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Die hübsche Regina kommt aus einer großen Familie, in der neun Kinder von Vater und Mutter liebevoll umsorgt wurden. Nun ist sie erwachsen und muss das Leben allein meistern. Sie nimmt eine Arbeit beim Krannerbauern an. Bald verliebt sie sich zum ersten Mal, glaubt allen Versprechungen und Liebesschwüren des feschen Florian ohne jeden Argwohn. Doch der kurze Bergsommer auf der Alm im Schatten des Goldenen Horns wird Regina zum Schicksal werden.
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LESEPROBE ZU
© 2018 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titel der Originalausgabe: „Wind über hohen Bergen“
Titelbild: Löbl-Schreyer, Bad Tölz
ISBN: 978-3-475-54802-4
Hans Ernst
Worum es geht „Wind über hohen Bergen“
Unverzagt und fröhlich trotz aller Mühen geht der Kleingütler Sebastian Staberl durch sein Leben, seiner Frau ein guter Mann, seinen neun Kindern ein treusorgender Vater. Die Jahre vergehen, die Kinder ziehen aus dem Haus und werden wie Blütenblätter in alle Winde verweht. So auch die schöne Agnes, die beim Krannerbauern in Dienst getreten ist. Sie stach immer hervor aus der Kinderschar, aber wird sie auch das meistern können, was sich ihr hoch droben auf der Alm in den Weg stellt? Der kurze Bergsommer dort wird ihr zum Schicksal.
Sie waren neun Kinder und wohnten in einem kleinen Häuschen außerhalb des Dorfes Burgham, ganz nahe am Waldrand. An ihrem Gartenzaun war mit Ölfarbe ein blauer Streifen gemalt, der sich dann im Wald so alle dreißig Meter an einer Fichte fortsetzte und dem Wanderer andeutete, daß diese blaue Markierung entlang zum Goldenen Horn führte.
Die Mutter war eine brave, geduldige Frau, die ohne Murren die viele Arbeit auf sich nahm und immer nur still vor sich hin lächelte, wenn sie von anderer Seite hörte, daß Kinder recht viel Arbeit machten. Gewiß machten sie viel Arbeit, aber rechnet denn eine Mutter den Dienst an den Kindern als Arbeit? War es nicht mehr eine Handreichung an die große, alles umfassende Liebe zum kleinen Menschen, von dem man hofft, daß er es einem später vielleicht lohnen werde?
Der Vater, Sebastian Staberl, war Flickschuster, ein ungemein vitaler, lustiger und kreuzbraver Mann, der bereit war, für seine Familie jedes Opfer zu bringen. Er ging zu den Bauern in weitem Umkreis, flickte die Schuhe und auch einen Pferdehalfter oder das zerrissene Dach einer Landauerkutsche.
Alle paar Jahre ging er, wenn es Winter werden wollte, den weiten Weg zur Kreisstadt und logierte sich dort für ein paar Tage in dem stattlichen Gebäude mit den engen Gitterfenstern ein. Der Gefängnisverwalter begrüßte ihn jedesmal wie einen guten, alten Bekannten, ja er gab ihm sogar die Hand.
»So, Staberl, sind wir auch wieder einmal da? Höchste Zeit, daß du kommst. Es liegt eine Menge Holz drunten im Hof, das kleingemacht werden will.«
Er lud allerdings keine großen Verbrechen auf sich, der Staberlvater. Zuweilen fing er einen Hasen im Wald, oder er hackte ein paar Stangen um. Einmal sollte sich auch ein Rehböcklein in seinen Pflanzgarten verirrt haben und dann in die Bratröhre gewandert sein. Aber das konnte man ihm nicht beweisen.
Ja, sie schlugen sich so recht und schlecht durchs Leben, die Staberl, trotz der kleinen Freiheitsstrafen des Vaters. Sie waren in der Gemeinde angesehen, die Kinder gerieten gut. Wenn sie gerade Ferien hatten, nahm der Staberl das eine oder das andere seiner Mädchen mit zu den Bauern. Sie konnten dort schon ein wenig mithelfen, auf die Kinder aufpassen oder Holz hereintragen. Manchmal fiel dabei auch ein Silberstück ab, das sie dann brav daheim der Mutter ablieferten.
Als der Sommer wieder einmal, lichthell und hitzig noch in den Mittagsstunden, in den Herbst hineinkroch und der Staberl nach dem Hochamt zum Metzgerwirt hinein wollte, wo er jeden Sonntag seine zwei Halbe Bier trank und drei Weißwürste aß, paßte ihn die Rumplin vom Dücklberg gerade noch unter der Tür ab.
»Ja, was ist denn, Schuster, wann kommst denn endlich einmal zu uns? Es ist schon bald kein heiler Schuh mehr im Haus.«
Staberl schob sein Hütl aus der Stirne und tat, als ob er nachdenke. Zur Rumplin ging er nämlich nicht gerne, denn wo man sonst zur Brotzeit ein anständiges Bier bekam und ein Stückl Preßwurst, stellte die Rumplin ihren Handwerkern einen saueren Apfelmost hin und nur trockenes Brot. Und wenn der Staberl sagte, daß er drei Mark zu bekommen habe, dann begann sie zu handeln und drückte ihm den sowieso schon spärlichen Lohn nochmals um fünfzig Pfennig herunter.
»Ja, es geht mir halt recht schlecht aus mit der Zeit«, meinte er.
»Geh weiter! Du hast es mir doch im Frühjahr schon versprochen, daß du kommst. Geht es denn in dieser Woch nimmer?«
»Nein, in dieser Woch geht es nimmer.«
»Und nächste Woche?«
Staberl sah, daß er nicht mehr auskam, und nickte verdrossen: »Also gut, dann nächste Woche, gleich am Montag.«
Am Montag packte er also sein Werkzeug in den Rucksack und machte sich auf den Weg in die zwei Stunden entfernte Einöde hinauf.
»Wie lang bleibst denn aus?« fragte ihn die Frau beim Weggehen.
»Ich möcht so schnell wie möglich fertig werden, bei der da oben.«
»Wart ein bißl, Wastl, ich möcht noch was schaun«, sagte Frau Amalie und schnürte ihm den Rucksack auf, griff hinein und schnürte ihn wieder zu. »Nein, doch nicht«, lächelte sie. »Ich hatte schon gedacht, du hättest deinen Abschraubstutzen wieder mit.«
Staberl strich seinen Schnauzbart aus den Mundwinkeln und schaute seine Frau aus seinen haselnußbraunen Augen recht treuherzig an. »Den hast du mir schon so versteckt, daß ich ihn nimmer finde.«
»Weil ich nicht mehr haben will, daß sie dich wegen so einem Hasen einsperren. So notwendig brauchen wir es jetzt auch nicht mehr. Die Kinder werden größer, im nächsten Jahr kommt die Martha auch aus der Schule und verdient dann.«
»Ja, aber es kommt ja wieder was in die Wiege«, antwortete der Schuster schmunzelnd und gab ihr die Hand. »Also, behüt dich, Amalie. Vielleicht komm ich morgen am Abend schon zurück.«
Die kleineren Kinder sahen ihm vom Fenster aus nach. Auf dem Anger hinter dem Haus hütete die Burgl die zwei Ziegen und winkte dem Vater nach, der neben dem braunen Stoppelfeld, auf dem Weizen gestanden war, bergauf schritt.
Es herbstelte schon stark. Im Bergwald standen die vereinzelten Laubbäume bereits wie flammende Büschel zwischen dem schwermütigen Grün der Fichten. Der Himmel war mit feinen Schleierwölkchen überzogen, nur über dem Goldenen Horn schimmerte er wolkenlos, und die Sonne spielte mit tausend Reflexen in dem steil aufragenden Felsen, der oben die Form eines gebogenen Hornes annahm.
Der Sebastian stapfte so dahin, schupfte manchmal seinen Rucksack und war fröhlicher Dinge. An den Bauernhöfen, an denen er vorbeikam, winkte man ihm oder rief ihm etwas zu. Diesen immer lustigen Schuster mochte man überall recht gerne, und selbst der Förster, der ihm beim Lärchenwald droben begegnete, lachte ihn freundlich an.
»Wohin denn heut schon, Staberl?«
Staberl, froh, nach einer Stunde Fußmarsch eine kleine Rast einschalten zu können, setzte sich gleich auf einen Baumstamm, den der Frühjahrssturm umgerissen hatte, und machte eine einladende Handbewegung.
»Setz dich, Herr Förster.«
Er duzte eigentlich jedermann, und niemand nahm es ihm übel.
»Ich bin so frei«, lachte der Förster Hagendorn und setzte sich neben den Staberl. »Wo mußt denn hin?«
»Ach, zur Rumplin rauf.« Staberl riß einen Fetzen Rinde von dem Baumstamm, auf dem sie saßen.
»Da schau her, elendig muß der Stamm verfaulen, da am Boden. Aber wehe, wenn ich ihn heimfahre! Dann seid ihr gleich wieder da mit Forstfrevel.«
Der Förster kramte in seiner Tasche nach einem Zigarrenstummel und zündete ihn an.
»Jetzt machst aber einen Punkt, Staberl. Kein Mensch sagt was, wenn du dir ein dürres Trumm aus dem Wald holst. Schließlich hab ich ja auch ein Herz im Leib, und auch im Forstamt weiß man, daß du neun Kinder hast –«
»Zehne werden es jetzt«, unterbrach ihn der Staberl.
