Wir beide und das Leben - Yves Seeholzer - E-Book

Wir beide und das Leben E-Book

Yves Seeholzer

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Beschreibung

Mit 21 Jahren erhält Yves Seeholzer die Diagnose Krebs. Er entscheidet sich für die komplette schulmedizinische Behandlung. Nach überstandener Therapie gilt er als geheilt, doch der Krebs kommt zurück und Yves erkennt, dass es an der Zeit ist, sich mit der Ursache seiner Krankheit auseinanderzusetzen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Und so begibt sich Yves Seeholzer auf Reisen nach Südostasien, Neuseeland und Indien. Er lernt sich neu kennen, begegnet seiner Krankheit erstmals auf Augenhöhe und ihm wird klar, wie sehr er sich jahrelang selbst begrenzte. Heute hat Yves einen "Deal" mit dem Krebs: Beide dürfen nebeneinander bestehen. Er hat erkannt, dass der Krebs ihm auch Lehrer und Freund sein kann. Mit seinem Buch, in dem er auf berührende Weise seine Geschichte erzählt, möchte er andere junge Menschen ermutigen, sich und ihr Leben zu umarmen und der Stimme ihres Herzens zu folgen. Egal, ob sie gesund oder krank sind.

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YVES SEEHOLZER

WIRBEIDEUND

DER DEAL MIT MEINEM GEFÄHRLICHEN FREUND

DASLEBEN

Die Informationen und Ratschläge in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt von Autor und Verlag erarbeitet und geprüft. Alle Leserinnen und Leser sind jedoch aufgefordert, selbst zu entscheiden, ob und inwieweit sie die Anregungen in diesem Buch umsetzen wollen. Die erwähnten diagnostischen Methoden, Behandlungen oder Arzneimittel stellen keine Empfehlung oder gar Aufforderung zur Umsetzung dar. Der Text ersetzt keinesfalls die fachliche Beratung durch einen Arzt oder Apotheker und er darf nicht als Grundlage zur eigenständigen Diagnose und Behandlung von Krankheiten verwendet werden. Konsultieren Sie bei gesundheitlichen Fragen oder Beschwerden immer den Arzt oder Therapeuten Ihres Vertrauens! Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

1. eBook-Ausgabe 2019Originalausgabe1. Auflage© 2019 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenTitelfoto: Pascal WidmerUmschlagfoto hinten: Iwan Hediger & Yves SeeholzerLektorat: Susanne BroosSatz & Layout: Robert Gigler, MünchenGesetzt aus der Minion Pro

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95736-149-3

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.scorpio-verlag.de

INHALT

EINLEITUNG

UNSERE ERSTE BEGEGNUNG

Ich habe wirklich Krebs

ZURÜCK IN MEIN ALTES LEBEN –ODER DOCH NICHT?

Alles vergessen und nur noch weg!

ER IST WIEDER DA

Eine Entscheidung mit Folgen?

AUF IN EIN NEUES ABENTEUER

DER RUF NACH VERÄNDERUNG

BIS ANS ENDE DER WELT UNDDARÜBER HINAUS

Eine deutliche Botschaft

DER RUF NACH HAUSE

Alles muss so sein

Ich bin bereit

Ein seltsames Gespräch

Angekommen – Chedi Spring Valley

Feuer und Kräuter

Ein Buch mit großer Wirkung

Immer wieder diese Aufgabe

Mit allem verbunden

Alles anders als geplant

KOMMT ER NOCH MAL WIEDER?

Ich glaube, ich weiß jetzt, wie

Sprechen mit den Zellen

Die Angst, nicht zu existieren

Vertrauen statt Angst – alte Programme löschen

LOSLASSEN, UM FREI ZU SEIN

Sie oder ich?

Endlich sprach ich mit ihr

Ein Leben für ein anderes

ZEHN JAHRE SPÄTER

Von innen nach außen leben

Raus aus der Komfortzone

Die Kraft meiner Gedanken

Yoga als meine tägliche Stütze

DANK

ANMERKUNGEN

LITERATURHINWEISE

EINLEITUNG

Hey du!

Cool! Du hast mein Buch in der Hand. Suchst du etwas Bestimmtes? Vielleicht kann ich dir mit dem, was ich erlebt habe, weiterhelfen – eine Hand reichen.

Was dich in diesem Buch erwartet, ist eine richtige Achterbahnfahrt mit all ihren Höhen und Tiefen. Bist du bereit dafür, mir zur folgen? Gut, dann schnall dich an. Ich erkläre dir nur noch kurz ein paar Sicherheitshinweise.

Wir werden gemeinsam durch meine Vergangenheit reisen und dabei nichts auslassen. Du erfährst, wie ich mich fühlte, was der Krebs mit mir machte, aber auch, wie ich mich verhielt und, am wichtigsten, wohin er mich brachte. Dieser Weg war hart, und ich hatte mit vielen Ängsten und Sorgen zu kämpfen – ja, ich rang sogar mit dem Tod. Doch ich konnte darüber hinauswachsen und ich möchte dir zeigen, wie mein größter Feind zum besten Freund wurde. Dazu musste ich mich selbst über Bord werfen, mich aus den Wellen kämpfen, um dann erneut in die Tiefe zu stürzen – all das war notwendig, um mich selbst zu finden, mich zu erkennen und zu akzeptieren.

Du wirst erfahren, was mir auf meinem Weg der Heilung half, und auch, was mir nicht half, wie ich endlich Selbstverantwortung übernahm – und damit begann, mich selbst zu heilen.

