William und die Drachen des Nordens - Jakob Körner - E-Book

William und die Drachen des Nordens E-Book

Jakob Körner

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Beschreibung

Als der 12-jährige William einen frisch geschlüpften Drachen im Wald findet, verändert sich sein Leben für immer. Damit er seinen Drachen behalten kann, flieht er mit ihm aus dem Wikingerdorf, das ihn als Findelkind aufgenommen hat. Bei seiner abenteuerlichen Reise kämpft er gegen feindliche Wikinger, findet eine mysteriöse Steintafel und nimmt es mit einem dunklen Magier auf. Doch warum kehren die Drachen gerade jetzt wieder zurück?

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Jakob Körner ist 2010 geboren und liest für sein Leben gerne. Vor allem Bücher, in denen es um Magie und Fabelwesen geht, kann er einfach nicht weglegen, bis die letzte Seite gelesen ist. Dabei denkt er sich ständig eigene Geschichten aus. Mit zehn Jahren hatte er die Idee zu „William und die Drachen des Nordens“, seinem ersten Roman.

Die Illustratorin Maren Natho wurde 1998 geboren und studiert Digitale Medienproduktion in Bremerhaven.

Lektorat: Anja Körner // Layout: FB 0.33

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DER ENGLISCHE BENGEL

EIN FUND IM WALD

EINE ECHSE?

EINGESPERRT

ZURÜCK ZU HAUSE

IN DIE PFÜTZE

ABGEBRANNT

ANGEKETTET?

DIE FLUCHT

EINE HÜTTE MITTEN IM WALD

DIE ENTDECKUNG

GEFUNDEN UND ZERSCHUNDEN

DER ANGRIFF

DIE HÖHLE

DIE STEINTAFEL

ÜBERFALL AM FLUSS

DIE SCHLACHT

FJODOR UND ALVA

RÜCKZUG IN DIE GROSSE HALLE

EIN DRACHENREITER UND EIN VERRÄTER

DIE DRACHEN DES NORDENS

EIN GRÜNER DRACHE?

EIN ZEICHEN DER GÖTTER

DIE LEGENDE DER DRACHENRElTER

EIN DIEB IN DER NACHT

DAS GLÄSERNE SCHWERT

DER RAT DER ÄLTESTEN

AUFBRUCH

FUNDSTÜCK IM WASSER

DIE WÄCHTERIN DER INSEL

DIE BRÜCKE OHNE STEINE

EIN ZEICHEN IM EIS

FLUCHT DURCHS EIS

LUNDABY IN SICHT

DER KAMPF DER ZWEI DRACHEN

GLOSSAR

PROLOG

Nebelschwaden zogen über die Steilküste und verdeckten die Sicht auf das Meer. Obwohl es eigentlich schon März war, war die Luft immer noch eiskalt. Höchste Zeit, dass der Winter endlich zu Ende ging. Fjodor wärmte sich seine steif gefrorenen Hände am Feuer und beobachtete seinen Atem, der sich in kleinen Wolken von seinem Gesicht entfernte, als er hinter sich Schritte im gefrorenen Laub hörte. Er drehte sich um und sah Arv, den Jarl des Dorfes auf sich zukommen. Atemlos ließ der Dorfchef sich am Feuer neben Fjodor nieder: „Ich muss mit dir reden.“ Fjodor zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Das habe ich mir fast gedacht.“ Doch der Jarl ignorierte seinen ironischen Unterton und fuhr fort: „Wir sind uns doch einig, dass sich etwas ändern muss, richtig?“ Fjodor nickte zögerlich. Bei Arv wusste man nie so richtig, auf was er hinauswollte. „Die Ernte war eine einzige Katastrophe nach dem schlechten Wetter letztes Jahr und unsere Vorräte sind erschöpft. Fjodor, du weißt selbst, dass wir kaum noch Korn übrighaben.“ Fjodor nickte und der Jarl fuhr eilig fort: „Wir müssen uns nach anderem Land umsehen oder, oder nach einer anderen Einnahmequelle.“ Fjodor zog die Augenbrauen hoch. Das hatte er befürchtet. Der Jarl war mal wieder auf Beute aus. Es stimmte natürlich, dass der Boden rund um Lundaby schlecht war und die Ernte in jedem Jahr etwas magerer ausfiel als im vorherigen. Trotzdem hielt er nichts von Arvs Raubzügen und genau darauf wollte der Jarl hinaus. Fjodor drehte sich zu ihm um.

„Und dafür willst du ein Boot, richtig?“

„Falsch“, sagte Arv mit Nachdruck. „Dafür will ich drei Boote. Ich will, dass sämtliche Krieger des Dorfes mit mir segeln.“ Fjodor, der Bootsbauer des Dorfes, runzelte die Stirn: „Und wohin bitte willst du mit drei Langbooten und allen deinen Kriegern fahren? Zu Haldor etwa? Ich glaube, den haben wir in letzter Zeit schon genug geärgert, meinst du nicht?“ Er schüttelte halb ernst, halb belustigt den Kopf und fuhr fort: „Den brauchst du nicht überfallen, Arv. Der muss nach dem letzten Sturm erstmal sein Dorf wieder aufbauen. Feindschaft hin oder her, mit drei Booten brauchst du da nun wirklich nicht anrücken.“

„Nein, nein, wo denkst du hin? Fjodor, mir geht es um etwas viel Größeres. Mir geht es um neues Land! Um bestellbares Land, um Ackerboden. Ich will nach England.

