Windbeutel - Susanne Amtsberg - E-Book

Windbeutel E-Book

Susanne Amtsberg

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Beschreibung

Die Biotec-Firma Bimini in Frankfurt am Main, 2015: Altenpflegerin Betti Blum demonstriert vor dem Firmengelände gegen das Manipulieren von Taufliegen, denen ein Virus das ewige Leben bringen soll. Als Betti der Bimini-Gründerin Elli Zweig gegenübersteht, glauben die beiden Frauen, in einen Spiegel zu blicken. 45 Jahre lang wussten sie nichts von der eineiigen Zwillingsschwester. Zeitgleich explodiert an Bord eines Flugzeugs eine Bombe, und nicht nur für ein Gerontologenpaar gerät das Projekt Unsterblichkeit ins Trudeln. So gründet die todkranke Betti mit Ellis Geld ein Aussteigerdorf - ein Paradies im Hier und Jetzt. Der Roman "Windbeutel" nimmt die Fährte des uralten Menschheitstraums von der Unsterblichkeit auf, er spielt zu Zeiten, als das Fortschrittsmantra das Ende der Geschichte beschwört. Aber es gibt immer noch mindestens einen Grund, warum den Menschen nichts Besseres als die Sterblichkeit passieren kann. "Windbeutel" ist Teil II der Trilogie VOM KENTERN

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Zu diesem Buch

Die Biotec-Firma Bimini in Frankfurt am Main, 2015:

Altenpflegerin Betti Blum demonstriert vor dem Firmengelände gegen das Manipulieren von Taufliegen, denen ein Virus das ewige Leben bringen soll. Als Betti der Bimini-Gründerin Elli Zweig gegenübersteht, glauben die beiden Frauen, in einen Spiegel zu blicken. 45 Jahre lang wussten sie nichts von der eineiigen Zwillingsschwester. Zeitgleich explodiert an Bord eines Flugzeugs eine Bombe, und nicht nur für ein Gerontologenpaar gerät das Projekt Unsterblichkeit ins Trudeln. So gründet die todkranke Betti mit Ellis Geld ein Aussteigerdorf - ein Paradies im Hier und Jetzt …

Windbeutel ist Teil II der Trilogie VOM KENTERN

Susanne Amtsberg studierte Archäologie, gräbt im In- und Ausland. Sie wohnt und schreibt im Nordosten Brandenburgs.

Von 1995 bis 2003 erschienen von ihr 5 Kriminalromane im KBV-Verlag, 2012 folgte ihr historischer Roman Das Dach der Seligen zur Expeditionsgeschichte Tibets im Aufbau-Verlag. 2023 veröffentlichte sie den Roman Fossis zur Frage, wie der aufrechte Gang in die Welt kam (Teil I der Trilogie VOM KENTERN).

Für Katrin, unentbehrlich

„Kleiner Vogel Kolibri,

Kleines Fischchen Brididi,

Fliegt und schwimmt voraus, und zeiget

Uns den Weg nach Bimini!“

HEINRICH HEINE

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

WOCHE 16

WOCHE 17 - 18

WOCHE 19

WOCHE 20

WOCHE 21 - 26

WOCHE 27

WOCHE 28 - 33

WOCHE 34

WOCHE 35

WOCHE 36

NACHBEMERKUNG

REGISTER HISTORISCHER PERSONEN

PROLOG

Die schwarzbäuchigen Taufliegen krabbelten über den Kuchen, den sie fraßen und mit ihren Ausscheidungen betröpfelten. Nach der ersten Woche ohne Gesicht und einer weiteren in Blindheit, waren sie als komplett entwickelte Organismen aus den Puppenhüllen geschlüpft, in die sich die befruchteten, in den Kuchen abgelegten Eier verwandelt hatten. Auch ihr restliches Leben würden die Taufliegen auf dem Kuchen verbringen, um eines Tages oder Nachts darauf zu sterben. Zumindest hatten unzählige Vorgängerpopulationen stets ihren Atem auf diesem vielseitigen Lebenselixier ausgehaucht, einer hellbraunen Masse aus Maismehl, Zucker, Hefe, Rohagar und Wasser, die nach dem Köcheln in sterilisierte Milchflaschen abgefüllt wurde, bis sie diese zu etwa einem Viertel füllte. Dort kühlte der Brei ab, versehen mit einem Schuss Propionsäure gegen Schimmelwachstum, und verfestigte sich zu einer idealen, künstlichen Behausung, bereit für die neuen Bewohner.

Gelegentlich erhoben sich einzelne Insekten oder ganze Trupps und schwebten auf Erkundungsflügen durch den ihnen zugestandenen Luftraum. Stets endeten die Ausflüge damit, dass die kleinen Körper gegen die mit winzigen Luftlöchern versehenen Schraubverschlüsse stießen, bevor sie wieder Richtung Kuchen trudelten. Ob ein Gefühl der Traurigkeit ihre Flügel in Blei verwandelte? Möglich wäre es, da diese Taufliegen um den Sinn ihres Lebens gebracht worden waren. Zumindest unterstellten die zweibeinigen Kerkermeister ihren Pensionären gerne, diese hätten nichts außer Sex in den winzigen Köpfen, und nun, da in jeder der Flaschen nur gleichgeschlechtliche Individuen ihr Dasein fristeten, mussten sie auf das Liebesspiel verzichten. Das Lied der Männchen, das sie ihren vibrierenden Flügeln entlockten, wenn sie warben, blieb stumm. Die Weibchen stellten vergeblich ihre sahnig aufgedunsenen Hinterteile zur Schau. Es bildeten sich keine Paare, die fast eine halbe Stunde lang mit ineinander verzapften Unterleibern über den Kuchen schlurften. Für diese Population war das Unternehmen Fortpflanzung ersatzlos gestrichen. So bot die einzige Abwechslung zur täglichen Flugakrobatik der Umzug in neu präparierte, mit frischem Kuchen befüllte Flaschen, ein Ereignis, das etwa alle 14 Tage mit Hilfe einer Pipette stattfand.

