Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Tradition, zur kalten Jahreszeit Spukgeschichten zu lesen, hat sich über die Jahrhunderte hinweg bewährt. Denn was gibt es Schöneres, als es sich an langen, dunklen Winterabenden mit Geistergeschichten gemütlich zu machen? Wenn die Dunkelheit hereinbricht und der Nebel aufsteigt, zünden Sie sich also eine Kerze an und lassen Sie sich von diesen gespenstischen Erzählungen in den Bann ziehen. Ein heimgesuchtes Herrenhaus, ein unheilvolles Theaterstück und eine Geisterbeschwörung zaubern Ihnen eine wohlige Gänsehaut und bescheren Fans von Charles Dickens, Edgar Allen Poe oder Downton Abbey ein fesselndes Lesevergnügen. In ›Wintergeister‹ hauchen sechs hochgelobte Autor*innen und Expert*innen des unheimlichen Erzählens der Tradition des Schauermärchens neues Leben ein. Diese atmosphärischen Spukgeschichten sind der perfekte Begleiter für frostige Nächte!
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lange kalte Nächte laden dazu ein, in die Welt der Geister einzutauchen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht und der Nebel aufsteigt, ist es Zeit, eine Kerze anzuzünden und sich von diesen gespenstischen Erzählungen in den Bann ziehen zu lassen. Heimgesuchte Herrenhäuser und verschneite Friedhöfe, ein unheilvolles Theaterstück und eine verheerende Totenbeschwörung bescheren den Lesenden eine wohlige Gänsehaut. Mit reichlich britischem Charme bieten diese stimmungsvollen Spukgeschichten ein fesselndes Lesevergnügen für Fans von Charles Dickens, Edgar Allen Poe oder ›Downton Abbey‹.
In ›Wintergeister‹ erwecken sechs hochgelobte Autor*innen und Expert*innen des unheimlichen Erzählens die Tradition des Schauermärchens zu neuem Leben: der perfekte Begleiter durch die kalte Jahreszeit.
»Eine packende Sammlung schauriger Geschichten.
Unheimlich und stimmungsvoll!«
Bridget Collins, Andrew Michael Hurley, Jess Kidd, Catriona Ward, Susan Stokes-Chapman und Laura Purcell sind vielfach ausgezeichnete und allesamt ins Deutsche übersetzte Autor*innen.
Sibylle Schmidt hat in Berlin Theaterwissenschaften und Amerikanistik studiert. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. JP Delaney, Ciara Geraghty und David James Poissant.
Bridget Collins, Andrew Michael Hurley, Jess Kidd, Catriona Ward, Susan Stokes-Chapman, Laura Purcell
WINTERGEISTER
Schaurige Geschichten für frostige Nächte
Aus dem Englischenvon Sibylle Schmidt
Die aufgeführten Erzählungen entstammen der Anthologie
›The Winter Spirits‹, die 2023 bei Sphere, London erschienen ist.
›The Gargoyle‹ Copyright © Bridget Collins, 2023
›The Old Play‹ Copyright © Andrew Michael Hurley, 2023
›Ada Lark‹ Copyright © Jess Kidd, 2023
›Jenkin‹ Copyright © Catriona Ward, 2023
›Widow’s Walk‹ Copyright © Retter Enterprises Limited, 2023
›Carol of the Bells and Chains‹ Copyright © Laura Purcell, 2023
E-Book 2024
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
nach der Originalausgabe © Lisa Perrin,
Umschlagillustration: Sophie Harris – LBBG
Illustrationen im Innenteil: © Lisa Perrin
Satz: Fagott, Ffm
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1068-1
www.dumont-buchverlag.de
Bridget Collins
DER WEG VOM BAHNHOF war steil und beschwerlich, vor allem mit einem Koffer in jeder Hand. Als Ash das Steintor zur Altstadt erreichte, schwitzte sie stark, trotz des kalten Winds, der vom Meer herüberwehte. Eigentlich hatte sie geglaubt, abgesehen von ihrer Reiseschreibmaschine leichtes Gepäck zu haben, doch jetzt schmerzten ihr die Arme. Sie ließ den Blick über den grauen Ozean in der Ferne schweifen und hätte am liebsten die Koffer über die Brüstung geworfen, um dem ganzen bizarren Unterfangen ein Ende zu bereiten. Doch sie nahm sich zusammen, bewegte die steifen Finger und griff wieder nach ihrem Gepäck. Von hier aus würde es nicht mehr weit sein.