Keine Angst, es geht nicht nur um Kämpfen, Siegen und den Krebs oder eine andere schwere Krankheit zu bekriegen. Sondern darum, zu akzeptieren, was das Schicksal für uns bereithält, sich dem Leben hinzugeben, zu lernen und das grenzenlose Potenzial, das uns allen zur Verfügung steht, zu erkennen und zu nutzen. Dies hat so viel mehr Bedeutung, als Krieg gegen sich selbst zu führen.

Ich würde mich freuen, wenn dir meine Geschichte Mut macht, auch wenn dein persönlicher Weg letztlich ein anderer sein wird als meiner. Bist du bereit?

3, 2, 1 – GO!

UNSERE ERSTE BEGEGNUNG

Ich war 18 Jahre alt, als ich IHM zum ersten Mal begegnete. Ich war gelernter Koch, kam aus einer ganz normalen Familie, der es materiell an nichts fehlte, und lebte bis zu dem Zeitpunkt, ohne mir wirklich viele Gedanke über das Leben an sich zu machen. ER war ein kleiner Knoten in meiner rechten Achselhöhle. Ohne lange nachzudenken, ging ich damals in ein Krankenhaus und ließ ihn untersuchen. Die Ärzte punktierten den Knubbel, konnten aber nichts Gravierendes feststellen. Sie sagten, der Lymphknoten würde mit der Zeit wieder verschwinden, also fuhr ich heim und vergaß die ganze Sache bald. Ich hatte weder Schmerzen noch andere Beschwerden, noch Angst. Wovor auch? Drei Jahre später, im Sommer 2011, ich war nun 21, dachte ich immer noch, mein Leben würde »nach Plan« verlaufen. Ich arbeitete damals als Koch in einem sehr angesehenen Fischrestaurant in der Nähe des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin. Ich folgte meinem Weg, ohne genau zu wissen, warum und wieso. Ich hatte ihn nach der Schule eingeschlagen und ging einfach immer weiter: Familie, Kinder, Job, eine lukrative Karriere in der Gastronomie, wie mein Vater und mein Bruder. Dies schien mir ganz normal in einer Gesellschaft, die es – ausgesprochen oder unausgesprochen – auch so von jedem verlangte. »Du musst den Menschen zeigen, wie gut du bist«, war ein Satz, den ich in meiner Jugend oft gehört hatte. Unwissend, dass und wie es hätte anders sein können, und auf äußere Werte gepolt, war ich davon überzeugt, dass mich dies zu meinem Ziel führen würde. Aber hatte ich überhaupt eins? Wusste ich überhaupt, wofür es sich zu leben lohnt? War ich glücklich mit meinem Leben? Heute weiß ich, dass ich »falschen« Zielen folgte, ich war nie wirklich glücklich, mit dem was ich tat. Schon als Kind war ich gerne eigene Wege gegangen, ich verbrachte viel Zeit in der Natur und war immer sehr fröhlich. Je älter ich wurde, desto weniger fühlte ich mich wohl in dieser Welt, der Schule, dem Ort, in dem ich lebte. Ich war oft traurig und suchte tief in meinem Herzen schon damals nach irgendetwas, wusste aber nicht, was es war.

Inmitten der Sommersaison, die bei uns von Mai bis Oktober dauert, fiel mir auf einmal auf, dass der Knoten in meiner Achselhöhle gewachsen war. Er war nie ganz verschwunden, anders, als die Ärzte es prognostiziert hatten, ich hatte ihn jedoch bis dahin erfolgreich ignoriert. Aber jetzt war er größer als ein Kronkorken! Ich ging etwas verunsichert, dennoch davon überzeugt, dass es nichts Schlimmes ist, zu meinem Hausarzt, und der entschied sofort, dass ich den unkontrolliert wachsenden Knoten operativ entfernen lassen sollte. Sicher ist sicher, so die Devise meines Arztes. Wenige Tage später fand ich mich in einer Klinik wieder, und der Lymphknoten wurde entfernt. Nach der OP, noch am selben Abend, konnte ich das Krankenhaus verlassen. Es schien eine kurze und schmerzlose Sache gewesen zu sein. Etwa eine Woche später musste ich noch mal in die Klinik, um den Befund der Biopsie zu besprechen. Der Termin war für zehn Uhr anberaumt. Die ganze Woche über fühlte ich mich unbehaglich, mein Kopf malte sich immer wieder Schreckensszenarien aus. Anderseits gab es damals aber auch diesen kaum wahrnehmbaren, leisen Wunsch in mir, krank zu sein – um endlich aus dem Leben aussteigen zu können, das mich schon lange unglücklich machte. Auf dem Weg in die Klinik überflutete mich plötzlich die Angst. Ich kann es immer noch so fühlen, als sei es gestern gewesen. Meine Handflächen wurden feucht, mein Nacken war mit kaltem Schweiß überzogen, der mir in kleinen Rinnsalen den Rücken herunterlief. Als ich in das Besprechungszimmer trat, erwarteten mich bereits zwei Ärzte. Sie saßen stocksteif in ihren schwarzen Ledersesseln und blickten mir entgegen. Ich nahm ihnen direkt gegenüber Platz. Der eine war mein Chirurg, den anderen kannte ich nicht. Er trug einen weißen Kittel, und unter dunkelgrauen Locken schaute er mich mit ernsten Augen an.