Ihre natürliche Lebensspanne von 7 bis 9 Wochen hatte diese spezielle Population längst überschritten. Trotzdem erweckten die Mitglieder den Eindruck, als könnten sie das Milchflaschenreich ewig bevölkern, zumindest zeigten sie keinerlei Anzeichen des körperlichen Verfalls. Seit genau 105 Tagen führten sie ein recht geruhsames Dasein, niemand wollte etwas von ihnen, niemand schleuste oder jagte sie durch besondere Vorrichtungen, niemand testete ihre Kraft und Ausdauer, niemand machte sie betrunken oder traktierte die Penisse der Männchen, die mit so vielseitigen Details bestückt waren wie ein aufklappbares Taschenmesser, weil sich auch niemand dafür interessierte, wie das Sperma der bereits zum Zuge gekommenen Rivalen beiseite geräumt oder unfruchtbar gemacht werden konnte. Auch brauchten die Taufliegen nicht dieselben Aufgaben wieder und wieder zu lösen, bloß um zu beweisen, dass sie lernfähig waren, niemand wollte wissen, wie welche Inhalte vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis befördert wurden oder wie lange die Ruhepausen zwischen den Trainingseinheiten sein mussten. Und niemand verabreichte ihnen eine Zwangsernährung mit mutagenen Chemikalien, um entstelltes Verhalten hervorzubringen, so blieb es ihnen erspart, sich in geflügelte Idioten zu verwandeln. Kurz, diese Vertreter von Drosophila melanogaster genossen ihre uneingeschränkte Ruhe, von ihnen wurde nichts anderes erwartet, als dass sie Stunde an Stunde reihten und Woche um Woche vollendeten. Und das taten sie, so wenig spektakulär das in den blitzeblanken Räumen eines der Labore der privaten Frankfurter Biotec-Firma Bimini eben vonstatten ging. Ohne Eskapaden durchwachten sie neben Hunderten von weiteren, mit normalen Populationen bestückten Milchflaschen die Perioden von Hell, durchdösten die von Dunkel, lebten Tag für Tag ihrem Tod entgegen, der sie irgendwann schon ereilen würde. So hatte es die Natur zumindest seit Menschengedenken eingerichtet.

WOCHE 16

Elli räkelte sich auf dem Polster der Sonnenliege und blinzelte hinauf zum tiefblauen Himmel. Vereinzelt ballten sich Wolken zu Wattebäuschen, ließ man die Gebilde nur für ein paar Momente aus den Augen, konnte es sein, dass sie sich bereits ins Nichts aufgelöst hatten, und man suchte die Stelle vergeblich, an der sie eben noch ihrer Bahn gezogen waren. Ellis Körper war in einen Kokon aus Wärme gehüllt, ein sanftes Lüftchen trocknete ihren Schweiß, noch bevor er die Haut bedecken konnte. Elli wackelte mit den wohlgeformten Zehen und sog die salzige Meeresluft so tief ein, bis sie glaubte, ihr Brustkorb könne sich keinen Millimeter weiter ausdehnen. Das Leben konnte nicht nur herrlich sein, nein, es war herrlich. Warum also durfte sie nicht ewig so weitergehen, diese Reise mitten in einem unaufhörlichen Strom aus Unbeschwertheit und Wonne, der einen durch die Zeit trug? Genau darin lag das Problem. Die Folge der Tage riss irgendwann ab, und nicht nur die der angenehmen. So lauteten die Regeln. Niemand und nichts hatte bisher an ihnen zu rütteln vermocht. Mit einem Seufzer schwang Elli die Füße in den Sand. Schluss mit der Trödelei. Natürlich konnte sie den Flug verschieben, aber irgendwann würde sie die Insel verlassen müssen.

*

Mit klammen Fingern drehte Betti den Schlüsselkopf, hielt ihn gegen den Widerstand fest, mit dem er zurückschnappen wollte. Sie stieß einen Fluch aus. Das heisere Gestottere des Anlassers übertönte sogar das Trommeln, mit dem der Regen das Blechdach der alten Karre misshandelte. Betti schaute auf ihre Knöchel, die im Dampf ihres Atems weiß hervortraten, ließ den Schlüssel los und wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es im Wageninneren kalt wie in einem Kühlschrank war. Was erwartete sie? Dass im November ewig die Sonne schien, dass die Vöglein bis zum Abend zwitscherten? Es würden auch wieder andere, bessere Zeiten kommen, bisher hatte jede Durststrecke ein Ende gefunden. Eine streikende Autobatterie oder ergiebiger Novemberregen boten keinen Grund, um den Kopf hängen zu lassen. Sie drehte erneut den Schlüssel. Wie sie es hasste, wenn einer ihrer Klienten auf sie warten musste. Warum war sie nicht 5 Minuten früher los? Viel zu oft glaubte sie, es sei noch genügend Zeit, und plötzlich wurde diese doch knapp. Ob in den Köpfen anderer das Ringen um die Pünktlichkeit auch herumgeisterte, ein Tick, den man nicht mehr loswurde? Plötzlich sprang der Motor an, hustend und spuckend zwar, aber er lief.

*

Das Herz schlug Professor Rahim Sadiq noch immer bis zum Hals und flutete jede Faser seines Körpers mit schierem Glück. Natürlich ließ sein Zustand sich auf Stoffe wie Dopamin und Adrenalin im Blut herunterbrechen, versuchte er sich zur Ordnung zu rufen, auf das Wirken der Substantia nigra, einem Teil seines Mittelhirns, und dem Nebennierenmark. Oder schlichtweg auf die Biosynthese von Aminosäuren. Aber er blieb dabei, in seinen Adern zirkulierte in diesem Moment mehr als nur Blut, das mit speziellen Hormonen angereichert war. Und dieses besondere Etwas hatte seinen Ausgangspunkt im Verzehr eines Brathähnchenschenkels genommen.

Vor gerade mal ein paar Stunden hatte er sich über jenes Stück Geflügel mit unzügelbarem Appetit hergemacht, kaum dass der Barmann den Teller über die klebrige Theke geschoben hatte. Einen Moment lang hatte Rahim der Anblick des verfleckten Lappens irritiert, mit dem sein Gegenüber den Teller umkreiste. Er hatte den Blick gehoben, hatte das mit Zahnlücken gespickte Grinsen des Mexikaners gestreift, bevor er die ölige, im Rand der Reispampe prangende Delle des Daumenabdrucks mit den Zinken der Gabel wegstocherte.

Erfolge geschäftlicher Art entfachten stets einen Heißhunger in ihm, der alle Vernunft versengte. An einem Tag ohne besondere Vorkommnisse hätte er in aller Ruhe den Lunch an Bord der Maschine abgewartet. Zumal er sich im Hotel am Frühstücksbüffet mehrmals den Teller beladen hatte. Aber so, wie der Vormittag verlaufen war, hatte er auf dem Weg zum Flughafen nicht widerstehen können.

„Wer nie sein Brot mit Freudentränen aß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte“, hatte er frei nach einem berühmten deutschen Dichter zwischen den malmenden Zähnen hervorgestoßen, als müsse er sein Verhalten vor sich selbst rechtfertigen, während sein im Addieren und Subtrahieren geschulter Geist mit der Zahl der Löcher in den Polstern der Barhocker allerlei Rechenexempel anstellte.

War es etwa seine Schuld, dass alles, was er gefunden hatte, ein Imbiss namens Wing King war?, fragte sich Rahim. Das erste G auf dem Blechschild über der Eingangstür war kaum zu entziffern gewesen, Rostblasen hatten die Farbe fast vollständig abplatzen lassen. Der Zustand des Ladeninneren hatte die schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen.