»Was! Schon wieder eins?«
»Die Hauptsach ist, daß sie gesund sind.«
»Da hast recht. Ich hab bloß zwei gehabt, und davon ist mir eins gestorben. Aber um noch mal darauf zurückzukommen, Staberl: Es waren keine dürren Stangen, die du umgehackt hast, sondern grüne, und grad die längsten und schönsten.«
Staberl nickte zustimmend. »Das war damals, als ich meinen Schuppen angebaut hab.«
»Und dann darfst auch nicht vergessen, daß nicht wir vom Forst dich angezeigt haben, sondern die Gendarmerie. Wieviel hast damals eigentlich gekriegt?«
»Acht Tag oder hundertfünfzig Mark Geldstraf. Aber das Geld hab ich nicht gehabt.«
Es war feierlich still ringsum. Kaum fünfzig Schritt von ihnen äste ein Rudel Rehe auf einer Lichtung, hinter ihnen plätscherte ein Bach, und in den Zweigen der Lärchen strich leiser Wind.
»Wie oft bist du eigentlich schon eingekastelt gewesen, Staberl?« fragte der Förster nach einer Weile.
Staberl schaute in den verschleierten Himmel hinauf. »Da muß ich erst einmal nachdenken. Also, da wären einmal die vier Wochen wegen Körperverletzung. Das liegt aber schon lang zurück. Ich war noch ledig damals, und man hat mich die vier Wochen völlig unschuldig eingesperrt.«
»Umsonst wird man doch nicht eingesperrt!«
»Ja, hab ich auch gemeint. Das war bei einer Rauferei in Roding draußen. Ich streck bloß meine Faust kerzengerad raus, und so ein Depp rennt mir hinein, und hernach haben ihm sechs Zähn gefehlt.«
»Aha«, meinte der Förster und schmunzelte, »ich kann mir genau vorstellen, wie das war.«
»Ja, und dann ein paarmal wegen einem Hasen«, erzählte der Staberl lustig weiter. »Und da bin ich auch einmal umsonst gesessen. Gewiß wahr, ich mein, ich seh ihn heut noch – ein Prügelhas ist es gewesen. Schnurstracks will ich in mein Häusl reinrennen, ich will noch schnell die Haustür zuschlagen, da war sein Kopf dazwischen, und hin war er.«
»Ja, das weiß ich noch«, lachte der Förster. »Aber vorm Gericht haben sie dir das nicht geglaubt. Da war doch aber noch einmal ein Has?«
»Stimmt. Das hab ich auch gleich zugegeben. Ich hätte damals bloß nicht auf die Stimme Gottes hören sollen.«
»Jetzt hör aber auf! Den Herrgott mußt schon aus dem Spiel lassen, Staberl.«
»Aber es war damals so. Mir hat geträumt, daß der liebe Gott zu mir gesagt hat, Staberl, geh raus in deinen Garten, da sitzt ein Haserl. Es ist so kalt draußen, laß ihn doch rein in dein Häusl, daß er nicht erfriert. Damals hat selbst der Richter gesagt, er wüßte nicht, ob er nicht auch so gehandelt hätte.«
Der Förster legte begütigend seine Hand auf die Schulter des Staberl.
»Das ist alles nicht so schlimm, Staberl. Wenn es keine ärgeren Spitzbuben auf der Welt gäbe, wäre es gut bestellt.«
Das sagte er aus voller Überzeugung, weil er wußte, welch ein gutmütiger und braver Kerl dieser Schuster mit seinen neun Kindern war. Der Förster Hagendorn war ein Mensch mit Herz, der wußte, was Not ist, die Not des Herzens und des Leibes, und er wußte auch, daß der Staat nicht ärmer wurde, wenn im Wald ein paar Häslein weniger herumsprangen oder im Herbst den Bauern die Krautköpfe annagten. Nur der Ordnung halber sagte er jetzt:
»Kann ich einmal in deinen Rucksack reinschaun, Staberl?«
»Aber gern, Förster.« Eilfertig schnürte er ihn auf. Was gab es da schon zu sehen! Ein paar Schusterahlen, Hammer, Zangen, etwas Leder. Mehr nicht.
»Hast gemeint, ich hätt ein Gewehr drinnen?« fragte der Staberl und blinzelte dabei.
»Das nicht, aber vielleicht eine Schlinge. Doch ich seh schon, Staberl, du bist auf dem Weg der Besserung.«
Staberl legte den Kopf zurück und sah zu den feinen Zweigen der Lärchen auf, die schon gelblich schimmerten.
»Und weißt du, warum, Förster? Weil meine Kinder größer werden und ich nicht haben will, daß sie sich ihres Vaters schämen müssen.«
Nachdenklich schaute Hagendorn in das Gesicht seines Nachbarn, weil man ja beim Staberl nie recht wußte, ob er es im Ernst oder Spaß meinte. Diesmal war das Gesicht mit den vielen Fältchen um die Augenwinkel ohne jede Listigkeit.
»Ja, ich glaub dir, Staberl. Und man hört allgemein, daß deine Kinder so anständig und brav sind.«
»Wo sollen sie denn auch hingeraten?« meinte der Staberl und hatte schon wieder die Lachfältchen um seine Mundwinkel. Dann stand er auf. »Jetzt muß ich aber schaun, daß ich raufkomm. Der Geizkragen da droben ist fähig und zieht mir die Vormittagsbrotzeit ab, wenn ich um eine halbe Stunde später komm. Servus, Förster!«
»Servus, Staberl. Und den Baumstamm da, den kannst du dir mit meiner Erlaubnis holen.«
Der Staberl hatte immer noch eine gute Stunde zu gehen, auch wenn er die verschiedenen Abzweigungen nahm und manchmal eine Geröllhalde hinaufkraxelte, die seinem Fünfziger ein wenig zu schaffen machte.
Endlich kam der Einödhof in Sicht. Nur mehr ein paar Wegkrümmungen hatte er zu nehmen, dann stand er vor dem etwas heruntergekommenen Hof der Witwe Ursula Scherer, genannt die Rumplin.
Als die Rumplin die Schritte hörte, kam sie gleich zur Haustüre heraus. Sie war eine große, zaundürre Sechzigerin mit einem Spitzmausgesicht mit ein paar flinken, mißtrauischen Augen unter buschigen Brauen.
»Ah, der Staberl ist auch schon da«, sagte sie mit ihrer hohen Fistelstimme und schaute auf die Sonnenuhr, die zwischen Haus und Stall hingemalt war.
»Jawohl, ich bin auch schon da«, antwortete der Staberl. »Und Hunger und Durst hab ich auch gleich mitgebracht.«
»Das könnt dir so passen. Es ist schon neun Uhr, und bis jetzt hast noch nichts gearbeitet.«
»Dann laß es bleiben«, trotzte der Staberl, ging an den Brunnen und trank, um seinen Durst zu löschen.
Fünf Minuten später saß er vor einem Berg von Schuhen in einer kleinen, muffigen Kammer, die sie die Geschirrkammer nannten. Dort hingen neben alten, zerfransten Pferdekummets auch die beiden schönen, mit Messing beschlagenen Pferdegeschirre, die man zur Leonhardifahrt brauchte.
Die Schuhe, die es zu flicken galt, waren zum Teil noch mit Mist und Erde behaftet, und der Staberl, der es immer mit der Reinlichkeit hielt, warf sie der Rumplin vor die Füße.
»Den Dreck hätte man schon abwaschen dürfen.«
Die Rumplin rief nach einer Magd, damit sie die Schuhe abwasche, beschloß aber gleichzeitig, den Schuster für seine Aufsässigkeit zu strafen und ihm zum Mittagessen nicht, wie geplant, Rauchfleisch mit Kraut und Knödeln vorzusetzen, sondern nur roggene Schmalznudeln mit verdünntem Apfelmus.
Sebastian Staberl wurde nicht in zwei Tagen fertig, sondern brauchte einen dritten dazu. So gegen drei Uhr nachmittag packte er sein Werkzeug ein und machte sich darauf gefaßt, daß es nun mit der Rumplin wieder zu einer Auseinandersetzung käme, wenn er seinen Lohn forderte.
Wie ein Wunder aber war die Rumplin die Freundlichkeit selber, lächelte ihn mit schiefem Mund an, bezahlte anstandslos, was er verlangte, und sagte:
»Wart, ich richte dir gleich noch eine gute Brotzeit her. Aber da fällt mir grad noch was ein, du könntest mir einen großen Gefallen tun, Staberl.«
»Um was geht’s denn?«
»Ja, weißt, an unserm Kamin oben sind seit dem Frühjahr ein paar Ziegelsteine ausgebrochen. Die könntest mir leicht aufsetzen. Zement wär schon soviel da, und Sand auch.«
Mißmutig blinzelte der Staberl in das Gesicht der Rumplin, das er eigentlich nie eines solch zuckersüßen Lächelns für fähig gehalten hätte. »Ich bin doch kein Maurer«, meinte er in einem Ton, der deutlich nach Ablehnung klang.
Die Bäuerin setzte sich zu ihm auf die Bank. »Gibt es denn überhaupt etwas, das du nicht kannst?«
Das schmeichelte ihm nun doch ein wenig.
»Du kriegst dann extra was Gutes zur Brotzeit«, versprach sie ihm.
»Also dann«, gab er nach und stand auf.
