Winkel der Welt - Matthias Senkel - E-Book

Winkel der Welt E-Book

Matthias Senkel

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Beschreibung

Fünfzehn Storys und Miniaturromane nehmen uns mit auf literarische Spurensuche zwischen den Kompasslinien. Die in "Winkel der Welt" versammelten Abenteuer handeln von Forschenden und anderen Getriebenen – die eigentlichen Protagonisten sind jedoch Inseln, Sprachen, das Wetter und das Erzählen selbst. Matthias Senkel führt uns an jene entlegenen Stellen der Globen und Atlanten, an denen die Kartografen früher Seeungeheuer und Windbläser zeichneten. Von der Anthropologin Signe verliert sich jede Spur auf einer aus der Zeit gefallenen, abgelegenen Atlantikinsel. In Istanbul muss ein Matrose dringend das Lösegeld für seine Geliebte auftreiben, landet aber immer wieder im Bosporus. Die Linguistin Agnieszka erforscht auf einer subantarktischen Insel eine gefährdete Sprache und gerät dabei unvermittelt in einen Konflikt zwischen entfremdeten Inselbewohnern. Unter vorgehaltener Waffe soll ein chinesischer Mandarin erklären, wie er auf ein Atoll mitten im Indischen Ozean gelangt ist. Und auf der postapokalyptischen Île de Montréal sieht sich ein Überlebender gezwungen, Romanfragmente gegen lebenswichtige Güter einzutauschen.

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Matthias Senkel

Winkel der Welt

Erzählungen

Winkel der Welt

Warenz

K

Zone des Schweigens

Rote Heringe

Lösegeld

Aufzeichnungen aus der Kuranstalt

Piko. Romankondensate

Peng. Peng. Peng. Peng.

Hefringsø

Eine löchrige Geschichte

I-63QL714

Hurricane Ally

Wetter: Modulsatz VIII

Museum der Neuen Welt

Skizzen für den letzten Roman

Fremdsprachiges

SEBASTIAN:

Ich denke, er wird diese Insel in seiner Tasche nach Hause mitnehmen und sie seinem Sohn wie einen Apfel geben.

ANTONIO:

Und dessen Kerne ins Meer aussäen, um weitere Inseln hervorzubringen.

 

— William Shakespeare, The Tempest

Schneiden Sie den Text wie gewünscht entlang der Markierungslinie aus.

– . – . – . –

Dehnen: Der Text lässt sich unter dem Druck enttäuschter Erwartungen und mithilfe gewöhnlicher feuchter Einbildungskraft nach Bedarf in der Länge oder der Weite dehnen.

 

— Dubravka Ugrešić, Štefica Cvek u raljama života

Warenz

Zerknüll das Blatt, streich es wieder glatt: Skandinavischer Eisschild bei abnehmendem Mond

Die Mondsichel sinkt einem frostklaren Morgen entgegen. Doch kein einziger Lichtstrahl dringt durch die Eismassen des Gletschers hinab zu dem Felsbuckel, an dem Überreste mesozoischer Algen zu Kalkstein verdichtet werden – hinab zu dem wachsenden Kreidefelsen, der einige Jahrtausende später das Nordkap einer Insel wird.

Warten, bis mehr Bewegung in die Geschichte kommt

Es taut, taut, taut … und, wie Murmeln unter den fahlen Fingern eines Taschenspielers, kommen am Gletschergrund vier rundgeschliffene Basaltblöcke zum Vorschein. Zwischen diesen tonnenschweren Findlingen

werden jungsteinzeitliche Jäger ihre Beute ausweiden

werden seekrank angelandete Schafe kotzen, grasen, kötteln, lammen

wird ein schwedischer Feldmesser seinen Theodolit aufstellen

werden Schiffbrüchige für ihre leibhaftige Rettung beten

werden biwakierende Wandervögel darüber nachsinnen, was es mit den Gestirnen und der von ihnen beschienenen Welt auf sich haben mag

werden wieder und wieder Ornithologen in Stellung gehen

wird ein aufgeblähter Leichnam seiner Entdeckung harren

wird Torffeuer brennen, schwelen, verglimmen

werden Heimatkundler Fundstücke ins Erdreich einbringen

wird ein Parteisekretär eine sommersprossige Küchengehilfin niederringen und danach nicht nur für die Beseitigung grasfleckiger Hosen zu sorgen wissen …

Nachforschungen, 2012

— Finden Sie das nicht auch verdächtig?