Als er das vor scharfer Salsa triefende Hähnchenbein am Knochenende mit Daumen und Zeigefinger vom Teller gehoben und seine Zähne durch die schlabbrige Haut in das Fleisch gegraben hatte, ermahnte er sich, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Obwohl seine Geschmacksnerven schon beim ersten Bissen beleidigt aufgejault hatten, verputzte er die Portion bis zum letzten Reiskorn. Noch während er sich den Mund abwischte, hatte er bezahlt. Erst draußen auf der Straße hatte er die zusammengeknüllte Serviette in den Rinnstein geworfen und war in den Mietwagen gesprungen, den er im Halteverbot direkt vor der Tür geparkt hatte.

*

Sie hätte es sein lassen sollen. Sie hätte nirgends hingehen, schon gar nicht den Kontinent verlassen sollen. Sie hätte an ihrem Schreibtisch über der Stellungnahme für die Pressekonferenz brüten sollen, um die sie als Laborleiterin nicht herumkommen würde, statt sich zu diesem Ausflug überreden zu lassen. Obwohl es für zwei Wissenschaftler, die bald als Hauptakteure einer bahnbrechenden Umwälzung in Erscheinung treten würden, zugegebenermaßen keinen besseren Ort gab, um weniger aufzufallen, als ein Symposion. Was auch immer sie zu besprechen haben mochten, dort hätten sie wie unter einer Tarnkappe die Köpfe zusammenstecken können, einfach deshalb, weil alle Teilnehmer genau das taten, noch dazu, da das Symposion in der Stadt stattfand, in der einer von ihnen arbeitete. Oder war die Dringlichkeit der Angelegenheit bloß ein Vorwand? Hatte sie sich auf das überstürzte Treffen nur um der alten Zeiten willen eingelassen? Dann hatte sie sich zu einer überflüssigen und noch dazu gefährlichen Gefühlsduselei hinreißen lassen, an der sie sich prompt die Finger verbrannt hatte.

Seit Professorin Karla Arnold gestern auf dem Oberdeck der Fähre gegen das Rauschen des Windes in ihr Handy gebrüllt hatte, um sich bei ihrem Assistenten abzumelden, der zu sprachlos gewesen war, um irgendeine Frage zu stellen, hatte das schlechte Gewissen sie verstummen lassen. Auf dem Symposion hatte sie mit niemanden mehr als die nötigsten Floskeln gewechselt, und mit dem Hotelportier hatte sie sich durch Handzeichen und Gesten verständigt. Und jetzt klagte sie ihren Kummer ausgerechnet den Geschöpfen, die an allem Schuld waren. Nun ja, falls diesen überhaupt etwas anzulasten war, dann höchstens indirekt. Die Schuld trug niemand anderes als sie höchstpersönlich. Zumindest zur Hälfte. Wie in Zeitlupe krabbelten die Insekten an den Innenseiten der durchsichtigen Wände der beiden auf dem Kopfkissen liegenden Zuchtröhrchen entlang. In dem Hotelzimmer war es recht frisch, und die Temperatur der kaltblütigen Körper passte sich an die der Umgebung an. Das Taschenthermometer zeigte gerade mal 15 Grad. Nicht, dass Drosophila melanogaster besondere Ansprüche stellte, aber ihr Organismus schätzte es nicht sonderlich, die Komfortzone verlassen zu müssen, und die lag zwischen 18 bis 25 Grad.

Aber statt aufzustehen und den Heizkörper aufzudrehen, drückte Karla sich lediglich tiefer in das abgewetzte, speckige Polster des einzigen Sessels im Hotelzimmer und wandte den Blick erneut dem Display des Laptops zu, den sie auf den Knien balancierte. Das Bild von der blauen Meeresoberfläche samt der wenigen Wrackteile, die auf den Schaumkronen trieben, war eingefroren. Worauf wartete sie? Was hoffte sie, zu sehen zu bekommen, sobald sie das Video weiterlaufen ließ? Schaukelnde Rettungsinseln oder winkende Passagiere in signalfarbenen Rettungswesten?

*

Zwei Stunden später äugte Elli durch die seitlichen Scheiben des Cockpits der Cessna nach unten. Der Kopfhörer verwandelte das Geräusch des Motors in das Schnurren eines Kätzchens. Die Insel war ihr bereits kurz nach dem Start aus dem Sinn entschwunden, sie liebte es, über der Weite des Meeres zu schweben, das sich nach allen Seiten bis zum Horizont erstreckte. Sie drückte die Schnauze der Cessna nach unten und fing den Sinkflug erst ab, als die Maschine den Wellen gefährlich nahe kam. Der Rumpf glitt über das Wasser, als wolle er den eigenen Schatten jagen. Egal, wie oft Elli das Schauspiel schon beobachtet hatte, niemals glich eine Darbietung der anderen. Mal glitzerten und funkelten die Wassermassen im Sonnenlicht, mal lagen sie stumpf und bleiern im Regen, mal hoben und senkten sie sich vom Wind beatmet wie ein gigantischer Organismus. Elli schürzte die Lippen und zog die Schnauze der Cessna wieder nach oben. Wenigstens aus der Höhe betrachtet, vermochten die stecknadelgroßen Umrisse der Schiffe der Unberührtheit des Ozeans nichts anzuhaben, mochten sie auch noch so hochnäsig die weiß gesäumten Schleppen des Kielwassers hinter sich herziehen. Selbst die Bohrinseln wirkten aus der Distanz zerbrechlich wie Gerippe, und die Windparks erinnerten an ein Heer von Zahnstochern mit seltsamen Ärmchen.

Elli überprüfte die Anzeigen der Instrumente. Selbstverständlich war ihr klar, dass der Mensch längst auch das flüssige Element mit seinem Pestatem überzogen hatte. Schon während eines ihrer ersten Soloflüge hatte sie die Cessna über einen schlierenden Ölteppich steuern müssen, der jede Bewegung auf der Wasseroberfläche unter einem schwarzen Totentuch ohne Anfang und Ende erstickt hatte. Nachdem der erste Schock vorbei, und es Elli gelungen war, die verkrampften Finger um den Steuerknüppel zu lockern, hatte sie an all die Katastrophen denken müssen, mit denen ihre eigene Spezies das Meer heimsuchte, an all den Müll, den diese darin verkappte und an all die Gifte, die sich daraus freisetzten.