Zuletzt war sie als Kind in Lye gewesen, hatte das Städtchen vom Sommer verzaubert in Erinnerung. Es war ein geheimnisvoller Ort mit lauter verwinkelten Gassen, ein verwunschenes Labyrinth aus Licht und Schatten. Mit Isabel – ihrer großen Liebe, damals schon – war sie durch die Watchbell Street gerannt, berauscht von der Hitze und dem salzigen Geschmack des Meeres auf der Zunge, ausgelassen kichernd, als sie auf dem Kopfsteinpflaster ausrutschten oder mit muffelnden alten Männern zusammenstießen. Später, sie erinnerte sich noch gut an jenen hellen Abend, schlenderte sie, Hand in Hand mit Isabel, weit hinter Onkel und Tante, am King’s House vorbei, an der alten Apotheke und dem roten Schulgebäude, an Gärten hinter verwitternden Mauern, vorbei an Häusern mit Bleiglasfenstern und Blumenkästen mit üppigen blauen Lobelien, Häusern mit Wappen, niedrigen Türen, schiefen Dächern und Schornsteinen. Ein magischer Tag war es gewesen, eine beglückende Auszeit von der Trunksucht ihres Vaters und den Skandalen ihrer Mutter, ein Tag mit steinernen Nixen, Erdbeereis und Isabels heißer Hand in der ihren. Seither wurde Ash jedes Mal warm ums Herz, wenn der Name »Lye« ihr begegnete, und sie lächelte so verträumt, als läge dieser Tag ein ganzes Leben zurück und nicht nur zwanzig Jahre. Deshalb – o Gott, wahrhaftig aus einem derart dürftigen Grund? – hatte sie sich von Edwin zu dieser absurden Unternehmung überreden lassen und schleppte sich nun durchgefroren die East Street entlang, wo sie ständig drohte von dem schmalen Gehweg auf die Straße zu geraten. Weil sie sentimental und töricht gewesen war, schalt sich Ash. Weil sie nicht bedacht hatte, dass es hier im Dezember keinen Sonnenschein und keine Rosenpracht gab. Und weil sie in Sehnsucht und Nostalgie verfallen war, als Edwin von seinem »Häuschen in Lye« gesprochen hatte.
Obwohl … Nein. So war es zwar gewesen, aber nicht nur. Als sie zustimmte, wollte sie bereits verzweifelt aus dem Büro flüchten, bemüht, ihre Scham zu verbergen, und hätte auch genickt und eingewilligt, wenn Edwin ihr eine Reise nach Timbuktu vorgeschlagen hätte. Ihr Zustand war ihm gewiss nicht entgangen, doch er setzte, taktvoll, wie er nun einmal war, seine Brille ab und säuberte sie mit seinem Taschentuch. »Nur eine kleine Auszeit«, sagte er. »Zeit für dich allein, damit du dich besser konzentrieren kannst. Um die Muse hervorzulocken.« Er setzte die Brille wieder auf. »Nun komm schon, Liebes, schau nicht so betroffen. Mich wundert das gar nicht, dass dein zweiter Roman dir Schwierigkeiten macht. Diese erste Fassung ist vielversprechend. Aber eben noch nicht … nun ja.« Er hielt die Hände beschwörend über das Manuskript. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Buch am Ende so gut sein wird wie das erste. Es muss nur noch gründlich überarbeitet werden. Und dafür sind ein paar Tage Alleinsein genau das Richtige.«
Sie wich seinem Blick aus und zündete sich eine Zigarette an. Als Mann, dachte Ash, hätte sie Edwin gepackt, zum Fenster geschleift und ihn draußen über dem tosenden Londoner Straßenverkehr baumeln lassen, zappelnd und flehend. Dann hätte sie ihn gefragt, wie zum Teufel sie in drei Monaten einen Roman umschreiben sollte, wenn ihr nicht einmal einleuchtend erklärt wurde, was damit nicht stimmte. Diese Vorstellung war so intensiv, dass Ash förmlich spürte, wie ihre Beinmuskeln sich anspannten, um das schwere Gewicht zu halten. Schließlich sagte sie kleinlaut: »Und wenn es nicht … wenn es mir nicht gelingt …?«
»Sei nicht albern, Liebes. Du hast großes Talent. Darauf musst du vertrauen. Nein, nein«, Edwin hielt den Zeigefinger hoch, »so etwas will ich überhaupt nicht hören. Die Autorin von Felicity hat eine Verpflichtung gegenüber ihren Lesern. Fahr nach Lye, mach dich ans Werk und bring mir dann deinen Geniestreich.« Er schob das Manuskript über den Tisch. »Und guck nicht so böse. Wir wissen doch beide, dass Weihnachten für dich immer eine Qual ist und dass deine elende Cousine dich an der Nase herumführt.«
»Isabel fährt nach Sankt Moritz.«
»Dann hast du doch ohnehin keinen Grund, dich zu weigern, oder?«, erwiderte Edwin.
»Das habe ich ja auch gar nicht. Also gut.« Ash drückte die Zigarette aus, griff nach dem zerlesenen Manuskript, klemmte es sich unter den Arm und stand auf.
»Ist wirklich ein uriges Häuschen«, fügte Edwin hinzu, »mit Blick auf den Kirchhof … Und der Ort ist ja sehr malerisch … Schriftsteller haben da auch gelebt …«
Doch sie hatte sich nicht mehr beherrschen können und beim Rausgehen die Tür so wütend hinter sich zugeknallt, dass anschließend das Schild mit der Aufschrift Edwin Guddle, Literaturagent schief hing. Ash hatte es nicht zurechtgerückt.
Zunächst hatte sie sich dem Irrglauben hingegeben, das Schlimmste überstanden zu haben – doch wie naiv sie gewesen war! Seit dem Tag in Edwins Büro waren Scham und Ohnmachtsgefühle immer bedrängender geworden, sodass ihr nun regelrecht graute bei der Vorstellung, ohne Ablenkung mit ihrem Roman allein zu sein. Sie hätte niemals hierherkommen sollen. Da wäre es wahrhaftig noch besser gewesen, in London an albernen Weihnachtsfeiern teilzunehmen, die missmutigen Blicke am Esstisch ihres Stiefvaters zu ertragen oder sogar schweigend bei ihrer Tante in Norfolk herumzusitzen, ohne Isabel …
Ash blieb erneut stehen, stellte ihre Koffer ab und befahl sich, das Selbstmitleid abzuschütteln. Sie hatte die Kirche erreicht. Dort, auf der anderen Seite des Friedhofs, standen einige Fachwerkhäuser, deren schwarz-weiße Fassaden im Winterzwielicht zu verschwimmen schienen. »Bei der Fishgut Alley«, hatte Edwin gesagt. Es musste das Haus mit dem vorragenden Giebeldach sein. Hinter den Vorhängen meinte Ash, das rötliche Licht eines Kaminfeuers zu erkennen, was immerhin eine Verheißung war. Sie ging schnell und geriet dabei auf dem feuchten Kopfsteinpflaster ein wenig ins Schlittern, wodurch sie das Gewicht des schweren Eisenschlüssels in ihrer Manteltasche spürte. Und dann, endlich, schloss sie die schwere Tür auf und betrat einen niedrigen warmen Raum, erfüllt vom Schein des lebhaften Feuers. Sie war dem Winterabend entkommen.