Mir stockte der Atem. Denn seit ich denken kann, kann ich aus solchen Blicken das lesen, was noch nicht gesagt worden ist. Ich wusste deshalb sofort, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Mein Chirurg stellte mir seinen Kollegen als Onkologen vor – zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht einmal, was ein Onkologe ist. Mir wurde nun auch die gedrückte Stimmung bewusst, die sich im Raum wie Rauch ausbreitete. Ich hatte den Eindruck, dass es plötzlich viel zu wenig Luft zum Atmen gebe. Ich heftete meinen Blick auf den Onkologen, bereit, das zu hören, was ich schon ahnte. Er sagte: »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie an einem Lymphknotenkrebs erkrankt sind.« Obwohl ich irgendwie nicht überrascht war, schlug diese Mitteilung doch ein wie eine Bombe. Mir wurde klar, dass meine schlimmsten Befürchtungen Realität geworden waren: Ich hatte ein sogenanntes Lymphom, ein histologisch noduläres lymphozytenprädominantes Hodgkin-Lymphom, ein noduläres Paragranulom – wie ich es später im Arztbrief nachlesen konnte. Also Lymphknotenkrebs. Ich saß da, auf diesem Stuhl, in diesem Raum mit den beiden Ärzten, die es offenbar nie gelernt hatten, einem Menschen gut zuzusprechen. Statt mir Mut zu machen, saßen sie nach der schrecklichen Mitteilung da wie zwei gefühllose Roboter. Der Schock lähmte mich für einen mir ewig erscheinenden Moment. Ich konnte keinen Gedanken fassen, sämtliche Gefühle waren verschwunden, und eine unglaubliche Leere breitete sich in mir aus. Zugleich wusste ich: Durch diesen einen Satz »Du hast Krebs« wird sich mein ganzes Leben ändern. Etwas Neues begann, etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, was es war, wie es sich anfühlte und was es mit mir tun würde – und das machte mir Angst, ganz gewaltige Angst.

Eine Weile saß ich nun ebenfalls stocksteif auf meinem Stuhl und sagte nichts. In diese Stille hinein meldete sich eine Stimme in mir, die ich noch nie vorher gehört hatte, obwohl sie tief in mir drin existierte. Man könnte es auch als ein Gefühl bezeichnen, das etwas zum Ausdruck bringt und mir zu sagen versuchte: »Die Zeit ist reif! Du musst dein Schicksal jetzt in die Hand nehmen, um deinen eigenen Lebensweg zu finden.« Ich war verwirrt und muss wohl ziemlich ratlos um mich geblickt haben. Verständlicherweise! Denn ich begriff damals nicht, was diese innere Stimme, dieses Gefühl da gesagt hatte. Obwohl ich Blicke lesen und Stimmungen erspüren konnte, hatte ich keinen blassen Schimmer von Intuition oder davon, was das Schicksal mit alldem zu tun hatte. Ich kannte weder den wahren Willen noch den Sinn, der hinter all dem steckte, was gerade mit mir passierte. Ich sah absolut keinen Zusammenhang zwischen dem, was in meinem Körper vor sich ging, und dem, was ich da gerade in mir vernommen hatte. Und mir war ganz und gar nicht klar, was dies für mein weiteres Leben bedeuten sollte, geschweige denn, wie viel Zeit ich benötigen würde, um all die Wunden zu heilen, die wahrscheinlich schon vor Jahren oder Jahrhunderten in meine Seele geschlagen worden waren.

Nur eines war sehr klar: Hier hatte ich nichts mehr zu suchen. Die beiden Ärzte schickten mich nach Hause, und ich bekam einen weiteren Termin, um in ein paar Tagen die Details meiner Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen. Wie in Trance verließ ich das Krankenhaus und schleppte mich zum Auto. Mein Herz war so schwer, dass ich nach wenigen Kilometern zusammenbrach. Ich schaffte es gerade noch, an den rechten Straßenrand zu fahren und den Wagen anzuhalten. Mein Kopf senkte sich auf das Lenkrad, meine Hände glitten ins Leere. Dann brachen die ersten Tränen durch, liefen über meine Wangen und fielen auf die Fußmatte. Das machte ein so schrecklich lautes Geräusch, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Meine Sinne waren derart geschärft vor lauter Angst, dass ich sogar vor mir selbst erschrak. Eine ganze Weile saß ich einfach so da. Unermessliche Traurigkeit breitete sich in mir aus, und ich spürte deutlich: Der Tod hatte mich zum ersten Mal gegrüßt und mir zugelächelt. Während ich langsam wieder zu mir kam und mich ein wenig beruhigte, gesellte sich zu all der Panik und dem inneren Chaos ein seltsames, ein stilleres und freundlicheres Gefühl, fast wie das einer Befreiung, dessen Bedeutung ich allerdings nicht verstand.

Auf einmal klopfte ein alter Mann an mein Wagenfenster. Als ich aufsah, blickte er beruhigend in meine weit aufgerissenen Augen. Ich ließ das Fenster herunter, und der Mann legte vorsichtig seine Hand auf meine Schulter. Sein langer Bart berührte den Rand des Fensterrahmens, seine Augen waren mit einem leichten grauen Schimmer überzogen. Er überraschte mich mit seiner friedlich klingenden Stimme und fragte: »Was ist denn los, mein Sohn? Warum sitzt so ein junger Mann schluchzend in seinem Auto am Fahrbahnrand?« Ich flüsterte stockend: »Ich habe gerade eine traurige Nachricht bekommen.« Er drückte ganz leicht meine Schulter, fast so, als wollte er sichergehen, dass ich seinen nächsten Satz auch richtig verstehe: »Das Leben ist wie ein Spiel, manchmal verliert man und manchmal gewinnt man. Doch der Schlüssel zu allem ist die Liebe, die durch Vergebung und Akzeptanz zur ewigen Heilung führt.« Dann lief er einfach weiter, ohne sich zu verabschieden oder sonst noch irgendetwas zu sagen. Ich sah ihn nie wieder.