Von da an versuchte Elli zu genießen, was es noch zu genießen gab, wenn sie in ihrer Cessna übers Meer glitt. Was half es, sich reflexhaft ins Gedächtnis zu rufen, dass dank der Menschen alles Leben im Meer bedroht oder ein Teil davon bereits ausgelöscht war? Sie wollte sich nicht wieder und wieder darüber aufregen, dass im Pazifik der Müll bereits einen eigenen Kontinent bildete, größer als Indien, nur wenige Meter unter der Wasseroberfläche kreiselnd, eine Suppe aus Plastik und Dreck, festgehalten von einem der 5 großen Strudel der Weltmeere. Dass der Teil der Suppe, der sich absetzte, den Meeresgrund an vielen Stellen bereits nachhaltiger versiegelte, als Beton es vermocht hätte. Dass der Sand an sämtlichen Meeresküsten bereits abgebaggert und der Rest mit Plastik durchsetzt war, zerrieben von Strömung und Witterung zu Mikropartikeln, die noch für viele Jahrhunderte neben und zwischen jedem natürlichen Material zu finden sein würden. Dass Schildkröten Plastiktüten fraßen, weil sie die wabernden Gebilde mit Quallen verwechselten. Dass die Mägen von Eissturmvögeln und Albatrossen an winzige Gemischtwarenlager erinnerten, angefüllt mit Schraubverschlüssen, Feuerzeugen, Zahnbürsten und ähnlichem Zivilisationsschrott. Dass auch Wale und Delfine Geschmack an dieser neuen, tödlichen Beute gefunden hatten. Dass es am anderen Ende der Nahrungskette bereits mehr Mikropartikel als Plankton gab, und dass sich letzteres ersteres auch noch einverleibte. Dass all diese Lebewesen an dem künstlichen Stoff verendeten oder verhungerten, den sie weder verdauen noch ausscheiden konnten, und dabei sich selbst auch noch in dem Glauben wiegten, satt zu sein.

Die Abgase der Chessna trugen natürlich das Ihre zur allgegenwärtigen Bedrohung, Ausbeutung und Vernichtung dieses Lebensraums bei, aber für die Dauer des Flugs blendete Elli auch das aus. In den Minuten nach der Landung überwies sie regelmäßig eine fünfstellige Summe an Ocean-Watch, obwohl sie wusste, dass Geld nicht die Lösung war. Selbst eine unbeschränkte Dosis dieses Mittels konnte nur an den Symptomen herumdoktern. Die einzige Rettung würde darin bestehen, zum Kern des Problems vorzudringen. Nur hatte Elli leider keine Vorstellung, wie eine solche Herkulesarbeit zu bewerkstelligen sei, weil es nichts geringeres erforderte als die sofortige Abkehr aller Menschen von Gedankenlosigkeit und Profitstreben. Es bräuchte eine neue Gattung Mensch, wahrscheinlich sogar eine neue Welt.

*

Während der Wagen den Feldweg im ersten Gang hinunterholperte, klemmte Betti das Knie unters Lenkrad und hauchte in die geballten Fäuste. Wie früh es wieder dunkel wurde. Bald würde es schneien, dicke, tanzende, weiße Flocken, vielleicht schon morgen. Als sie sich vorstellte, wie die ersten davon nach einer flüchtigen, federleichten Berührung auf ihrer Wange schmelzen würden, keimte in ihr für einen Moment kindliche Vorfreude auf.

Beim Einbiegen auf die Bundesstraße wusste Betti, was sie vergessen hatte. Das Eiland für Friedrich! Warum ihr ältester Klient bei paradiesischen Zuständen Zuflucht suchte, konnte sie nur zu gut verstehen. Er hatte sie gebeten, ihm als nächstes aus diesem Roman vorzulesen, obwohl ihn auch Die Pforten der Wahrnehmung vom selben Autor gereizt hätten, wie er ihr vor ein paar Tagen kaum verständlich zwischen Räusperern gestanden hatte, verschämt wie ein Schuljunge, den man bei einem Streich erwischte. Sie hatte sich über die beiden Texte informiert, so dass sie inzwischen froh war über Friedrichs Entscheidung, sich noch nicht in das Reich der stecknadelkopfgroßen, blauen Götter entführen zu lassen. Sollte Friedrich sich Huxleys Drogenexperimente ruhig noch ein Weilchen aufsparen. Dieser hatte sich, als er genug von seinem Kehlkopfkrebs hatte, von seiner zweiten Frau eine tödliche Dosis LSD in den Muskel spritzen lassen. Friedrich hingegen hatte weder eine zweite Frau noch irgendeine andere Verwandte, auch keinen Verwandten männlichen Geschlechts. Nicht einmal Freunde. Friedrich hatte nur sie, Betti.

Sie las ihm immer ein paar Seiten aus einem Buch vor, obwohl dafür eigentlich keine Zeit war. Zumindest keine, die bezahlt wurde, aber die paar Minuten mussten sich einfach abzwicken lassen. Nun war es zu spät, um im Dorf noch einen Abstecher zum Lesehimmel zu machen. Das bestellte Buch würde warten müssen. Warum schob sie derartige Besorgungen immer wieder auf, um sie bei einer passenderen Gelegenheit zu erledigen? So konnte es passieren, dass sie die ganze Angelegenheit vergaß. Friedrich würde mit seiner ausgezehrten Hand, die zu schwach war, um noch ein Buch zu halten, nach ihrem Arm tapsen, um zu signalisieren, dass er ihr das Versäumnis nicht verübelte. Der Alte sprach nur noch selten, als hätte er seinen Vorrat an Worten bereits aufgebraucht. Bald würde er 100 werden. Falls er keine allzu schlechte Phase erwischte, würde ihm die Puste wenigstens für eine Kerze reichen. Sie hätte ihm zu dem Anlass gerne Huxleys gesammelte Werke geschenkt, aber mit den hellsichtigen Warnungen vor einer Schönen neuen Welt schienen sich inzwischen nur noch zur Lektüre verdonnerte Schüler zu beschäftigen, zumindest gab es keine ins Deutsche übersetzte Gesamtausgabe von Huxleys Werken.

Aber vor Friedrich kamen Herr Swobrich, Herr Herrmann und Frau Hellenreiter. Friedrich war erst vor Stefan an der Reihe, der eifersüchtig über seine Position als Schlusslicht wachte, egal, wie spät es wurde. Stefan verbrachte sein Leben inzwischen in kompletter Dunkelheit, der Tumor hatte sich durch sein Sehzentrum gefressen. Sobald sie die Haustür aufdrückte, würde sie auch heute wieder sein „Willkommen an Bord“ empfangen, das durch die geschlossene Zimmertür in den Gang herüberdrang, bevor er wissen wollte, wie spät es sei. Wären es ein paar Minuten später als am Vortag, würde er sie mit einem freudigen „Tatsächlich?!“ belohnen.

Dass Stefan jeden Abend aufs Neue auf einen Aufschub spekulierte, egal, wie winzig dieser auch ausfallen mochte, bevor er ins Bett verfrachtet wurde, lag wohl daran, dass er erst 40 Jahre alt war, eine Handvoll Jahre jünger als sie selbst. Immer, wenn sie sich diesen Umstand ins Gedächtnis rief, stockte ihr der Atem. Und wie hätte sie je nicht daran denken können? Und wie nicht daran, dass der Willkommensruf womöglich alles sein mochte, was Stefan von seinem früheren Dasein als Pilot hatte retten können? Sein Körper würde bewegungslos und lang ausgestreckt auf dem Sofa liegen, ein Schiffbrüchiger, der auf einer Planke trieb, während sich die Welt um ihn immer enger zusammenzog. Die Decke, die sie morgens um seine Beine geschlungen hatte, würde er jedenfalls heruntergestrampelt haben, obwohl er sich durch jeden neuen Tag fröstelte. Verlassen konnte er das Sofa ohne fremde Hilfe nicht mehr, höchstens auf allen Vieren. Den Kampf gegen den ständigen Schwindel hatte er ebenso verloren wie gegen andere Zumutungen, seit der Tumor sich in seinem Kopf eingenistet hatte.

