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Mirja besucht ihre Schwester Sisko täglich im Krankenhaus. Sisko hat Krebs, und in Erwartung des nahen Endes reden die Schwestern über Leben und Tod, ihre Familie und die Vergangenheit. Sisko lebt in England, ihre Schwester Mirja, die zur Unterstützung angereist ist, in Deutschland. Die Familie kommt aber aus Finnland, und in den Geschichten von früher, von der Kindheit inmitten der Geschwister und der eigenwilligen Eltern, spielt diese Herkunft eine wichtige Rolle. Marjaleena Lembckes Sprache ist entwaffnend direkt und dadurch eindringlich. Selten liest man so unverstellt von den letzten Dingen und findet dabei dennoch Trost.
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Seitenzahl: 228
Sisko und Mirja wachsen in Finnland auf. Später lebt Sisko in England, ihre ältere Schwester Mirja in Deutschland, ihre Brüder in Schweden. Als Sisko unheilbar erkrankt, kommen die Schwestern einander wieder näher. Bei Mirjas letztem Besuch lassen sie die gemeinsame Kindheit aufleben. Immer wieder kehren sie zurück zu dem Tag, an dem ihre Mutter sich das Leben nahm, als sei dies der Augenblick, der alles weitere in ihrem Leben bestimmte.
Aus knappen Skizzen entsteht das Porträt einer eigenwilligen Familie, die sich kaum von einem Drama erholt hat, bevor sie der nächste Schicksalsschlag trifft. Siskos Sprache ist oft sarkastisch, Mirja zeichnet mit weicherer Feder. Bei aller Unterschiedlichkeit der Geschwister, auch der beiden Schwestern, spürt man die Verbundenheit, die Liebe zueinander. Die Geschichte fordert den Leser heraus und ist doch voll friedlichen Trostes.
N&K
Nagel & Kimche E-Book
MarjaleenaLembcke
WIR BLEIBENNICHT LANGE
Roman
Nagel & Kimche
Die Autorin dankt dem Land Nordrhein-Westfalenfür die finanzielle Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.
© 2016 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich © Clayton Bastiani / Trevillion Images
Satz im Verlag
ISBN 978-3-312-00695-3
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Für Hans und Marko – Danke für die Liebe.
And to Tanja.
Die Frau oben schrie. Die Kamera in Siskos Hand schwenkte kurz in Richtung der Stimme, als sei es möglich, die Frau durch die Decke hindurch zu filmen. Dann nahm sie die Bauarbeiter auf, die vor ihren Fenstern tätig waren. Die Männer verputzten die Fassade, sie konnte nur ihre Beine sehen, die sich vorsichtig auf dem schmalen Gerüst bewegten. Eine Taube flog vorbei. Die Frau über ihr schrie weiter. Einer der Arbeiter bückte sich und warf einen verstohlenen Blick in Siskos Suite. Sie winkte ihm vom Bett aus zu, der Mann erwiderte den Gruß nicht. Sie nahm den Tisch und die Stühle im Zimmer auf, einen Teil ihres Bettes, die Schreie der Frau in der Sterbekammer, wie der Raum genannt wurde, ihr eigenes schweres Schnaufen und die Geräusche, die aus dem Fernseher kamen.
Dort lief die Serie Coronation Street. Die Folge von Kens und Deirdres Hochzeit wurde wiederholt, im Film war das Jahr 1981. In dem Jahr, ein paar Tage später, hatten auch Diana und Charles geheiratet, und Ende August 1997 verunglückte Diana tödlich. Sie kann sich gut an die Fernsehübertragung erinnern. Anfang August, einen Tag nach seinem siebenundvierzigsten Geburtstag, starb Eino. Ihr Bruder starb an einem Herzinfarkt. Er wurde einbalsamiert, musste lange auf die Beerdigung warten. Seine thailändische Schwiegermutter hatte irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Reisevisum nach Schweden. Sisko flog eine Woche nach Einos Tod hin. Zusammen mit ihrer Schwester Mirja nahm sie Abschied von ihrem aufgebahrten Bruder. Sie küsste ihn auf den Mund, Mirja nicht. Beide konnten sie nicht bis zum Begräbnis bleiben. Das Grab hat sie zwei Jahre später besucht. Im August. Es war ein großes Familientreffen. Das letzte. Sie war da schon sehr krank gewesen, der älteste Bruder auch. Sie waren alle da, alle, die noch lebten. Sogar Mirja ist gekommen. Jetzt kam sie nicht. Sie hätte längst dasein müssen. Vielleicht hatte sie den Flug verpasst, das Flugzeug war abgestürzt, oder sie fand sich nicht zurecht in London. Sie sollte auf dem Flughafen in London City ankommen. Von dort ist es gar nicht so weit bis zu den Kliniken. Wenn man sich auskennt. Mirja hatte sie ja schon im Royal Marsden Hospital besucht.