— Inwiefern?

— Immerhin hat er sich mitten in der Nacht von der Insel abholen lassen.

— Das schon, aber Parteisekretär Lederer war ein wichtiges Rädchen im Bezirk. Wenn da auf dem Festland die Pflicht rief, fand sich immer irgendein grauer Pott in der Nähe. Das Ministerium verfügte ja über eigene Grenzkontroll-boote. Es kam auch vor, dass die 6. Grenzbrigade Küste hochrangige Kader übersetzte. Und im Notfall half natürlich die Küstenschutzabteilung aus.

— Also, wenn ihn die Volksmarine abgeholt haben sollte, ließe das auf außergewöhnliche Umstände schließen?

— Jetzt legen Sie bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage! Außerdem sollten Sie erst einmal nachforschen, ob das Ferienheim nicht sogar über ein eigenes Motorboot verfügte. Das hieß bestimmt Feliks oder so. Für Spitzel und Bonzen gab’s doch fast jeden Luxus. Würde mich nicht wundern, wenn die da draußen im Sperrgebiet Wasserski gelaufen wären.

Land unter, 1872

Der Novembersturm drehte auf Nordost, entwurzelte die Eichen des Inselgehöfts. Ein vor Kap Stribog auf Grund gelaufener Frachtsegler schlug am Kreidefelsen Leck; anderthalb Seemeilen westlich von Warenz rollte ein triftiger Fischkutter, bis er in einem Wellental verschwand.

Der Sturm legte weiter an Stärke zu und schob einen gewaltigen Wasserberg landwärts. Schon brach die See am Ostufer über die Düne hinweg, flutete das Feuersteinfeld und die angrenzende Weide. Wenige Minuten später drängten die schäumenden Wassermassen bereits ins Gehöft – weshalb Anton nicht genug Zeit blieb, das Vieh aus dem Stall zu treiben. Der Gutspächter trat den Rückzug an. Von Orkanböen gepeitscht spülten die Fluten als Erstes den Misthaufen vom Hof. Die unteren Gefache der umbrandeten Scheune sogen so begierig Salzwasser auf, dass die Lehmziegel binnen Kurzem als trübe Brühe der Strömung folgten. Nun trotzte nur noch das nackte Fachwerk den Wellen, und auch im Haupthaus wogte das kalte Meerwasser bereits kniehoch. Schemel, Kisten und lose Almanachseiten trieben im Erdgeschoss. Der Wind fetzte Tierschreie über den Hof.

Anton und Elsa, die mit einer Korkweste und zwei Bündeln auf den Dachfirst geklettert waren, umklammerten den kläglichen Stumpf des Schornsteins. Der Sturm riss ihnen ein ums andere Herr hilf, wir verderben von den Lippen. Als die Scheune zusammensackte und wie eine Kleckerburg in der Ostsee verschwand, ahnte Anton, dass die Korkweste nun seine letzte Wette aufs Überleben war.

Heimatkundliche Broschüre, Seite 3

[…] Offen bleiben muss deshalb, weshalb der Findlingskreis nie zu einem Megalithgrab ausgebaut wurde.

Ähnlich steht es um die Frage, ob jemals elbgermanische Warnen auf Warenz ansässig waren. Bis zur Völkerwanderung fehlt jedwede Spur einer dauerhaften Landnahme oder saisonalen Bewirtschaftung, und kein einziger antiker Historiograph vermerkte je unsere kleine Insel.

Aber auch mittelalterliche Quellen zu Warenz sind rar. Die erste dauerhafte Siedlung wird Elbslawen zugeschrieben. Bisher gelang jedoch keine klare Zuordnung zu den Abodriten, die ab dem 8.Jahrhundert entlang der südlichen Festlandküste ansässig waren.

