Wir entern ein Engadinerhaus - Tim Krohn - E-Book

Wir entern ein Engadinerhaus E-Book

Tim Krohn

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Beschreibung

Wirklich begeistert sind Robbie und Tilly nicht von der Idee, mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Maja aufs Land zu ziehen. Da wissen sie aber auch noch nicht, was sie im Engadin erwartet. Ein riesiges 400 Jahre altes Bauernhaus haben die Eltern gekauft, allerdings ist das nicht im allerbesten Zustand. Überall Müll und Dreck und alte Möbel ... Das reinste Chaos! Die Eltern machen sich stöhnend an die Arbeit. Doch für die Geschwister ist das Haus die reinste Fundgrube, und Hobbydetektiv Robbie nimmt sofort die Ermittlungen auf: Warum hat jemand dieses Ungetüm von einem Safe aufgebohrt? Was hat es mit den Kinderzeichnungen und Handtüchern auf sich, die mit dem Monogramm C. A. versehen sind? Was mit den leeren Kaffeesäcken, die haufenweise auf dem Dachboden liegen? Rätselhaft! Noch seltsamer aber finden Tilly und Robert etwas anderes: Immer wenn sie erzählen, wo sie jetzt wohnen, reagieren die Leute abweisend und ruppig, so als läge auf ihrem Engadinerhaus ein Fluch. Und das glauben sie bald auch selbst, denn die Stimmung zwischen ihren Eltern wird von Tag zu Tag schlechter. Dann erwischen die Geschwister eines Tages zwei andere Kinder in der großen Scheune im Garten, und da geht die Geschichte erst so richtig los ...

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Tim Krohn

Wir entern ein Engadinerhaus

Roman

atlantis

Für Micha,

die mich nahm, wie ich war.

Für Elisa, Milo, Zilla, Carlotta und Liv,

ohne die wir nicht wären,

wer wir sind.

1Hoppla, wir kommen!

Liebe Frau Fröhlicher!

Plötzlich ist alles ganz schnell gegangen, und Robbie und ich konnten uns gar nicht mehr von unseren Klassen verabschieden, das tut uns sehr leid. Eigentlich wollten wir ja erst am Mittwoch umziehen. Dass ich jetzt schon in unserem neuen Daheim im Engadin auf einer alten wackeligen Getränkekiste an einem noch viel älteren wackeligen Tisch sitze – Papa sagt, auf dem Tisch wurde früher Käse gemacht – und Ihnen schreibe, das kam so:

Vorgestern, am Samstagmittag also, sind Mama und Papa ganz glücklich aus der Schule zurückgekommen, wo sie das Elterngespräch mit Ihnen gehabt hatten. Beide waren begeistert. Mama hat geschwärmt, wie nett Sie doch sind und wie verständnisvoll, und Papa, wie nett und hübsch und sympathisch … Er hat überhaupt erst aufgehört zu schwärmen, als Mama gesagt hat: »Es reicht jetzt, Claus. Lade sie doch zu einem deiner Workshops ein, wenn du sie so supersexy findest.«

Jedenfalls war ich noch mal sehr stolz, dass Sie meine Klassenlehrerin sind und Robbies und meine Co-Rektorin. Ich werde Sie furchtbar vermissen.

Mama und Papa haben Ihnen ja bestimmt erzählt, dass wir das Haus im Engadin gekauft haben, damit Papa dort seine Workshops abhalten kann und Mama endlich ihr Buch schreiben. Papa hat ja diesen Bestseller verbrochen, Intimität in der Familie, steht an jedem Kiosk, und Mama ist ein bisschen sauer, weil das immerhin schon das fünfte Buch ist, das er schreiben durfte (die anderen vier waren alles üble Ladenhüter), während die arme Mama seit … Moment, lassen Sie mich rechnen … seit, krass, vierzehn Jahren darauf wartet, dass sie endlich ihren Erstling schreiben kann.

Aber jetzt hör ich Sie rufen: »Das Thema, Tilly, bleib beim Thema!«

Das Thema nämlich ist, äh, genau, der Umzug: Am Samstagmittag sind Mama und Papa also nach Hause gekommen und haben zur Feier des Tages Chicken Nuggets mitgebracht. Kriegen wir sonst nie, von wegen Vollwert und so. Dazu hat Mama gesagt: »Genießt sie, Kinder, so was kriegt ihr so schnell nicht wieder. Obwohl Robbie ihnen gleich im Computer bewiesen hat, dass man die online bestellen kann, und online sind wir auch hier in Samartin (im Moment über Papas Hotspot), sonst könnte ich Ihnen gar nicht schreiben.«

»Das Thema, Tilly!«

Verzeihung.