Diese Begegnung, die außergewöhnliche Stimme des alten Mannes und die rätselhaften Sätze, mit denen er mich in meiner verzweifelten Lage beschenkt hatte, waren irgendwie nicht von dieser Welt. In diesem Augenblick empfand ich die Zuwendung als so durchdringend und eindrücklich, dass es mich auf der Stelle tröstete. Das, was ich gerade erlebt hatte, fühlte sich irgendwie wahrer und echter an, als die Diagnose, wegen der ich weinend über dem Lenkrad zusammengebrochen war. Hatte er gesagt, Liebe sei der Schlüssel? Obwohl ich es nicht wirklich verstand, spürte ich, wie in meinem Herzen ein leichtes Strömen begann. Das tröstende Gespräch half mir, ohne erneut weinen zu müssen und etwas beruhigt, nach Hause zu fahren. Der Rest der Fahrt verlor sich in der Zeit. Ich fuhr einfach, ohne zu denken oder zu grübeln, es war fast so, als säße ich nicht selbst am Steuer. Meine Gedanken befanden sich ganz woanders, an einem Ort, der noch völlig unentdeckt war. Ein Ort der inneren Stille.

Zu Hause angekommen, rückte die Verzweiflung wieder in mein Bewusstsein. Meine Mutter wartete bereits im Wohnzimmer, und als sie sah, wie traurig ich mich durch die Tür schleppte, brach sie sofort in Tränen aus. In dem Augenblick, als unsere Augen sich trafen, teilte sich der ganze Schmerz in zwei. In diesem Bruchteil einer Sekunde, als die Hälfte meiner Trauer auf sie überging, verstand ich zum ersten Mal, wenn auch nur intuitiv, wie wir doch alle voneinander abhängig und wie wir zugleich mit allen verbunden sind. Heute weiß ich, dass mein Gefühlszustand einen weitaus größeren Einfluss auf meine Mitmenschen hat, als ich damals annahm.

Die Emotionen, die nun erneut in mir aufkamen, ließen keinen Raum für einen klaren Gedanken. Ich war verwirrt, so als läge plötzlich alles im Dunkeln. Ich fühlte mich total machtlos, erschüttert und bedrückt. Und ich hatte Angst.

Ich verließ noch einmal das Haus und ging zu meinem Lieblingsplatz im nahe gelegenen Wald. Mein geheimer Rückzugsort seit meiner Jugend, dessen genaue Lage ich noch nie jemandem gezeigt hatte. Ich setzte mich mit den hellen Jeans, die ich trug, auf den nassen Boden. Es war mir völlig egal, ob die Hose schmutzig wurde oder nicht. Ebenso, dass es heftig regnete. Ich hörte, wie das Wasser durch die Tannen rieselte und im Boden versickerte. Meine Augenlider schlossen sich von ganz allein, als würde meine Seele wissen, wie ich in solchen Situationen die Ruhe bewahren kann. Mein Atem verlangsamte sich, wurde tiefer und schwerer. Die Ruhe und die Kraft des jahrhundertealten Waldes beruhigten mich immer mehr. Die Zeit verging, ohne dass ich es bemerkte. Die Welt stand still. Das Einzige, was Bestand hatte, war mein Denken. Mir wurde plötzlich klar, dass alles irgendwie seine Richtigkeit hatte. Auf einmal war der Schock über die Krebsdiagnose wie vom Winde verweht, die Angst davor, neue Wege gehen zu müssen, war mit dem Regen im Boden versickert, und alles, was übrig blieb, war ein Gefühl der Freiheit und Leere. Und dann vernahm ich wieder diese leise Stimme in mir, die mir sagte: »Du kannst jetzt den Beruf Koch hinschmeißen, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Denn du hast jetzt Krebs, du darfst jetzt machen, was du willst.«

War der Krebs etwa das Werkzeug, mit dem ich meine eigene Flucht aus dem Leben, in dem ich festsaß, planen konnte? Ein verwirrender Gedanke. Dennoch begriff ich in diesem Moment, dass ich endlich einen Ausweg gefunden hatte, mein altes Leben ohne schlechtes Gewissen abzulegen. Dies war wirklich ein Freifahrtschein in ein neues Leben. Denn ehrlich gesagt, wusste mein Herz schon seit fast vier Jahren, dass der Weg, den ich damals eingeschlagen hatte, mich in eine Sackgasse führen würde. Die Last, die ich jahrelang mit mir herumgeschleppt hatte wie einen Rucksack voller spitzer Steine, die mir immer wieder subtil in den Rücken bohrten, wurde auf einmal leichter. Obwohl die Bürde, die ich ab jetzt zu tragen hatte, schwer war, fühlte ich mich in jenem Moment etwas gelassener als zuvor. Ich konnte durchatmen, ich durfte jetzt anders sein. Ein neuer Weg erschien vor mir. Auch wenn er unter einem nebligen Schleier kaum erkennbar war, sah ich das Licht am Rande der Zeit. Natürlich ahnte ich damals noch nicht, worauf das alles hinauslaufen würde. Ich wusste lediglich, dass ich Krebs hatte und ich dadurch das Spiel neu starten konnte – und musste. Ich ahnte irgendwie, dass ich eine neue Chance bekam. Dennoch war ich verunsichert, ängstlich und traurig, als ich meinen Rückzugsort verließ, denn ich wusste nicht, was mich nun erwarten würde. So lief ich mit gesenktem Kopf den schmalen Waldweg entlang, bis ich wieder bei meinem Fahrzeug war. Wie die meisten brachte auch ich damals Krebs sofort mit Tod in Verbindung, und genau davon wurde mir ganz kalt ums Herz.