In seinen Notizen zur Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum erwähnt Adam von Bremen ein wendisches Inselvölkchen, welches vorm Allmächtigen Herrn die Knie durchaus nicht beugen wolle, wohl aber mit Dämonen und Götzen in vertrautem Umgang stehe. Es siedle im äußersten Norden der Insel bei einer Wallburg, die zur Abwehr wohlgerüsteter Nordmänner, kurländischer Drachen, riphäischer Amazonen und Hundsköpfiger diene.

Ob diese Slawenburg nach der Erstürmung durch den dänischen König Waldemar I. im Jahr 1163 geschleift oder wenig später bei einem der verheerenden Küstenabbrüche ins Meer gerissen wurde, ist jedoch nicht überliefert.

Brutstätte, 1903 ff.

Hugo Spilhaus, der das wiedererrichtete Inselgehöft gepachtet und die Scheune in eine Herberge umgewandelt hatte, versuchte, dem Warenzer Findlingskreis den Namen Drachengelege anzuhängen: Bei den vier vermeintlichen Irrblöcken handele es sich in Wirklichkeit um die Eier des letzten mecklenburgischen Drachenweibchens. Als Tsmija vom Drachenschlächter Warjan zur Strecke gebracht worden sei, habe sich ihr bitter-blaues Blut über das Gelege ergossen und schütze, zu einer steinharten Kruste erstarrt, seither die Brut.

Dass Spilhaus mit seinem Unterfangen nicht gänzlich erfolglos blieb, zeigen Fahrtenbücher und Fotoalben von Wandervögeln aus Lübeck und Wolgast: Mehrere Sommer in Folge versuchten die Jugendlichen, das Gelege auszubrüten, indem sie in dessen Mitte Lagerfeuer entfachten oder gemeinsam die vier Dracheneier erklommen, um sie mit ihren Hintern zu wärmen.

Palmsonntag, 1942

Kurz vor Mitternacht brach aus Südwesten eine trügerische Dämmerung über die Mecklenburger Bucht herein. Zwei Lerchen sträubten die Scheitelfedern und flogen mit lang gezogenem trii von ihren Brutplätzen auf. Das zarte Zirpen der beiden Männchen steigerte sich zu minutenlangem Tirilieren mit immer verwegener aufsteigenden Portamentos und mit melodischen Variationen, in denen bisweilen Lachmöwenrufe und Ohrwürmer von Zarah Leander anklangen.

Auf der kleinen Anhöhe, an der sich die Reviere der beiden Brutpaare überschnitten, stand die Warenzer Flakmannschaft und glotzte gebannt auf den lichterlohen Horizont.

Puzzle, 2013

— Ist denn überhaupt irgendetwas gewöhnlich, wenn gerade ein Staat untergeht? Einiges kann man wohl bloß als Kurzschlusshandlung bezeichnen. Und manches war schlicht der Zeitnot geschuldet. Die wussten ja aus eigener Erfahrung, dass man zerrissene Unterlagen in Fleißarbeit wieder zusammensetzen konnte. Hundertprozentig sicher waren nur die Papiermühlen, mit denen die gehäckselten Unterlagen zu Brei verkollert wurden. Aber das hätte Monate gedauert. Wir reden hier von mehr als dreitausend laufenden Aktenmetern allein im Bezirk Rostock, darunter bergeweise hochbrisantes Material. Aus Sicht der Staatssicherheit stand ja der Klassenfeind vor der Tür. Um schneller voranzukommen, stopften die alles, was gerade im Umlauf war, in Reißwölfe oder zerrissen ihre Aufzeichnungen mit bloßen Händen und verbrannten die Schnipsel. Aber der Rauch lockte die hiesigen Bürgerrechtler an, und bei der Besetzung der Bezirksverwaltung wurden dann auch säckeweise Schnipsel sichergestellt. Die haben wir mittlerweile zur Rekonstruktion geschickt. Wir reden hier allerdings von Abermillionen mürben Streifen und vergilbten Fitzelchen. Die sollen demnächst vollautomatisch gescannt und von Computern sortiert werden. Und erst dann, wenn sämtliche Teile zusammengesetzt sind, wird sich mit Bestimmtheit feststellen lassen, ob die Akte Lederer wirklich unwiderruflich verloren ist.