Sisko hatte keinen Wodka mehr und kaum noch Bier.
Das Warten hatte sie immer gehasst. Die unsinnigen Gedanken und Sorgen, der leere Raum zwischen Abfahrt und Ankunft, den man mit dem Wissen über die Dauer der Reise zu füllen versucht, die Zeit, die man von der Uhr abliest, aus den Zeigern, die sich kaum bewegen.
Sie zappte, bis sie eine Nachrichtensendung fand. Keine Meldung von einem Flugzeugabsturz. Aber das Personal der Underground streikte. Die Züge standen still. In der Stadt herrschte Chaos, die Taxis reichten nicht aus, die Busse waren überfüllt. Deshalb also. Sisko stieg aus dem Bett, steckte eine Bierflasche und Zigaretten in einen Stoffbeutel, zog sich einen Morgenmantel an und schlurfte aus dem Zimmer.
Ich bin im Raucherzimmer!, rief sie den Krankenschwestern zu.
Im Aufzug roch es nach Essen, und ihr wurde leicht übel.
Der Raum für die Raucher war hässlich, die Wände in hellem, kaltem Türkis gestrichen, oft ausgekühlt, weil ein Fenster immer offen stand. Die Aschenbecher quollen über, wurden von den Putzfrauen nur selten geleert.
Sie begrüßte die Mitpatienten, kannte sie alle.
Ich dachte, deine Schwester sollte heute kommen?, sagte ein Mann.
Die Tube streikt, antwortete sie.
Einen Augenblick machten sie sich Gedanken über Siskos Schwester, wie sie sich zurechtfinden und wann sie wohl ankommen würde.
Sisko öffnete die Bierflasche und trank einen kleinen Schluck. Kleine Schlucke waren ihre Spezialität. Die kleinen Schlucke machten ihre Schwester nervös, weil das Trinken sich in die Länge zog.
Jedesmal, wenn die Tür des Zimmers geöffnet wurde, spürte Sisko einen zusätzlichen Herzschlag. Die Lungenpatienten husteten und steckten sich schnell eine neue Zigarette an. Sie nuckelte an der Flasche.
Als Mirja in der Tür erschien, fing sie an zu weinen. Mirja schloss sie in die Arme und strich ihr über den fast kahlen Kopf, drückte ihn gegen ihre flache Brust, und Sisko wusste nicht, wessen Herzschläge sie spürte. Mirja ließ sie los und schaute sie an. Siskos Gesicht war dick, aufgedunsen, der Körper unförmig und der Mund vom Rest der Angst verzerrt.
Ich sehe gespenstisch aus, sagte Sisko.
Überhaupt nicht, behauptete Mirja, die in ihrer schwarzen Hose und in schwarzem Pullover, mit dem etwas steifen Lächeln wie eine Angestellte des Bestattungsinstituts wirkte. Sie hatte einmal gesagt, Schwarz sei ihre Tarnfarbe. Sisko glaubte nicht an Tarnfarben. Sie hatte schon alle Farben getragen und sich in keiner geschützt gefühlt.
Sie stellte Mirja den anderen Patienten vor. Ihre Schwester lächelte liebenswürdig, entgegenkommend wie immer und wechselte ein paar Worte mit dem einen und den anderen, steckte sich dann auch eine Zigarette an und wandte sich wieder ihr zu.
Es folgte eine lange Beschreibung der Reisebeschwerlichkeiten. Sisko wippte mit dem Fuß. Mirjas ausführliche Geschichte nervte sie, obwohl sie wusste, dass das Herunterleiern des Berichts dazu diente, die Aufregung abzubauen, und auch der Erleichterung, endlich angekommen zu sein und sie noch lebend vorgefunden zu haben. Sie wusste, dass ihre Schwester Angst um sie gehabt hatte, so wie sie immer um Mirjas Leben bangte. In der Angst waren sie sich nah.
