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Marjaleena Lembckes neuer Roman: wunderschön und sehnsuchtsvoll Eva verbringt die Ferien bei Onkel Oliver. Das Haus, in dem er wohnt, steckt voller Rätsel, Überraschungen und Sehnsucht. Da gibt es nächtliche Geräusche auf dem versperrten Dachboden, geheimnisvolle Kartons und einen Teppich voller Muscheln. Lucas, der im Erdgeschoß wohnt, hat keinen Papa. Dafür hat der mürrische Herr Diederich angeblich keine Kinder. Onkel Oliver hat keine Erfahrung mit Nichten, aber jede Menge fantastische Geschichten auf Lager, die er erzählt, anstatt auf Evas Fragen zu antworten. Marjaleena Lembcke nimmt uns mit in eine Welt der Geheimnisse und Geschichten - unnachahmlich sensibel und berührend.
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Seitenzahl: 109
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Marjaleena Lembcke
Mit Bildern von Elsa Klever
Ferien!
Der erste Tag mit Oliver
Über Töpfe und Deckel
Schaumig schlagen
Küssen ist Liebe
Der Mann und der Stock
Die schönsten Welpen der Welt
Wo ist Onkel Oliver?
Der Unfall
Das Geheimnis
Herbstkatzen
Auf keinen Fall!
Das Märchenmädchen
Die Hand von Onkel Oliver
Ich freute mich.
In den Herbstferien wollte meine Mutter mit mir nach Mallorca fliegen. Auf Mallorca war ich noch nie. Viele aus meiner Klasse hatten dort Urlaub gemacht, und sie fanden die Insel ganz toll. Man konnte schwimmen und Muscheln sammeln, die Sonne schien immer, und nie regnete es. Auf jeden Fall nie, wenn meine Freundinnen auf der Insel waren. Ich hatte einen neuen Bikini bekommen, einen Schnorchel, eine Taucherbrille und eine Sonnenbrille. Wir markierten auf der Karte den Ort, wo unser Ferienhaus lag, mit einem roten Punkt. Ab und zu schauten Mama und ich uns das Haus im Internet an. Es war aus hellen Steinen gebaut und sah schön aus. Draußen blühten rote Blumen, die Bougainvillea heißen, es gab sogar einen Swimmingpool. Aber ich wollte lieber im Meer baden. Das Meer mit den Wellen und dem Sandstrand fand ich viel spannender. Ich versprach meinen drei besten Freundinnen, ihnen eine Karte zu schreiben und zu erzählen, wie es mir dort gefiel. Mein Vater würde natürlich auch eine Karte bekommen. Ihm würde ich ein Bild malen. Vielleicht von unserem Haus. Oder eins, auf dem das Meer und viele Muscheln zu sehen waren.
Mein Vater würde nicht mitfliegen. Er lebt nicht mehr mit uns zusammen, aber ich besuche ihn fast jedes Wochenende. Mein Vater muss viel arbeiten, meine Mutter muss auch viel arbeiten, sogar meine Großeltern haben immer viel zu tun. Unsere ganze Familie arbeitet und arbeitet. „Wenigstens Mama hat bald eine Woche frei und braucht nichts tun“, dachte ich. Nur mit mir zusammen zu sein. Das sei für sie keine Arbeit, sondern eine große Freude, sagt sie immer.
Drei Tage vor den Herbstferien klingelte abends das Telefon. Meine Mama war im Badezimmer. Ich ging dran. „Hallo“, sagte ich.
„Wer spricht dort?“, fragte die Frau am anderen Ende.
„Eva“, sagte ich.
„Hallo, Eva, kann ich bitte deine Mutter sprechen?“
„Das geht jetzt nicht“, sagte ich.
„Ich bin Fiona, eine Kollegin von ihr. Kannst du sie bitten zurückzurufen, sobald sie kann? Es ist wichtig!“
„Okay!“, sagte ich. Aber ich hatte das Gefühl, dass gar nichts okay war. Plötzlich grummelte mein Magen, als sei ich hungrig oder als ob ich etwas Falsches gegessen hätte. Meine Mutter meinte später, ich hätte Vorahnungen gehabt. Fiona war nicht nur eine Arbeitskollegin, sie war die Chefin. Ich erzählte Mama von dem Anruf, als sie aus dem Bad kam.