Inventur, 1926

Von ihrem eigenen Schnarchen geweckt, kroch Talea im Morgengrauen aus dem Zelt. Rucksack und Botanisierbüchse hatte sie wohlweislich am Vorabend zurechtgelegt, und so konnte sie aufbrechen, ohne Max zu wecken. Der Küstennebel zog sich bereits über die Wiese gen Westufer zurück, ließ Süßgräser, Sauerampfer, Schwalbenwurz und Spitzwegerich feucht glänzend zurück. An den vier Findlingen schreckte Talea zwei Ornithologen auf, die überaus gewagt in Stellung gegangen waren, und am Feuersteinfeld beobachtete sie gegen Mittag zwei liebestolle Kreuzottern beim Kommentkampf.

Entlang des Sandweges und am Feuersteinfeld vermerkte sie Besenheide, Doldiges Habichtskraut, Huflattich, Kopfbinse, Scharfen Mauerpfeffer, Steinbrech, Mondraute und Weißklee. Oberhalb des Badestrandes und am Ostufer kamen Kriechweiden, Röhrkohl, Silbergras, Salzmiere, Strandbeifuß, Strandweizen, Meersenf, Milchkraut und Mannstreu hinzu. Hinter den Dünen standen vom Wind geschorene Weißkiefern, unter denen Kartoffelrosen wucherten – die Taleas Bestimmungsbuch als asiatischer Herkunft enttarnte. An der Westspitze der Insel blühten auch einige Sanddornsträucher und Schlehen, doch statt Pollenduft stiegen ihr faulige Gase in die Nase, deren Ursprung sie lieber nicht erkunden wollte.

Im Warenzer Wäldchen wuchsen ausschließlich Rotbuchen. Die übrigen Bäume auf der Insel ließen sich problemlos abzählen: Eine Silberweide tunkte ihre trauernden Zweige in den Löschteich. Im Garten hinter der Herberge standen neben vier Nordkirschen und zwei Großen Prinzessinnen ein Fürst Bismarck, ein Fürst Blücher, zwei Kaiser Wilhelm, ein Graf Moltke und, völlig aus der Art geschlagen, ein Kleiner Gelbroter Spilling. Vorm Tor des ritterlichen Gehöfts war 1888 für jeden deutschen Kaiser eine Stieleiche gepflanzt worden; die übrigen acht Eichen, die im Kreis um die Findlinge wuchsen, mochten erst um die Jahrhundertwende hinzugekommen sein.

Als Talea am Nachmittag zum Zelt zurückkehrte, hatte Max bereits Bekanntschaft mit den beiden freizügigen Ornithologen geschlossen und arrangierte mit ihnen ein vielversprechendes Tableau.

Ungereimtheiten, 2025

— So dreh ich das auf keinen Fall!

— Aber wir haben alles eins zu eins wie auf den historischen Aufnahmen hergerichtet.

— Jetzt erklär mir bitte mal, wie das Blut dort rübergekommen sein soll, wenn er hier saß, als er sich erschossen hat?

— Schau’s dir an! Hier auf dem anderen Foto, das Georg aus der alten Polizeiakte geangelt hat.

— Ich weiß nicht. Das könnten auch Schattenflecke sein. Die Eichen waren damals ja bestimmt noch lichter.

— Dann hätte die Sonne aber im Norden stehen müssen.

— Was, wenn er zur Seite gesackt ist und die Spurensicherung ihn an den falschen Hinkelstein gelehnt hat?

— Oder er hatte den Kopf so zur Seite gedreht, als er abgedrückt hat. Nein, warte, so. Er war ja Linkshänder.

— Vielleicht sollte’s auch wie bei Kleist und der Henriette Dingsda laufen. Bloß, dass Talea dann am Ende gekniffen hat.

— Jaa, klar. Und Schuldgefühle legten sich wie ein Schatten über das Schaffen der aufstrebenden Künstlerin.

— Dit kannste vajessen. Dit spiel ick nich!

— Jetzt warte doch, Nora.

— Lass sie ruhig erst mal durchatmen.

— Also ich find’s genauso unsäglich. Am Ende hätte Talea sich die Hürden dann alle selbst in den Weg gestellt? Na danke auch.