Meine Schwester ist erstaunt und beeindruckt von der Hilfsbereitschaft und Höflichkeit der Engländer, übersetzte sie den Anwesenden. She is living in Germany! Sie lächelte verschwörerisch, als würde die Erwähnung des Landes, aus dem Mirja kam, ausreichend erklären, warum die britische Freundlichkeit sie überraschte.
Die Raucher nickten und lächelten gefällig.
Die Deutschen sind auch hilfsbereit, sagte Mirja auf Finnisch.
Aber man muss ihnen erst das polizeiliche Führungszeugnis zeigen, ehe sie einem erklären, wo die nächste Bushaltestelle ist, erwiderte Sisko und tätschelte Mirjas Hand. Kannst du mir bitte aus meinem Zimmer eine Flasche Bier holen?
Ich sollte vielleicht erst meinen Koffer in das Gästehaus bringen und mich anmelden, damit sie wissen, dass ich angekommen bin und mein Zimmer heute Nacht beziehen werde.
Eine Schwester von der Station kann doch dort anrufen, meinte Sisko.
Nachdem Mirja den Raum verlassen hatte, malte Sisko die schriftstellerischen Erfolge ihrer Schwester in Deutschland aus, in einem Land, wo es wahrhaftig nicht leicht war, als Ausländerin akzeptiert zu werden. Sie erzählte auch, sie selbst habe ein Jahr in Deutschland gelebt und wisse, wovon sie spreche. Die anderen hörten halb interessiert zu, und sie ermüdete sich selbst in ihrem Eifer, Mirja in höchsten Tönen zu rühmen, wusste auch nicht, ob Mirja eine gute oder schlechte Autorin, ob sie bekannt oder völlig unbekannt war. Sie hatte kein Buch von ihr gelesen, und Mirja selbst sprach selten über ihre Arbeit. Sisko hörte mitten im Satz auf. Niemand fragte sie nach der Fortsetzung. Sie kannten viele abgebrochene Geschichten.
Sie erinnerte sich an die vielen Tage in Helsinki, als sie in ihrem Zimmer saß, auf Mirja wartete und fast verrückt wurde vor Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein.
Damals war sie dann doch irgendwann gekommen, wie heute. Aber immer wenn sie da und das Warten zu Ende war, wusste sie nicht mehr, warum sie sich so sehr nach ihr gesehnt hatte.
Natürlich brachte Mirja nur eine Flasche mit. Sisko trank in winzigen Schlucken und spürte Mirjas wachsende Ungeduld. Aber ihre Schwester sagte nichts. Natürlich nicht. Sie hatte sich vorgenommen, alles zu erdulden. Weil es vielleicht das letzte Mal war.
Ich wünsche nur, dass ich nicht leiden muss. Das ist das Einzige, was ich mir wünsche, sagte sie.
Mirja nickte und drückte ihre Hand.
Ich will nicht sterben, dachte sie. Weiß Mirja das?
Ich habe den Eindruck, dass du dein Schicksal akzeptierst, hatte eine Psychologin zu ihr gesagt. Du hast gegen die Krankheit, gegen viele Krankheiten gekämpft. Jetzt bist du müde und bereit loszulassen. Dadurch hast du es einfacher als viele andere in deiner Situation.
Sie hatte sanftmütig gelächelt, abgeklärt, als habe die Therapeutin recht. Sie war etwa Mitte dreißig und für eine Engländerin elegant und dezent angezogen. Ihr Gesicht war hübsch, und der Mund, die Augen, die Nase, alle Zutaten hatten die richtige Größe, und alle befanden sich an der richtigen Stelle. Sisko misstraute ihr. Ihre Worte klangen wie eine höfliche, aber bestimmte Aufforderung, doch bitte schön ohne Aufhebens von der Bühne zu verschwinden und sich damit zufriedenzugeben, eine Weile mitgespielt zu haben. Als ob es so einfach wäre. Nur weil man die eigene Rolle nicht so geschickt spielte wie viele andere, heißt das noch lange nicht, dass man das Theater für immer verlassen möchte.
Mirja unterhielt sich mit Malcolm. Er erzählte ihr von der Operation und den Bestrahlungen, von seiner Hoffnung, er würde zu Ostern entlassen werden.