Dort soll es übrigens nicht nur guten Boden, sondern auch Gold und Silber geben. Schätze, soweit das Auge reicht. Fjodor! Verstehst du jetzt endlich? Das ist unsere Rettung!“ Arv sog vor Aufregung scharf die Luft ein und starrte den Bootsbauer erwartungsvoll an. Fjodor ließ seinen Blick bedächtig über Nebel und Meer schweifen.

„Und wie, mein Lieber, willst du dorthin kommen?

Wir sind noch nie übers offene Meer gesegelt, hast du das vergessen? Bei Sturm ist es für dich und deine Krieger doch schon schwierig genug, überhaupt an der Küste entlang zu segeln.“ Jetzt war es Arv, der Fjodor mit belustigter Miene ansah und triumphierend einen fast durchsichtigen Stein aus seinem schweren Umhang zog.

„Damit, Fjodor, ist nichts mehr unmöglich! Damit sind wir unbesiegbar!“ Er hielt den faustgroßen flachen Stein hoch und trotz des trüben Wetters schien es, als würden sich ein paar Sonnenstrahlen darin fangen. Der Stein fing auf wundersame Weise an zu leuchten, in Rot, Grün und Gelb. „Ein Sonnenstein!“, sagte Fjodor überrascht und fragte sofort skeptisch: „Woher hast du den?“

„Das würdest du gerne wissen, was?“ Arv genoss seinen Triumph in vollen Zügen. Doch Fjodor zuckte nur unbeteiligt die Schultern. „Also gut,“ sagte Arv schließlich, „ich habe ihn Haldor bei unserem letzten Kampf abgenommen.

Keine Ahnung, wo er ihn gefunden hat. Aber das ist auch egal. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt einen Sonnenstein haben, mit dem man übers offene Meer navigieren kann.“

„Aber weißt du auch, wie das geht?“ fragte Fjodor.

„Naja, ich dachte, du könntest das herausfinden. Du bist ja schließlich unser Bootsbauer, nicht wahr?“ Der Chef des Dorfes schlug jetzt einen schmeichelnden Ton an und klopfte seinem Freund mit der flachen Hand aufmunternd auf den Rücken. Fjodor nickte schicksalsergeben, als hätte er so etwas schon kommen sehen. „Na gut, gib mir den Stein. Ich schaue ihn mir mal an. Aber bei Thor und allen Göttern behalte das erstmal für dich, Arv. Wer weiß, ob ich überhaupt herausfinden kann, wie der Stein funktioniert.“

Am nächsten Tag wusste es das ganze Dorf: Arv hatte einen Sonnenstein und die Krieger würden übers Meer fahren. Alle waren in heller Aufregung.

Fjodor verbrachte Tag und Nacht damit, die drei Boote zu bauen. Zu allem Übel musste er nebenbei auch noch hinter das Geheimnis des Steins kommen. Die Männer des Dorfes lieferten ihm Stamm für Stamm festes Lärchenholz und halfen dabei, das Holz mit der Axt zu entrinden und zu spalten, so dass brauchbare Planken entstanden. Thorstein, der Schmied stellte eiserne Nieten her, mit denen die Planken befestigt wurden.

Alva, Fjodors Frau, und ein paar andere Frauen aus dem Dorf waren währenddessen damit beschäftigt, aus Schafswolle riesige Stoffstücke für die Segel zu weben.

Das war sehr aufwendig und dauerte lange. Am Schluss wurde das meterlange Segel noch mit Fett eingestrichen und so gegen Wind und Regen geschützt. Als die Frauen mit dem letzten der Segel fertig waren und es in der großen Halle des Dorfes zum Trocknen hing, war auch Fjodor fast mit seinen Booten fertig. Doch er gönnte sich erst eine Pause, als die letzten Nieten in die Planken geschlagen waren und auch der letzte Mast kerzengerade im Rumpf des Bootes saß.

Jetzt galt es noch, das Geheimnis des Sonnensteins zu lüften. Seit Tagen schon hatte er den Stein immer wieder aus seinem Lederbeutel geholt und betrachtet. Er hatte ihn in die Luft gehalten, gedreht und gewendet, aber der Stein hatte sein Geheimnis nicht preisgeben wollen. Fjodor seufzte und strich mit den Fingern über die raue Oberfläehe des Steins und hielt ihn dann in die Luft. Es war ein nass-kalter Frühlingstag und der Himmel war grau und wolkenverhangen. Trotzdem funkelte der Stein und es schien, als würde sich die Sonne darin spiegeln. Fjodor blickte am Stein vorbei in den Himmel.