Einen Moment lang blieb sie stehen, atmete nur ein, nahm den Geruch von rauchigem Kamin und Möbelpolitur wahr. Das Licht der Flammen schimmerte auf Tisch und Stühlen, spiegelte sich in einem silbernen Kerzenleuchter und einem Flaschenschiff. Der Teppich vor dem Kamin war ausgeblichen, der Polstersessel etwas abgewetzt; nichts wirkte neu oder makellos, aber genau deshalb strahlte der Raum eine tröstliche Behaglichkeit aus, etwa wie der abgegriffene Umschlag eines Lieblingsbuchs. Die Lampe am Fenster surrte leicht in einem Windzug und leuchtete plötzlich heller, wie um Ash zu begrüßen. Auf einer Seite neben dem Kamin gab es eine niedrige Tür, zur Speisekammer vermutlich, auf der anderen Seite führte eine schmale Stiege ins Obergeschoss. Als ein Holzscheit in den Flammen zerbrach und ein Funkenschauer aufstieg, erwachte Ash aus ihrer Reglosigkeit und begann, ihr Domizil zu erkunden.
Ihre Vermutung war richtig gewesen, hinter der Tür befand sich eine kleine Küche samt Speisekammer. Der Herd war angefeuert und noch heiß, auf der Anrichte stand neben einer Flasche Wein eine Kasserolle mit Deckel, die einen Kartoffeleintopf enthielt. Ein runder Rosinenkuchen war mit einem blütenweißen Geschirrtuch abgedeckt. Sie öffnete ein Schränkchen, in dem sie etliche Konservendosen vorfand. Darum hatte sie gebeten – selbst kochen zu können, um zeitlich unabhängig zu sein. Keine abwechslungsreiche Ernährung, aber sie würde damit auskommen. Als Ash sich wieder aufrichtete, fiel ihr an der Hintertür ein goldfarbener Schimmer auf. Sie trat näher und lachte leise. Sechs Flaschen Whisky mit einer Karte: Viel Erfolg, meine Liebe. E. Edwin hatte ihr die Unbeherrschtheit offenbar verziehen.
Ash suchte nach einem Glas, öffnete eine der Flaschen und schenkte sich großzügig ein. Dann stieg sie mit dem Glas in der Hand die Treppe hinauf. Der Whisky kribbelte in ihrem Mund, Wärme strömte in ihre Glieder, breitete sich angenehm in ihrem Bauch aus. Im Obergeschoss mit den niedrigen Deckenbalken und dem Dielenboden gab es ein kleines Schlafzimmer mit einem Fenster an jeder Seite. Auf dem Bett lag eine etwas ausgefranste Patchworkdecke, doch alles war tadellos sauber, die Matratze fest. Nebenan befand sich ein geräumiges Zimmer mit einer Wand voller Bücher und einem Schreibtisch am Fenster. Ash beugte sich über den Tisch und schob den Vorhang zur Seite. Draußen zeichneten sich die Umrisse des Kirchturms vor dem wolkenverhangenen Abendhimmel ab. Als sie den Vorhang zuziehen wollte, bewegte sich plötzlich etwas Schwarzes vor ihren Augen. Erschrocken fuhr sie zurück. Dann sah sie, dass am obersten Ast der Buche noch ein letztes Büschel Blätter hing, das vom Wind gezaust wurde. Dieselbe Bö brachte auch die Fenster zum Klappern, und Ash fröstelte unwillkürlich. Die Szenerie war derart düster, dass sie gut in einen Schauerroman gepasst hätte. Bestimmt hätte Edwin bei der Schilderung kahler Äste in der Winterdämmerung, dunkler Wolken über dem Kirchturm und von Wasserspeiern auf dem Kirchendach, die auf den Friedhof hinunterspähten, Ausgezeichnet! an den Rand geschrieben. Und wäre Isabel hier gewesen, hätte sie gewiss schaudernd Ashs Hand ergriffen und »Oh, wie herrlich unheimlich!« gewispert. Doch an diesem Abend wollte Ash weder ans Schreiben noch an Isabel denken und zog den Vorhang rasch wieder zu.
Nach einem flüchtigen Blick ins Badezimmer, das nagelneu und gepflegt war, da Edwin auf einen gewissen Luxus Wert legte, ging sie wieder nach unten. Die Lampe flackerte erneut zur Begrüßung, und Ash sank in den Sessel, mit einem Mal so müde, dass sie auf der Stelle hätte einschlafen können. Das Feuer war weiter heruntergebrannt, sie würde bald ein Scheit nachlegen müssen, aber noch nicht jetzt. Als Ash das Glas an die Lippen setzte, stellte sie verwundert fest, dass es schon leer war. Grund genug, um sich wieder aufzuraffen. Mehr Whisky und Abendessen. Ziemlich früh, es war noch nicht einmal fünf, aber sie fühlte sich etwas benebelt und hatte Hunger, und außerdem schrieb ihr hier niemand die Essenszeiten vor. Auspacken würde sie morgen – Manuskript und Notizen, die treue Reiseschreibmaschine. Und arbeiten … würde sie auch erst morgen.