Auf der Fahrt nach Hause überkam mich der starke Drang zu rauchen – obwohl ich kurz zuvor damit aufgehört hatte. Allerdings wollte ich keine Zigarette, sondern hatte richtig Lust auf einen Joint. Ich rief direkt einen meiner besten Freunde an. Meine Nervosität zeigte sich in den feuchtkalten Händen, mit denen ich das Lenkrad hielt. Das Einzige, woran ich in diesem Moment denken konnte, war der Geruch von Marihuana, den ersten Zug, den ich nehmen, und die beruhigende Wirkung, die dieses Wunderkraut auf mich haben würde. Mein Freund war zwar etwas überrascht, aber rauchte dennoch den Joint mit mir zusammen. Als die sanfte Wirkung des THC einsetzte, erzählte ich ihm, dass ich krank bin. Er wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte, aber er hörte mir zu, und das war eigentlich alles, was ich in diesem Moment benötigte. So verblieben wir die meiste Zeit in Stille. Was manchmal mehr Raum und Verständnis schaffen kann als tausend Worte.

Ein oder zwei Tage später erzählte mir meine Mutter von einem Mann, den sie vor Kurzem kennengelernt hatte und dem es gelungen war, eine sehr schwere Lymphknotenkrebs-Erkrankung zu überwinden. Sie schlug vor, dass ich ihn treffen sollte. Was ich auch tat. Er erzählte mir in seiner überaus netten Art alles über seine Erkrankung und von dem Arzt, der ihm geholfen hatte, obwohl alle anderen sagten, dass seine Situation aussichtslos sei. Da mir der von der Klinik zugeteilte Onkologe unsympathisch erschien, war ich froh, von einem Arzt zu hören, der offenkundig menschlicher war. Und so bin ich zu dem Onkologen gekommen, der mich die kommenden Jahre hindurch schulmedizinisch begleitet hat. Als ich ihn zum ersten Mal sah, spürte ich sofort, dass er auch für mich der richtige war. Er war einfühlsam, zeigte Herz und hörte mir zu. Ich vertraute ihm auf Anhieb. Ich spürte seinen eisernen Willen, mir wirklich helfen zu wollen. Dieses Vertrauen war die Basis der ganzen Therapie. Es muss, wie ich finde, unbedingt vorhanden sein, damit eine Therapie erfolgreich ist. Dieses Vertrauen zwischen ihm und mir war auch das Einzige, was mir noch blieb.

Nach der ersten Konsultation erfolgte die mehrtägige Untersuchung aller Organe mittels PET-CT1. Dabei wurde sozusagen nicht nur getestet, ob mein Körper die Therapien der Schulmedizin überhaupt aushalten würde, sondern auch geschaut, ob sich bereits Metastasen gebildet haben. EKG, Bluttests, Lungenfunktionstest und so weiter zogen sich über mehrere Tage. Ein Krankenhausaufenthalt war jedoch nichts Neues für mich. Als Kind war ich bereits sechsmal an Hals, Nase und Ohren operiert worden und so konnte ich mich gut damit arrangieren, diese Tage im Hospital zu verbringen. Das Ergebnis der Untersuchungen war allerdings wenig erfreulich. Die Bilder des CT zeigten klar und deutlich, dass sich bereits weitere kleine Tumore, also Metastasen, unter beiden Achselhöhlen gebildet hatten. Mein Arzt war davon überzeugt, dass die Heilungschancen bei über 90 Prozent liegen würden, wenn ich eine Chemotherapie mit vier Zyklen und eine Bestrahlungstherapie mit 30 Gy2 machen würde. Aus voller Überzeugung und im Glauben an die angewandten Wissenschaften der heutigen Onkologie verließ ich mich auf den Rat meiner Ärzte und die vorgeschlagenen Therapien. Ich hatte, wie gesagt, Vertrauen zu meinem Arzt und dadurch hatte ich auch ein Vertrauen zu dieser Art Therapie aufgebaut. So beschloss ich, all diesen Strapazen entgegenzutreten, um gesund zu werden. Hinzu kommt: Ich kannte damals nichts anderes. Ich hatte keine Ahnung, dass es viele Wege gibt, mit Krebs zu leben und die Krankheit zu heilen.

Zwei Wochen später war es so weit: Der erste Zyklus der Chemotherapie begann. Ich wollte diesen Weg unbedingt alleine gehen, stark sein und erlaubte meiner Mutter nicht, mich zu begleiten. Als ich durch die Drehtür in dieses riesige Kantonspital trat, wurde mir auf einmal ziemlich unwohl im Bauch. Ich wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr geben würde. Mit schweren Beinen und pochendem Herzen schleppte ich mich in die Abteilung der medizinischen Onkologie. Ich war natürlich nicht der Einzige, der mit traurigem Blick in Opferhaltung im Wartezimmer saß. Bestimmt zehn weitere Menschen saßen auf der »Selbstmitleidsbank« – wie ich sie heute nenne – und warteten darauf, gesund gemacht zu werden.