Dabei wussten alle in dem Raum, dass er das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen würde. Alle außer ihre Schwester. Sie freute sich für Malcolm. Ihr konnte man alle Lügen über baldige Genesung, wundersame Heilungen erzählen, sie würde sie glauben, weil sie nichts von diesen Menschen wusste, weil sie alle Märchen glauben wollte, damit es ihr selbst besserging. Außerdem war sie nie fähig gewesen, den Menschen ihre Illusionen zu nehmen.
In diesem Zimmer sitzt nicht ein Einziger, der gesund wird!, sagte sie auf Finnisch zu Mirja. Malcolm wird der Nächste sein, der im Sarg rausgetragen wird.
Woher weißt du das?
Das weiß man, antwortete sie.
Jill hatte Nachtschicht. Sie brachte Siskos Pillen und wechselte einige Worte mit ihr.
Sie war eine Schwarze, und Sisko mochte sie und eine irische Krankenschwester am liebsten.
Sie sagt immer, was sie denkt, sagte sie zu Mirja.
Woher willst du wissen, was sie denkt?
Weil sie es sagt!
Sie lachten, und Mirja setzte sich auf die Bettkante und sah sie an.
Wie ein Riesenbaby siehst du aus.
Ich bin ein Riesenbaby. Wie lange kannst du bleiben?
Mirja gab eine ausweichende Antwort. Das bedeutete: solange sie es aushalten konnte.
Nimmst du eigentlich noch Prozac?, fragte Mirja.
Alles! Prozac, Morphium, Schlafmittel, alles, was sie mir geben, und mehr.
Die Frau im Zimmer über ihr schrie.
Das letzte Mal lag ich mit der Frau da oben im selben Zimmer. Ihre Tochter besuchte sie jeden Tag. Sie ist schon fast vierzig, aber sie liebt ihre Mutter über alles. Hat keine eigene Familie und auch keinen Freund. Bis ihre Mutter krank wurde, haben sie noch jeden Morgen zusammen gefrühstückt und zusammen zu Abend gegessen. Mit vierzig Jahren wohnt sie noch bei der Mutter! Ich habe der Tochter gesagt, dass ich mit sechzehn von zu Hause weggegangen bin, man muss das eigene Leben leben. Aber sie weiß nicht, wie man das macht. Stell dir vor, so lange hat die Mutter sie an der Hand geführt. Eigentlich ist es mir egal, ob sie mit ihrer Mutter oder mit einem Kerl frühstückt. Man verpasst das Leben sowieso. Ewig auf der Suche nach einer Hand, an der man sich festhalten kann. Aber Geld haben sie. Sie muss nicht arbeiten, sie kann sich ganz dem Sterben der Mutter widmen.
Sie schwieg, und Mirja fragte nach Siskos Tochter.
Sie muss für ihre Abiturprüfung lernen. Nichts ist wichtiger! Sterben kann ich auch allein. Ich weiß, wie es geht.
Woher? Du bist ja noch nie gestorben.
Sisko zuckte mit den Schultern. Kannst du einen Zettel mit den Sachen schreiben, die ich brauche? In der Nähe ist ein Inder, der hat den ganzen Tag und die halbe Nacht auf. Wenn du selbst etwas brauchst, kannst du noch heute Abend hingehen.
Heute Abend? Es ist fast Mitternacht.
Er hat auf.
Mirja schaute auf den Zettel und runzelte die Stirn. Sie erlauben dir hier, Wodka zu trinken?
Wir sind nicht in Deutschland. Dort gibt es ja auch nicht solche Krankenzimmer.
Vielleicht doch, dachte Mirja. Das Eckzimmer, in dem ihre Schwester lag, war sehr groß. Bestimmt so groß wie zwei sonst übliche Krankenhauszimmer zusammen. Nur Privatpatienten durften es belegen. Prinzessin Margaret hatte das Zimmer bewohnt, als sie in der Klinik eine Alkoholentgiftung machte. Das hatte Sisko stolz erzählt und gesagt, sie hätte als Kind nicht zu träumen gewagt, eines Tages im selben Bett zu schlafen, in dem vorher eine Königliche lag.
Sisko gähnte, Mirja ging auf die Toilette im Badezimmer. Dort hingen weiße Frotteetücher, ein Beutel mit Windeln stand auf einem Hocker und Siskos Marimekko-Toilettentasche. Sie war so prall gefüllt und durcheinander wie immer.