Aber da war keine Sonne zu sehen. Er schaute erneut auf den Stein in seiner Hand und dann wieder in die Wolken. Er drehte sich und wechselte den Standort, doch immer zeigte der Stein eine funkelnde Stelle.

Wenige Minuten später riss der Himmel plötzlich auf und die Sonne blitzte durch die Wolken. Sie war tatsächlich genau an der Stelle, die der Stein vorhin angezeigt hatte.

Offenbar gab er den Stand der Sonne an, es war also möglich, sich nach der Sonne zu orientieren, die im Osten auf- und im Westen untergeht, auch wenn der Himmel bewölkt war. Und das war er hier im Norden meistens.

Ein Lächeln zog über Fjodors Gesicht. Das war es also.

Das Geheimnis des Sonnensteins.

Der große Tag war gekommen: Die Männer sammelten sich auf dem breiten Holzsteg, an dem Fjodor die Schiffe fest vertäut hatte. Die Wollsegel blähten sich im Wind, ein paar der Frauen hatten das Wappen von Lundaby in die Mitte der Segel gemalt: Einen Treue-Reif mit zwei gekreuzten Speeren. Der Reif glich den Armreifen, die Arv seinen getreuen Kriegern schenkte. Sie banden den Krieger an ihren Jarl.

Die Sonne schob sich durch die Wolken und sofort wurde es spürbar wärmer. Der stämmige Leif kniff die Augen zusammen, stützte sich auf seinen Schild und pfiff laut durch die Zähne. „Was für ein Tag, Männer!“ Dann blickte er sich suchend um in der Menge der mit Fellen bedeckten Krieger, die mit Schilden und Äxten bewaffnet am Ufer der felsigen Bucht standen und erwartungsvoll darauf warteten, endlich in See zu stechen und ruhmreich und mit allerlei Schätzen und der Aussicht auf neues Land wieder zurückzukehren. „Wo bei Thors Hammer ist denn Ivar schon wieder? Der Junge macht mich noch verrückt!“ Leif reckte den Hals und sein Blick wanderte in der Menge hin und her.

„Hier ist er doch, Leif. Hier ist dein Schützling!“ Ein breitschultriger Mann mit einem dunklen Bart und einem Umhang aus Bärenfell zeigte neben sich auf einen schmächtigen Jungen, der versuchte, möglichst tapfer auszusehen, dem aber die Angst in großen Lettern ins Gesicht geschrieben stand.

„Na, hast die Hosen voll, was?“, grölte Leif.

„Aber einmal ist immer das erste Mal, mein Junge.“ Ivar nickte und verzog den Mund zu einem Strich. Der breitschultrige Krieger neben ihm klopfte ihm mit seiner tellergroßen Hand so fest auf den Rücken, dass Ivar fast vornüberkippte. Die Männer lachten schallend. Dann trat Arv gefolgt von Fjodor auf den Steg und die Menge teilte sich.

„Seid ihr bereit?“, rief der Anführer und ließ seinen Blick über die versammelten Männer schweifen. Zur Antwort schlugen die Krieger mit ihren Äxten und Schwertern auf ihre Schilde und Jubel brandete auf.

„Wollt ihr neues Land?“, schrie der Jarl. Die Menge aus Kriegern, Frauen und Kinder jubelte.

„Wollt ihr eine Ernte, die bis zum nächsten Sommer reicht?“ Die Menge schrie erneut auf.

„Wollt ihr unfassbaren Reichtum?“ Jetzt tobte die Menge. Der Krach war ohrenbetäubend.

Bevor es losging, verabschiedeten sich die Krieger von ihren Frauen und Kindern. Fjodor umarmte Alva und drückte sie fest an sich. Im Gegensatz zu allen anderen Männern im Dorf hasste er diese Fahrten. Man wusste nie, ob man wieder nach Hause zurückkommen würde oder nicht. Und diesmal war es besonders ungewiss. Wer konnte schließlich wissen, was ihnen auf dem offenen Meer alles passieren konnte. Noch niemals zuvor hatte jemand von ihnen dieses Experiment gewagt. Aber als Bootsbauer wollte Arv ihn auf jeden Fall dabei haben, falls etwas an den Schiffen kaputt ging.

Fjodor ließ sich auf einem Sitzbalken am Bug des Schiffes nieder. Den Sonnenstein trug er in einem Lederbeutel mit sich. Heute war der Himmel kaum bewölkt, so dass er den Stein erstmal nicht brauchen würde.

Nach vier Tagen legten sie am Morgen vor einer sandigen Hügellandschaft an der Küste Englands an. Unterwegs waren sie alle von einem heftigen Sturm bis auf die Knochen durchnässt worden. Sie hatten gefroren, geschwitzt und irgendwann waren ihnen die Brotfladen ausgegangen, die die Frauen des Dorfes für sie gebacken hatten. Bei dem wolkenverhangenen Himmel war der Sonnenstein fast andauernd im Einsatz gewesen. Fjodor schmerzte schon der Nacken vom ständigen Blick in den Himmel. Doch jetzt waren sie da. Kaum kamen die Boote zum Stehen, hielten die Männer es nicht mehr aus und sprangen direkt von Bord in das seichte Wasser. „Ich wusste, dass wir es schaffen!“, brüllte Arv und rannte mit seinen Männern die sandigen Dünen hinauf. Oben blieben sie wie angewurzelt stehen. Vor ihnen lag eine weite Grasebene in deren Mitte ein gigantisches Steingebäude stand, umgeben von vielen kleinen, strohbedeckten Hütten. Arv deutete stumm mit dem Kopf in Richtung Dorf und die Krieger pirschten sich mit raschen Schritten an die Siedlung heran.