„Fiona“, sagte sie und zog die Augenbrauen in die Höhe. Meine Mutter starrte durchs Fenster nach draußen, als ob sie in dem dunklen Himmel etwas sehen würde, das ihr nicht gefiel. „Du legst dich bitte schon ins Bett. Es kann länger dauern. Ich sag dir später noch Gute Nacht.“
Ich lag schon eine Weile im Bett, als sie in mein Zimmer kam. Sie hatte immer noch den Telefonhörer in der Hand, und sie sah gehetzt und zerstreut aus. So wie sie morgens manchmal aussieht, wenn wir es eilig haben und sie Angst hat, dass ich zu spät zur Schule komme und sie zur Arbeit.
„Schlaf schön, mein Schatz!“, sagte sie, umarmte mich mit einem Arm und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Gute Nacht!“, sagte ich auch und fragte dann: „Ist alles in Ordnung?“
„Was nicht in Ordnung ist, wird wieder in Ordnung gebracht“, sagte sie. Der Satz war keine richtige Antwort und klang auch nicht beruhigend. Am nächsten Morgen erzählte meine Mutter, dass ihre Chefin krank sei und geklärt werden müsse, ob es noch klappen würde mit ihrem Urlaub. „Unvorhersehbare Dinge kommen nun mal vor“, sagte sie, und dann: „Aber ich versuche es hinzubiegen.“ Sie hat es nicht geschafft. Da gab es nichts zu biegen. Sie wurde bei der Arbeit gebraucht. So leid es ihrer Chefin auch tat, meine Mutter musste ihren Urlaub verschieben. Meine Ferien konnte ich aber nicht verschieben. „Ein Glück, dass ich eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen habe. So kriegen wir unser Geld wenigstens zum größten Teil zurück“, meinte Mama. Ich sah darin kein großes Glück. Für mich hieß es einfach, dass wir nicht nach Mallorca fliegen würden.
„Und wo soll ich in den Ferien hin?“, fragte ich.
„Darüber mach dir keine Sorgen“, sagte Mama. „Du hast viele Verwandte, die sich riesig darauf freuen, dich ein paar Tage bei sich haben zu können.“
Aber viele waren es nicht. Sie fand nicht einen einzigen Verwandten, nicht einmal einen Bekannten, der für mich Zeit gehabt und sich auf meinen Besuch gefreut hätte.
Die Eltern meiner Mutter bereisten zuzeit Skandinavien und befanden sich irgendwo im schwedischen Lappland. „Sie können ihren Urlaub nicht plötzlich abbrechen. Sie haben ihn ja schon vor langer Zeit geplant“, sagte meine Mutter. „Aber die Eltern deines Vaters freuen sich auch immer über deine Gesellschaft.“
Diesmal nicht. Die Mutter meines Vaters musste arbeiten, und der Vater meines Vaters hatte Grippe. „Wenn du mir früher gesagt hättest, dass du zu uns kommst, hätte ich natürlich freigenommen. So etwas muss man vorher wissen, damit man planen kann“, sagte Oma, als ich sie anrief.
„Ich habe es auch nicht vorher gewusst“, sagte ich. Mein Papa konnte auch nicht freinehmen.
„Schatz“, sagte er. „So ein Mist! Hätte ich es ein paar Wochen vorher gewusst, hätte ich ja mit dir fliegen können.“
„Niemand hat es ein paar Wochen vorher gewusst“, sagte ich.
„Und was passiert jetzt?“, fragte er.
„Gar nichts“, antwortete ich.
Meine Mutter telefonierte ziemlich viel und mit ziemlich vielen Menschen. Mir war alles egal. Ziemlich egal.
Und dann hatte sie doch Glück. „Ich habe jemanden gefunden, der dich nehmen will!“, rief sie erleichtert. Es klang, als sei ich ein alter Sessel, den sie schon lange loswerden wollte.
„Toll“, sagte ich. „Und wer ist es?“
„Mein Bruder.“
„Den kenne ich doch kaum!“
„Na ja, jetzt kannst du ihn kennenlernen. Er ist immerhin dein Onkel. Er lebt sehr zurückgezogen. Außerdem ist er zurzeit arbeitslos. Deine Gesellschaft tut ihm bestimmt gut“, sagte meine Mutter. Es interessierte sie überhaupt nicht, ob die Gesellschaft ihres Bruders auch mir guttat. Es waren doch meine Ferien! Und was sollte es bedeuten, dass er zurückgezogen lebte? Auf einer Insel, wo keine anderen Menschen wohnten?