»Weißt, ein Kreuz ist es schon, wenn kein richtiges Mannsbild im Haus ist. Mein Knecht, der Ferdl, ist schon zu alt und traut sich nicht mehr raut aufs Dach«, erklärte die Rumplin noch und begleitete ihn hinaus in den Schuppen, wo Sand und Zement lagen.
Der Staberl richtete sich einen Kübel voll Zementmörtel her, packte ein halbes Dutzend Klinkersteine in den Rucksack und ließ sich von der Bäuerin zum Dachboden hinaufbegleiten. Er hing ein paar Schindeln aus und stieg auf das Dach, besah sich den Schaden und rief dann durch die Lücke herunter:
»Das werden wir gleich haben. Gib mir jetzt den Kübel rauf.«
Es war wirklich kein Kunststück, die paar Steine aufzumauern. Als er wieder einmal durch die Lucke schaute, merkte er, daß die Rumplin ihn allein gelassen hatte. Wahrscheinlich richtet sie jetzt die gute Brotzeit her, dachte er.
Nach einer halben Stunde war er fertig, hängte die Schindeln wieder ein und sah sich auf dem Dachboden ein wenig um. Wie Kraut und Rüben lag hier alles durcheinander. In der einen Ecke stand eine alte Wiege, die die Rumplin nie gebraucht hatte. Alte Bettläden lagen herum, ein paar Strohsäcke, ein altes Jagdgewehr und ein Spieß. Alles war von Spinnweben überzogen.
Er wollte schon hinuntergehen, als sein Blick auf eine kleine eiserne Tür fiel, die nur angelehnt war. Ach, die Selch, dachte er und zog das Türchen weiter auf, steckte den Kopf hinein und blinzelte hinauf. Da hingen sauber nebeneinandergereiht mindestens dreißig Stück Rauchfleisch im Kamin.
Schon wollte er die Tür wieder schließen, als er auf dem Boden der Selch ein recht manierliches Stückchen Rauchfleisch sah, das heruntergefallen sein mußte.
Nein, dachte er, vielleicht hat mir die Rumplin eine Falle gestellt, doch er schob den Gedanken rasch beiseite. Es konnte wirklich heruntergefallen sein.
Einen Augenblick stritt das Für und Wider in ihm. Dann stellte er sich vor, wie er drunten in seinem Häuschen saß und auf einem Holzbrett ganz dünne Scheiben von dem Geselchten abschnitt und in den Mund schob. Auch die Kinder durften zulangen und die Mutter.
Er überlegte, wie er das Stück unbemerkt hinunterbringen und in seinem Rucksack verstauen könnte. Aber gewiß lief ihm die Rumplin dabei über den Weg.
Nein, das mußte er schon anders machen. Er suchte nach einer Schnur und band das Rauchfleisch dann an seinem Hosenträger fest und ließ es innen am Hosenbein hinunterhängen.
So kam er ungeschoren hinunter. Die Rumplin stand dann auch wirklich drunten im Gang und sah ihm entgegen, wie er die Stiege herunterkam.
»Schon fertig?« fragte sie. »Ich hab ja gewußt, daß du es kannst. Jetzt komm nur gleich rein in die Stube zur Brotzeit.«
Ausnahmsweise hatte sie diesmal nicht zuviel versprochen. Der Staberl bekam tatsächlich eine Maß gutes Bier, ein Stückchen Rauchfleisch und sogar Butter zum Brot. Es genierte ihn nur, daß die Rumplin ihm gegenübersaß und jeden Bissen verfolgte, den er in den Mund schob, so als reue es sie, ihn zum Essen eingeladen zu haben. Dazwischen fragte sie:
»Wie viele Kinder hast jetzt eigentlich?«
»Neun.«
»Und ich hab gar keins! Wie heißen sie denn?«
Staberl nahm einen tiefen Schluck aus dem Maßkrug und wischte sich die Tropfen aus dem Bart. »Da ist einmal der Älteste, der Michel, dann kommt die Martha, der Anderl, die Agnes, die Burgl, der Albin, die Mechthild, das Annerl und der Aloisi.«
»Fünf Dirndln also und vier Buben. Ist schon eine Aufgab, soviel Kinder zu ernähren. Na ja, du hast ja zur rechten Zeit was gestohlen«, stellte die Rumplin mit schonungsloser Offenheit fest.
Dem Staberl standen plötzlich ein paar Schweißtropfen auf der Stirn. Es fiel ihm das Stückl Rauchfleisch ein, das an seinem Hosenträger hing.
»Ich hab überhaupt nie in meinem Leben was gestohlen. Die paar Hasen sind mir zugelaufen, und das hätte sich leicht mit Geld abmachen lassen, aber das hab ich nicht gehabt, und so hab ich halt ein paar Tag dafür gebrummt.«
Er trank den Rest seines Bieres aus und stand auf. In diesem Augenblick passierte es. Die Schnur riß, und das Stückl Geselchte rutschte hurtig zum Hosenbein hinunter.
Da lag es, länglich und schwarz, mitten auf dem Stubenboden der Rumplin.
Mit einer Schnelligkeit, die man ihr gar nicht zugetraut hätte, bückte sich die Bäuerin und hob es auf.
»Aber Staberl!« sagte sie, und ihre Stimme war ganz dunkel vor Traurigkeit. »Er kann es halt nicht lassen.«
Da sie eine fromme Person war, wollte sie ihn nicht anzeigen. Nein, sie versprach sich eine viel bessere Wirkung, wenn sie ihm eine Moralpredigt hielt. Das aber brachte den Staberl erst so richtig in Harnisch.
»Du Geizkragen!« schrie er. »Hast ja noch eine halbe Sau droben hangen! Dann friß es halt selber! Aber Bauchweh sollst kriegen!«
Daraufhin beschloß die Rumplin doch, ihn anzuzeigen.
Nun wurde es endgültig Herbst. Die Schwalben zogen fort, das Laub wurde immer farbiger, die Blumen verblühten bis auf die Astern und die Herbstzeitlosen. Von den Almen wurde das Vieh heruntergetrieben. Dann kamen ein paar Tage mit heftigem Wind, der das Laub von den Bäumen riß. Die ganze Landschaft wurde ein bißchen öd und traurig.
Ähnlich sah es im Herzen des Schusters Sebastian Staberl aus, seit er wußte, daß die Rumplin ihn angezeigt hatte. Noch nie in seinem Leben war eine Anzeige wegen Diebstahls gegen ihn gelaufen. Ja, er erlebte eine schwere Zeit, der gute Sebastian, und war ängstlich darauf bedacht, daß bloß die Kinder davon nichts erfuhren, und er erlebte wieder einmal, welch eine prächtige, tapfere Frau er hatte. Sie versuchte seine düsteren Gedanken zu verscheuchen, legte ihm ihre abgearbeitete Hand aufs schütter gewordene Haar und sagte:
»Du darfst jetzt nicht so schwarzsehn, Wastl. Was ist denn schon so ein Brückerl Rauchfleisch? Du hast es ja gefunden!«
»Ja, aber der Geizkragen da droben behauptet, ich hätte das Türl zur Räucherkammer aufgebrochen. Und das nennen sie in ihrer Paragraphensprache erschwerten Einbruchdiebstahl.«
»Aber du hast es doch nicht aufgebrochen? Schau mir einmal in die Augen, Wastl. Hast du es aufgebrochen?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Ach, woher denn. Die Tür war bloß angelehnt. Wenn sie mich nicht so traktiert hätte, daß ich den Kamin ausbessere, war ich überhaupt gar nicht dorthin gekommen.«
»Jetzt tu dich nicht kränken, und laß die Sach einmal ganz ruhig herankommen. Es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«
Durch solches Zureden wurde er wieder ruhiger. Man brachte ihm Schuhe ins Haus, und man rief ihn auf die Höfe. Das Vertrauen zu ihm war nirgends erschüttert. Der Dollinger kam und wollte unbedingt den Michael, der ja jetzt mit der Schule fertig war, auf seinen Hof in Dienst nehmen und fragte zugleich auch, wie es denn im Jahr darauf mit der Martha wäre. Seine Bäuerin lege großen Wert darauf, das Mädchen ins Haus zu bekommen. Nein, nirgends ein Mißtrauen gegen die Staberl.
Michael wurde Jungknecht beim Dollinger. Aber es war merkwürdig bestellt um diese Staberlsippe. Statt froh zu sein, aus der Armut herauszukommen, ging Michael die ganzen Tage mit bleischwerem Herzen umher. Statt froh zu sein, daß endlich eins von den neun wegkam von Tisch und Schüssel, weinte die Mutter leise vor sich hin, als sie die Wäsche für ihren Ältesten zusammenrichtete, so als ziehe er in die weite Welt, und es gäbe vielleicht jahrelang kein Wiedersehen mehr. Dabei ging der Michel doch nur ins Dorf zum Dollingerbauern, von dem bekannt war, daß er seine Leute gut behandelte, daß er guten Lohn zahlte und das Essen ausreichend war.
Aber diese Staberl hatten ein tiefverwurzeltes Zusammengehörigkeitsgefühl. Gerade jetzt, wo die Abende wieder lang geworden waren und der Vater über Land war auf irgendeinem der Höfe im weiten Umkreis. Da hockten sie alle, kaum daß die große Schüssel mit dem Polentabrei geleert war, wie die Küken um eine Henne um die Mutter herum, die im Ofenwinkel saß und ihnen aus einem uralten Buch noch ältere Märchen vorlas.