Inzwischen spazierte Fjodor durch ein kleines Wäldchen, das im Westen an die Siedlung grenzte. Überfälle waren nicht seine Sache. Das überließ er lieber den anderen, den raubeinigen Kriegern wie Arv, Leif, Halvar oder ... Ivar. Ivar – beim Gedanken an den schmächtigen Jungen musste Fjodor lächeln. Er strich mit den Fingern über einen üppigen dunkelgrünen Farn, der hier überall in großen Büscheln zu wachsen schien. Das war etwas ganz anderes als die spärlichen kleinen Pflanzen, die er von zu Hause kannte. Dort war es auch jetzt im Sommer immer noch deutlich kälter als hier.

Vor ihm öffnete sich das Wäldchen und er kam auf eine Lichtung. Inmitten der satt grünen Wiese stand ein großer Apfelbaum beladen mit schweren roten Früchten.

Fjodor sah sich nach allen Seiten um, ob dort jemand war und lief dann zum Baum hinüber. Die Äpfel dufteten atemberaubend. Er streckte seine Hand nach einem besonders schönen Exemplar aus und pflückte es. Als er gerade genüsslich hineinbeißen wollte, hörte er ein leises Summen. Er blickte sich um und sah auf der anderen Seite der Lichtung einen kleinen Jungen, der gedankenverloren Pilze in einen Weidenkorb sammelte. Fjodor machte einen lautlosen Schritt hinter den Baumstamm und sah sich abermals um. Wenn dort ein Junge war und auch noch ein derart kleines Kind, dann waren die Eltern unter Umständen nicht weit. Das Letzte was Fjodor wollte, war Ärger. Er beschloss hinter dem Baumstamm zu warten, bis das Kind weg war und er sich in Ruhe auf den Rückweg zu den Schiffen machen konnte. Die anderen würden bis dahin hoffentlich mit ihrem Raubzug fertig sein und sie konnten wieder zurück nach Hause.

In den Ästen über ihm raschelte etwas, dann hörte Fjodor nur noch einen Knall und spürte zeitgleich einen harten Schlag auf den Kopf. „Au!“, entfuhr es ihm. Ein Apfel hatte sich vom Ast gelöst und war direkt auf seinen Kopf geprallt. Nun kullerte der Apfel über die Baumwurzeln. Das Kind war zusammen gezuckt und sah sich ängstlich um. Dann nahm es seinen Korb und begann zu laufen so schnell seine kurzen Beine es trugen. Fjodor atmete tief ein und aus. Auch gut, dann war das Kind endlich weg.

Er lugte hinter dem Baumstamm hervor und sah, wie der Junge vor lauter Eile über eine Wurzel stolperte und hinfiel. Los, steh auf Kleiner, steh auf, dachte Fjodor. Aber das Kind blieb liegen und der kleine Rücken zuckte von Tränen geschüttelt. Oh nein, dachte Fjodor. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Einerseits wäre er am liebsten zu den Schiffen runtergegangen, andererseits konnte er den Jungen dort nicht einfach so liegen lassen. Zumal von den Eltern bisher nichts zu sehen war. Auf leisen Sohlen schlich er sich zu dem Kind hinüber und legte seine Hand auf dessen Rücken. Das Kind drehte sich um und starrte ihn mit ängstlichen Augen an. „Du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts. Wo hast du dir denn weh getan?“ Der Junge starrte ihn weiter mit offenen vor Angst geweiteten Augen an und schüttelte nur ganz langsam den Kopf.

Dann hielt es sich die Hände vors Gesicht und wimmerte.

Der kleine Körper zitterte in Fjodors Arm. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, dachte Fjodor und versuchte sich vorzustellen, was der Junge gerade sah. Einen ausgewachsenen Wikinger mit schwarzen Haaren und Bart, bewaffnet mit Streitaxt und Schwert. Das war offenbar nicht der geeignete Anblick, um ein Kind zu beruhigen.

Aber sei es drum. Er befühlte die Beine des Jungen, tastete seine Arme ab, ob etwas gebrochen war und sprach leise und, so hoffte er, auch beruhigend auf ihn ein. Unter seinen Händen und dem Klang seiner Stimme entspannte sich das Kind tatsächlich ein wenig. Vielleicht konnte er es in Richtung des Dorfes tragen, damit seine Eltern es finden würden? Sanft hob er den Jungen hoch und trug ihn in Richtung der Siedlung.