Mama hat uns also erzählt, dass Sie so nett sind, uns die letzten zwei Wochen vor den großen Ferien zu erlassen, und uns am Ende trotzdem das Zeugnis geben, damit wir die erste Klasse Gymnasium ordentlich abschließen können. Danach müssen wir übrigens für zwei Jahre gar nicht in die Schule, sondern Mama gibt uns zu Hause Unterricht. In Graubünden darf sie das, weil sie früher Lehrerin war. Aus dem Grund kam Papa ursprünglich überhaupt aufs Engadin, als es darum ging, ob wir aufs Land ziehen und wohin, um endlich, wie Papa gesagt hat, »diese verdammte Intimität zu leben, die an mir klebt wie ein Fluch«.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Mama und Papa sind also am Samstagmittag mit den Chicken Nuggets … Genau, sie sind aus der Schule gekommen und haben von Ihnen geschwärmt und erzählt, dass Sie uns ziehen lassen unter der Bedingung, dass Robbie und ich Ihnen bis zu den Ferien jeden Tag schreiben, was wir so treiben.

»Jeden Tag?«, hat Robbie entsetzt gerufen. »Aber abwechselnd, oder?«

Darauf Papa: »Na ja, wahrscheinlich hat sie wirklich abwechselnd gemeint. Ihr seid ja wie die Kletten, und dann müsste sie immer zweimal das Gleiche lesen.«

»Und am Wochenende?«, hat Robbie gebohrt. »Wenn wir am Wochenende auch müssen, gehe ich vors Arbeitsgericht.«

Im Kanton Graubünden gibt es allerdings gar kein Arbeitsgericht, hab ich gleich gegoogelt, und deshalb machen wir es jetzt so: Ich schreibe Ihnen Montag, Mittwoch und Freitag, Robbie Dienstag, Donnerstag und Samstag. Sonntag ist frei. Gebongt?

Die Reihenfolge hat übrigens Robbie bestimmt: »Ein Gentleman lässt der Dame den Vortritt.«

Ich: »Und wenn die Dame den Vortritt nicht will?«

Er: »Ist sie keine Dame, sondern eine blöde Kuh.«

Und natürlich will ich eine Dame sein.

»Blöde Kuh« ist übrigens neu, sonst nennt er mich »Käsespargel« und ich ihn »bleiche Bohnenstange«, darunter kann man sich wenigstens was vorstellen. Kühe sind übrigens in Samartin Mangelware, obwohl »Kuhkaff« das Erste ist, was einem beim Anblick der paar Häuser einfällt. Papa vermutet, den Sommer über sind die auf der Alp.

Aber wo war ich?

Am Samstagabend haben dann ganz erschreckt die Mangischs angerufen, das sind unsere Nachmieter in der Stadt. Spaßiger Name, oder? Sie sind aus dem Wallis. Es tue ihnen schrecklich leid, aber die Umzugsfirma hat was falsch verstanden und bringt die Möbel schon am Montag zu uns nach Hause. Dabei wäre dann bei uns noch alles voller Kisten gestanden, weil wir ja eben erst am Mittwoch umziehen wollten.

Papa hat es aber hingekriegt, dass die Umzugsleute der Mangischs gleich beide Umzüge machen. Was sogar doppelt clever ist, weil sie dann nie mit leeren Händen laufen müssen, sondern eine Mangischkiste hochbringen, eine Lobingerkiste runter und so weiter. Und weil es uns nur die Hälfte kostet, die andere Hälfte hat er den Mangischs aufgebrummt. Denn machen Sie sich nichts vor, so ein Familienbuch-Bestseller bringt nicht die ganz große Kohle. Vor allem, wenn das meiste schon in einer uralten Hausruine steckt.