Ihre Stimme war dunkel und zärtlich. Und manchmal, wenn Amalie flüchtig aufblickte, konnte sie sehen, wie die Augen der Kinder an ihren Lippen hingen. Sie sah das Gesicht Michaels mit der strengen Falte zwischen den Augen, das schöne, helle Antlitz der Agnes, das runde, gesunde der Martha und das des kleineren Aloisius, der seinem Vater am ähnlichsten war. Dahinter leuchtete der helle Haarschopf des Andreas, die Stirn der Mechthild und wie sie noch alle hießen.
Es lag wie eine Verzauberung über der kleinen, ärmlichen Stube. Das Feuer brannte im Herd, und die Uhr tickte die Sekunden. Als es auf neun Uhr zuging, schloß die Mutter wie immer das Buch.
»So, jetzt ins Bett. Der Strom kostet Geld.«
Dann erhob sich die helle Stimme der Mechthild und bettelte:
»Erzähl uns das wieder einmal, Mutter – das vom Vater…«
Oh, wie oft hatte sie es schon erzählt. Es klang in den Verwandlungen schon bald wie eine Mär, und vielleicht hatte Frau Amalie es auch längst vergessen, daß sie einst einen Prinzen über das Gebirge hatte wandern lassen. Aber dann hatten die Kinder erkannt, daß ihr Vater gemeint sei, so daß mit der Zeit eigentlich nichts mehr übriggeblieben war als ein Wanderbursche namens Sebastian Staberl, der vor vielen Jahren einmal über das Gebirge gekommen war und hier an diesem Häuschen angeklopft und um eine Nachtherberge gebeten hatte.
»Und du bist unter der Haustür gestanden, als er über den Hang herunterkam?« fragte die kleine Anna, weil ihr das in der Erzählung noch fehlte.
Auch dieses Bild hatte sieh langst abgeschwächt. Vom Gold der Abendsonne umflossen, war früher der fremde Wanderer vom Berg niedergestiegen, jetzt war es schon ein trüber, regnerischer Tag geworden, der vielleicht mit der Grund war, daß man dem durchnäßten Wandergesellen einen Unterschlupf gewährte und ihn nicht weiterschickte.
»Und darum war es ein Glück, daß es regnete, sonst hättet ihr ihn weitergeschickt, und er wäre nicht unser Vater geworden.«
Das war Agnes, die diese Feststellung machte, und ihr schmales Gesicht leuchtete dabei.
»Ja«, sagte die Mutter. »Sonst wäre er nicht euer Vater geworden.«
»Es muß schön sein, wenn man auf keinen zu warten braucht, sondern wenn ganz einfach ein Mensch im goldenen Abendrot oder im grauen Regen kommt.«
Wieder war es die Agnes, die diese merkwürdigen Gedanken aussprach. Sie war erst Dreizehn, aber wohl das geistig reifste Kind unter den neun. Sie lebte oft wie im Märchen und war doch eingeschlossen in diesen Kreis der Armut, verflochten mit dem Band, das die Geschwister, den Vater und die Mutter so verläßlich umschloß und sie zu einer Gemeinschaft machte, in der eins am anderen mit tiefer Liebe hing und sich einer auf den anderen verlassen konnte.
Nach all dem, nach der Wärme in der ärmlichen Stube, nach dem Stundenschlag der alten Uhr, nach der dunklen, zärtlichen Stimme der Mutter, ja selbst nach den wunderlichen Fragen der Agnes hatte der Michael, als er beim Dollinger eingestanden war, eine schmerzhafte Sehnsucht.
Am Anfang kam er fast jeden zweiten Abend, um bei ihnen zu sitzen, damit sie nicht den Gedanken in sich aufkommen lassen könnten, daß er ausgebrochen sei aus diesem Kreis und nicht mehr dazu gehöre.
Erst allmählich, nach Wochen, wurde es besser. Er kam dann nur mehr am Sonntagnachmittag und schließlich nur mehr alle vierzehn Tage.
Niemand verlor ein Wort darüber, aber Frau Amalie lächelte manchmal ein bißchen traurig vor sich hin.
Ja, ja, so war es. Die Kinder wurden groß und gingen aus dem Haus. Das war schon immer so. Das war der Sinn des Lebens, dem man sich beugen mußte.
Nur sie hatte sich nicht gebeugt. Sie war nie aus dem Haus gegangen. Sie hatte dazusein für den gelähmten Vater, nachdem die Mutter gestorben war. Und als dann nach Jahren auch der Vater starb, ja, da hatte sie dazusein für Sebastian Staberl, der seine Stelle beim Schuhmachermeister Blindhuber in Burgham aufgegeben hatte und ihr Mann geworden war.
Es war schon Advent geworden, als im Amtsgericht der Kreisstadt die Verhandlung gegen den Schuster Sebastian Staberl wegen Einbruchdiebstahls stattfand.
Der Zuhörerraum war brechend voll, und die Rumplin ließ ihre flinken Äuglein ängstlich umherschweifen, denn sie wußte genau, daß von all den Bauern, die da hinten so dichtgedrängt saßen, keiner auf ihrer Seite stand, sondern daß man ihr sogar verübelte, den Schuster angezeigt zu haben.
Auch der Richter sah nicht so aus, als ob er dem Staberl weh tun wollte. In seinen Augen war ein freundlicher Schimmer, als er den Angeklagten ansah.
Zeugen hatte die Rumplin nicht. Dafür hatte der Staberl gleich vier, die für ihn aussagen wollten.
Zuerst wurde die Rumplin aufgerufen.
»Sie heißen Ursula Scherer und sind die Rumplbäuerin?«
»Ja, die bin ich.«
»Geboren?«
»Am dreiundzwanzigsten März 1899. Und ich bin eine ehrbare Witwe und brauch mir doch von dem nicht meine Räucherkammer ausräumen lassen.«
»Das kommt doch alles später. Gehen Sie jetzt hinaus und warten Sie, bis Sie gerufen werden. – Sind die Zeugen da? Bruckmayer, Dollinger, Angerer und der Gendarmeriewachtmeister Huber?«
Nach der Personalienaufnahme wurden auch sie hinausgeschickt. Dann wandte sich der Richter an den Staberl.
»So, Herr Staberl, nun kommen Sie einmal her zu mir. Sie heißen Sebastian Staberl und sind Schuhmacher?«
Der Staberl hatte einen schwarzen Anzug an, hatte sich sogar die Haare schneiden und den Bart stutzen lassen und sah recht manierlich aus. Wie ein Unschuldslamm stand er da, die Augen treuherzig zum Richter aufgehoben.
»Sie sind verheiratet und haben wieviel Kinder?«
»Neun, Herr Richter.«
»Und Sie haben für alle neun noch zu sorgen?«
»Nein, für den Michael nimmer. Der ist seit ein paar Monaten beim Dollinger.«
»Aha! Sind Sie vorbestraft?«
»Vorbestraft?« Der Staberl blinzelte ein wenig. »Ja, das heißt, vorbestraft kann man eigentlich nicht sagen. Ich hab halt das Geld nicht gehabt, daß ich die Straf hätte bezahlen können.«
»Das ist gleich.« Der Richter blätterte in seinen Akten. »Immerhin, die Vorstrafen fallen kaum ins Gewicht, oder wollen wir so sagen, sie sind nicht nennenswert. So – und nun zum Eröffnungsbeschluß, der lautet: Sebastian Staberl, verheirateter Schuhmacher aus Burgham, erscheint hinreichend verdächtig, am sechzehnten September dieses Jahres einem andern, in diesem Falle der Rumplbäuerin Ursula Scherer, fremde, bewegliche Sachen unter erschwerenden Umständen im Werte von etwa neun Mark entwendet zu haben. Was haben Sie darauf zu erwidern?«
Der Staberl trat von einem Fuß auf den anderen, schaute eine Weile in seinen Hut, den er in den Händen drehte. Dann hob er wieder den Kopf.
»Also das mit den erschwerenden Umständen, das stimmt auf keinen Fall niemals nicht.«
»Einen kleinen Moment, Herr Staberl. Die Anklage geht von der Annahme aus, daß Sie mit einem Schlüssel oder einem Dietrich die eiserne Tür zur Räucherkammer geöffnet haben.«
»Ja, das sagt sie, die Haberngeiß!«
»Staberl, Sie dürfen hier vor Gericht niemanden beleidigen. Sie behaupten also, die eiserne Tür sei offen gewesen?«
Der Staberl spreizte ein Bein vor und legte drei Finger aufs Herz. »Herr Richter, der Teufl darf mich vom Platz wegholen, wenn das Türl zugesperrt war! Wenn ich Ihnen sag, es war offen, dann war es offen.«
»Also gut, nehmen wir einmal an, es war offen oder nur angelehnt. Wo befand sich also das Stück Rauchfleisch?«
»Es lag herunten am Boden, unterm Ruß. Ich hätt es ja bald nicht gesehn.«
Dabei blieb der Staberl trotz der verschiedenen Fangfragen, die an ihn noch gerichtet wurden. Dann durfte er sich setzen. Die Rumplin wurde hereingerufen und vom Richter zunächst darauf aufmerksam gemacht, daß sie nach bestem Wissen und Gewissen jetzt die volle Wahrheit sagen müsse.
