirgen, den Grenzen des Horizontes. – Schon ist die Natur geschäftig, in fernen Landen alle meine Ideale zu realisieren, schon seh ich jede Landschaft wirklich, die ich einst als Gemälde bewunderte oder von der ich in einer Beschreibung entzückt ward, die Kunstwerke des großen Menschenalters stehn vor mir, die die grausame Hand der unerbittlichen Zeit selbst nicht zu zernichten wagte, um nicht die glänzendste Periode der Weltgeschichte auszulöschen. –

Oh, wenn Amalie mich liebte! – Eduard, ja, ich werde sie heut noch sehn!

11

William Lovell an Eduard Burton

London.

Eduard, o freue Dich mit mir, Freund mit Deiner brüderlichen Seele, alle Zweifel sind gehoben, alle Rätsel aufgelöst – Amalie liebt mich! – Dieses neue Bewußtsein hat mich aus allen kleinen armseligen Gefühlen zum hohen Genusse eines Gottes emporgerissen, ich bin zu Empfindungen gereift, von denen mir auch keine Ahndung etwas sagte, ich stehe in einer Welt, wo der gütige Schöpfer Freude und Wonne aus jedem Zweige blühen und über jeden Hügel glänzen läßt. – Alles was ich sehe, was ich höre, – alles was lebt ist vom Hauche der Liebe – vom Hauche Gottes beseelt.

Wie unter mir alles zusammenschrumpft, was ich einst für groß und wichtig hielt! Ich nehme es mit der Zukunft und allen ihren Begebenheiten auf.

Wie gleichgültig und öde kam noch gestern die ganze Welt meinem Blicke entgegen; alles ist heut mein Freund, alles lächelt mich liebevoll an. – Eduard – wie soll ich Dir die Empfindung beschreiben, als ich nun die Straße betrat, in der sie wohnt – als ich vor ihrem Hause stand – es war schon Abend, ein blasser Schimmer des Mondes brach durch graue Wolken – mein Herz klopfte hörbar, als ich dem Bedienten meinen Namen sagte und die Treppen hinaufstieg. – Sie war allein, ich trat in das Zimmer. – Himmel! war es nicht, als käme mir ein Engel entgegen, um mich im Paradiese zu bewillkommnen, wie ein heiliger Duft wehte mich die Luft an, in der sie atmete – ich weiß nicht, was ich ihr sagte, ich weiß nicht, was sie antwortete, aber meinen Namen sprach sie einigemal mit einer unaussprechlichen Süßigkeit. – Wir setzten uns, ich war in einer wehmütigen freudigen Stimmung – sie sprach von der glücklichen Aussicht einer so schönen Reise – ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten – o Himmel, wie gütig sie zu mir sprach, wie jeder Ton im Innersten meiner Seele widerklang, jede Silbe foderte mich auf, mich dieser holdseligen Güte zu entdecken – ich sank an ihren Busen und stammelte ihr das Bekenntnis meiner Liebe.

Ich war auf alles gefaßt, aber nicht auf diese Milde eines glänzenden Engels, mit der sie mich schweigend noch fester an ihren Busen drückte. – Ich zweifelte in diesem Augenblicke an meinem Dasein, an meinem Bewußtsein – an allem. Meine Freude hatte mich einer Ohnmacht nahe gebracht.

Unsre Lippen begegneten sich, ihr Mund brannte auf dem meinigen – mein Herz ging auf vom ersten Sonnenstrahle getroffen – wie Blumen taten sich alle meine Sinne auf, den Glanz in sich zu saugen, der so freundlich auf sie herabstrahlte. Ich drückte sie inniger an meine Brust, ich fühlte im Klopfen ihres Herzens das Unendliche, Unaussprechliche, das sich in diesem Moment mit meinem ewigen Geiste vermählte, und das wir Menschen stammelnd Liebe nennen.

Eduard! ich soll ihr schreiben, sie will mir antworten! – Oh sie ist ein Engel! Sie würde ihr Leben opfern, mich glücklich zu machen!