Rückwirkende Heimholung, 1938

Heringsgraue Bugwellen schwappten über die Buhnen hinweg, brachen erst am Landungssteg. Nachdem der Lotsenkutter beigelegt hatte, schwankten drei Männer an Land. Hermann legte die Netznadel beiseite und wies dem Besuch seines Vaters den Weg zur Grabungsstätte. Während Emeritus Callenberg den fachlich unbeleckten Berichterstatter vom Niederdeutschen Beobachter auf die mögliche Tragweite des angezeigten Fundes einstimmte, scharwenzelte der Schriftführer des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde mit einem Sonnenschirm um den betagten Prähistoriker herum. Die Getränke, die im Schatten der Findlinge bereitstanden, würden laut Callenberg noch warten können.

Als sie zu Spilhaus in die Sondierungsgrube hinabstiegen, deutete dieser mit einem Pinsel auf die Spiralfibel und die bronzenen Speerspitzen, die er bereits am Vortag wieder ans Tageslicht gebracht hatte. Er bat, das werte Augenmerk auf die eingravierten Runen zu richten.

Heimatkundliche Broschüre, Seite 4

[…] Auch hier half schließlich die Radiokarbondatierung: Mit dem Bau des Gehöfts lässt sich ab 1377 wieder eine permanente Besiedlung der Insel nachweisen. Mangels urkundlicher Belege bleibt jedoch ungewiss, wann genau Warenz an die Ritter von Oertzen ging. Das Lehnsgut, das ihre Besitzungen am Salzhaff vorteilhaft ergänzte, dürfte aber mindestens zweieinhalb Jahrhunderte lang zum Wohlstand derer von Oertzen beigetragen haben.

[Fehlerhafte Kopie: unlesbarer Teilsatz], dass die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges spurlos an Warenz vorübergingen, und lässt sich allem Anschein nach auf die Nachlässigkeit eines schwedischen Kriegskartenzeichners zurückführen. Einmal südlich der Ostsee sesshaft geworden, blieb der neuen Obrigkeit die florierende Meierei jedoch nicht dauerhaft verborgen. Der königlich schwedische Kommandant von Wismar, Obrist Ulfsparre, ergänzte 1642 eigenhändig seinen Seeatlas und brachte bei dieser Gelegenheit eine Mätresse in guter Hoffnung auf Warenz unter. Aus dieser Zeit rührten umfangreiche bauliche Erweiterungen des Gehöfts. Im Westfälischen Frieden trat Schweden die Insel jedoch an das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin ab, woraufhin Ulfsparre kurzerhand die südöstlich gelegene Halbinsel Wustrow erwarb.

Ferienobjekt »Eiserner Feliks«, 1952

Staatssekretär Ackermann wollte sich nicht lumpen lassen. Zur Feier der Übergabe des sowjetischen Sperrgebietes an das Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung hatte sein Stab ein ganztägiges Freundschaftsfest organisieren müssen. Für die Führungsoffiziere der Baltischen Flotte, die Kollegen vom MGB und einige handverlesene Mitarbeiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes stand ein üppiges Büfett bereit. Vom Landungssteg bis zum Inselgehöft hingen waffenbrüderlich gemischte Wimpel. Dem vielversprechenden Nachwuchskader Lederer war es mit seinem Trupp gelungen, am Vortag eine wettkampftaugliche Kegelbahn aus dem Boden zu stampfen – die, wie erwartet, auch bei den sowjetischen Freunden hervorragend ankam. Nach einer unglücklichen Rempelei erklärte sich das Aufgebot der DDR zu einem Spielabbruch bei Unentschieden bereit.

Ein Kutter der Grenzpolizei führte nach dem Frühschoppen weitere Fässer der Rostocker Brauerei und ein Wildschwein am Spieß zur Insel heran. Im Gegenzug stellte die sowjetische Küstenartillerie der Garnison Wustrow ihre Fähigkeiten bei der Bekämpfung beweglicher Ziele zur Schau, indem sie von Marinefliegern gezogene Luftsäcke wie Morsestreifen durchlöcherte: usw.

Angespornt von derlei Virtuosität erlegten die Feiernden bis zum Sonnenuntergang 47 Silbermöwen, 19 Trauerenten, zwei Kampfläufer und einen republikflüchtigen Schwimmring.