Eine Krankenschwester rief meinen Namen auf. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln. Ich weiß noch, dass ich mich damals fragte, wie man nur so froh sein kann an solch einem düsteren Ort. Aber ich denke, ihr Lächeln war mehr ein positiver Zuspruch und sollte ein Hoffnungsschimmer für mich sein. Sie nahm mir Blut ab, setzte mir die nötige Infusion, durch die später das Chemotherapeutikum fließen würde in die Vene des linken Arms und bereitete alles Weitere für die Behandlung vor. Sie brachte mich in einen Raum mit großen, spezial-angefertigten Liegestühlen, auf denen bereits drei ältere Menschen an Schläuchen angeschlossen darauf warteten, dass ihre Medikamente durchgeflossen waren. Irgendwie war dies alles sehr merkwürdig für mich. Wieder vernahm ich tief in mir die leise Stimme, die mir sagte, dass alles seine Richtigkeit hatte und ich mich genau da befand, wo ich zu diesem Zeitpunkt zu sein hatte. Heute weiß ich, was ein solches Gefühl mir sagen will und wie ich damit umgehen kann. Doch damals konnte ich es noch nicht einordnen. Trotzdem beruhigte mich die innere Stimme in diesem Moment ein wenig, sodass sich meine Angst in Grenzen hielt. Nachdem mein Onkologe nochmals einen letzten Check gemacht hatte, wurde mit der Therapie begonnen. Zuerst flossen eine Kochsalzlösung und Cortison durch die Infusion, dann erst wurde das Zytostatikum, der eigentliche Chemococktail, durch die Vene eingelassen. Schon nach wenigen Minuten begann mein linker Arm zu schmerzen. Der Arm brannte so stark, dass ich regelrecht nach der Schwester schrie, die sofort ins Zimmer gerannt kam und die Infusion stoppte. Eines der Medikamente war ganz klar zu aggressiv, und der Arzt musste die Dosis mit zusätzlicher Kochsalzlösung verdünnen, um meine Venen nicht allzu stark zu verletzen. In diesem Moment begriff ich zum ersten Mal, wie unglaublich giftig diese Medikamente eigentlich sind. Die restliche Therapiezeit an diesem Tag verlief so, wie sie sollte, und ich war erstaunlicherweise innerlich ganz ruhig. Ich empfand es als sehr positiv, mit den anderen Patienten in diesem Raum zu sein. Wir vier teilten während der zwei Stunden unsere Geschichten, und ich fühlte mich nicht mehr so ganz alleine in diesem von Krebs befallenen Boot.

Die folgenden Monate wurden durch die Chemotherapie und ihre Auswirkungen geprägt. Ich wurde von den üblichen Nebenwirkungen regelrecht überflutet. Zwar hatte ich vorher gewusst, was auf mich zukommen könnte. Jedoch nur theoretisch. Denn als mich die Müdigkeit und dieses Gefühl der Lustlosigkeit erst einmal in ihren Bann gezogen hatten, war alles anders als gedacht. Die große Müdigkeit zeigte sich erst, nachdem ich den zweiten Zyklus hinter mir hatte. Ich spürte, dass ich beim Treppenlaufen, bei der Arbeit, ja schon bei kleinen körperlichen Tätigkeiten enorm schlapp wurde und nur wenig Kraft hatte, mich für längere Zeit auf den Beinen zu halten. Oft fühlte ich mich niedergedrückt und so kaputt, als ob jemand von oben mit der Faust auf mich einhämmern und versuchen würde, mich in den Boden zu schlagen. Die Medikamente, die ich bekam, wurden mir hauptsächlich über Infusionen am linken Arm verabreicht. Ich merkte bei jedem Zyklus deutlich, wie meine Venen »STOPP« schrien, sobald das Chemotherapeutikum eingeleitet wurde. Es fühlte sich kalt an, und die ganze Zeit spürte ich, wie mein Körper sich dagegen zu wehren versuchte. Nach dem dritten Zyklus bekam ich eine venöse Thrombose am linken Arm, deren Narben noch heute leicht zu sehen sind. Einige Venen meines Unterarms wurden größer, drückten geschwollen und verhärtet nach außen, und ihre dunkelgraue Farbe ließ meinen Arm wie den eines Zombies aussehen. Der Schmerz war vor allem während des Therapietages fast unerträglich. Oft saß ich auf dem Liegestuhl, die Fäuste zusammengeballt, auf die Zähne beißend, und hoffte, dass all das bald ein Ende haben würde.

Gegen die Übelkeit und das Erbrechen wusste ich mir selbst sehr gut zu helfen. Ich war nicht scharf darauf, noch mehr Medikamente zu nehmen, sondern verließ mich stattdessen ganz auf die Kraft der Natur. Ein bisschen Cannabis in Form von Joints ließ ich mir nicht ausreden. Es hat ganz gut funktioniert, und auch mein Arzt hatte nichts dagegen, denn die positive Wirkung von Cannabis in der Krebsbehandlung ist auch in der Schulmedizin bekannt. Neben den zwei, drei Joints, die ich am Tag rauchte, nahm ich noch asiatische Heilpilze zu mir, die mein Immunsystem unterstützen sollten.

Kurze Zeit später bekam ich aber auch noch erhebliche Empfindungsstörungen im rechten Arm. Da mir mehrere wichtige Lymphknoten entfernt worden waren, die unter anderem dazu da sind, das Wasser beziehungsweise die Lymphflüssigkeit im Körper zu transportieren, staute sich das Wasser in meiner Hand und den Fingerspitzen zunehmend. Oft war meine Hand geschwollen, und dies verursachte stechende Schmerzen, die sich bis in den Unterarm zogen. Zu Beginn war das noch gut auszuhalten, mit der Zeit wurden die Schwellungen und die Schmerzen jedoch so heftig, dass ich nicht mehr wirklich effizient arbeiten konnte. Als damaliger Entremetier in der Küche war ich für die Beilagen zuständig. Das bedeutet, viel Gemüse schneiden, hacken und vorbereiten. Mit einem ständig anschwellenden Arm, der bei jedem Messerhieb pulsierte, wurde dies für mich immer unerträglicher. Mit all meiner Kraft versuchte ich dagegen anzukämpfen. Schnell realisierte ich aber, dass mir die Arbeit in dieser Situation keinen wirklichen Vorteil mehr brachte und ich auch keine Kraft mehr hatte, mich zusammenzureißen. Jeden Nachmittag während meiner Pause musste ich den Arm für mindestens 20 Minuten hochlagern, damit sich die Wasserregulation einigermaßen erholen konnte. Dies war wirklich nicht Sinn der ganzen Sache, und so entschied ich mich in Absprache mit meinem Arzt und meinem Arbeitgeber, die Arbeit vorübergehend zu unterbrechen.