Ich bleibe noch länger als eine Woche bei meinen Eltern. Ich werde sie noch oft sehn; mir ist seit gestern, als dürfte nur dies das Geschäft meines Lebens sein. – Ich habe auch den Mann kennen lernen, der mich auf meinen Reisen begleiten soll, er heißt Mortimer. – Mein Freund wird er schwerlich werden können, er hat eine gewisse kalte beißende Laune, die mich von ihm gestoßen hat. – Er soll viel wissen – er hat diese Reise schon einmal gemacht, er ist älter als ich; alles dies zusammengenommen hat meinen Vater bewogen, ihn zu meinem Begleiter auszuwählen. Er scheint sehr unterhaltend zu sein – aber ich liebe nicht diese Art von Charakteren, das Satirische in ihm gefällt mir nicht, diese Erhebung über die andern Menschen, diese Bitterkeit führt leicht zur Menschenfeindschaft – ich liebe die meisten, möchte sie gern alle lieben und mag über keinen spotten; – jeder bewache seine eigne Schwäche.

12

Mortimer an Karl Wilmont

London 4.Jun.

Wenn ich gerade aufgelegt wäre, über die wunderbaren Wege der Vorsehung Betrachtungen anzustellen, so hätt ich heute dazu die schönste Gelegenheit. Denn wahrlich, nichts ist so seltsam, keine Linie läuft in den wunderbarsten Verschränkungen so schief und krumm, um in sich selbst zurückzukehren, als es so oft die Begebenheiten und Vorfälle in dieser Welt tun. – Den Schilling den ich heut meinem Bedienten gebe, erhalt ich morgen vielleicht vom Lord Parton zurück, um ihn einem Bettler zu schenken. – Du bist begierig, welch Resultat endlich aus diesem Wirwarr folgen soll; nun so höre denn und erstaune. – (Erstaunst Du nicht, so gesteh ich, daß Du selbst ein erstaunenswürdiges Wesen bist.)

Wer hätte Dir wohl damals ins Ohr geraunt, als Du Deinen neulichen Brief an mich schriebst, in welchem von William Lovell die Rede war, daß Du an den achtbaren Gouverneur dieses hoffnungsvollen Eleven schriebest? Um ernsthaft zu sprechen: ich reise mit William nach Italien und Frankreich und kehre dann als ein zweimal gereister Mann in mein sehnsuchtsvolles Vaterland zurück, um auch hier mein Licht glänzen zu lassen. – Ich sehe die Gegenden noch einmal, die mich schon einst entzückten. Ich habe hier nichts zu tun, ich versäume nichts, Lovell ist leidlicher, ja angenehmer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und darum hab ich das Anerbieten seines Vaters angenommen.

William ist, soviel ich gleich bei unsrer ersten Zusammenkunft bemerken konnte, nicht ganz mit mir zufrieden, ich bin ihm zu froh, zu wenig das, was er ernsthaft nennt. Wer von uns beiden nun den andern aus seinen Verschanzungen zuerst treiben wird, ist die große Frage. In einer Woche ungefähr reisen wir. Ich will mir alle mögliche Mühe geben, meinen Freund aus ihm zu machen.

Mein alter Onkel hätte beinahe geweint, als ich ihm die Nachricht meiner Abreise brachte; er ist mir mehr gewogen als ich dachte, er hat es mir so gut wie versprochen, mich zum Erben einzusetzen, wenn er während meiner Abwesenheit sterben sollte. –

Könnt ich über Bondly reisen, so würde die Reise noch eine Annehmlichkeit mehr für mich haben, aber einige Leute, die Fait von der Geographie machen, wollen behaupten, es läge ganz auf der entgegengesetzten Seite.

Deine Schwester ist allerdings ein vortreffliches Mädchen, ausgenommen darin, daß sie gewiß Lovell liebt – doch vielleicht wird er unter der Anführung eines gescheiten Mannes anders, das heißt, nach meiner Überzeugung: besser.

Worüber ich mich verwundre, ist, daß man mich für so gelehrt hält, um mit Nutzen der Begleiter eines jungen Mannes zu sein, der nicht ohne Kenntnisse ist – der alte Lovell aber ist ein vernünftiger Mann, der weiß, was meistenteils hinter der gewöhnlichen Ernsthaftigkeit steckt; vielleicht hat auch eben meine Heiterkeit seine Wahl auf mich fallen lassen, da er mit der zu reizbaren Empfindsamkeit und Schwärmerei seines Sohnes nicht ganz zufrieden ist. –

Und wenn nun auch bald viele Meilen zwischen uns liegen, so bin ich auch im wärmeren Klima, zwar nicht wärmer, aber ebenso warm als itzt, Dein Freund, und wenn ich nicht auf dem Kanal untergehe, so erhältst Du aus Frankreich einen Brief von

Deinem Mortimer.

13

Willy an seinen Bruder Thomas in Waterhall