Nebenschauplatz, 2026

Bereits auf dem roten Teppich zog Nora Vermehren einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich. Aber nicht nur ihr Abendkleid, auch ihre Schlüsselszene fand bei der Kritik fast ausschließlich Lob: Ihre kongeniale Verkörperung der Talea Aub, die es nicht über sich bringt, Maximilian Krak in den Freitod zu folgen, evoziere unter minimalem Einsatz mimischer Muskulatur das Abgleiten in eine Depression.

Die Inspiration zu dieser Interpretation sei ihr auf Warenz zugeflogen. Der Originalschauplatz habe eine ganz besondere Aura, erklärte Vermehren nach der Preisverleihung; im Kraftfeld des Hünengrabs habe sie sofort gespürt, dass sie die Rolle nur so und nicht anders anlegen könne.

Zeitzeugnis, 2012

— Nee, vom Wernfried Lederer war meines Wissens nie die Rede. Die Kripo war ja fest überzeugt, dass es jemand von der Insel gewesen sein musste. Also jemand vom Personal. Ne Zeitlang hatt’n sie auch den Sohn von der Engelkens im Visier, aber dann stellte sich raus, dass der …, ich weiß nich mehr, irgendwas stellte sich auf jeden Fall raus, und dann konnte er’s nich gewesen sein.

Blinde Flecken

Herber Duft von ausgedörrtem Tang und Kien lag in der Luft. Auf den vier Findlingen sonnten sich Dutzende Feurige Perlmuttfalter. Die automatische Messstation am Kap Stribog registrierte am Neujahrstag eine Mittagstemperatur von 21° Celsius. Doch weder meteorologische noch seismologische Sensoren erfassten, dass die Tagfalter aufstoben, als sich auf den Basaltbrocken tiefe Haarrisse ausbreiteten.

К

Der Sprachwissenschaftler Aleksej Timofejewitsch Koschjelkin war fähig und zielstrebig. Von der Erforschung des Waka-Jawakanischen konnte ihn weder der heftige Monsun abhalten, noch trank er den Sud, mit dessen Hilfe die Ureinwohner tagelang ins Herz der Dinge blickten.

Koschjelkin wurde von beiden Stämmen geduldet und hatte daher Zugang zu allen 193 Muttersprachlern. Er war der erste und einzige Fremde auf dem abgeschiedenen Eiland und wurde von den Waka Mondhaupt genannt. Morgen um Morgen kam er mit Strohhut und einer in Ölzeug eingeschlagenen Kladde aus seinem Zelt, um sich entweder den Hütten am Westufer (Waka) oder jenen im Inneren des Eilandes (Jawaka) zuzuwenden. Die Mittagsstunden verbrachte er stets im Schatten, wobei er Wortstrukturen und Satzbau analysierte. Er kämpfte mit Tee und klaren Tageszielen gegen die Tropenträgheit an. Bei Einbruch der Nacht verstaute er seine Unterlagen in einem verzinkten Deckelfass, das, wie seine gesamte Ausrüstung, mit den Initialen der Staatlichen Universität Leningrad (ЛГУ) beschriftet war.

Zwei Jahre nach seiner Ankunft auf dem Eiland beherrschte Koschjelkin die Sprache der Ureinwohner fließend und wusste ihre beiden Dialekte sicher zu unterscheiden. Die Feldforschung war, so notierte er am 1. Mai 1942 in seinem Tagebuch, »fristgemäß abgeschlossen«1. Er suchte nun allmorgendlich den Horizont nach der Mikoyan ab, hielt sich zur Einschiffung bereit. Gleichwohl drängten die Waka ihn weiterhin dazu, bei Neumond mit seiner Petroleumlampe auf einen Mangrovenbaum zu klettern, um Fliegende Fische in ihre Netze zu locken. Anhand der Anweisungen, die sie hierbei zu geben pflegten, hatte Koschjelkin die Bildung des Imperativs durch Wakanische Suffixe erörtert.

Auch mit der Reinschrift seiner Grammatik, die er ursprünglich während der Rückfahrt hatte besorgen wollen, kam er zügig voran. Zu zügig, fürchtete Koschjelkin, als er das vorletzte Kapitel erreichte – doch eine weitere Verringerung des Tagespensums kam für ihn nicht in Betracht, da er sich ohnehin unterfordert fühlte.