Arv und die anderen Männer hatten unterdessen eine kleine Kirche gefunden und ausgeraubt, was zu rauben war. Becher aus Messing, goldene Figuren und Kerzen, silberne Schalen und eine Eichentruhe, besetzt mit Edelsteinen, in der die Geistlichen kostbare Stoffe aufbewahrten. Auch in den kleinen Hütten und Katen rund um das Kloster waren die Krieger fündig geworden und das so einfach wie noch nie, denn die Mönche und die Dorfbewohner waren größtenteils unbewaffnet. Arv war höflich wie eh und je: Dem völlig verständnislosen Priester nahm er seine Kostbarkeiten unter wortreichen Erklärungen und vorgehaltener Axt ab. „Besten Dank, mein Lieber.

Sehr großzügig von dir.“ Als der Geistliche protestieren wollte, sagt er: „Jaja, schon gut. Ich habe zu danken!“ Er verbeugte sich ausladend und grinste dabei von einem Ohr zum anderen, während er die Schätze in einem grob gewebten Leinensack verstaute. Leif, Halvar und Erik verdrehten die Augen, für Arvs Höflichkeiten hatten sie noch nie Verständnis gehabt. Mit vollen Säcken zogen sie sich zurück auf die Boote und warteten auf Fjodor. „Wo ist denn der Kerl schon wieder?“

Das Kind hatte mittlerweile verstanden, dass Fjodor ihm nichts tun wollte. Unbeholfen hatte es mit den Fingern in eine Richtung gedeutet und Fjodor vermutete, dass es dort hinten wohnte. Auf der Rückseite des Klosters angekommen, lugte er über die Mauer und sah unzählige schlecht gekleidete Kinder, die barfuß in einem Kräutergarten Unkraut jäteten und dabei von einer Frau in schwarzen Kleidern beaufsichtigt wurden. Mit schriller Stimme wies sie die Kinder zurecht. Als eines aus der Reihe tanzte und einem Schmetterling hinterherlief, schlug sie das Kind mit einem kurzen Stock auf die Finger. Obwohl das Kind bitterlich weinte, blieb die Frau ungerührt und schlug weiter zu. Beklommen schaute der Wikinger auf das Kind und dann wieder auf die Szene im Hof. Er wollte den Kleinen auf dem Boden absetzen, doch der Junge klammerte sich plötzlich mit unerwarteter Kraft an ihn und schüttelte den Kopf. Fjodor nahm das Kind kurz entschlossen wieder auf den Arm. Hier lassen konnte er den Jungen nich,t und die anderen warteten vermutlich schon auf ihn. Also nahm er den Kleinen auf den Rücken und trug ihn zu den Booten. „Da, wo wir hingehen, ist es auf jeden Fall besser für dich als hier“, murmelte Fjodor dabei leise vor sich hin.

„Fjodor, was hast du denn da – ist das etwa ein Kind?“, grölte Halvar, der ihn als erstes zwischen den Dünen entdeckt hatte. „Psst, sei doch still. Der Kleine ist gerade eingeschlafen“, flüsterte der Bootsbauer. Vor lauter Aufregung ermüdet, war das Kind auf dem Weg in seinen Armen eingeschlummert. Aber schon hatte ihn Arv entdeckt und kam mit großen Schritten zum Bug des Schiffs gelaufen. „Du hast was geraubt? Ein Kind?

Bist du verrückt geworden? Es ging uns um Gold und Silber, aber doch keine Kinder. Kinder haben wir genug zu Hause!“ Arv starrte ihn fassungslos an. „Der Kleine hat sich verletzt“, versuchte Fjodor zu erklären. „Ach ja?“, verhöhnte ihn jetzt Halvar.

„Und da nimmst du ihn gleich mit nach Hause? Hat er etwa geweint, Fjodor?“ Der bärige Krieger wand sich vor Lachen und schlug sich mit den behaarten Armen auf die Schenkel. Fjodor ignorierte ihn, kletterte aufs Boot und Ivar half ihm mit dem Kind. „Leg ihn auf die Decke da hinten!“, wies er Ivar an. „Du hättest sehen sollen, wo der Junge zu Hause war, da konnte ich ihn einfach nicht lassen, Arv.“ Fjodor hatte sich ans Steuer neben den Jarl gestellt. Arv beäugte ihn von der Seite und schüttelte amüsiert den Kopf. Seit er Fjodor kannte, hatte dieser seinen ganz eigenen Kopf. Zum Krieger hatte er nicht getaugt und er hatte auch nie einer werden wollen. Dafür war aus seinem Jugendfreund in den letzten Jahren der beste Bootsbauer weit und breit geworden. Er und seine Frau Alva hatten bisher keine eigenen Kinder bekommen.

Aber musste es ausgerechnet ein Kind aus England sein, das nicht mal ihre Sprache sprach?

Zurück in Lundaby wurden die Wikinger mit großem Hallo empfangen. Das Dorf freute sich nicht nur über die Rückkehr der Männer, sondern natürlich auch über die vielen Schätze, die sie im fernen England geraubt hatten.