Ich habe wirklich Krebs

Eines Morgens, ungefähr in der fünften oder sechsten Woche nach Therapiebeginn, als ich wie jeden Morgen unter der Dusche stand, wurde ich mit der Realität konfrontiert. Ein Haarbüschel nach dem anderen löste sich von meiner Kopfhaut, und ich konnte beobachten, wie jedes einzelne Haar hinweggeschwemmt wurde. Ich hatte das Gefühl, als würde mein ganzes Leben den Abfluss hinuntergespült werden und ein für alle Mal den Bach runtergehen. Ich rutschte in der Dusche mit dem Rücken an der Wand auf den Boden hinab. Mein Kopf sank zwischen meine Knie, und ich brach in Tränen aus. Es fühlte sich an, als ob mein Leben mit meinen Haaren den Abfluss hinuntergespült wurde. Erst da bemerkte ich, was für eine Angst ich eigentlich hatte. Ich fühlte mich allein, im Stich gelassen und konnte den Sinn, der sich hinter alldem verbarg und den ich bisher leise erahnt hatte, nicht (mehr) sehen. Die körperliche Schwäche, die durch die Chemotherapie kam und die meine Lebenskraft niederdrückte, löste eine Kettenreaktion aus. Unsicherheit und Angst breiteten sich in mir aus, nahmen von da an immer größeren Raum in meinem Leben ein. Ganz egal, wohin ich mich auch begab, sie waren hinter, neben und manchmal auch direkt vor mir und versperrten mir den Weg in die Freiheit – für eine sehr, sehr lange Zeit.

Nur im nahe gelegenen Wald konnte ich Ruhe finden, neue Kraft schöpfen und lernte mich selbst etwas besser kennen. Oft saß ich viele Stunden an meinem geheimen Platz, umringt von kräftigen Tannen, rauchte Marihuana und genoss die Stille und den würzigen Duft der Waldes. Ich saß einfach im Schneidersitz da, schloss meine Augen, faltete meine Hände übereinander auf meinem Schoß und kehrte in mich. Ja, ich meditierte, ohne es wirklich zu wissen. Meine innere Stimme führte mich an diesen Ort, sorgte dafür, dass ich mich in den Schneidersitz begab, und verschwand dann, sodass ich Ruhe und inneren Frieden erfahren konnte, die ich zu diesem Zeitpunkt so dringend benötigte. Es ist unglaublich, was alles in uns steckt, ohne dass wir es überhaupt ahnen. Etwas Neues begann in mir zu wachsen und sich zu entwickeln. Ein Prozess, in dem ich mich noch heute befinde und wahrscheinlich ein Leben lang sein werde. Damals im Wald begann, wie ich heute weiß, ein höheres Verständnis in mir zu wachsen, über die physischen und psychischen Abläufe, die sich in meinem Körper manifestierten. Ich begann zu verstehen, was mein Handeln für mich bedeutet und dass jede Aktion eine Reaktion mit sich bringt.

Nachdem die Chemotherapie mit all ihren Nebenwirkungen nach zwei weiteren Zyklen endlich abgeschlossen war, folgte rasch eine Radio-Strahlentherapie mit 30 Gy in beiden Achselhöhlen. Durch die Strahlentherapie konnte ich gar nicht mehr arbeiten. Nun war ich also zum ersten Mal zu 100 Prozent krankgeschrieben. Zu 100 Prozent krebskrank! Zu 100 Prozent frei, das zu tun, was ich wirklich wollte.

Auf der Radio-Onkologie fühlte ich mich, als wäre ich in der Zukunft angelangt. Erneut saß ich vor einem neuen, mir unbekannten Arzt, der mir ein Stück Papier über den Tisch reichte und innerlich auf die Uhr blickte, da er kaum Zeit hatte, mich über alles zu informieren. In aller Kürze klärte er mich über die Therapie und die möglichen Folgen auf. Nicht einmal zehn Minuten später unterschrieb ich den Zettel, auf dem in verharmlosender Weise geschrieben stand, welche gravierenden Nebenwirkungen und vor allem Spätfolgen diese Strahlentherapie haben könnte. Zehn Minuten, mehr Zeit gab man mir nicht.