»Sie bleiben also dabei«, begann der Richter, »daß die Türe zur Räucherkammer oder zur Selche, wie man so sagt, versperrt gewesen ist.«
»Die hab ich zugesperrt, das weiß ich gewiß.«
»Auf welche Art und Weise? Mit einem Vorhängschloß oder mit einem Schlüssel?«
»Mit einem Schlüssel.«
»Und Sie meinen, daß der Angeklagte Ihnen den Schlüssel entwendet haben konnte?«
»Oder er hat mit einem Dietrich aufgesperrt.«
»Das vermuten Sie, aber einen Beweis haben Sie nicht? Kann es nicht vielleicht so gewesen sein, daß Sie vergessen hatten, abzusperren? Und warum sperrten Sie eigentlich ab? Dachten Sie denn, daß Ihre eigenen Leute etwas stehlen würden?«
Die Rumplin nickte eifrig. »Heutzutag darf man niemandem trauen. Und überhaupt hab ich gewußt, daß der Kaminkehrer auch um diese Zeit kommt. Da hat mir schon einmal einer eine geräucherte Zunge mitgehn lassen.«
»Warum haben Sie dann das nicht angezeigt?«
»Weil ich es nicht hab beweisen können.«
»Aha. Aber bei dem Angeklagten meinen Sie, es beweisen zu können?«
»Ja, natürlich. Ist ihm ja bei der Hosen rausgefallen, grad wie er hat gehn wollen.«
»Weil das damische Schnürl abgerissen ist«, schrie der Staberl von seiner Bank her.
Die Zuhörer lachten laut, und selbst der Richter nahm sein Taschentuch zu Hilfe, um unbemerkt schmunzeln zu können. Dann klopfte er mit dem Knöchel der rechten Hand auf den Schreibtisch und verschaffte sich Ruhe.
»Jetzt passen Sie einmal auf, Frau Scherer. Ls hängt sehr viel für den Angeklagten davon ab, ob nun wirklich abgesperrt war oder nicht. Besinnen Sie sich ganz genau. Können Sie vielleicht nicht doch einmal vergessen haben, abzusperren?«
»Das glaub ich nicht.«
»Sie glauben das nicht. Aber es könnte doch sein?«
»Nein, das kann nicht sein, weil ich doch schon wegen dem Kaminkehrer –«
»Ja, ja, das wissen wir schon. Und nun hören Sie einmal gut zu, Frau Scherer. Wenn die Tür nämlich nicht zugeschlossen war, dann hätte der Angeklagte das Stück Rindfleisch wirklich nur gefunden, dann käme höchstens versuchte Fundunterschlagung heraus. Nachdem Ihnen aber überhaupt kein Schaden entstanden ist, Sie selbst aber den Wert des Gegenstandes nur mit acht Mark sechzig angegeben haben, wäre unter Umständen schon zu erwägen, ob Sie wegen der Geringfügigkeit die Anzeige nicht zurückziehen sollten.«
Einen Augenblick besann sich die Rumplin. Dann warf sie den Kopf zurück.
»Was? Zurücknehmen? Ja freilich, sonst nichts mehr! Zuerst laß ich mich von dem Bazi eine dürre Haberngeiß nennen, und was er mir sonst noch gewunschen hat, das mag ich gar nicht sagen. Nein, der soll nur wissen, daß man eine ehrliche Witwe nicht beleidigen darf. Nein, ich mag nicht.«
»Dann lassen Sie es bleiben. Den Zeugen Bruckmayer, bitte!«
Der Bruckmayer hörte sich mit schiefgehaltenem Kopf die Belehrung an, daß er die volle Wahrheit zu sagen habe, und schneuzte sich zuerst heftig, bevor er auf die Frage Antwort gab, was er überhaupt vorzubringen habe.
»Ja, das ist nämlich so, indem daß ich überhaupt nicht glaube, daß der Staberl was stiehlt und daß er ein grundehrlicher Mensch ist.«
»So? Und wie wollen Sie das begründen?«
»Weil ich einmal meinen Geldbeutel verloren hab, und indem daß ihn der Staberl gefunden hat, ist nicht ein Pfennig abgegangen. Er hat mir den Geldbeutel ins Haus gebracht, und es hat genau gestimmt.«
»Sie wollen also damit sagen, daß der Angeklagte ein ehrlicher Finder gewesen ist.«
»Ja, da fehlt sich durchaus überhaupt gar nichts.«
»Und zur Sache selbst wissen Sie gar nichts zu sagen?«
»Nein, da weiß ich gar nichts, bloß daß die Rumplin bekannt ist, was sie für eine ist.«
»Das gehört nicht hierher. Der nächste Zeuge bitte!«
Auch der Dollinger strich den Staberl heraus und stellte ihn als Engel hin.
»Haben Sie vielleicht auch einen Geldbeutel verloren?« fragte der Richter.
»Nein, aber wir haben ihm aufgerichtet.«
»Was haben Sie? Ihm aufgerichtet? Wie meinen Sie denn das?«
»Na ja, der Staberl war bei uns auf dem Hof, drei Tag lang, und da hat ihm meine Bäuerin absichtlich etliche Markl hingelegt auf den Küchenkasten, daß er es hat sehen müssen.«
»Ach so, jetzt verstehe ich. Sie haben ihm sozusagen eine Falle gestellt.«
»Ganz richtig, Herr Richter. Schön langsam kommen wir schon zusammen, gelt?«
»Na ja, so begriffsstutzig bin ich ja wieder nicht«, meinte der Richter ironisch. »Warum taten Sie das eigentlich?«
Breitbeinig stand der Dollinger da, bohrte den Daumen seiner Rechten in die Westentasche und schlenkerte in der anderen seinen Hut.
»Also erstens einmal, weil ich nicht hab glauben können, was die Rumplin da umeinandergeschrien hat. Sie, Herr Richter, die sollten Sie näher kennen! Die schindet die Maus noch um den Balg.«
»Zeuge, das interessiert das Gericht in keiner Weise. Sie sagten: Erstens. Und zweitens?«
»Zweitens hab ich doch den Buben vom Staberl, den Michael, in meinen Dienst genommen.«
»Aha, ich verstehe. Und da wollten Sie sich erst überzeugen, ob der Dingsda – wie heißt er gleich wieder?«
»Der Michel sagen wir.«
»Da wollten sie sich also überzeugen, ob der Vater des Michel ehrlich ist.«
»So ungefähr.«
»Wie lang lag denn das Geld auf dem Küchenschrank?«
»Drei Tag. So lang halt der Staberl im Haus war.«
»Und es hat nichts gefehlt?«
»Nicht einmal ein Fünfzigerl, Herr Richter. Ich sag Ihnen, der Staberl ist durch und durch ein ehrlicher Mensch. Der hätte lieber noch ein Markl hingelegt, als eins weggenommen. So ist der, ja.«
Nach dem Dollinger kam der Wachtmeister Huber. Der wußte aber auch nur das, was die Rumplin zu Protokoll gegeben hatte. Im übrigen schilderte auch er den Staberl als einen fleißigen und anständigen Menschen, bis ihn der Richter unterbrach.
»Also, so geht es ja auch nicht. Jeder der Zeugen stimmt ein Loblied auf den Angeklagten an. Es wird auch der nächste Zeuge nichts Wesentliches wissen, und ich glaube, wir können auf ihn verzichten.«
Wenn man nicht gewußt hätte, daß er der Richter war, hätte man meinen können, er wäre der Verteidiger des Staberl, so mild faßte er ihn an. Aber Gesetz war nun einmal Gesetz, und so meinte er dann, daß, wäre das Schnürchen nicht gerissen, der Angeklagte das Stück Rauchfleisch eben doch gestohlen und mit heimgenommen hätte. Immerhin, die Buße fiel recht mild aus: Sie lautete auf acht Tage Gefängnis oder achtzig Mark Geldstrafe, obwohl er ja kein ganz unbeschriebenes Blatt mehr war, der Sebastian Staberl.
Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen unter den Zuhörern. Nur die Rumplin machte ein zufriedenes Gesicht.
Weihnachten kam und ging vorüber. Es war ein strenger Winter dieses Jahr, in dem außer den hohen Festtagen nichts Tröstliches war.
Ein wenig bedrückt ging der Schuster umher, mit einem traurigen Herzen, aus dem keine Späße mehr kommen wollten, obwohl die Menschen des Dorfes hinter ihm standen und von einem Justizirrtum sprachen, wenn der Staberl für ein Stückchen Rauchfleisch gleich achtzig Mark bezahlen sollte. Der Dollinger wollte ihm den Betrag vorstrecken, ganz zinsenlos, und mit der Rückzahlung würde es gar nicht eilen. Aber der Staberl winkte ab und lächelte versonnen vor sich hin.
»Zahlen tu ich überhaupt nichts, und die acht Tag, die sitz ich leicht ab.«
Es waren ganz andere Dinge, die ihn bedrückten. Frau Amalie ging mit dem zehnten Kind, aber sie trug es diesmal nicht so leicht wie früher. Sie war ja auch nicht mehr so jung, und manchmal klagte sie über Müdigkeit und Schmerzen.
Wie sehr die Menschen ihm zugetan waren, bewies der Doktor Plauer, der jede Woche einmal hinaufging zum Staberlhäuschen und nach der Frau schaute, ohne dafür eine Rechnung zu stellen. Bisher hatte Frau Amalie nie einen Doktor gebraucht. Aber diesmal sah es ein wenig anders aus, und der Arzt schärfte dem Staberl ein, daß der ihn sofort holen müsse, wenn sich die ersten Anzeichen einstellten.