Man konnte sie wunderbar im nächsten Dorf oder bei den fahrenden Händlern gegen allerlei Nützliches eintauschen, wie Stoffe, Speisen oder Waffen. Über eine Sache, die mit an Bord gewesen war, waren sich die Dorfbewohner allerdings nicht so einig: Ein schmächtiger vielleicht fünfjähriger Junge mit roten struppigen Haaren, grünen Augen und unglaublich schwarzen Füßen.

Einzig Ivar, der den kleinen Jungen von Bord trug und Alva, die ihn direkt aus Fjodors Armen in Empfang nahm, fremdelten von Anfang an nicht mit dem neuen Dorfbewohner. Für Alva war er das lang ersehnte Kind, und sie und der Junge waren vom ersten Tag an unzertrennlich.

Sie nahm ihn mit zur Quelle zum Wasserholen, wenn sie webte, saß er neben ihr am Boden und spielte mit Stöckchen und Steinen. Sie war es auch, die herausfand, dass der Junge William hieß.

DER ENGLISCHE BENGEL

William erkundete nach und nach das Dorf und lernte die Sprache der Bewohner. Anfangs waren es nur einzelne Wörter, nach und nach ganze Sätze. Immer wieder mischte er englische Wörter dazwischen, die ihm verständnislose Blicke einbrachten. So sagte er eine Zeitlang immer zur Begrüßung: „Guten Morning“. Als er Alva einmal im Dorf ausgebüchst war, lief er bis zur Schmiede von Thorstein.

„Du habst eine big sword da!“ William zeigte auf das Schwert, an dem Thorstein gerade arbeitete. Der Schmied sah ihn verständnislos an.

„The sword!“, wiederholte William und lief zur Esse.

„Halt, halt, halt, das ist heiß.“

„Ice?“, fragte William.

„Ja, es ist heiß!“ Thorstein nickte. William streckte die kleine Hand neugierig aus und war kurz davor, das glühende Schwert anzufassen, als Alva hereinstürmte.

„Was bitte machst du hier mit meinem Sohn?“ Ihr Kopf fuhr von William zu Thorstein und zurück.

„Ich hab' ihm gesagt, dass das Schwert heiß ist und er die Pfoten davon lassen soll“, brummte Thorstein.

William schüttelte den Kopf und zeigte nun auf Thorstein. „Mann sagt ice. Sword ice. Kann man anfassen!“ Alva warf Thorstein einen ungläubigen Blick zu, nahm William an der Hand und zog ihn aus der Schmiede. Sehr zum Leidwesen von William, der das tolle eiskalte und gleichzeitig rotglühende Schwert doch sehr gerne mal angefasst hätte und nicht verstehen konnte, warum sie es jetzt so eilig hatten.

In den ersten Jahren mussten sich Fjodor und Alva immer wieder anhören:

„Was wollt ihr denn mit einem Kind aus England?“ oder „Als gäbe es hier bei uns nicht genügend hungrige Mäuler!“ Aber mit der Zeit hatten sich auch die eingefleischtesten Wikinger an den kleinen Jungen gewöhnt.

Je älter er wurde, desto mehr Zeit verbrachte er unten am Meer bei Fjodor und in dessen Werkstatt. Er lernte mit der Axt Stämme zu spalten und mit dem Hobel zu glatten Planken zu schleifen. Fjodor schnitzte kleine Figürchen für ihn: Ein Pferd, eine Maus und etwas, das eigentlich ein Adler werden sollte, aber irgendwie mehr aussah wie ein Drache. Fjodor hatte dieses Stück erst weggeworfen, aber William hatte es wieder aus der Holzkiste geholt, in der das Brennholz aufbewahrt wurde. Den Adler-Drachen trug er an seinem Gürtel immer mit sich herum.

Zwischen seiner Arbeit bei Fjodor und seiner Zeit mit Alva, verbrachte er jede freie Minute im Wald. Er streifte durch die Büsche, kannte die allerbesten Stellen im weichen Moos, wo er sich an Sonnentagen hinlegte und seinen Träumen nachhing. Mit den anderen Kindern aus dem Dorf hatte er nicht so viel zu tun. Bisher waren sie ihm nicht allzu freundlich begegnet. Was vermutlich daran lag, dass auch die meisten ihrer Eltern nach wie vor nicht verstehen konnten, warum Fjodor ausgerechnet einen englischen Bengel mitbringen musste. Man wusste ja von den Engländern, dass sie durch und durch verlogen waren und vermutlich würde William, sobald er ausgewachsen war, das Dorf überfallen und in Schutt und Asche legen.

Danach würde er ohne zu zögern ein Boot seines Ziehvaters stehlen und damit wieder nach England segeln. So oder so ähnlich gingen die meisten Geschichten, die sich die Dörfler an langweiligen Winterabenden ausdachten.