Das Einzige, was Koschjelkin in jenen Monaten von der Außenwelt zu Gesicht bekam, war »ein wuchtiges Wasserflugzeug unbekannter Herkunft«, das bei einem der vorgelagerten Atolle landete. Es flog jedoch weiter, bevor er einen Einbaum zu Wasser bringen konnte. Gleichwohl deutete Koschjelkin diese Sichtung als Anzeichen dafür, dass »die Dinge allmählich wieder in Fluss«2 kamen.

Der sowjetische Frachter Mikoyan, der ihn hatte an Bord nehmen sollen, war zu diesem Zeitpunkt bereits von einem japanischen U-Boot versenkt worden. Während Koschjelkin weiter geduldig wartete, wurden alle Unterlagen zur For schungsreise des jungen Sprachwissenschaftlers durch Artilleriebeschuss auf das Verwaltungsgebäude seiner Alma Mater (ЛГУ) vernichtet. Nachdem seine Eltern, sein Doktorvater sowie die meisten seiner Kommilitonen im belagerten Leningrad verhungert oder erfroren waren, fragte niemand mehr nach Aleksej Timofejewitsch Koschjelkin. Er war, wie die Waka-Jawaka, »ein Stück weit aus der Geschichte gefallen«.3

Um weiterhin seine Pflichten beim Fangen der Fliegenden Fische erfüllen zu können, musste Koschjelkin das Petroleum und den verbliebenen Docht streng rationieren. Der Teevorrat war bereits erschöpft, und sein zerschlissenes Zelt würde der kommenden Regenperiode nicht standhalten können. Nachdem er eine Unterkunft nach dem Vorbild der Jawakanischen Rundhütte errichtet hatte, suchte Koschjelkin sich neue Ziele. Mangels Bibliothek war weder eine Vergleichsstudie des Waka-Jawakanischen mit anderen alten asiatischen Sprachen realisierbar, noch dessen Rückführung auf eine gemeinsame Ursprache. Daher entschloss er sich, eine künstliche Sprache zu entwickeln und deren Grammatik zu verfassen. Dieses Projekt sollte seinen linguistischen Sachverstand wachhalten und »Inseln der Sinnhaftigkeit in der zäh verrinnenden Wartezeit«4 hervorbringen. Sein Tagebuch lässt keine Rückschlüsse darauf zu, ob er jemals den psychotropen Sud der Jawaka konsumierte – fest steht jedoch, dass seine Plansprache es nicht nur ermöglichen sollte, »unmißverständlich die Alltagswirklichkeit und jedwedes philosophische Konzept [zu] beschreiben«5, sondern auch »Einblicke ins Herz der Dinge adäquat wieder[zu]geben«6. Koschjelkin setzte sich klare Tages-, Wochen- und Monatsziele.

Im November 1944 hörte er Detonationen in der Ferne und sah tagelang tiefschwarzen Rauch über dem Horizont aufsteigen. Kaum hatten sich die Schwaden verzogen, konzentrierte er sich wieder auf seine Schöpfung.

Ihre erste öffentliche Erwähnung fand die Plansprache К in der 2007 erschienenen Grammatik des Waka-Jawakanischen. Diese war Teil einer Jubiläumsreihe der Sankt Petersburger Philologischen Fakultät, zu deren Herausgabe sich Dr. Leonid Arkadjewitsch Lalikow hatte verpflichten lassen. Der junge wissenschaftliche Mitarbeiter, der sich in einem Gemeinschaftsbüro einen Schreibtisch mit zwei Kollegen teilen musste, nutzte jede Möglichkeit sich zu profilieren.

Im Vorwort der Grammatik berichtet Dr. Lalikow von einem kleinen, mit kyrillischen Initialen beschrifteten Deckelfass: Eine greise Jawaka habe es indischen Marinepiloten übergeben, als diese nach dem Tsunami im Dezember 2004 die Leichen der ertrunkenen Waka bargen. Am Ende einer einjährigen Odyssee durch indische Amtsstuben und Abstellräume sei das Fass beim Russischen Konsul in Mumbai gelandet. Dessen Mitarbeiter identifizierten die Staatliche Universität Sankt Petersburg (СПбГУ) als rechtmäßigen Eigentümer.