Du kannst mein Handtuch benutzen!, rief Sisko. Du kannst auch duschen, wenn du möchtest. In dem Gästehaus hast du nur eine Gemeinschaftsdusche.
Ich weiß!, rief Mirja zurück. Aber ich bin zu müde zum Duschen. Ich glaube, ich gehe jetzt. Der Flug und die vier Stunden, die ich brauchte, um die Stadt zu durchqueren, haben mich ziemlich geschafft.
Geh nur!, rief Sisko. Ich kann mir ja ein Schlafmittel geben lassen.
Mirja kam aus dem Bad. Du gähnst doch schon die ganze Zeit!
Wenn ich allein bin, kann ich nicht schlafen.
Mirja setzte sich wieder auf die Bettkante und hielt ihre Hand.
Bleibst du so lange bei mir?, fragte Sisko.
Bis du einschläfst?
Bis ich sterbe.
Ja, antwortete sie. Wenn du möchtest.
Ich möchte, dass meine letzten Worte auf Finnisch sind, sagte Sisko. Welche Sprache möchtest du denn an deinem letzten Tag sprechen?
Ich glaube nicht, dass ich beim Sterben reden möchte.
Du hast ja auch genug geredet, meinte Sisko und zog ihre Hand weg.
In einer Krankenhauszeitung stand etwas über ein Medikament, das sie hier entwickelt haben. Sie haben es noch nicht an Menschen getestet, aber bei Ratten haben sie damit Tumore völlig zum Verschwinden gebracht. Sie sollten die Pillen an mir ausprobieren. Ich bin gern ein Versuchskaninchen.
Mirja nahm die eingepackten Geschenke aus dem Koffer und legte sie aufs Bett.
Sisko hatte sich Nachthemden gewünscht, und Mirja hatte ihr zwei mitgebracht. Das schwarz-türkis gestreifte stammte aus Finnland. Das sah Sisko sofort. Das andere, in Deutschland gekaufte, ignorierte sie.
Sie breitete das finnische Nachthemd auf dem Bett aus. Das ziehe ich noch nicht an. In diesem Nachthemd will ich beerdigt werden.
Das kann man ja noch x-mal waschen, bis du stirbst.
Stimmt. Ich ziehe es an. Hilfst du mir?
Es war eins von Mirjas Nachthemden, und als Sisko sich zufrieden seufzend ins Bett fallen ließ, kamen Mirja die Tränen.
Jetzt denkst du, du würdest hier liegen und sterben. Stimmt’s?, sagte Sisko.
Mirja schüttelte den Kopf. Sie hatte sich erinnert, wie sie einmal abends in das Zimmer kam, in dem sie mit Sisko schlief. Sisko lag schon im Bett, sie hatte Mirjas Lieblingsnachthemd an, es war aus Flanell, weiß mit kleinen roten Rosen. Sie hatte Sisko angeschnauzt, sie gefragt, warum sie überhaupt ihr Nachthemd anziehe, es sei ihr ja viel zu groß. Und Sisko hatte geantwortet: Ich wollte fühlen, wie es ist, du zu sein.
Sisko erklärte ihr noch einmal, wo der indische Laden lag, und warnte sie vor der Großstadt. Du bist in London. Lass dich nicht anquatschen und halt dein Portemonnaie fest und nimm in den Laden nur so viel Geld mit, wie du für die Einkäufe brauchst.
Ich war schon sechs Jahre auf der Welt, ehe du geboren wurdest, sagte Mirja.
Na und, bist du dadurch etwa unangreifbar?, sagte Sisko.
Jill winkte Mirja zu, als sie am Schwesternzimmer vorbeiging.
Sie fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Auf dem Gang bis zur Tür hallten ihre Schritte. Der Pförtner sah auf einen Monitor, die Tür ging automatisch auf. Sie musste um die Ecke biegen und hundert Meter weitergehen, um zum Gästehaus zu gelangen. Sisko hatte gesagt, es seien nur hundert Meter, und als sie, bei ihrem letzten Besuch im Krankenhaus, zum ersten Mal den Weg zurücklegte, hatte sie die Schritte gezählt. Als hätte sie nachrechnen wollen, ob Sisko die Wahrheit gesagt hatte. Manche ihrer Behauptungen waren nicht so leicht zu überprüfen.