Nur einen konnten sie damit nicht überzeugen: Ivar. Der schmächtige Junge, der bei Williams Entdeckung dabei gewesen war, hatte sich zu einem stattlichen jungen Mann entwickelt – mit einem dichten blonden Bart und vom Schmieden gestählten Armen. Wann immer er dieses oder jenes Gerücht über den angeblichen Teufelsbraten des verrückten Bootsbauers aufschnappte, schüttelte er den Kopf und riet den Dorfbewohnern, sich solchen Quatsch doch künftig zu verkneifen. Für William war er ein wahrer Freund, wenn auch deutlich älter als er selbst. Ivar besuchte ihn gelegentlich am Fluss und sie verbrachten Nachmittage damit, im Wald Hasen oder Vögel zu jagen.

EIN FUND IM WALD

Heute hätte er eigentlich bei Alva in der Küche helfen sollen. Beeren zu Brei zerstampfen und dann zum Trocknen auf einem Leinentuch verstreichen. Die getrockneten Fruchtstreifen waren eine Köstlichkeit – vor allem im Winter, wenn es kein frisches Obst oder Gemüse mehr gab. Aber gerade jetzt verspürte William nicht die leiseste Lust, sich an einem der wenigen schönen Sonnentage hier im Norden in Alvas heißer Küche herumzuplagen.

An seiner Lieblingsstelle im Wald legte er sich ins weiche Moos und schloss die Augen. Hinter geschlossenen Lidern sah er Alva mit ihrer Schürze und dem Holzlöffel, also öffnete er sie lieber wieder. Mist, ein bisschen schlechtes Gewissen hatte er schon. Aber egal, er würde Alva wieder helfen, wenn es regnete, und das tat es hier ja ständig.

Plötzlich hörte er ein seltsames Geräusch, ein leises Fiepen und Knacksen, das immer lauter wurde. Er erhob sich und drehte sich suchend um. Jetzt konnte er das Geräusch kaum mehr wahrnehmen, egal in welche Richtung er sich bewegte, also legte er sich nochmal hin und sofort wurde es wieder lauter. Als käme es direkt aus der Erde unter ihm. Vorsichtig entfernte er das Moos an der Stelle, an der sein Kopf gelegen hatte. Das Geräusch wurde augenblicklich lauter. Also grub er mit den bloßen Händen ein kleines Loch in die Erde, bis er auf etwas Hartes stieß. Etwas Graues, wie ein Stein, mit Erde beschmiert kam zum Vorschein. Er grub und grub und nun sah er auch, woher das knackende Geräusch kam.

Vor ihm lag ein Ei in der Erde. Aber es war kein normales Ei. Es war riesengroß. Etwa zehn Mal so groß wie die Eier, die Alvas Hühner legten und auch die Farbe war anders. Es war grau, hatte aber einen grünlichen Schimmer und die Schale des Eis, wenn es denn tatsächlich ein Ei war, war nicht glatt, sondern rau, wie Baumrinde. Er versuchte, es vorsichtig aus der Grube zu heben, aber unter seiner Berührung wurde das Ei immer heißer, bis er es schließlich loslassen musste, um sich auf die Finger zu pusten. Mit einem Mal fing das Ei an, sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. William sah, wie es kleine und immer größer werdende Funken schlug und plötzlich eine riesenhafte Stichflamme aus dem Ei herausschoss.

Er sprang entsetzt zurück und starrte auf das Ei, das nun ganz in Flammen aufgegangen war. Auch das umliegende Moos hatte angefangen zu qualmen. William wusste nicht, ob er wegrennen oder dableiben sollte. Konnte er noch Hilfe holen? Oder Wasser zum Löschen, bevor der Wald anfing zu brennen? Es hatte zwar in letzter Zeit viel geregnet und alles war grün, aber etwas trockenen Reisig gab es doch und der brannte wie Zunder.

Plötzlich spaltete sich das Ei mit einem kleinen Ruck in zwei Hälften und die Flammen erloschen. William traute sich nun wieder etwas näher heran. Zwischen den verkohlten Eierschalen und dem Moos lag etwas Grünes, das ebenfalls aussah wie Baumrinde. Er wollte es gerade mit dem Finger berühren, als ein kleiner grüner Kopf mit vier winzigen Hörnern sich aus der Asche nach oben streckte. William erschrak und fuhr zurück. Was war das?

So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein bisschen wie eine Schlange oder ein Wurm, aber viel, viel größer. Er näherte sich dem kleinen Wesen vorsichtig wieder, das gerade seinen Schwanz entdeckt hatte und nun anfing, spielerisch danach zu schnappen. Vielleicht war es eine größere Echse? So eine hatte er zwar noch nie gesehen, aber wer weiß, was es hier im Norden alles gab? Er hielt dem kleinen Etwas seinen Zeigefinger hin und versuchte, es damit am Kopf zu streicheln so wie er es mit den kleinen Zicklein machte, die in Alvas Stall im Frühjahr zur Welt gekommen waren.

Aber das hier war etwas völlig anderes. Das war ihm sofort klar. Statt sich am Kopf streicheln zu lassen, nuckelte es ihm jetzt am Finger, rollte sich dann zufrieden zusammen und schlief ein. Minutenlang starrte William ungläubig auf das grüne Wesen, das da am Boden vor ihm lag. Vorsichtig hob er es auf und trug es nach Hause. Er lief ganz langsam, um es nur ja nicht wach zu machen und stolperte dann doch über eine der Baumwurzeln, kurz vor Fjodors und Alvas Hütte, die seit einigen Jahren nun auch sein Zuhause war. Der grüne Wurm quietschte einmal kurz im Schlaf auf, reckte sich und schlummerte sofort weiter.