Ich wurde mithilfe neuester Technik ausgemessen. Mit bunten Stiften wurde auf meinem Oberkörper herumgekritzelt, sprich, es wurden Markierung für das Bestrahlungsgerät aufgebracht. Anhand dieser Punkte konnte sich der Radiologe, der das Gerät hinter der dicken Betonwand sitzend steuerte, orientieren. Der Ionenstrahler sah aus wie ein riesiger Roboter. Diese Maschine würde sich mit unsichtbaren Strahlen an 30 aufeinanderfolgenden Tagen jeweils fünf bis zehn Minuten über meinen ohnehin schon geschwächten Körper hermachen. Ich wusste nicht, was genau sie mit mir machte, ich konnte nicht mit ihr reden, und sie machte mir Angst wie ein Ungeheuer. Ich lag auf einem sterilen Tisch in einem sterilen Bestrahlungsraum und fühlte mich jedes Mal schrecklich einsam. Dass die vierwöchige Radiotherapie mehr oder weniger problemlos verlief, war das eine. Das andere war, dass sich in den letzten Tagen der Bestrahlung meine Haut rund um die Achseln zu entzünden begann. Es sah aus wie eine starke Verbrennung, und die handtellergroßen Stellen taten auch dementsprechend weh. Ich biss die Zähne zusammen und nahm dies, so gut es eben ging, mit Gelassenheit hin, denn ich war froh, endlich bald alles hinter mir zu haben. Diese Gelassenheit war mir wichtiger als die aufkeimende Ahnung, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte. Allein die Tatsache, dass die Mediziner, die das Gerät vorbereiteten, den Raum stets vor Beginn der Behandlung verließen, hätte mich dazu bewegen müssen, aufzustehen und zu gehen. Es ist im Grunde unvorstellbar: Der Raum ist durch eine dicke Spezialwand und eine Strahlenschutztür gesichert – um die Menschen vor der Strahlung zu schützen. Wenn diese Strahlen also nicht gut für den Menschen sind, warum um alles in der Welt wurden sie dann gezielt auf mich gerichtet? Diese im Grunde einfache Frage schob ich jedoch irgendwie beiseite, da ich weder die Kraft noch die Konzentration hatte, mich den möglichen Konsequenzen dieser Frage zu stellen. Schließlich könnte die Antwort darauf hinauslaufen, dass hier womöglich mehr zerstört wurde als geheilt! Außerdem fehlte mir zu diesem Zeitpunkt jede Klarheit darüber, dass ich es nicht nur mit einer grobstofflichen, also körperlichen Problematik zu tun hatte. Ich war mit der feinstofflichen Seite des Lebens, also mit dem Geist und der Seele, die mit meinem Körper in Verbindung stehen, noch absolut nicht vertraut. Was immer ich fühlte in diesen 30 Tagen, und wie wenig ich auch davon verstand – zwei Wochen nach Abschluss der Bestrahlungstherapie wurde noch einmal ein PET-CT durchgeführt, um sicherzustellen, dass alle »bösartigen Zellen« in meinem Körper eliminiert waren. Das Resultat fiel gut aus! Ich war unglaublich beruhigt und konnte endlich, endlich das Krankenhaus verlassen.

Zunächst war ich überaus erleichtert. Ich fühlte mich befreit und voller Freude. Ich war wieder frei, keine Therapie mehr, keine Schmerzen mehr. Dachte ich zumindest!

Erst als alles vorbei war, bemerkte ich so richtig, wie rasch die Zeit verstrichen war. Sechs Monate waren vergangen zwischen dem Tag der Diagnose und dem Abschlussgespräch mit meinem Onkologen. Die ganze Prozedur war so schnell verlaufen, als wäre alles nur ein schrecklicher Albtraum gewesen. Während dieses halben Jahres hatte ich meist wie ein Roboter gelebt, der auf Autopilot gesetzt war. Eine Maschine, die regungslos und widerspruchslos einfach alles ertrug, was mit ihr geschah. Ich hatte funktioniert, als würde irgendetwas mich steuern und mich nicht darüber nachdenken lassen, was wirklich passierte. Wenn ich heute daran zurückdenke, war es jedoch gar nicht so schlecht, zu der Zeit mehr Roboter als Mensch gewesen zu sein.

ZURÜCK IN MEIN ALTES LEBEN – ODER DOCH NICHT?

Schnell fand ich mich im normalen Alltag wieder – ich war gesundgeschrieben und ging zurück in meinen alten Job im Restaurant, ich fing an, wieder auszugehen, Party zu machen, ich rauchte wieder und fühlte mich cool, dass ich Krebs überlebt hatte – ja, ich begann, das Erlebte tatsächlich zu vergessen. Leider war auch dieses Gefühl der Freude und des Glücks, das ich nach Abschluss der Therapien empfunden hatte, bald wieder vergessen. Die Schäden, die die Operation, die Chemo und die Bestrahlung an meinem Körper verursacht hatten, zeigten sich nämlich erst allmählich in ihrem wirklichen Ausmaß. Das Lymphsystem in meinem rechten Arm war nach wie vor stark blockiert. Die Lymphe streikte heftig. Und so fühlte es sich auch an. Ein Streik, bei dem kein gutes Ende zu erwarten war. Mein Arzt erklärte mir, dass dieses Lymphödem, wenn ich Pech hatte, ein Leben lang nicht verschwinden würde. Dies geschehe oft und vor allem bei Menschen, bei denen eine größere Menge an Lymphknoten an bestimmten Stellen entfernt worden war. Ich war schockiert, als ich das hörte. Schon der Gedanke daran, womöglich ein Leben lang mit einem von Wasser aufgeschwemmten, schmerzenden Arm herumlaufen zu müssen, machte mir Angst, und ich war wütend und traurig. Da der Schmerz innerhalb kürzester Zeit immer stärker wurde, musste ich mir einen speziellen Stützstrumpf für den Arm anfertigen lassen, der den Abfluss der Lymphe unterstützen sollte. Ich wurde dazu verdonnert, ihn täglich zu tragen. Dies vereinfachte nicht gerade mein Leben. Im Gegenteil. So konnte ich als Koch unmöglich weiterarbeiten. Allein aus hygienischen Gründen war dies schon fragwürdig, und der Schmerz hätte es so oder so irgendwann nicht mehr zugelassen. Gezwungenermaßen entschied ich mich, meinen Job in dem Fischrestaurant aufzugeben. Ganz tief in meinem Inneren frohlockte ich jedoch und war froh, die Kochjacke endlich ablegen zu können – ein Gefühl, das ich mich aber nicht traute, mit jemandem zu teilen. Ich liebe bis heute zwar das Kochen an sich, aber ich hatte es nie wirklich gemocht, als Koch in einem Restaurant zu arbeiten. Lange Arbeitstage, keine freien Wochenenden. Eigentlich hatte ich längst die Schnauze voll davon. Erst zu einem viel späteren Zeitpunkt auf meinem Weg – als ich für eine Zeit in Indien lebte – begriff ich, warum ich dennoch jahrelang in dem ungeliebten Beruf ausgeharrt hatte.