In der Küche hob Ash den Topf auf den Herd, ein wenig ungeschickt, sodass etwas Eintopf herausschwappte und ihr ein würziger Duft in die Nase stieg; sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte so laut, dass sie an nichts mehr denken konnte außer an die Mahlzeit.
Als Ash später die Treppe hinauftappte, war es immer noch früh am Abend. Nach der Erschöpfung von der Reise trat jetzt die Wirkung des köstlichen Mahls ein, zu dem sie sich eine halbe Flasche Wein genehmigt hatte. Es gelang Ash nur mit Mühe, die Augen offen zu halten. In fremden Betten hatte sie oft Schwierigkeiten einzuschlafen, aber kaum sank sie auf das frisch duftende Kissen, war sie auch schon weggedämmert.
Eine Weile schlief sie tief und traumlos, doch dann wurde sie durch einen unangenehmen Druck auf der Blase wach. Einen Moment lang wusste Ash nicht, wo sie war, und tastete im Dunkeln nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe; erst als eine Streichholzschachtel rasselnd zu Boden fiel, kehrte die Erinnerung zurück, dass es hier keinen Strom gab. Sie stand auf, tastete sich vorsichtig zum Badezimmer, erleichterte sich und tappte benommen zurück. An der offenen Tür zum Arbeitszimmer blieb sie stehen; sie hatte die Vorhänge nicht vollständig zugezogen. Durch den Spalt konnte sie auch von der anderen Seite des Raums die knorrigen Zweige der Buche erkennen und dahinter den trutzigen Turm an einer Seite des Kirchendachs. Gerade wollte Ash sich abwenden, als etwas ihre Aufmerksamkeit fesselte – etwas, das sie nicht genau erspüren konnte, das sie jedoch dazu veranlasste, weiter in die Finsternis zu spähen. An der Kirche schien etwas verändert zu sein. Irgendeine kleine, aber charakteristische Einzelheit.
Plötzlich war über ihr ein Scharren zu hören. Sie erstarrte, vergaß alles andere.
Mäuse. Nein. Ratten.
Ash holte tief Luft. Für Ratten konnte sie sich wahrlich nicht begeistern. Wäre Isabel hier gewesen, hätte sie gewiss tapfer gelacht und sich bemüht, furchtlos zu wirken; aber Ash stand mit geballten Fäusten stocksteif da und wäre am liebsten sofort aus dem Haus gerannt. Sie spürte einen eiskalten Schauer im Nacken, der ihr den Rücken hinunterkroch. Stille, in der sie nur das aufgeregte Hämmern ihres Herzschlags wahrnahm – dann war der Laut aufs Neue zu hören, ein langsames, beinahe schwerfälliges Schaben, als kratze jemand mit etwas Spitzem über Stein. Konnte das eine Ratte sein? Das Geräusch klang viel zu deutlich, zu gewichtig, zu – sie kniff die Augen zusammen – absichtlich. Vielleicht war es ein größeres Tier. Ein Eichhörnchen? Eine Katze? Doch das trockene Scharren erinnerte eher an ein Reptil. Es klang merkwürdig absichtsvoll; so absurd es auch war, Ash glaubte, eine beinahe menschliche Geisteskraft zu spüren, klug und schnell und berechnend …
Urplötzlich verstummte das Geräusch, zu plötzlich, denn was es auch war, es verharrte jetzt direkt über ihr. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es von ihr wusste und abwartete. Auch sie wartete, hielt den Atem an, so angespannt, dass es ihr vorkam, als könne ihre Lunge jeden Augenblick platzen. Dann ertönte es erneut, ein langsames sprödes Krabbeln, Knirschen, ein Sprung …
Etwas hing am Dachvorsprung. Dann streifte es die Scheibe. Ash stand reglos da, zögernd; doch als sie ihren ganzen Mut zusammennahm und zum Schreibtisch ging, um näher an das Fenster zu treten, kroch das Tier blitzschnell davon und war im Nu spurlos verschwunden.
Erleichtert stützte sich Ash auf den Schreibtischstuhl, weich in den Knien. Wie idiotisch von ihr! Natürlich war das nur eine Ratte gewesen, was denn auch sonst, man würde Gift auslegen müssen. Sich so von einem Nagetier erschrecken zu lassen! Sie hatte wirklich keinen Mumm mehr.
Sie schloss die Tür zum Arbeitszimmer und tastete sich zum Bett zurück. Ein paar Minuten lang lag sie starr da und horchte, aber das Geräusch war nicht mehr zu hören. Schließlich zog sie die Decke bis ans Kinn hoch, und als kurz darauf Regentropfen ruhig und stetig an die Fenster prasselten, fand sie in den Schlaf zurück.
Am nächsten Morgen stellte Ash fest, dass kein Kaffee im Haus war. Sie verfluchte Edwin und machte sich stattdessen schläfrig eine Kanne pechschwarzen Tee, die sie in ihrem Ärger auch noch beinahe umgestoßen hätte. Bei der zweiten Tasse ließ sie sich viel Zeit und beobachtete den dichten Schneeregen in der Fishgut Alley, um den Arbeitsbeginn hinauszuzögern. Weil ihr aber bewusst war, dass sie miserable Laune bekommen würde, wenn sie noch länger herumtrödelte, stapfte sie schließlich die Treppe hinauf, nahm das Manuskript aus dem Koffer und setzte sich an den Schreibtisch, um es von Anfang an durchzugehen.
Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, lehnte sie sich niedergeschlagen zurück und massierte ihren schmerzenden Nacken. Jetzt konnte sie nicht mehr umhin, sich einzugestehen, dass sie insgeheim gehofft hatte, der Roman wäre vielleicht doch nicht so schlecht und man könne mit ein paar Beschreibungen, Streichungen und Ergänzungen das Ganze in wenigen Tagen ausbessern. Doch das trübe Winterlicht machte endgültig jeder Illusion den Garaus. War die fade, langweilige Heldin wirklich angelehnt an Isabel, deren kleinste Geste bei Ash heftiges Begehren auslöste? Wieso nur hatte sie übersehen, dass sämtliche anderen Figuren hölzern und leblos waren und die Dialoge unbeholfen? Dass die Handlung auf tönernen Füßen stand? Sie hatte schon mitreißendere Grabinschriften gelesen. Es gab keinen Weg, bei dem nicht jede Seite einzeln überarbeitet werden musste – und damit nicht genug: Ash hatte nicht den geringsten Einfall für die notwendigen Verbesserungen. Kein Funke sprang über, keine Idee schoss ihr durch den Kopf – der gesamte Roman war so flach wie das Papier, auf dem er getippt worden war. Edwin war sogar noch schonend mit ihr umgegangen, als er sagte, das Manuskript sei »vielversprechend«.
Die Kirchturmuhr schlug zwölf. Ash stützte den Kopf in die Hände. Sie war froh, dass das Feuer im Kamin nicht mehr brannte, denn die Versuchung, den ganzen Papierstapel den Flammen zu übergeben, war gewaltig.
Verflucht. Ash schob den Stuhl so ruckartig zurück, dass er beinahe umkippte. Auf keinen Fall würde sie weiter hier herumsitzen, Trübsal blasen und sich in Selbstmitleid hineinsteigern. Frische Luft und Bewegung waren jetzt vonnöten. Während der Arbeit an Felicity hatte ein Spaziergang die fast versiegte schöpferische Quelle immer wieder zum Sprudeln gebracht, und Ash war mit neuer Schaffenskraft an den Schreibtisch zurückgekehrt. Disziplin, Entschlossenheit und das eiserne Verbot, sich Schwäche zu erlauben – das war das beste Rezept, für die Kunst wie für das Leben. Ash eilte die Treppe hinunter, schlüpfte in ihren Mantel und trat hinaus in den Wintertag, bevor sie wankelmütig werden konnte.
Immerhin hatte der Schneeregen inzwischen aufgehört. Sie marschierte los, gegen den eisigen Wind gestemmt, links am Friedhof entlang und dann in die West Street. Dieses eilige Tempo hielt sie allerdings nicht lange durch und blieb schließlich an der nächsten Ecke stehen. Zwischen den Hauswänden war sie vor den Böen geschützt, doch die gnadenlose Kälte kroch ihr ohnehin in die Knochen. Sie stand an einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert und erinnerte sich, wie ihr Onkel Anthony an jenem Sommertag darüber gesprochen hatte. »Hier«, hatte er feierlich erklärt, »lebt der berühmte Schriftsteller S. L. Amies.« Natürlich hatten Isabel und sie noch nie von ihm gehört, spähten aber damals neugierig in die Fenster und kreischten und kicherten, als jäh eine knochige, gichtige Hand an dem vergilbten Spitzenvorhang zupfte. Amies war schon lange verstorben, was Ash nicht als großen Verlust für die Welt der Literatur empfand. Sie hatte nichts übrig für die Gruselgeschichten, die er verfasst hatte. Ihrer Ansicht nach taugten Bücher nichts, die es nötig hatten, die Grenzen der Wirklichkeit zu sprengen. Doch bei diesem Gedanken spürte sie auf einmal einen Anflug von Scham – wer war sie denn schon, sich über andere ihrer Zunft erhaben zu fühlen? Ash verzog das Gesicht und ging weiter, die Mermaid Street entlang.
Als sie an dem alten Gasthaus vorbeikam, war die Verlockung groß, sich dort am Kamin mit einem Grog aufzuwärmen. Aber der durfte sie nicht nachgeben, damit war nichts gewonnen, und so marschierte sie weiter, bergab über das holprige Kopfsteinpflaster, bog dann wieder links ab und trat schließlich durch das steinerne Torhaus auf die High Street. Mittlerweile schmerzten ihre verkrampften Schultern, ihr Gesicht fühlte sich vor Kälte fast taub an, und als sie am Buchladen vorbeikam, ging sie kurz entschlossen hinein.