EINE ECHSE?

„Fjodoooor! Alvaaaa! Schaut mal, was ich hier habe!“, William hätte am liebsten vor lauter Aufregung noch lauter gerufen, stattdessen rief er gerade nur so laut, wie er glaubte, das Etwas damit nicht aufzuwecken. Alva war nirgends zu finden, aber Fjodor entdeckte er schließlich unten am Steg in seiner Werkstatt, wo sonst? „Hey, Fjodor, schau mal, was ich hier habe!“ Der Bootsbauer murmelte ein „Was denn?“ starrte aber weiter auf eine Holzbohle, die er gerade mit der Axt bearbeitete und die offenbar nicht ganz so wollte, wie er sich das vorgestellt hatte.

„Schau doch mal her!“, drängte William, „was ich hier habe.“ Fjodor drehte sich um und hielt erstaunt inne.

„Wo hast du das her?“, fragte er.

„Aus dem Wald“, sagte William wahrheitsgemäß und erzählte ihm die ganze Geschichte von Anfang an. „Das ist so eine Art Echse, glaube ich“, sagte William und fuhr dem Wesen sanft mit dem Zeigefinger über den schuppigen Körper. Fjodor starrte immer noch auf das grüne Bündel, das William ihm präsentierte.

„Nein, William“, sagte er langsam. „Das ist keine Echse.“ Er tastete mit den Fingern vorsichtig den Rücken des kleinen Tieres ab und zog an einer Hautfalte, die William vorher gar nicht aufgefallen war. „Schau mal hier“', er zog noch etwas fester an der schuppigen Haut und entfaltete einen winzig kleinen Flügel, der so zart war, dass man fast hindurch gucken konnte und der den Blick auf ein Netz winziger Adern freigab. William starrte auf das Wesen in seinen Händen.

„Ein Drache?“, fragte er ungläubig.

„Ich dachte, die gäbe es nur in den Sagen.“ Fjodor nickte und sagte: „Und ich dachte, die Viecher wären längst ausgestorben.“

„Du meinst also, es gibt sie wirklich?“, fragte William. Fjodor deutete auf das Wesen in Williams Händen. „Na, was glaubst du denn sonst, was das hier sein könnte? Ein Regenwurm mit Flügeln?“ Er lächelte, aber in seinen Augen konnte William noch etwas anderes sehen. Etwas, das er nicht zu deuten wusste.

Der Drache räkelte sich und schlug zaghaft die Augen auf. Sofort schnappte er sich wieder Williams Finger und begann, fest daran zu saugen.

„Auf jeden Fall braucht der kleine Kerl was in den Bauch“, stellte Fjodor fest. „Lauf mit ihm mal hoch zu Alva und versuch, ihm mit dem Lederschlauch Milch zu geben. Ruf mich, falls das nicht klappt.“ Der Bootsbauer drehte sich wieder zu seinen Bohlen um und das Gespräch war beendet. Etwas unschlüssig stand William noch einen Moment bei ihm und machte sich dann auf den Weg zu seiner Ziehmutter. Alva staunte nicht schlecht, als William mit einem Miniatur-Drachen in der Hand zu ihr in die Küche kam. „Was in Thors Namen hast du denn da mitgebracht? Oh, William, bring das mal lieber wieder in den Wald zurück!“ rief Alva. Doch William schüttelte energisch den Kopf.

Hinter ihm kam nun auch Fjodor in die Küche. Er musste sich beugen, denn sonst stieß er sich an den niedrigen Türpfosten den Kopf. Offenbar hatte ihm der neue Gast doch keine Ruhe mehr gelassen.

„Hast du gesehen, was William im Wald gefunden hat?“, Alva deutete auf das grüne schuppige Häufchen, dem William gerade versuchte, Milch einzuflößen, so wie sie es bei den kleinen Zicklein immer machten. Der kleine Kerl zappelte wie verrückt, verschluckte sich fortwährend und William hatte den Eindruck, dass mehr Milch auf seinem Leinenwams landete als im Magen des Drachens.

Trotzdem gluckste und schmatzte das kleine Wesen zufrieden. Fjodor fasste William von hinten an der Schulter.

„Heute kann er hierbleiben. Wir machen ihm einen der Hühnerkäfige zurecht, da kann er schlafen. Morgen bringen wir ihn zu Arv.“

„Wieso denn zu Arv, Fjodor? Ich habe doch den Drachen gefunden. Er soll bei uns bleiben.“ Fjodor nahm William an beiden Schultern und sah ihm fest in die Augen. Er musste sich kaum mehr beugen, denn William war recht groß für seine zwölf Jahre.

„Drache ist Drache, William. Das ist eine ziemlich große Sache. Wir können ihn nicht einfach so behalten.