„Magst du ihn gerne?“, fragte ich.
„Er ist mein Bruder“, erwiderte sie, als sei das Antwort genug. Dann überlegte sie einen Augenblick.
„Ich habe ihn in den letzten Jahren nicht oft getroffen. Ich hatte so wenig Zeit. Als Kind mochte ich ihn sehr.“
Ich war ein Kind. Vielleicht würde ich ihn auch mögen. Und Zeit hatte ich ja genug.
Mein mir fast unbekannter Onkel heißt Oliver. Am Montag ging meine Mutter etwas später zur Arbeit. Wir warteten auf Oliver, der mich abholen sollte. Ich hatte mit Mama einen kleinen Koffer gepackt, mit Klamotten und Toilettentasche und mit den anderen Sachen, die ich dabeihaben wollte, wie Bücher und Kuscheltiere. Die Taucherbrille und den Schnorchel brauchte ich natürlich nicht, aber meinen Bikini nahm ich vorsichtshalber mit. Vielleicht würde Oliver ja mit mir ins Hallenbad gehen. Meine Mutter guckte immer auf die Uhr und seufzte über jede Minute, die Oliver sich verspätete. Insgesamt waren es zehn. Ich weiß es, weil meine Mutter auf ihre Uhr zeigte und sagte: „Zehn Minuten zu spät!“
Oliver lächelte. „Der Zug hatte Verspätung, nicht ich.“
Mama umarmte mich eilig und kräftig und küsste mich auf beide Wangen und auf die Stirn und auf den Mund zum Abschied und sagte: „Viel Spaß, und wir telefonieren jeden Abend. Sei brav, und lass dich verwöhnen!“
Ich guckte sie finster an, aber sie hatte sich schon zu Oliver gewandt. Sie gab ihm Anweisungen, wann ich im Bett sein, was ich essen und bei welchen Temperaturen ich auf jeden Fall die dickere Jacke anziehen sollte.
„Du bekommst sie ja vor Wintereinbruch zurück“, meinte Oliver. „Mach dir keine Sorgen. Wir beide kriegen es schon hin.“
Wir verließen alle zusammen das Haus. Meine Mutter stieg in ihr Auto. Ich winkte ihr noch nach, als sie schon um die Ecke gebogen war und mein Winken nicht mehr sehen konnte. Oliver wartete neben mir und sagte nichts. Einige Zeit standen wir einfach auf dem Bürgersteig und schwiegen. Dann sah ich ihn an. Oliver war größer als meine Mama, aber kleiner als mein Papa. Um die Bauchgegend war er etwas rund, und er hatte nur wenige Haare auf dem Kopf. Fast gar keine. Er trug eine Brille. Er kramte in seiner Jackentasche und holte einen Tabakbeutel hervor.
„Du willst doch nicht rauchen?“, fragte ich ihn.
„Das hatte ich vor“, meinte er.
„Ich hasse Zigaretten“, sagte ich. „Von Zigaretten stirbt man!“
Er lachte: „Einige Tage halte ich noch durch.“
„Das ist nicht witzig“, sagte ich. „Zigaretten machen wirklich krank. Ich kriege Husten, wenn jemand raucht.“
„Ich rauche nicht in der Wohnung.“
„Ich hasse Zigaretten auch draußen.“
„Ich glaube, wir haben einen Interessenkonflikt“, meinte Oliver und steckte die Zigarette an, die er sich gedreht hatte. Ich ging ein paar Schritte weiter.
„Was ist ein Konflikt?“, fragte ich.
„Ein schwer zu lösendes Problem“, erklärte er.
„Kommt häufiger vor, wenn zwei Menschen unterschiedlicher Meinung sind. Was auch häufig vorkommt.“
„Meine Meinung über Zigaretten ist richtig“, sagte ich.
„Ganz bestimmt“, gab er zu. „Rauchen ist ungesund.“
„Warum tust du es dann?“
„Im Augenblick bin ich ein wenig nervös, weil wir uns ja kaum kennen“, sagte er.