Um das Häuschen lag viel Schnee. Der Staberl konnte jetzt nicht zu den Höfen gehen. Er arbeitete daheim. Berge von Schuhen lagen da, und nebenbei hatte er die Ziegen zu melken, weil diese Arbeit, das tiefe Niederbeugen, für Frau Amalie bereits zu schwer geworden war.
Tagelang hing Nebel über dem Land. Man konnte die Berge nicht sehen, es war, als sei ein dichter Schleier vor das Goldene Horn gezogen. Wenn der Himmel einmal für ein paar Stunden aufriß, dann sah man nichts als ein unendliches Weiß über den Wäldern, den Wiesen, Feldern und den Bergen. Manchmal sah man dann auch die Rauchsäule eines Meilers aus den verschneiten Wipfeln aufsteigen, und dann wußte man, daß Thomas Odin, der Köhler, da oben in seiner Hütte noch lebte.
Zuweilen kam Odin aus dem verschneiten Wald herunter, ein Riese von Gestalt mit wildem Haar- und Bartwuchs. Ein schweigsamer Gesell, der still am Herd der Staberl sitzen konnte, die Hände mit den blauen Adern im Schoß gefaltet. Frau Amalie gab ihm manchmal ein Stückchen Ziegenkäse, er brachte dafür, was der Wald ihn finden ließ, und was vor allem für die Kinder gedacht war, ein Büschel Tannenzapfen, seltsam geformt, oder eine wunderlich verwachsene Wurzel. Er konnte noch ganz andere Märchen erzählen als Frau Amalie, düstere Geschichten, wie er sie dem Rauschen des Waldes oder dem Raunen des Bergwindes entnahm. Die Geschichte der steinernen Sennerin etwa oder die vom wilden Jäger, den Gott zu einem Berg erstarren ließ, weil er ein kleines Rehkitz lebendig am offenen Feuer gebraten hatte.
Um diesen Odin war etwas Rätselhaftes. Niemand wußte eigentlich, woher er gekommen war, oder wie alt er sein mochte. Es fiel nur auf, daß er eine gepflegte Sprache redete und um die tiefen Dinge des Lebens wußte, wenn er doch einmal das Schweigen brach und ins Reden kam.
»Eigentlich«, sagte er einmal, »könnte ich die acht Tage für dich absitzen. Ich hätte jetzt Zeit genug.«
Der Staberl schaute schnell und erschrocken auf. Gott sei Dank, die Kinder waren nicht in der Nähe, darum konnte er lächeln. »Das geht leider nicht.«
»Ja, ich weiß schon.«
Der Staberl klopfte eine Ledersohle auf einem Stein, den er zwischen den Knien hielt. Dann blickte er wieder auf.
»Warst du schon einmal eingesperrt, Odin?«
Odin senkte den Kopf. Sein Haar hing struppig in die Stirn herein. »Ja.«
»Mit allem Drum und Dran?«
»Ja, mit allem. Mit Tütenkleben, mit Hofrundgang und grauem Kittel.«
Der Staberl hätte nun fragen müssen, weshalb und warum. Aber in diesem Augenblick kam Frau Amalie herein, setzte sich auf die Bank und hielt mit verzerrtem Gesicht die Hände über den Leib.
Dann kam das Kind. Drei Tage lang mühte sie sich ab und machte es dem Doktor nicht leicht, das in die Welt zu bringen, was hernach klein und schwächlich, kaum fünf Pfund schwer, den Anspruch auf das Leben erhob.
Es war ein Mädchen, und sie tauften es Rosa.
Gerade um diese Zeit war es, als der Gendarmeriewachtmeister Vinzenz Ingerl durch den hohen Schnee zum Staberlhäuschen hinaufstapfte, um dem Schuster mitzuteilen, daß er jetzt seine Strafe antreten müßte.
Der Staberl kratzte sich hinterm Ohr und sah den Wachtmeister nachdenklich an. Dann öffnete er die Kammertüre weit. Da lag sein Weib, immer noch ein wenig erschöpft, in dem blaugewürfelten Bettzeug und hielt ihr neugeborenes Mädchen im Arm.
»Ich kann doch mein Weib jetzt nicht allein lassen«, sagte er. »Das mußt doch verstehn, Herr Wachtmeister.«
O ja, der Mann des Gesetzes verstand das ohne weiteres. Er war selber Familienvater. Er versprach, daß er einen entsprechenden Bericht einschicken und um Aufschub der Strafe nachsuchen werde.
So gingen die Wochen dahin. Im März fraßen zwei Tage Föhnwind allen Schnee weg und öffneten einem neuen Frühling das Tor.
Ach, es wurde wieder so schön in der Welt! Der Staberl hatte seinen goldenen Humor wiedergefunden. Das kleine Dirndlein gedieh wider Erwarten doch ganz prächtig, Frau Amalie ging wieder rank und schlank durch das Häuschen und achtete der grauen Haarsträhne nicht, die ihr die schwere Geburt hinterlassen hatte. Der Dollinger schickte den Michael mit zwei Pferden und dem Pflug herauf, daß sie die Kartoffeln einlegen konnten. Das Korn zeigte mit üppigem Sprießen, daß es den Winter gut überstanden hatte, und die Apfelbäume fingen zu blühen an.
Herrlich war dieser Frühling, der trunken von Blüten und Licht in den Sommer hineintaumelte. An manchen Tagen sah man wieder die Rauchsäule des Meilers kerzengerade in die Lüfte steigen, und die Bauern rüsteten wieder einmal zum Almauftrieb.
Um diese Zeit ließ der Oberamtsrichter Luger in der Kreisstadt einen Brief an den Gendarmerieposten Burgham schreiben, daß man jetzt sicherlich lange genug gewartet habe und der Schuhmacher und Kleingütler Sebastian Staberl seine Strafe anzutreten hätte.
Gendarmeriewachtmeister Ingerl traf den Staberl gerade, als er am Abend vom Horlacherhof heimging, auf dem er fast eine Woche lang gewesen war.
»Horch einmal, Staberl. Heut ist ein Schreiben gekommen. Es wird nicht viel Wert haben, noch mal einen Grund zu suchen. Sie wollen haben, daß du deine Strafe jetzt antrittst. Es sei denn, du würdest die achtzig Mark einzahlen.«
»Ausgeschlossen«, sagte der Staberl und rechnete nach. »Wo soll denn ich achtzig Mark hernehmen und nicht stehlen? Im übrigen – jetzt paßt es mir grad recht gut. Beim Horlacher bin ich heut fertig geworden, und zum Steinlechner geh ich halt dann erst in vierzehn Tagen rauf.«
»Dann könnten wir ja morgen gehn?« fragte der Wachtmeister.
»Warum, gehst du auch mit? Ich find schon allein hin.«
»Das hilft nichts. Ich muß dich schon vorführen, steht in dem Schreiben. Aber wir können das ganz einfach machen. Ich hol dich nicht daheim ab, sondern du bist um ein Uhr an der Kreuzung außerhalb Burgham. Da warte ich dann mit meinem Fahrrad auf dich.«
Der Staberl war sofort einverstanden. Schon wegen der Kinder. Die brauchten gar nichts zu wissen, wohin er in Wirklichkeit ging, und er erzählte dann daheim so beiläufig, daß es die Kinder hören konnten:
»Morgen geh ich zum Vetter Josef nach Flachshausen und werde wohl gute acht Tage aus sein.«
Frau Amalie hob schnell den Kopf und schaute ihn an. Sie wußte, was er damit sagen wollte. Es gab wohl einen Vetter Josef in Flachshausen, aber zu dem hatten sie schon seit Jahren keine Verbindung mehr. Als sie später allein in der Schlafkammer waren, sagte sie:
»Wenn wir es halt doch zahln täten, Wastl? Fünfzig Mark hätt ich schon auf der Seite.«
Ganz erschrocken richtete er sich in den Kissen auf. »Was dir nicht einfällt! Die Martha braucht ein paar neue Schuh und der Albin einen neuen Anzug, wenn er im Juli gefirmt wird. Nein, die acht Tag werd ich gleich hinter mir haben. Das ist gar nicht so schlimm.«
Es war dann so, daß der Staberl bei der Kreuzung ein wenig warten mußte, ehe der Gendarmeriewachtmeister mit seinem Fahrrad kam. Er stieg ab und lachte den Staberl ein bißchen süßsauer an, denn schließlich war es für ihn auch gerade kein Vergnügen, bei dieser Hitze den Fußweg von drei Stunden auf sich zu nehmen. Der Jüngste war er auch nicht mehr. Um nicht gar so schwitzen zu müssen, hatte er Zivil angezogen, einen leichten leinernen Trachtenjanker und einen grünen Filzhut, auf dem eine Bussardfeder im Wind fächelte. Das Fahrrad schob er neben sich her. Wenigstens konnte er dann heimwärts fahren.
Unbarmherzig schien die Sonne herunter. Kein Lüftchen wehte. Leichter Staub wehte hinter ihren Füßen auf. Nach etwa einer Stunde kam eine kleine Ortschaft mit einem Wirtshaus in Sicht. »Zum Fuchsloch« hieß die Wirtschaft, die so einladend neben der Straße stand, neben der Eingangstür lehnte eine große Tafel, auf der geschrieben stand: »Heute warmer Leberkäs.«
Der Staberl blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirne und seufzte tief.