Die Räder des Trolleys rollten nicht auf dem gepflasterten Bürgersteig, und sie trug ihn. Der Koffer war nicht schwer, aber ihr brach der Schweiß aus. Die Straße war leer. Sie überlegte, wie lange es dauern würde, bis man sie entdeckte, falls sie plötzlich zusammenbräche. In dem Viertel waren mehrere Kliniken untergebracht, und obwohl es nicht weit war von Piccadilly, Kings Road und Hyde Park, war es dort abends immer ruhig.
Im Gästehaus musste sie erst mal mit dem Haustelefon eine an die Wand gekritzelte Nummer anrufen, damit jemand kam, ihr das Zimmer zeigte und den Schlüssel gab.
Auf dem Flur roch es nach orientalischem Essen. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Telefonapparat und schluckte den Speichel runter, der ihr im Mund zusammenlief. Sie hatte seit dem halben Brötchen im Flugzeug nichts mehr gegessen.
Die Frau, die sie in das Zimmer führte, sprach noch schlechter Englisch als Mirja. Sie war Koreanerin oder Vietnamesin. Es war ein anderes Zimmer als beim letzten Mal, aber genauso klein und ohne Toilette und Dusche. Die befanden sich einige Türen weiter, direkt gegenüber der Küche. Dort saß eine indische Familie und kochte. Es war mittlerweile ein Uhr.
Sie stellte den Koffer in eine Ecke und ging zurück auf die Straße, um nach dem Laden des Inders zu suchen.
Draußen fiel ihr ein, dass sie die ganzen Papiere und das ganze Geld mitgenommen hatte. Aber niemand raubte sie aus, und nachdem sie den Inder gefunden und etwas Brot, Butter, Käse und Kaffee gekauft hatte, ging sie noch einmal ins Krankenhaus.
Jill hob die Augenbrauen, als sie auf der Station erschien.
Sie war zu müde für Erklärungen und zeigte nur mit einer Geste, dass sie noch einmal nach Sisko schauen wollte.
Ihre Schwester schlief fest. Sie hatte sich noch einmal umgezogen. Das finnische Nachthemd lag zusammengefaltet auf einem Stuhl. Leise schloss sie die Zimmertür.
Don’t worry, sagte Jill. She is okay at the moment.
Die indische Familie saß immer noch in der Küche. Sie aßen und unterhielten sich. Sie kochte sich Wasser und nahm eine Tasse, einen kleinen Löffel und ein Messer mit aufs Zimmer. Nachdem sie einen Schluck von dem Nescafé getrunken hatte, schmierte sie sich ein Brot und setzte sich an den Tisch. Es war zu spät, zu Hause anzurufen. Sie packte ein paar Sachen aus dem Koffer. Das leere Tagebuch legte sie auf den Tisch. Die anderen Bücher auf den winzigen Nachttisch, auf dem bereits eine Lampe mit einer sehr schwachen Glühbirne stand.
Sie putzte sich die Zähne, wusch sich das Gesicht und setzte sich dann im Nachthemd an den Tisch und schlug die erste Seite des Reisetagebuchs auf.
Ich bin bei meiner Schwester angekommen, schrieb sie. Sie dachte an das Jahr, das Sisko in Deutschland verbracht hatte. Sie bekam für drei Monate eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, weil sie einen Wohnsitz bei Mirja und ihrem Mann hatte. Es war trotzdem nicht leicht, eine Arbeit für sie zu finden, weil sie kein Deutsch sprach, kaum ein Wort verstand. Es gab damals genug Stellen, auch für Ausländer. Gerade für Ausländer, weil sie keine Ansprüche stellen konnten. Putzfrauen, Spülhilfen für Restaurants, Zimmermädchen für Hotels wurden gesucht. Mirja ging mit ihr, stellte sie den Arbeitgebern vor. Sisko stand neben ihr, ohne ein Wort zu sagen, weder verzog sie den Mund zu einem Lächeln, noch streckte sie die Hand aus, um die Leute zu begrüßen, die darüber zu entscheiden hatten, ob sie die Stelle bekam oder nicht. Mirja entschuldigte sich für sie, sagte, sie sei sehr scheu und verunsichert, wie jedes junge Mädchen in einem fremden Land ohne Sprachkenntnisse. War ein Mann für die Anstellung des Personals zuständig, stiegen ihre Chancen. Sie sah gut aus. Ihre Jobs behielt sie nie lange, um den geringen Lohn musste Mirja nachher kämpfen. Sisko ließ einfach das Geschirr, das sie hätte spülen müssen, im Wasser liegen und spazierte hinaus. Sie stellte den Putzeimer in das Zimmer, das sie hätte saubermachen sollen, und verschwand. Es ist nicht wegen des Putzens oder Spülens, aber die Deutschen behandeln einen, als sei man schwachsinnig und minderwertig, nur weil man für sie die Drecksarbeit macht. Ich musste einfach weg. Kündigen kann ich nicht, ich kann die Sprache ja nicht.