So in Gedanken versunken, hatte Betti die Ortschaft durchquert und wäre beinahe an dem Gässchen vorbeigefahren, das zum Haus der Swobrichs abzweigte. Im letzten Moment riss sie das Lenkrad herum und holperte durch die Pfützen, denen sich auf dem schmalen Weg nicht ausweichen ließ. Schließlich hielt sie vor einem Haus hinter einer Hecke aus wucherndem Kirschlorbeer. Sie wollte rückwärts in die grasbewachsene Auffahrt zurücksetzen, und wandte den Kopf, was ihr erneut ein Messer in den Nacken jagte.

Sie würde beim Umlagern von Herrn Swobrich bald zusätzliche Hilfe brauchen. Ihn allein zu baden, fiel jedenfalls in Zukunft flach, obwohl die täglichen Griffe die Muskeln ihres Oberkörpers kräftig und zäh gemacht hatten. Die langen Spaziergänge mit Socke taten das Ihre. In diesem Moment lag der dreijährige Mischlingsrüde bestimmt mit zuckenden Pfoten vor dem bullernden Ofen, weil er im Traum über die vom Novemberregen aufgeweichten Felder stromerte. Sie drehte behutsam den Kopf von links nach rechts. Es war dumm, sich an die Grenze der Belastbarkeit des eigenen Körpers heranzutasten. Falls der streikte, hätte sie nicht einmal gewusst, wo das Geld fürs Hundefutter herkommen sollte.

Herr Swobrich war der erste ihrer Schützlinge, der beim Sterben immer mehr anstatt weniger wurde. Es war, als zerfloss sein Körper allmählich auf dem Laken wie eine ausgegossene Schüssel Rührteig auf dem Kuchenblech. Aber er konnte nichts dafür, sobald seine Frau der Kummer übermannte, fummelte sie ein Stück Zellophanpapier von der stets griffbereiten Tafel Schokolade, brach einen weiteren Riegel ab und schob ihn dem bettlägerigen Gatten zwischen die Lippen.

Ihm schmecke schon lange nichts Süßes mehr, hatte Herr Swobrich hervorgepresst, als Betti sich heute Morgen über ihn gebeugt hatte, um seinen massigen Oberkörper zu drehen. Aber solle er seiner Frau auch diese unschuldige Freude verderben? Eine solche Grausamkeit bringe er nicht übers Herz, wo er sie doch bald allein zurücklassen müsse.

Während Betti daran gedacht hatte, dass er also lieber schluckte, die Schokolade sowie seinen Widerwillen, hatte sie unter Herrn Swobrichs Kniekehlen gefasst und die Beine angehoben. Plötzlich war etwas Heißes durch den Nacken geschossen, und sie war mitten in der Bewegung erstarrt, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie Herr Swobrich mit der Frage schloss, die eigentlich eine Feststellung war, ob es nicht immer die Angehörigen seien, die sich mit dem Sterben schwerer täten als die Todeskandidaten selbst?

Danach hatte Betti Luft durch die zusammengebissenen Zähne eingesogen, hatte sich behutsam wieder aufgerichtet und die Finger gegen die schmerzenden Nackenmuskeln gedrückt. Herr Swobrich hatte den Kopf zu seiner Frau gedreht, die die Szene verfolgt hatte, an der Seite des Bettes auf der Sesselkante hin und her ruckelnd, ohne das Geringste zu verstehen, weder von den Worten ihres Mannes noch von dem Unausweichlichen, das sich bald vor ihm auftun würde. Ihre Finger hatten im Schoß geruht und schon den nächsten, schmelzenden Riegel Schokolade gehalten. Da hatte Herr Swobrich den Mund wieder artig aufgesperrt und sich füttern lassen wie ein hungriges Spatzenküken.

*

Noch wollte sich Karla nicht in das Unbestreitbare fügen. Wer garantierte, dass die Bilder nicht die Überreste einer anderen Detonation zeigten? Die in der Vergangenheit ein anderes Stück vom Himmel erschüttert hatte? Natürlich, es gab verlässlichere Fakten, Kurs und Entfernung der Maschine waren bekannt gewesen, als die Verbindung abgebrochen war. Und es gab Passagierlisten. Die Filmaufnahmen allerdings konnten von irgendwo stammen, konnten irgendein beliebiges Stück Meer zeigen, in dem die Trümmer irgendeines Flugzeuges schaukelten. Sie mussten nicht einmal im Atlantik treiben. Irgendwelche Archivbilder eben. Der Grund, weshalb überhaupt noch irgendwer die Wahrheit bemühte, lag wohl darin, dass diese gelegentlich die einfachste Lösung darstellte. Warum verhedderte sie sich in derartiges theoretisches Geplänkel über digitale Zustände? Dass es einen Absturz gegeben hatte und dass dieser das Werk einer Bombe gewesen war, diese beiden Dinge schienen zweifelsohne festzustehen. Ob sie die Originalaufnahmen zeigten oder nicht, änderte nichts an den Tatsachen. Was zählte, war die Summe unterm Strich. Und die fiel in diesem Fall aus analoger Sicht verheerend aus.

Jedes Mal, wenn Karlas Mittelfinger über das Trackpad kroch, hinterließ die Berührung auf der beschichteten Glasplatte einen feuchten Streifen. Wie die Kriechspur einer Schnecke, dachte Karla. Sie schob den Curser auf das graue Dreieck und spielte mit einem Klick das Nachrichtenvideo erneut ab. Wieder blickte sie ins wackelnde Innere des über dem Meer verharrenden Hubschraubers, in das um Betroffenheit bemühte Gesicht der Angestellten von American Albatros, das Karla bereits erschreckend bekannt vorkam, während zwischen den geschminkten Lippen der mageren Blondine die immer gleichen Erklärungen in einem munteren Singsang hervorsprudelten, deren Wortlaut Karla inzwischen auswendig kannte. Schließlich endete der Bericht mit der Aufnahme des Stück Meeres, in dem die Wrackteile trieben. Mehr schien von der Boing 747 nicht übriggeblieben zu sein, der geborstene Rumpf musste irgendwo in den Wassermassen versunken sein. Keiner der Verantwortlichen rechnete mit der Chance, doch noch Überlebende bergen zu können. Deshalb also war heute auf dem Symposion der Platz neben ihr leer geblieben. Karla hatte die Lücke in der langen Sitzreihe der Teilnehmer den ganzen Tag über gegen wiederholte Anfragen verteidigen müssen, obwohl sie die Aktentasche aufgeklappt auf den Nachbarstuhl gestellt, den Mantel sogar über den Tisch gelegt hatte, hatten nicht alle diese Inszenierung als Besetztzeichen werten wollen. Das passte zu Rahim, dem unverbesserlichen Perfektionisten. Wenn er schon einmal eine Verabredung platzen ließ, dann konnte er mit dem eigenen Tod die beste aller möglichen Entschuldigungen vorweisen.