»Wie war es denn? Kaufen wir uns eine Maß?«
Dem Ingerl lief das Wasser im Mund zusammen, aber er schüttelte den Kopf. »Geht nicht, Staberl. Geht leider nicht. Ich bin im Dienst.«
»Ja, aber das weiß doch niemand. Und man kann doch auch Durst haben, wenn man im Dienst ist, oder nicht?«
»Trotzdem, Staberl, es geht nicht.«
Der Staberl war ein bißchen gekränkt und ging weiter neben dem anderen her. Dabei grübelte er unablässig, wie er den Ingerl überreden könnt, wenigstens im nächsten Wirtshaus, an der Kreuzstraße, einzukehren. Diese drei Stunden Fußmarsch in der sengenden Hitze waren ja allein schon Strafe genug für ein windiges Stückl Rauchfleisch, das er gar nicht einmal gegessen hatte. Wieder einmal überkam ihn der Zorn gegen die Rumplin und auch ein klein wenig Groll gegen den Ingerl.
Auf einmal schien ihm das Richtige eingefallen zu sein. Er begann zu hinken, zuerst nur unbedeutend, dann, als der Ingerl es immer noch nicht wahrhaben wollte, stärker. Schließlich blieb der Ingerl dann doch stehen.
»Was hast denn auf einmal?«
»Der Schuh drückt! Ich kann nimmer laufen«, sagte der Staberl und setzte sich in den Straßengraben.
»Du freust mich! Lauf halt barfuß!«
Der Staberl tat ganz entrüstet. »Was glaubst denn du, Herr Wachtmeister! Wenn mir dann ein Staub reinkommt in die aufgeschabte Stelle, das könnte die schönste Blutvergiftung geben! Und das wirst du doch nicht verantworten wollen.«
Der Staberl stöhnte und jammerte ein bißchen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie das brennt.« Er riß einen Sauerampfer ab und steckte ihn in den Mund. Dann meinte er: »Ich wüßte schon was. Du fahrst mit dem Radl, und mich laßt hinten aufsitzen.«
Der Ingerl überlegte sich das zuerst eine Weile. Dann seufzte er: »Menschenskind, wenn uns jemand sieht! Das ist ja eine Blamage für mich. Schließlich bin ich ja Beamter.«
»Mit sicherer Pension«, ergänzte der Staberl und besann sich, daß er wieder einmal jammern müsse. »Kruzitürken, wie das brennt!«
Schließlich blieb dem Ingerl nichts anderes übrig, als in den Vorschlag des Staberl einzuwilligen. Er zog seinen Janker aus und legte ihn auf den Gepäckständer, damit der Staberl etwas weicher säße. Dann krempelte er seine Hemdärmel hoch.
»Packen wir es also. Aber daß du es niemandem erzählst, Staberl!«
»Ach, woher denn! Ich bin ja froh, wenn ich nimmer laufen muß. Ich werde dir das nie vergessen, Herr Wachtmeister. Wenn du einmal ein Paar Schuh zum Doppeln hast, der Staberl macht dir das gratis.«
Dann setzte er sich auf den Gepäckständer. Ein wenig umständlich kam der Ingerl auf das Rad, weil er es gewohnt war, von hinten aufzusteigen. Dann aber trat er wuchtig in die Pedale.
Der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen von der Stirne. Der Staberl aber saß gemütlich und betrachtete vergnügt die kleinen Schäfchenwolken, die über den Grat der Berge wanderten. Weit dehnte sich das Tal. Die Getreidefelder beiderseits der Straße standen unbewegt. Kein Lüftchen rührte die Ähren. Der Duft von frisch gemähtem Heu lag in der Luft, da und dort wurde es schon eingefahren. Eine Weile betrachtete der Staberl einen Habicht, der unbeweglich in der Luft zu stehen schien, ein silberner Punkt in der flirrenden Luft.
»Um die Natur ist es was Schönes«, sagte er laut.
»Ha?« schrie der Ingerl zurück.
»Die Natur mußt betrachten, Herr Wachtmeister!«
»Dazu hab ich jetzt keine Zeit.«
»Aber es ist was Herrliches, wenn man sieht, wie alles so blüht und reift. Das muß ein besserer Boden sein als bei uns in Burgham. Schau nur grad einmal die Kartoffeln an, wie die blühn! Wie ein Tulpenfeld in Amsterdam.«
»Warum, warst du vielleicht schon einmal in Amsterdam?«
»Ja, als ich auf der Walz war, als junger Kerl.«
Dann schwiegen sie wieder. Dem Ingerl tropfte der Schweiß auf die Lenkstange. Sein Atem ging schwer.
Der Staberl schaute einmal hinter dem Rücken des Strampelnden nach vorne und sah, daß das Wirtshaus »Zur Kreuzstraße« mit seinem schattigen Garten in Sicht kam. Rot schimmerten die Tische und Stühle unter den schattigen Kastanienbäumen.
Jetzt will ich doch sehen, ob er noch immer so streng im Dienst ist, dachte der Staberl und genoß es schon förmlich, wie ihm der erste Schluck Bier in die ausgedörrte Kehle rann.
Dann waren sie heran. Der Staberl versuchte sein Glück ein zweites Mal, klopfte dem Strampelnden auf den Rücken und sagte zu ihm:
»Wie wär’s, Herr Wachtmeister? Kaufen wir uns eine Maß?«
Kein Wort mehr vom Dienst. Der Ingerl trat auf die Bremse. Mit sonnigem Lächeln stieg der Staberl vom Gepäckträger. Aber als er das erschöpfte Gesicht des anderen sah, tat er ihm leid.
Der Ingerl lehnte das Rad an einen Kastanienbaum und schlüpfte in seinen Janker. Dann nahmen sie Platz. Der Staberl schnackelte mit den Fingern, die Kellnerin kam herbeigerannt.
»Zwei Maß Bier und zwei Steinhäger«, bestellte der Staberl mit großartiger Geste.
»Was, Schnaps?« regte sich der Ingerl auf.
»Du wirst doch nicht in die Hitz ’nein trinken«, belehrte ihn der Staberl. »Wenn man so schwitzt wie du, da muß man zuerst ein Stückl Brot essen oder einen Schnaps trinken. Laß dir von einem alten Praktiker was sagen. In die Hitz ’nein trinken ist schädlich, und bis du dich umschaust, hat es dich an der Lunge.«
Der Ingerl gab stillschweigend nach. Ihm war jetzt alles gleich, wenn er nur bald einen Schluck Bier bekam!
Die erste Maß rutschte wie von selber hinunter, auch die zweite ging schnell weg. Der Durst war jetzt gestillt, und der Herr Wachtmeister meinte, daß man es jetzt wieder packen könne.
Der Staberl verzog das Gesicht ein wenig. »Grad krieg ich einen Mordshunger. Wie war es denn mit einer kleinen Brotzeit, Herr Wachtmeister?«
Der Ingerl schaute auf die Uhr und nickte dann. »Wir sind ja noch gut bei der Zeit.«
»Das mein ich auch.« Wieder schnackelte der Staberl mit den Fingern. »Fräulein, was hast denn für eine Brotzeit?«
Die Kellnerin leierte es herunter: »Dünne, Regensburger, einen Aufschnitt, Käs oder ein geräuchertes Ripperl.«
»Also dann zwei Ripperl. Und damit du nicht zweimal zu laufen brauchst, bring auch gleich zwei Virginia mit.«
Zum Essen tranken sie bereits die dritte Maß Bier. Der Ingerl hatte die Strapazen bereits vergessen und wurde gesprächig.
»Wenn das mit den Großraumstationen perfekt wird, dann brauch ich auch nicht mehr mit dem Radl zu fahren«, erzählte er.
»Was soll denn das sein?« fragte der Staberl.
»Ja, weißt, das ist so. Auf den Dörfern draußen gibt es dann kaum mehr einen Gendarmerieposten. Da sitzt dann alles in der Kreisstadt auf einem Haufen beisammen. Alles wird mit dem Wagen gefahren und von der Station aus per Funk benachrichtigt.«
»Ah geh weiter«, staunte der Staberl. »Ist das was?«
»Was kannst machen? Aber mit dem Einkehren ist dann auch Schluß. Die können dich ja auf Schritt und Tritt kontrollieren. Oder daß man sich einmal in Wald reinsetzt und zuhört, wie die Vogerl pfeifen.«
»Oder wie im Herbst die Hirsch röhren«, schwärmte der Staberl weiter. »Ja, ja, wir gehn lausigen Zeiten entgegen.«
»Nur gut, daß ich bald in Pension geh!«
»Ja, siehst«, hakte der Staberl ein. »Das habt ihr Beamten uns voran. Braucht nichts mehr zu arbeiten und kriegt doch euer Geld.«
»Hättest auch was Gescheites gelernt«, sagte der Ingerl, schaute auf die Uhr und erschrak. »Jetzt dürfen wir uns aber wieder auf den Weg machen, sonst komm ich bei Nacht erst heim.«
»Aber geh, eine Maß trinken wir schon noch! Schau, ich krieg jetzt acht Tag keinen Tropfen Bier mehr.«
»Also, eine noch«, gab der Ingerl nach. »Aber das ist unwiderruflich die letzte.«
Sie waren aber nun in Diskurs gekommen, philosophierten einander was vor und merkten nicht, daß es unter dem Kastanienlaub immer schattiger wurde. Endlich winkte der Ingerl der Kellnerin.