Eigentlich hatte sie nur einen Moment lang durchatmen und sich in der Wärme entspannen wollen, doch die junge Buchhändlerin warf ihr einen forschenden Blick zu, und so trat Ash rasch in eine Nische zwischen zwei Regalen. Dort traf sie unversehens auf den Mann, zu dem die knorrige Hand gehört hatte: An der Wand hing ein Porträt von S.L. Amies und darunter, würdevoll präsentiert auf schwarzem Stoff in einem vergoldeten Bilderrahmen, eine Kurzbiografie. Offenbar gab es nach wie vor Menschen, die sich für kindische Gruselgeschichten begeisterten und womöglich an derlei Humbug glaubten. Mit finsterem Blick starrte Ash auf das Gemälde des alten Mannes, voller Neid auf seinen Erfolg, seinen Ruhm und sein Geschlecht. Er hatte sich gewiss nicht anhören müssen, er wäre übertrieben ehrgeizig, unweiblich oder gar pervers … Doch während sie dem Mann auf dem Bild in die Augen sah, erstarb ihr Groll nach und nach. Es war schlechterdings unmöglich, einen Menschen zu beneiden, in dessen Blick solche Qual zu erkennen war. Ash biss grimmig die Zähne zusammen, um sich des Mitleids zu erwehren, das sie überkam. Sie betrachtete den Bücherstapel, auf dem Amies’ knochige Hand ruhte: Legenden des Grauens, Im schwarzen Schatten des Turms und – etwas beiseitegedreht, kaum zu erkennen – Doktor Faustus. Wie ungeheuer anmaßend, das geniale Werk von Christopher Marlowe zwischen seine eigenen Schundromane zu legen! Doch auf dem Porträt sah Amies weder überheblich noch eitel aus, nur Angst, unaussprechliches Leid und Unglück zeichneten sich auf seiner Miene ab. Die Ladentür klapperte, als eine heftige Bö dagegen prallte, und Ash schauderte unwillkürlich.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir … ich meine, Madam?«
Ash zuckte zusammen. »Nein, danke, nein …«, murmelte sie, drängte sich an der Buchhändlerin vorbei und steuerte hastig hinaus. Neben der Kasse erspähte sie einen Stapel von Felicity; normalerweise hätte sie ihn ausgiebig betrachtet, insgeheim hoffend, dass jemand sie erkennen und fragen würde: »Sagen Sie mal, sind Sie nicht Miss Ashwell Scott?« Doch jetzt lag ihr nur daran, sich möglichst schnell von diesem verstörenden Gemälde zu entfernen. Trotz der bissigen Kälte war Ash erleichtert, als sie wieder auf die Straße trat.
Entschlossen stapfte sie zum Kirchplatz zurück, ließ dabei die Arme schwingen, um sich warm zu halten. Doch kaum kam Edwins Fachwerkhaus in Sicht, erfasste Ash erneut der Widerwillen, sich dem Schreiben zuzuwenden. Am Nordeingang der Kirche blieb sie stehen, einen Augenblick zögernd. Eine wie sie war nicht willkommen bei der Church of England, das hatte Ash schon früh zu spüren bekommen. Stattdessen steckte sie die Hände in die Manteltaschen und nahm den Weg über den Friedhof, warf dabei immer wieder einen Blick auf die moosbedeckten verwitterten Grabsteine. Die meisten Inschriften waren kaum zu entziffern, vor allem in dem trüben Licht; zwar war es noch früh am Nachmittag, doch am Himmel hingen dichte Wolken, die dem Tag jegliche Helligkeit raubten. Ash erschauderte, und als sie am Westeingang vorbeikam, wo auf dem Kirchendach der trutzige Turm aufragte, der einem Schornstein ähnelte, blieb sie neben einer Stechpalme stehen und zog ihren Mantel dichter um sich. Er war aus dickem, robustem Tweed, schien aber bei dieser grausamen Kälte kaum dicker als Seide zu sein. Ash befahl sich, ins Haus zurückzugehen. Raus aus der Kälte, zurück an die Arbeit …
Als sie weiterging, blieb sie mit dem Fuß an einer Wurzel hängen, stolperte und suchte instinktiv Halt, um nicht zu stürzen. Ihre Hand landete auf einem kalten feuchten Stein – natürlich einem Grabstein, was sollte es hier auch sonst sein? Eine Ranke mit stachligen Blättern streifte ihre Schulter, als Ash sich bückte, um die Inschrift zu entziffern. Septimus Louis Amies, 1870–1919.
Sie war ein wenig stolz darauf, dass sie nicht erschrocken zurückwich, sondern sich lediglich aufrichtete und die Hand an ihrem Mantel abwischte. Es lag natürlich buchstäblich nahe, dass der Schriftsteller in der Nähe seines Hauses begraben war. Aber etwas konnte mit den Jahreszahlen nicht stimmen, der Mann auf dem Gemälde musste mindestens siebzig gewesen sein … Ash ging in die Hocke, um den Grabstein genauer zu betrachten, doch sie hatte sich nicht geirrt. Sie rümpfte die Nase, weil ihr ein unangenehmer Geruch auffiel; ein Tier schien sich hier regelmäßig zu erleichtern. Ash musste an Isabels giftigen kleinen Pudel denken – ein unerträgliches Biest, das bestimmt auch gern auf Gräber pinkeln würde, aber Isabel traten sofort Tränen in die Augen, wenn jemand schlecht über ihren Hund sprach. Irgendwann würde dem bösartigen Köter jemand den Hals umdrehen, und das wars dann.
Ash sah sich um. Auf dieser Seite der Kirche schien es noch kälter zu sein als auf der anderen, und der Friedhof wirkte kahler, als könnten Pflanzen hier schlecht gedeihen. Als sie aufblickte, wurde ihr klar, dass dieser Teil überschattet wurde von dem wuchtigen Turm, auf dem sie jetzt auch eine Gestalt entdeckte. Sie kniff die Augen zusammen, um sie besser zu erkennen. Ein Wasserspeier. Das unheimliche Wesen hielt irgendetwas in seinen steinernen Krallen, Ash meinte zu erkennen, dass es eine Schreibfeder war. Kein Engel mit Buch, sondern ein schreibender Dämon …
»Sie sollten lieber nicht hier rumstehn und glotzen.«
Ash fuhr herum. Ein alter Mann, dick eingepackt gegen die Kälte, stand hinter ihr. Seine Augen leuchteten wasserhell in dem wettergegerbten Gesicht.