Als sie bemerkte, dass die Taufliegen inzwischen jede Aktivität eingestellt hatten, stemmte sie sich endlich aus dem Sessel und hinkte zum Heizkörper. Das reichliche Platzangebot in den Zuchtröhrchen musste ungewohnt für die Dromels sein. Seit Jahrzehnten arbeitete sie mit diesen Organismen, trotzdem war ihr nie in den Sinn gekommen, über die Frage nachzudenken, ob die Insekten zu einer Gefühlsregung fähig waren oder nicht. Pochte in den winzigen Körpern gar das Bedürfnis, endlich allein zu sein? Normalerweise mussten sie sich ein Gefäß der doppelten Größe mit annähernd 100 Artgenossen teilen. Und auf Reisen gingen sowieso die wenigsten von ihnen. Karla hatte sich dieses Mal für eine spärliche Besetzung entschieden, sie wollte den Überblick behalten und nicht einen ganzen Schwarm narkotisieren müssen, um die Toten herauszufischen.

Sie rechnete immer noch jeden Tag damit, dass das Sterben endlich losging, auch wenn die Taufliegen bisher ihre alltäglichen Verrichtungen mit jugendlichem Elan bestritten. Noch zeigte kein einziges Exemplar die üblichen Anzeichen des körperlichen Verfalls. Nichts sprach dafür, dass sie alterten, obwohl die Insekten bereits jene Lebensspanne überschritten hatten, zu der es vor gut 20 Jahren erstmals ein einzelner, ebenfalls in Gefangenschaft sein Dasein fristender Vorgänger gebracht hatte. Geplant war der damalige Rekord nicht gewesen. Karla konnte sich gut vorstellen, wie der Kollege Benzer in seinem kalifornischen Fliegenlabor jeden neu heraufdämmernden Tag bejubelt hatte, an dem das außergewöhnliche Exemplar der Art Drosophila melanogaster sich mit den Beinen putzte und die Flügel fächerte, während seine Populationskollegen längst auf den Kuchen gesunken waren und alle Sechse von sich gestreckt hatten. Benzer musste in einem Dilemma gesteckt haben. Einerseits hatte er bestimmt fasziniert alle Details des außergewöhnlichen Lebenswillens protokolliert, dessen Zeuge er ohne sein Dazutun wurde, andererseits musste er natürlich und irgendwie sogar fast sehnsüchtig darauf gewartet haben, dem winzigen Körper endlich mit dem Skalpell sein Geheimnis entlocken zu können. Wie stellte das Insekt es an, dieses außergewöhnliche Alter zu erreichen? Um diese Frage klären zu können, musste es erst den Weg alles Irdischen gehen, was es schließlich auch tat. Danach hatte Benzer schnell herausgefunden, dass das Insekt nur deshalb länger gelebt hatte, weil ein einzelnes Gen mutiert war. Sein Entdecker taufte dieses das Methusalem-Gen.

Wie brachte sie es nur fertig, in einem Moment wie diesem ihre Aufmerksamkeit auf die einsetzende Experimentierfreudigkeit mit dem Gen zu lenken? Vielleicht, weil die Dürftigkeit der daraus gewonnenen Erkenntnisse in so krassem Gegensatz zu dem getriebenen Aufwand stand? Ein Lehrstück für die Vergeblichkeit menschlichen Strebens? Mit dem Gen ausgestattete Insekten waren resistenter gegen Hitze und Stress als ihre Artgenossen, konnten auch länger ohne Nahrung auskommen und lebten eben länger. Das war alles. Warum es zu der spontanen Mutation überhaupt gekommen war, hatte kein Blick durch welches Mikroskop auch immer erhellen können. Bis zum heutigen Tag war es nicht gelungen, in freier Wildbahn Taufliegen aufzustöbern, die ebenfalls diese Genmutation trugen. Zufall eben, falls man nicht behaupten wollte, das Gen verändere sich durch irgendwelche bisher nicht definierbaren Einflüsse in der Gefangenschaft. Vielleicht hatte es sich in der Natur auch einfach nicht als Evolutionsvorteil erwiesen, weil ein langes Leben der einzelnen Individuen die Art als Ganzes nicht weitergebracht hätte. 100 Tage zu leben, war jedenfalls inzwischen für eine Taufliege keine Sensation mehr, solange sie jenes veränderte Gen trug. Für jedes einzelne Mitglied einer Population von Drosophila melanogaster, die nicht genmanipuliert worden war, allerdings schon. Karla betrachtete erneut die beiden Zuchtröhrchen. Irgendwann jedoch würde das Sterben da drinnen beginnen. Es konnte gar nicht anders sein und wenn auch nur aus dem einen Grund, weil es immer so gewesen war. Das einzig Gewisse im Leben jedes mehrzelligen Wesens war der Tod. Außer man gehörte zu den Gattungen der Seegurken, Quallen oder Süßwasserpolypen. Und vielleicht seit neuestem zu ihren Taufliegen oder zu Rahims Mäusen.

Zu letzteren zumindest theoretisch. Da Rahim ein vorsichtiger Wissenschaftler war, der niemandem derart gründlich misstraute wie den eigenen Kollegen, hatte er die manipulierten Würfe vor seinem Abflug bestimmt getötet. Vermutlich ohne Ausnahme. Kein Passagier konnte einen lebenden Nager heimlich in ein Flugzeug schleusen und damit den Atlantik überqueren. Dass Rahim zumindest eine Petrischale mit Zellkulturen an Bord geschmuggelt hatte, daran bestand für Karla kein Zweifel, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie ihm das trotz aller Sicherheitskontrollen gelungen sein mochte. Rahim war schon immer erfinderisch gewesen. Sein Talent zum Pechvogel allerdings war neu, er hatte es gerade erstmals bewiesen, und das ziemlich eindringlich. Karla schloss für einen Moment die Augen. Dass immer irgendwer zu den Opfern zählen musste, wenn ein Flugzeug abstürzte, noch dazu, wenn es in Tausende von Einzelteilen zerrissen worden war, bot für die Hinterbliebenen nicht den geringsten Trost.

Er müsse noch schnell ins Silicon Valley, bevor sie sich träfen, war Rahims Stimme atemlos aus dem Hörer an ihr Ohr gedrungen, als er sie vor 4 Tagen angerufen hatte, unbedingt und unaufschiebbar nach San José, bevor Bimini auf dieser verdammten Pressekonferenz den ganzen Erfolg für sich allein einheimsen werde. Sonst seien sie erledigt, seine Mäuse und er. Alles Weitere könnten sie auf dem Symposion besprechen. Sie solle sich keine Gedanken machen, er werde schon einen Weg finden, damit keiner der Beteiligten zu kurz komme. Er müsse nun Schluss machen, die Mäuse, er müsse sich noch um seine Mäuse kümmern. Nach diesen Worten war die Leitung tot gewesen.