»Fräulein, wir möchten zahlen.«
»Alles zusammen«, sagte der Staberl und machte wieder seine großartige Handbewegung.
Dem Ingerl riß es die Augendeckel in die Höhe. »Wieso alles zusammen? Ich bezahl das meine und du das deine.«
»Wenn ich könnt, schon«, grinste der Staberl. »Ich hab keinen Pfennig Geld bei mir.«
»So ist’s recht! Warum schaffst dann du an, als wenn du eine Brieftaschen voll Geld hättest? Du bist schon einer! Zuerst muß ich dich mit dem Radl fahren, bis mir die Zung raushängt, und jetzt soll ich dir auch noch die Zech bezahlen!«
»Bloß auslegen. Ich geb es dir schon wieder zurück.«
Was blieb dem Ingerl übrig, als zu bezahlen. Sie hatten zusammen acht Maß Bier, zwei Ripperl und zwei Virginia, zwei Steinhäger und sechs Brote.
Als sie dann aufstanden, wackelte der Staberl ein bißchen, der Herr Wachtmeister mußte sich einen Moment an den Baum lehnen, und der andere mußte ihn brüderlich stützen. Er lachte dabei, und der Ingerl mußte herzhaft mitlachen. Vier Maß machten sich jetzt doch bemerkbar, zumal der Ingerl kein so handfester Trinker war wie der Staberl.
Aber das Leben war auf einmal so leicht, der Dienst war vergessen. Sie zogen dahin, zwei fröhliche Wanderer zur goldenen Abendzeit. Der Staberl stimmte ein Lied an, und der Ingerl sang mit seinem hellen Tenor darüber:
»Dirndl, wo hast denn dei’ Liegestatt,
ja, Dirndl, wo hast denn dei Bett?
Grad über zwei Stiagerl mußt auffesteign,
ja drauß auf der Straßn steht’s net…«
»Fahrn wir wieder ein Stückl?« fragte dann der Staberl.
»Ich weiß nicht, ob ich noch ganz verkehrssicher bin«, zweifelte der Ingerl.
»Dann fahr ich, und du darfst hinten aufsitzen«, schlug der Staberl vor.
Ohne es sich lange zu überlegen, setzte sich der Ingerl auf den Gepäckträger. Der Staberl legte ein ganz schönes Tempo vor, und sie waren schon ein weites Stück gefahren, als plötzlich hinter einem Gebüsch ein noch sehr junger, recht strammer Gendarm hervortrat, sich mitten auf die Straße stellte und die Hand hob.
»Absteigen!«
»Jetzt wird’s heiter!« sagte der Staberl vor sich hin und stieß den Ingerl an die Brust. Dann lächelte er den fremden Wachtmeister mit dem schönsten Lächeln an, dessen er fähig war. Er wollte aus der Situation noch das Beste herausholen, was eben herauszuholen war, und grüßte daher recht freundlich: »Grüß Gott, Herr Oberwachtmeister. Was gibt’s denn?«
Der Gendarm schaute den Staberl durchdringend an. Dann sagte er ziemlich scharf: »Ich bin kein Oberwachtmeister, wenn Sie das vielleicht noch nicht bemerkt haben sollten. Und was es gibt, fragen Sie noch? Wissen Sie nicht, daß es verboten ist, zu zweit auf einem Fahrrad zu fahren?«
Der Ingerl stand da, zur Säule erstarrt, und starrte vor sich hin auf den Boden.
»So, das ist verboten?« fragte der Staberl scheinheilig. »Ja, da muß ich dann schon recht schön um Entschuldigung bitten. Das hab ich nicht gewußt. Hast es du gewußt, Vinzenz?«
Der Ingerl antwortete nicht. Er hätte sich am liebsten in den Boden verkrochen.
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«, sagte der Wachtmeister und zückte seinen Strafzettelblock. »Ausnahmsweise will ich ein Auge zudrücken. Bezahlt jeder zwei Mark, dann ist die Sache erledigt. Andernfalls werde ich Anzeige erstatten.«
»Nein, nein, zwei Mark«, sagte der Ingerl mit flehender Stimme.
»Ihn hat nämlich der Schuh gedrückt, sonst hätt ich ihn ja gar nicht aufsitzen lassen«, log der Staberl.
»Das interessiert mich nicht. Also, wie heißen Sie?«
»Sebastian Staberl.«
»Und Sie?«
»Ingerl.«
»Vinzenz, mit Vornamen«, mischte sich der Staberl ein. »Geh, sei so gut, Vinzenz, und leg für mich die zwei Mark aus. Ich hab nämlich kein Geld bei mir.«
Der Wachtmeister kassierte das Geld und legte zwei Finger an den Mützenrand.
»So, meine Herren, lassen Sie es sich zur Lehre dienen. Wie weit müssen Sie denn noch?«
»Oh, bloß noch in die Kreisstadt.«
»Das ist immerhin noch eine gute Stunde. Lassen Sie sich ja nicht mehr erwischen, daß Sie zu zweit auf einem Rad fahren!«
Der junge Gendarm schlenderte in entgegengesetzter Richtung davon. Die beiden blieben noch eine Weile stehen, der Ingerl ganz verdattert, der Staberl voll stiller Heiterkeit.
»Der muß auch noch viel lernen«, sagte schließlich der Ingerl.
»Vier Mark kassieren hat er schon können, und mehr braucht es ja nicht.«
»Er hätte zumindest nach unseren Ausweisen fragen müssen. Zum Glück hat er es nicht getan, sonst wäre ich unsterblich blamiert gewesen.«
»Oder wir hätten nichts bezahlen brauchen, denn schließlich kann er doch nicht gut einen Vorgesetzten verwarnen.«
»Das kann er sehr wohl. Ich bin ja in Zivil«, murrte der Ingerl und sah den Staberl recht böse an. »Mein Lieber, du bringst mich von einer Verlegenheit in die andere. Den Tag werde ich so schnell nicht vergessen.«
»Uber alles wächst Gras«, lachte der Staberl. »Und jetzt müssen wir es doch wieder packen.«
Eine Zeitlang wanderten sie gemächlich dahin, dann blieb der Staberl stehen und schaute zurück. Weit und breit war von dem Wachtmeister nichts mehr zu sehen.
»Was ist, packen wir’s wieder?«
Der Ingerl war so müde. Der Schuh hatte ihn zwar nicht gedrückt, aber er konnte die Füße kaum heben, so schwer waren sie.
»Aber wenn was daherkommt, mußt du sofort halten, daß ich runterspringen kann.«
»Machen wir schon, Vinzenz!«
»Und Vinzenz brauchst mich auch nicht zu nennen, so nah sind wir nicht verwandt.«
»Ist schon recht. Sitzt gut?«
»Ja, fahr zu.«
Vielleicht saß der Ingerl nicht richtig auf dem Gepäckträger, vielleicht hatte der Staberl die Lenkstange nur lässig in der Hand. Auf alle Fälle kippten sie nach wenigen Metern um. Der Ingerl fiel unglücklicherweise in die Speichen des Hinterrades, daß es sich überhaupt nicht mehr drehen wollte.
»Also, das ist doch zum Verzweifeln«, jammerte der Ingerl laut. »Was machen wir denn jetzt?«
»Jetzt? Tragen müssen wir das Radl! Es wird uns sonst nichts anderes übrigbleiben. Du packst es hinten und ich vorne. Dann geht es schon.«
»Weißt, deine Ruh möcht ich haben, Staberl. Jetzt geht es schon auf den Abend zu, und ich hab noch den weiten Rückweg. Ich kann doch das Fahrrad nicht heimtragen!«
»Nein, das gibst in eine Werkstatt und gehst zu Fuß. Irgendein Lastwagen wird es dir dann schon mitnehmen nach Burgham. Es fahren ja genug.«
»Ja, bloß jetzt nicht, weil wir einen brauchen.«
Endlich kamen sie dann doch ins Städtchen, und der Staberl klingelte am Gefängnistor, weil der Ingerl die Klingel nicht fand.
Es dauerte eine Weile, dann waren schlurfende Schritte hinter der Tür zu hören. Ein Schlüsselbund rasselte, dann öffnete sich die Tür, und das gutmütige Gesicht des Gefängnisverwalters Mader schaute durch den Spalt.
»Ah, der Herr Staberl kommt wieder einmal. Nur hereinspaziert, meine Herren.«
Der Wachtmeister mußte den Einlieferungsschein noch unterschreiben lassen, dann durfte er wieder gehen. Am liebsten aber wäre er auch hiergeblieben, um sich richtig ausschlafen zu können. Dann aber hatte er doch noch Glück, denn auf dem Stadtplatz traf er den Sägewerksbesitzer Bechthold, der ihn nach Burgham mitnahm.
Zehn Tage später war der Staberl bereits wieder daheim, und sein erster Gang war zur Gendarmeriestation, wo er dem Ingerl auf Heller und Pfennig das zurückbezahlte, was er in der »Kreuzstraße« für ihn ausgelegt hatte.
Nur die zwei Mark Strafgebühr erwähnte er nicht. Und dafür war ihm der Ingerl sogar recht dankbar.
Die Jahre gingen schnell dahin. Beim Staberl war jetzt nur noch das achtjährige Roserl daheim. Die anderen waren alle ausgeflogen, abgefallen wie die Blätter einer Blume, die dann ein Windstoß in alle Richtungen zerstreute.