»Ich kann stehen, wo ich will«, erwiderte Ash so entschieden wie möglich, doch der Mann betrachtete sie weiterhin mit feindseligem Blick.
»Ja, ja«, murmelte er, »dann bleiben Sie mal ruhig im Schneesturm stehn.« Er schlurfte an ihr vorbei und schlug ihre Hand weg, als er ins Straucheln geriet und Ash ihn stützen wollte. Am Ende des Pfads blieb der Alte noch einmal stehen, drehte sich um und wies mit dem Kinn nach oben. »Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er mit Grabesstimme. »Je länger Sie an so einem finsteren Tag hierbleiben … Den da oben dürstet es nach frischem Blut, seit vielen Jahren schon …«
»Was soll das …?«, begann Ash, doch der Alte zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab. Der Geruch von feuchter Wolle blieb in der Luft hängen, während er davonschlurfte. Ash biss sich auf die Lippe. Dem Gefasel eines griesgrämigen Greises würde sie doch wohl keine Bedeutung beimessen! Was er meinte, hatte sie nicht einmal richtig verstanden, sie war zu verblüfft gewesen über die merkwürdige Begegnung. Diese tiefhängenden Wolken konnten wohl schon Niederschläge bringen, aber selbst in einem Unwetter würde sie die wenigen Meter zum Haus noch zurücklegen können. Was für eine dramatische Unkerei von diesem Alten! Weit und breit war keine Schneeflocke zu sehen, ganz zu schweigen von einem Sturm oder Blitzen.
Doch sie hatte genug frische Luft und Bewegung gehabt. Ash versuchte sich einzureden, dass sie es nur wegen des unerträglichen Wetters eilig hatte, ins Haus zurückzukehren. Dennoch kostete es sie Überwindung, sich nicht mehr umzudrehen, als sie durch das Tor in der Friedhofsmauer trat und dem kleinen Haus zustrebte.
Es war sechs Uhr abends, als sie aufhörte zu arbeiten – wenn man dieses Wort dafür benutzen konnte, dass sie auf das leere Papier starrte, eine Namensliste ihrer Figuren anlegte und fluchend durchs Zimmer tigerte. Sie ließ nicht locker, bis ihre Augen brannten und ihr Kopf schmerzte und sie überzeugter denn je war, dass sie nichts zustande bringen würde. Schließlich stand sie so abrupt auf, dass sie fast ins Taumeln geriet. Als sie »Verflucht, verflucht, verflucht …« vor sich hin murmelte, merkte sie, dass ihre Stimme brach.
Ash strich sich durchs Haar und massierte ihre Schläfen. Einen Drink, eine Lesepause und vielleicht ein Bad brauchte sie jetzt, um sich abzulenken – um an irgendetwas anderes zu denken. Vielleicht sollte sie Isabel einen Brief schreiben … Nein. Das nicht. Erst wenn von Fortschritten mit dem Roman berichtet werden konnte. Erst wenn sie Isabel aufrichtig eine schöne Zeit beim Skifahren wünschen und ihr ein Treffen nach ihrer Rückkehr anbieten konnte, falls sie überhaupt Zeit hätte … Jetzt jedenfalls vor allem Whisky. Etwas, das von innen heraus wärmte.
Ash beschloss, unter allen Umständen einen angenehmen Abend zu verbringen, und das gelang ihr auch, obwohl sie sich beinahe zwingen musste, zu lesen, zu baden und sogar das Glas an die Lippen zu setzen. Nach dem Bad ging sie im Morgenmantel, leicht benebelt und mit feuchtem Haar, in die Küche hinunter und deckte den Tisch fürs Abendessen. Eine Portion Eintopf war noch übrig – mittags hatte sie nicht ans Essen gedacht. Sie genehmigte sich auch zwei große Stücke Rosinenkuchen, den Rest des Weins und eine Tasse heißen Tee mit viel Zucker und einem kräftigen Schuss Whiskey. Nach dem Mahl war sie etwas ausgeglichener. Die nächste Stunde verbrachte Ash auf dem Sofa mit der Lektüre von Das Liebesleid der Gräfin und fühlte sich sogar etwas getröstet. Denn sollte sie als Literatin tatsächlich scheitern, konnte sie immer noch ihren Lebensunterhalt mit dem Verfassen solcher Schmonzetten verdienen, die Edwin unbegreiflicherweise zu lieben schien. Doch dieser Gedanke war Unsinn – morgen würde sie den Durchbruch schaffen. Morgen oder übermorgen, es war nur eine Frage der Zeit. So oder so würde es gelingen …
Die Kirchturmuhr schlug zehn. Ash ließ das Buch sinken. Sie war erschöpft und fröstelte und musste sich ausschlafen, das würde ihr guttun. Aber aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht dazu aufraffen, die Treppe hinaufzusteigen, sich in dieses behagliche Bett zu legen und die Augen zu schließen. Tagsüber hatte sie den Gedanken an die nächtlichen Geräusche verdrängt; doch jetzt wollte sie nicht dort oben im Dunkeln liegen und horchen, ob das Scharren und Kratzen von Neuem begann. Sie schauderte. Und diese Kopfschmerzen! Auf dem Sofa konnte sie nicht liegen bleiben, sie bekam zu leicht einen steifen Nacken, und das Feuer, das sie aufgeschichtet hatte, war schon fast erloschen, obwohl es nur zur Hälfte heruntergebrannt war. Aber verdammt, sie war schließlich kein kleines Kind, das sich fürchtete, ohne Licht zu schlafen. Von ein paar Ratten konnte sie sich doch nicht an der Nachtruhe hindern lassen. Ash stand auf, marschierte mit trotzig vorgerecktem Kinn in die Küche, goss sich reichlich Whisky ein und trank einen großen Schluck. Dann stellte sie das Glas, immer noch zu einem Drittel gefüllt, auf den Tisch. Ihr war leicht schwindlig, die Lider waren ihr schwer geworden. Sie zündete eine Kerze an und tappte schwankend nach oben; im goldgelben Schein der flackernden Flamme schlief sie schließlich ein.