Auch ohne dass er ihr den Grund ausdrücklich genannt hatte, wusste Karla, warum Rahim mit dem Flug nicht hatte warten können. Das Institute of Compressed Ageing, an dem Rahim arbeitete, gehörte zum staatlichen National Health Service, die Einrichtung würde niemals mit Bimini mithalten können, weder finanziell, noch entwicklungstechnisch, schon gar nicht in Sachen Vermarktung. Nun würde auch noch das ganze Durcheinander samt aller Unwägbarkeiten des geplanten EU-Austritts hinzukommen. Vor dem Abflug die Testreihe mit den restlichen Mäusen zu vernichten, hatte sie jedoch für übertrieben gehalten. Selbst wenn tatsächlich einer der Kollegen während Rahims kurzer Abwesenheit unbefugterweise die Nase unter die Mäuse gesteckt hätte, wäre dem wohl nichts aufgefallen, schon gar nicht gelungen, das Geheimnis zu lüften. Nicht auf die Schnelle. Nun allerdings, wenn Rahim gar nicht mehr zurückkehrte, musste sie zugeben, dass es eine weise Entscheidung gewesen war, auf Nummer sicher zu gehen.

Dass Bimini einen Mitbewerber niemals ausbooten würde, der nun mal ausgerechnet zur gleichen Zeit auf den gleichen Mechanismus gestoßen war, daran bestand für Karla kein Zweifel. Und das hatte sie im Vorfeld auch mehrmals Rahim versichert. Ob Elisabeth Zweigs Anständigkeit allerdings nicht doch vor der Behäbigkeit einer staatlichen Einrichtung kapitulieren würde, war zumindest offen. Das Institute of Compressed Ageing würde wendig wie ein Tanker agieren. Mit dieser Einschätzung mochte Rahim durchaus richtig liegen. Deshalb hatte sie dem Treffen auch zugestimmt, obwohl sie Bimini nicht zu hintergehen gedachte. Nein, das hätte sie unter keinen Umständen zugelassen. Sie klemmte sich die beiden Röhrchen zwischen die Finger, schüttelte leicht die Hand und zählte die Insassen zum wohl tausendsten Mal. Was hatte sie nur angerichtet! Die erstaunlichen drei Dutzend, gleich viele weibliche sowie männliche Taufliegen, Lucky girl 1 bis 18 und Lucky boy 19 bis 36, eingepfropft säuberlich nach Geschlecht getrennt, damit sie sich erstmal nicht vermehrten und etwas in Gang setzten, das noch mehr außer Kontrolle geraten könnte, als es die Situation eh schon war. Ob Rahim seinen Mäusen Namen gegeben hatte? Sie seufzte. Die sexuelle Enthaltsamkeit schien jedenfalls ein ebenso wenig zu unterschätzender Faktor für Langlebigkeit wie Kalorienreduktion und verminderter Herzschlag zu sein.

Bisher hatte sie das Überleben der Taufliegen von Tag zu Tag derart in Staunen versetzt, dass sie sich keine nennenswerten Gedanken über die nicht ganz unerhebliche Frage gemacht hatte, wie es weitergehen sollte. Das sollten und konnten andere entscheiden. Zum Beispiel ihre Chefin Elisabeth Zweig. Und da Rahim noch nie gerne seinen Platz an jemand anderes abgetreten hatte, hätte es auch zu seinen Obliegenheiten gehört. Nun gehörte ihm gar nichts mehr, die Medien behaupteten, sein Körper sei hoch über dem Atlantik zerfetzt worden. Karla merkte, wie sich erneut eine Träne ihre Wange hinunterstahl. Falls es ans Sterben gehen musste, hatte die Wirkung einer Bombe auch ihre Vorteile, versuchte sie sich zu trösten. Zumindest hatten Rahim und seine Schicksalsgenossen nicht jämmerlich ertrinken müssen, während sie brav angeschnallt im Bauch der untergehenden Maschine hockten, um sich im Lauf der nächsten Tage in Fischfutter zu verwandeln. Die Bombe hatte das Bewusstsein der Passagiere abrupt ausgelöscht, während sie schliefen oder Pläne für die Zukunft schmiedeten. Aber wer konnte schon sagen, was sich tatsächlich im Inneren der Maschine abgespielt hatte? Hatten sich Terroristen an Bord befunden? Vielleicht war es zu einem Handgemenge gekommen. Womöglich hatte die Passagiere ihr Schicksal bei vollem Bewusstsein ereilt, und sie hatten der Katastrophe ins Auge blicken müssen. Karla wischte endlich die Träne fort und sah plötzlich das Lausbubengesicht des jungen Rahims vor sich, wie er ihr vor mehr als drei Jahrzehnten mit einem alles andere als charmanten Grinsen den letzten freien Platz in dem Hörsaal der Universität weggeschnappt hatte.

*

Rahim hatte für die Strecke von San José nach San Francisco nicht länger als eine Stunde benötigt, so dass er rechtzeitig zum Einchecken angekommen war. Das Boarding allerdings hatte er verpasst, weil sich auf dem Weg zum Ausgang ein glühendes Schüreisen in sein Gedärm gebohrt hatte. Mit Mühe hatte er es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette geschafft. Während er an dem Reissverschluss der Hose nestelte, hatten sich bereits Schweißperlen auf seiner Oberlippe gesammelt.

Eine durchhockte Ewigkeit später war er immer noch auf der Klobrille gekauert, die Hände hatte er zu Fäusten geballt, aus denen Würste zusammengedröselten Klopapiers hervorlugten. Aus der Ferne hatte er das allmählich doch recht bestimmt klingende „Last call for Mr. Sadiq, Mister Professor Rahim Sadiq, please come immediately to gate 5“ der Lautsprecherstimme vernommen, ohne der Aufforderung Folge leisten zu können.

Das Gefühl der Ohnmacht war vollkommen gewesen. Wie hätte er jemandem klarmachen sollen, dass er ja wollte, aber nicht konnte!? Niemand hatte nach ihm gesucht, er war allein gewesen, zumindest hatte er aus Richtung der Pissoirs oder der anderen Kabinen kein Geräusch gehört, das auf die Anwesenheit eines anderen Geschlechtsgenossen hätte schließen lassen. Wen hätte er also mit einer Bitte um einen Aufschub nach draußen schicken können? Laut um Hilfe zu rufen, hatte sich von selbst verboten. Was, falls tatsächlich jemand gekommen wäre? In der Position, der er vorerst nicht entkommen konnte, wäre er vor Peinlichkeit gestorben. Außerdem, welcher Flieger hätte je auf einen unpässlichen Passagier gewartet? Hilflos war er an dem stillen Örtchen festbetoniert gewesen, solange der Hähnchenschenkel alles, was er seit heute morgen gegessen hatte, in einen wässrigen Brei verwandelte, der in Intervallen aus ihm herausschoss, ihn in eine erbärmliche Wolke aus Gestank hüllte und jedes Mal, wenn er aufstehen und die Hose wieder hochziehen wollte, von neuem ansetzte. Und so hatte das Flugzeug schließlich ohne den Passagier von Platz 43G abgehoben. Und war, wie er eben erfahren hatte, ohne ihn über dem Meer in der Luft zerrissen worden.