Dann fand sie Arbeit in einer englischen Kantine, die zur britischen Kaserne gehörte. Dort hatte sie keine Sprachprobleme, Englisch konnte sie, und sie wurde auch nicht wie ein Sklave behandelt. Die Stelle behielt sie, bis sie Deutschland wieder verließ.
Die indische Familie saß nicht mehr in der Küche, aber der Essensgeruch blieb, drang in ihr Zimmer. Sie öffnete das Fenster. Der Himmel war bewölkt, in den Fenstern der Klinik brannte das Licht. Brannte in den Krankenzimmern auch nachts das Licht?
Erst wurde ein Tumor an einem Lymphknoten entdeckt. Es handelte sich um eine Metastase. Der Lymphknoten wurde entfernt, und sie trug kleine bunte Tücher, um die Narbe zu verbergen. Danach bekam sie sechs Wochen lang Bestrahlungen. Sie fuhr allein zu der Klinik in Cambridge. Die Dosis wurde falsch berechnet, und sie erlitt Verbrennungen im Gesicht. Sie überlegte, ob sie sich eine Burka anschaffen sollte.
Nach den Bestrahlungen besuchte Mirja sie. Sisko hatte aufgehört zu rauchen und war gereizt. Sie stritten sich. Mirja rauchte draußen. Sie machte Spaziergänge in der Umgebung des kleinen Dorfes, in dem Sisko mit ihrem Mann und der Tochter wohnte, und legte sich die Worte zurecht, die sie sagen wollte, wenn sie, von der frischen Luft und der Weite der Landschaft gestärkt, in das Haus zurückkehrte. Ihre Schwester saß auf der Couch und überlegte sich vielleicht, was sie sagen würde, wenn Mirja wieder neben ihr saß. Aber es waren immer andere Worte als die zurechtgelegten, die dann ausgesprochen wurden.
Als sie sich auf dem Flughafen in Stansted umarmten, weinten sie wegen der Unmöglichkeit, eine Sprache zu finden, die sie beide verstanden.
Im Flugzeug sah Mirja immer die Maske vor sich, die ihre Schwester bei den Bestrahlungen hatte tragen müssen, damit das gesunde Gewebe nicht geschädigt wurde.
Als Sisko ihr die Verbrennungen auf Gesicht und Hals zeigte, sagte sie: Es gibt keine Maske, die gegen Dummheit oder Fehler schützt. Mirja fiel der Dorfarzt ein, der Sisko, als sie ihn aufsuchte und ihm den angeschwollenen Lymphknoten zeigte, angefahren hatte. Wenn er sich wegen jedem dicken Lymphknoten Sorgen machen würde, käme er nicht mehr dazu, Kranke zu behandeln. Sisko machte sich keine Gedanken mehr um die Beule am Hals. Als Mirja ihr erzählte, man habe bei ihr ein Mundkarzinom festgestellt, gab Sisko ihr Ratschläge. Hör auf zu rauchen, rauche nur leichte Zigaretten und spül dir den Mund nach jeder Zigarette mit Salzwasser aus. Sie machte sich wieder Sorgen um ihren Lymphknoten, beschrieb die Größe, übertrieb, sagte, die Verdickung sei so groß wie ein Hühnerei. Mirja beschwor sie, einen anderen Arzt zu konsultieren.
Nachdem der Krebs festgestellt wurde, hatte Sisko ihrem Hausarzt einen Brief geschrieben, er rief sie an und entschuldigte sich.
Wir machen alle Fehler, ich wollte nur, dass Sie es wissen. Vielleicht nützt es dem nächsten Patienten, ob er nun berechtigte oder unberechtigte Angst hat, antwortete sie.
Mirja war gerade zu Hause angekommen, als Sisko anrief und sich für ihre Gereiztheit entschuldigte. Mirja entschuldigte sich ihrerseits für ihren Mangel an Verständnis und die eigene Ungeduld.