In dem Fass befanden sich neben dem druckfertigen Manuskript und einem Tagebuch fünf durchnummerierte Kladden. Auf insgesamt 481 eng beschriebenen Seiten habe Koschjelkin die Grammatik und den Grundwortschatz einer komplexen künstlichen Sprache entwickelt – viel mehr gab Dr. Lalikow an dieser Stelle nicht preis, stellte allerdings eine kritische Ausgabe aller Aufzeichnungen zur Plansprache К in Aussicht.

Diese ließ noch immer auf sich warten, als das populärwissenschaftliche Magazin Kogniterra7 im Juli 2008 über Koschjelkins Kunstsprache berichtete: Diese zeichne sich durch eine Effizienz aus, die alle bisher bekannten natürlichen und künstlichen Sprachen weit übertreffe. Nach Dr. Lalikows Schätzung sei mit К – bei vollständiger Beherrschung – eine Beschleunigung der Denkprozesse um das Zwei- bis Dreifache zu erwarten.

In den folgenden Wochen sah sich die Redaktion der Kogniterra einer Leserbriefschwemme ausgesetzt: Neben vereinzelten Hinweisen auf altbekannte Kritikpunkte zur Sapir-Whorf-Hypothese und zum Heinlein-Koeffizienten, der den Berechnungen der erreichbaren Denkgeschwindigkeit zugrunde lag, fanden sich zahlreiche Bitten um ausführlichere Informationen sowie um persönlichen Kontakt zum Autor des Artikels. Mehrere Abonnenten forderten die Redaktion dazu auf, alsbald Lernmaterialien zu der Plansprache bereitzustellen. Ein anonymer Major a. D. hingegen drängte darauf, jegliche Details aus Gründen der nationalen Sicherheit unter Verschluss zu halten und auf Anweisungen zu warten – er habe seine ehemalige Dienststelle bereits über К in Kenntnis gesetzt.

In der nachfolgenden Ausgabe der Kogniterra spekulierte der bulgarische Neuroinformatiker Dragan Radew darüber, ob Aleksej Koschjelkin in den Jahrzehnten des Wartens womöglich verrückt geworden sei. Sofern dies zutreffe, sei dessen konstruierte Sprache beinahe zwangsläufig mit »psychoaktivem Schadcode«8 kontaminiert. Dieser werde umso stärker auf das Denken übergreifen, je umfassender man К beherrsche, warnte Radew.

Sein rumänischer Rivale, Professor Brătescu, wies diese Hypothese in einem Gespräch mit dem Chefredakteur der Kogniterra als »vollkommen haltlos«9 zurück. Darüber hinaus mahnte Brătescu eine kritischere Sicht auf Dr. Lalikows Berechnungen an: Bei einer weniger konservativen Handhabung der Heinlein-Faktoren könne von К durchaus eine vierfache Beschleunigung der Denkprozesse erwartet werden.

Dem wollte Dr. Lalikow keinesfalls widersprechen.

Beflügelt durch den Erfolg seiner Einführung inК richtete Professor Lalikow seit 2010 regelmäßig Privatkurse aus. Den Teilnehmern standen jeweils russische und englische Unterrichtsmodule zur Auswahl; darüber hinaus stellte Lalikow Übungsmaterialien in elf weiteren Sprachen zur Verfügung. Mit Rückendeckung des Rektorats der СПбГУ konnte er die Originalaufzeichnungen zu К konsequent unter Verschluss halten – musste im Gegenzug allerdings eine Beteiligung an all seinen Erlösen einräumen. An der Philologischen Fakultät hieß es hinter kaum vorgehaltener Hand, der Umfang von Lalikows Lektionen orientiere sich stärker an dessen Gewinnmarge als am Lernergebnis der Schüler. Derlei Nachrede keine Beachtung zu schenken, fiel Lalikow angesichts des anhaltenden Zuspruches leicht: Seine Klientel wusste sowohl den exklusiven Lehrstoff als auch die luxuriöse Lernatmosphäre an der Schwarzmeer-küste zu schätzen. Professor Lalikow selbst sah sich bereits nach einem ufernahen Baugrundstück für eine Datscha um.