Als sie ruckartig erwachte, wusste sie nicht, wie spät es sein mochte. Die Kerze war erloschen, und Ash hätte sich weder rühren noch sprechen können, weil eine panische Angst sie erfasste. Stocksteif lag sie da, das Herz schlug ihr bis zum Hals. War sie an diesem Kratzen aufgewacht oder an einem anderen Geräusch? Oder grundlos? Doch, da war es. Ein trockenes Scharren von Krallen, das Schaben von hornigen Schuppen auf … Nein. Nichts. Oder doch? Weil ihr Herzschlag in ihren Ohren dröhnte, konnte sie nicht richtig hören. Die Luft war schneidend kalt. Ash bewegte mühsam die Finger, ballte sie zu Fäusten. Fahles Licht drang durch das Bleiglasfenster, sie hatte den Vorhang nicht zugezogen, und der Mond schien herein, zeichnete ein Muster auf den Boden. Doch dann verschwand der Mond hinter einer schwarzen Wolke, und es war erneut stockfinster im Raum.
Etwas beobachtete sie.
Keine Ratte. Etwas Unheilvolleres – etwas, das zumindest menschlich genug war, um ihr Böses antun zu wollen … Doch das war nicht möglich. Das Zimmer war leer, das hatte sie im Mondlicht sehen können. Dennoch spürte Ash mit untrüglicher Gewissheit, dass sie sich nicht irrte. Sie fühlte sich wie ein kleines Tier, das den Feind wittert, und dieser Instinkt war übermächtig, stärker als jede Vernunft. Aber hier ist doch niemand, dachte sie hilflos, ich bin allein …
Der Mond kam wieder in Sicht, so abrupt, als flammte vor dem Fenster ein kaltes weißes Licht auf. Jetzt sah sie es. Vor dem Rautenmuster der Bleiruten lauerte etwas – ein schwarzer unförmiger Klumpen, ein gestaltloses Gebilde, ein furchtbares Ding …
Hätte Ash schreien können, hätte sie es getan, aber ohnehin würde niemand sie hören, niemand ihr helfen. Sie schloss die Augen, als könne sie sich damit unsichtbar machen, doch es war noch schlimmer, nichts zu sehen. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, setzte sich auf und schaute wieder zum Fenster. Wenn etwas da draußen war …
Nichts. Sie sah nur die Kirche, die hohen Bäume, den von Wolken erneut halb verdeckten Mond. Und jetzt – sie blinzelte mehrmals – störte nichts die mathematische Präzision des Rhombenmusters, kein bedrohlicher Schatten.
Als Ash sich bewegte, hörte sie plötzlich ein Rasseln, direkt neben ihr. Etwas berührte ihr Bein. Panisch streckte sie die Hand aus, tastete im Bett herum und bekam die Streichholzschachtel zu fassen. Sie musste beim Abstellen des Kerzenleuchters ins Bett gefallen sein. Das Geräusch, das sie geweckt hatte, war also nur das Klackern der Streichhölzer gewesen, das in ihre Träume eingegangen war.
Sie gab ein halb ersticktes Lachen von sich. Hier war nichts, wovor man sich fürchten musste. Ihre Glieder kribbelten noch vor Angst, aber langsam beruhigten sich ihr Puls und ihr Atem. Ein Albtraum, nichts weiter. Als Kind hatte sie oft furchtbare Albträume gehabt, jetzt aber seit Jahren nicht mehr. Doch was erwartete sie denn auch, wenn sie in einem uralten Haus wohnte, in dem es Ratten und undichte Fenster gab, und zu viel Whisky trank? Langsam atmete sie aus. Nach und nach kehrte die Wärme in ihre Gliedmaßen zurück, und die Luft erschien ihr nicht mehr so vernichtend kalt. Ash schloss erneut die Augen.
Aber sie wurde die Angst nicht los. Um sich abzulenken, rief sie sich Bilder in Erinnerung: Isabels Gesicht in einer Illustrierten, das Säulenportal des British Museum, die Boote auf dem Fluss. Doch sosehr sie sich auch bemühte, mündeten ihre Gedanken stets in den Anblick der Kirche von Lye unter zerfetzten Wolken im bleichen Mondlicht. Vor ihrem inneren Auge erschien jedoch nicht die gewohnte Aussicht aus ihrem Fenster. Aus irgendeinem Grund sah sie sich am Grab von Amies stehen und noch oben schauen. Und jedes Mal jagte ihr das, was sie sah, einen solchen Schreck ein, dass sie schlagartig aufwachte. Sicherlich war das auch eine Auswirkung des Alkohols, sagte sie sich. Dennoch dauerte es lange, bis ein gnädiger Schleier dieses hartnäckige Bild verdeckte und der Schlaf sich einstellte.