„Ich bin doch nur ein Kind!“, sagte ich.
„Eben!“, sagte er und sah mich an, als sei das Kindsein auch so ein Konflikt.
Wir fuhren mit dem Bus zum Bahnhof und stiegen dann in einen Zug ein. Die Fahrt zu dem Dorf, wo er wohnte, dauerte nur eine Stunde. Im Zug sprach er wenig. Er schaute mich nur mit ernsten Augen an. Ich dachte, er sei vielleicht sauer wegen meiner Bemerkung über sein Rauchen. Aber als ich ihn fragte, ob er sauer sei, lachte er und meinte, er sei doch nicht sauer, nur weil ich meine durchaus vernünftige Meinung äußerte. Ich zuckte die Schultern. Wahrscheinlich schwieg er, weil er nicht wusste, was er mit einem kleinen Mädchen reden sollte. „Ich bin erst acht Jahre alt“, sagte ich zu ihm. „Ich bin vielleicht noch nicht so klug, wie du möchtest.“
Er lachte wieder. „Ich glaube, du bist klug genug. Kinder sind immer klug.“
„Kennst du viele Kinder?“, fragte ich.
„Eigentlich nicht. Aber die Kinder, die ich kenne, sind klug.“
Hoffentlich bin ich nicht die Ausnahme, dachte ich. Aber ich sagte es natürlich nicht.
Er lächelte. „Ich hoffe, dass wir uns gut verstehen. Und sollte ich mal vergessen, dass du ein Kind bist, und mit dir wie mit einem Erwachsenen sprechen, musst du mich darauf aufmerksam machen.“
„Also glaubst du doch, dass ich dumm bin“, sagte ich.
„Nein“, sagte er. „Das hat mit Klugheit oder Dummheit nichts zu tun. Du weißt nur noch nicht so viel, kennst zum Beispiel nicht alle Wörter, die Erwachsene benutzen.“
„Wie Konflikt.“
„Genau so etwas meine ich“, sagte mein Onkel.
„Frag einfach, wenn du etwas nicht verstehst!“
Vom Bahnhof zu seiner Wohnung mussten wir zu Fuß gehen. Er sagte, es lohne sich nicht, wieder in einen Bus zu steigen. Es seien nur knapp zwei Kilometer. Zwei Kilometer! Ich maulte.
„Warum fährst du kein Auto?“
„Ich habe keins!“
„Warum nicht?“
„Sind für dich ein paar Schritte in der frischen Luft so qualvoll?“, fragte er. Meine Frage, warum er kein Auto hat, beantwortete er gar nicht. Und ich schämte mich sofort, dass ich gefragt hatte. Ich ahnte es ja. Er war arbeitslos, also hatte er kein Geld. Oder nur ganz wenig.
„Ich habe nichts gegen ein paar Schritte in der frischen Luft, aber es sind Tausende und noch Tausende und noch mehr.“
„Ich erzähle dir eine Geschichte, dann ist das Unternehmen nicht so langweilig“, sagte er.
„Was für ein Unternehmen?“
„Das Unternehmen ‚Zielpunkt zu Fuß erreichen‘“, antwortete er.
„Ach so, dann erzähl. Ich mag Geschichten.“
Und er erzählte.
„Ein alter Mann besaß einen Spazierstock, der sehr unglücklich war, weil er nicht mehr als Ast am Baum hing. Immer grübelte er darüber nach, wie schön es gewesen wäre, wenn er überhaupt nichts hätte tun müssen. Wenn die Wurzeln ihn ernährt hätten, die Blätter ihn geschmückt und der Wind ihn geschaukelt hätte. Immer wieder dachte er an die Zeit, als er noch ein Teil des Baumes war, immer draußen stand und den Himmel sehen konnte. Der Stock wurde störrisch, und wenn der alte Mann ihn auf einen Spaziergang mitnahm, blieb er in jeder Ritze stecken und wackelte hin und her. Der arme Mann fand keinen Halt mehr an ihm. Eines Tages beschloss der Alte, den Stock zu Hause zu lassen. ‚Ich glaube, ohne ihn komme ich schneller und sicherer voran‘, murmelte er. Der Stock freute sich. Endlich ließ man ihn in Ruhe.