Seit Minuten verharrte Rahim in der Abflughalle des San Francisco International Airport auf derselben Stelle, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Ihm war, als durchlebte er seine eigene Wiedergeburt, die er nur einer besonderen Launenhaftigkeit des Schicksals verdankte. Ebenso wenig konnte er den Blick von den aufgehängten Monitoren lösen, über die synchron das Neueste zu dem, wie man sich inzwischen sicher war, Terroranschlag flimmerte. Hauptdarsteller waren eine fragmentierte Tragfläche und das blaue Meer. Wer außer Hypochondern besaß genügend selbstquälerisches Vorstellungsvermögen, um auch nur in Erwägung zu ziehen, in ein Flugzeug zu steigen und als Opfer eines Terroranschlags zu enden? Ein paar erwischte es eben. Pech gehabt. Und wer, der diesem Schicksal im letzten Moment entkommen war, hätte zu fassen, gar zu begründen vermocht, warum die glückliche Fügung ausgerechnet ihn verschont hatte?

Nur Willkür, entschlüpfte es Rahim leise, Willkür und Ausgeliefertsein! Falls es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, die menschliche Existenz sei Determinanten unterworfen, die sich dem Willen und der Macht des Einzelnen entzogen, hier war er. Sonst würde ihm, Rahim, das Herz nicht mehr bis zum Hals schlagen.

Die Bilder, die ihm den Schweiß die Achseln hinunterrinnen ließen, hätten dem Bericht über seine eigene Beerdigung entstammen können, nein, entstammen müssen. Noch vor kurzem war er vor dem Schalter von American Albatros auf und ab patrouilliert, um den nächsten freien Platz in einer Maschine nach London zu ergattern. Dann war die Eilmeldung von dem Anschlag über die Bildschirme geflimmert und hatte den normalen Betrieb lahmgelegt. Inzwischen hatte sich vor dem Schalter eine Traube von Journalisten gebildet, aus der Kameras und Mikrophone in die Luft stakten. Noch niemals zuvor hatte Rahim das Leben in seinem Körper derart vibrieren und summen gefühlt, als atmete er durch jede seiner Poren, sogar seine Haarwurzeln kribbelten. Gleichzeitig packte ihn Scham. Schließlich entsprang seine Hochstimmung dem schrecklichen Schicksal der anderen Passagiere von Flug AY5523. Nur mit Mühe gelang es ihm, dem Impuls Herr zu werden, der wieder und wieder seine Kehle hochstieg. Er fürchtete, er müsse jeden Augenblick losprusten vor Lachen. Also ließ er seinen Tränen freien Lauf. Der Teil der Abflughalle, in dem sich der Schalter von American Albatros befand, war voller Menschen, die sich schluchzend in den Armen lagen, falls sie nicht allein umherirrten. Niemand nahm an dem Mann fortgeschrittenen Alters Anstoß, der direkt unter den Monitoren stand und sich mit zitternder Hand über die Geheimratsecken der ansonsten immer noch vollen, schwarzen Locken tapste, die schon seit Jahren grau meliert waren. Wer hätte einem solchen Mann an einem Unglückstag wie diesem unterstellen wollen, er weine vor Glück?

Was sollte er jetzt tun? Wem würde er umgehend Bescheid geben müssen, dass er noch lebte? An der Unterlippe nagend, stellte Rahim fest, dass ihm außer Karla niemand einfallen wollte. Er hatte die bevorstehende Reise in die USA nicht an die große Glocke gehängt. Im Institut hatte er einen Kurzurlaub beantragt, der es ihm erlauben würde, gerade noch rechtzeitig zum Symposion zurück zu sein. Befragt nach seinen Absichten, hatte er die verwunderten Kollegen raten lassen, ohne sie über das wahre Ziel aufzuklären. Es waren seine ersten außerplanmäßigen, vorgeblich freien Tage in all den Jahren überhaupt, und er fand nicht, dass er jemandem Rechenschaft darüber schuldig war. Und privat? Er war Witwer, Helen hatte keine Kinder bekommen können. Seine Eltern waren längst gestorben, und der Kontakt zu seinen beiden Geschwistern war nicht allzu eng. Seine Schwester lebte mit ihrer Familie in Leeds, sein Bruder war schon vor Jahren nach Pakistan zurückgekehrt, in das Land, das seine Eltern in den 50ern des letzten Jahrhunderts verlassen hatten und das er, Rahim, noch nie betreten hatte. Freunde gab es nur sehr wenige. Die hatte er in der Aufregung der letzten Wochen ganz vergessen, keiner wusste, wie es ihm ging, geschweige denn, dass er ein Flugzeug bestiegen beziehungsweise im entscheidenden Moment zu seinem Glück nicht fähig gewesen war, ein weiteres zu besteigen.

Mochten sich seine sozialen Kontakte auch an den Fingern einer Hand abzählen lassen, bisher hatte es keinen Anlass gegeben, überhaupt Bilanz zu ziehen. Es störte ihn nicht, dass Monate vergangen waren, seit er mit seiner Schwester das letzte Mal telefoniert und in seinem Kopf nach Gesprächsstoff gefahndet hatte. Von seinem Kurztrip wusste sie jedenfalls nichts, ihr würde der Schock erspart bleiben, ihn unter den Opfern eines Terroranschlages zu wähnen. Unwahrscheinlich, dass sich Vertreter der Behörden bei ihr melden und sie mit der Horrorbotschaft erschrecken würden, denn sein Versäumen des Fluges konnte ja durch die Prozedur des Boardings nicht unbemerkt geblieben sein. Also nur Karla. Er zog das Handy aus der Tasche, um seiner Kollegin weiteren Kummer zu ersparen, ließ es jedoch wieder sinken. Karla war gar nicht die einzige, fiel ihm voller Schreck ein. Er hatte Body and Mind Health Inc. in San José vergessen, wo mindestens zwei Leute über seine Flugpläne Bescheid wussten. Zum Glück hatte er nur den amerikanischen Marktführer kontaktiert, weil er nicht daran zweifelte, dass man sich rasch handelseinig werden würde. Zur beiderseitigen Zufriedenheit. Selbstverständlich hätte er gerne ein bisschen gepokert, Konkurrenz belebte bekanntlich das Geschäft, aber dazu war schlicht die Zeit zu knapp gewesen. Karlas Bimini hatte es eilig.