Vielleicht ist diese Krankheit bald überstanden, sagte Sisko. Ich habe einen Arzt in London gefunden, der eine besondere Therapie für Krebspatienten entwickelt hat. Eine Diät, von der er weiß, dass sie wirkt.
Woher weiß er es?, fragte Mirja.
Er behandelt schon lange Krebskranke.
Das tun viele andere auch.
Zumindest ist er teuer, sagte Sisko. Ich will wissen, was er für das Geld bietet.
Ein paar Tage später rief sie wieder an. Doktor B. glaubt zu wissen, woher der Krebs kommt!
Und?
Erinnerst du dich noch, dass unsere Kopfläuse immer mit DDT bekämpft wurden? Das Gift hat meine Hirnzellen geschädigt, und einige sind zu Krebszellen mutiert. Das ist es.
Unsinn! Wieso glaubt er, der Primärtumor sitze im Kopf?
Wahrscheinlich, weil ich so verrückt bin, sagte sie und lachte.
Sie war monatelang überzeugt von den Theorien, Pillen und Säften des Spezialisten, der in einer vornehmen Gegend von London seine Praxis führte und laut eigenen Angaben auch Mitglieder der königlichen Familie zu seinen Patienten zählte. Sie schluckte Propoliskapseln, trank Bienenköniginnennektar, schickte auch Mirja Ampullen von dem Wundermittel, rührte chinesische Kräuter in einen speziellen Joghurt, hörte auf zu rauchen. Wozu rauchen, wenn man nicht mehr trinkt? Ohne Wodka schmecken die Zigaretten eh nicht.
Jeden Morgen sagte sie zu ihrem Krebs: Du wirst mich nicht besiegen.
Der Krebs muss wissen, dass er einen starken Gegner hat, sagte sie.
Als sie Atembeschwerden bekam, buchte sie ein Hotelzimmer in Helsinki, packte ihre Koffer, flog in die Heimat und ließ sich von einem finnischen Lungenarzt untersuchen. Er stellte eine Metastase in der Lunge fest.
Bei der Operation, die in London durchgeführt wurde, konnte nur ein Teil des Sekundärtumors entfernt werden, die Metastase befand sich zu nahe an der Aorta.
Aber der Tumor in der Lunge ist von langsam wachsender Art, sagte sie. Ich glaube, ich mache eine Weltreise. Kommst du mit?
Mirja fuhr nicht mit und Sisko auch nicht um die Welt. Sie flog nach Thailand. Ihr Bruder Eino besaß dort eine Villa, die nach seinem Tod nur selten besucht wurde. Vier Deutsche Doggen bewachten das Haus und das Grundstück. Sisko nahm sie nachts mit in ihr Schlafzimmer und behauptete, sie habe nie in ihrem Leben so ruhig geschlafen.
Aber tagsüber ging es ihr schlecht. Sie hatte Schmerzen, die sie nicht lokalisieren konnte. Sie glaubte, es liege an dem letzten Weisheitszahn, den sie noch besaß, und ließ ihn ziehen. Die Schmerzen blieben, sie fing wieder an zu rauchen und zu trinken.
Im Sommer mietete sie sich drei Wochen in dem ihr schon bekannten Hotel in Helsinki ein, saß auf der Terrasse, nuckelte an ihrem Bierglas und rauchte. Manchmal sah sie den Menschen zu, die am Hotel vorbeispazierten, oder sie ging zum Marktplatz am Hafen und fütterte die Möwen mit Brot. Sie besuchte Kleiderläden und kaufte sich Kleider und Blusen, die sie weder anprobierte noch aus den Tüten packte. Die Tüten lagen in der Zimmerecke, und sie überlegte, wem sie den ganzen Krempel schenken könnte.
Einmal besuchte sie mit Mirja einen finnischen Zoo auf der Insel Korkeasaari. Einmal den Vielfraß und die Braunbären in Korkeasaari sehen zu können war ein Kindheitstraum aller Geschwister gewesen.
Auch diese Freude kommt vierzig Jahre zu spät, sagte sie. Mittlerweile finde ich jeden Hasen auf einem freien Feld interessanter als seltene Raubtiere.
Im Winter rief sie an und sagte: Ich glaube, ich sterbe jetzt, kommst du?