»Das Thema, Tilly, das Thema!«

Ja, und so sind wir schon gestern, also am Sonntag, gefahren, bei dem Umzugsgedränge hätten wir sowieso keinen Platz mehr in der Wohnung. Außerdem hat Mama gemeint, wenn Papa mitorganisiert, landen womöglich die Kisten der Mangischs im Engadin, und unsere bleiben, wo sie sind. Was nicht ganz fair ist, weil sie dafür das Kunststück fertiggebracht hat, die Post von der neuen Adresse an die alte umzuleiten statt andersrum. Sie sagt, das kam, weil sie den Umleitungsauftrag ausgefüllt hat, während das Baby an ihrer Brust hing, und dann die Stilldemenz doppelt und dreifach zuschlägt. Sie musste es aber dann machen, weil es auf den letzten Drücker war, und auf den letzten Drücker war es, weil Papa es eigentlich machen wollte, sich dann aber nur darum gekümmert hat, dass sein eigener Kram mitkommt, seine Bücher und Ordner und Patientenakten und die völlig verstaubten, weil nie benutzten Fitnessgeräte und Heimwerkerutensilien und Bilder. Und sie, wann immer sie zwei Hände frei hatte, den ganzen Rest packen musste, ihre Kleider und die von drei Kindern und alles Geschirr und die Bettwäsche und und und.

Nun, sie haben es geschafft, und ich mit dem Erzählbogen auch. Bravo, Tilly!

Inzwischen ist also Montag, wir sitzen in dem ungeheizten, völlig verdreckten Kasten, der mal wem ein Zuhause war, und warten auf unsere Sachen. Dabei müsste man hier erst mal tüchtig großreinemachen. Und ausmisten. Und reparieren. Und böse Geister ausräuchern.

Das sagen die Leute hier, das ist nicht von mir. Es war ein kleiner Schock. Denn die Reise selber war für Lobinger’sche Verhältnisse die meiste Zeit richtig idyllisch. Wir sind mit Zug und Bus gefahren … Na schön, werden Sie sagen, in aller Öffentlichkeit kann man sich auch nicht nach Herzenslust zoffen. Wenn Sie wüssten, was wir Lobingers alles fertigbringen. Aber diesmal haben wir es vor allem genossen, dass wir fünf gemeinsam einem ganz neuen Leben entgegenschippern. Das war irgendwie erhebend. Mama und Papa haben gekuschelt und aus dem Fenster gesehen, ich habe mit Maja gespielt, Robbie war am Handy, alles ganz friedlich. Danach haben wir zu viert Uno gespielt wie früher, als Robbie und ich noch klein und unschuldig waren.

Machen wir uns nichts vor, ab heute werden wir wohl jeden Abend spielen. Einen Fernseher haben wir nie gehabt, und was Streaming angeht, sage ich nur: Papas Handy-Hotspot. Nur damit Sie eine Ahnung davon haben, wie sehr Pampa unser neues Zuhause ist.

Richtig, das mit den Geistern: Als wir in Scuol auf den Bus gewartet haben, ist nämlich die Stimmung Knall auf Fall gekippt, weil ein Mann in Grenzwächtermontur gemeinsam mit uns gewartet hat – Sie müssen wissen, in Samartin ist eine Zollstation. Und erst hat der Uniformierte nur immer rübergegafft, und Robbie und ich haben gerätselt, ist es wegen der siebenundzwanzig Gepäckstücke oder weil Papa nun mal kein Unbekannter mehr ist, oder ist er ihm oder Mama und Papa schon mal begegnet. Papa war wegen dem Haus nämlich wohl ein halbes Dutzend Mal in Samartin, Mama mit Maja einmal und dann noch zur Vertragsunterzeichnung in Scuol. Nur Robbie und ich waren nie da, wir wollten uns überraschen lassen.

Jedenfalls kommt der Typ schließlich näher und sagt zu Papa: »Konnten Sie es also nicht lassen?«

Mama starrt von einem zum anderen, dann fragt sie verwundert: »Was bitte konntest du nicht lassen?«

Papa überhört sie und sagt betont vergnügt zum Zöllner: »Ja, ja, nun sind wir hier, mit Sack und Pack und Katz und Maus.«

Der andere sieht Papa noch kurz mit schräg gelegtem Kopf an, als würde er überlegen, was sich da noch zu sagen lohnt, dann nickt er aber nur, dieses ultraknappe militärische Grußnicken, geht wieder auf Abstand und zündet sich eine Zigarette an.

Mama fragt theatralisch: »Was! war! das?«

Papa zuckt mit den Achseln. »Es gehen halt so Gerüchte.«

»Über uns?«

»Unsinn, übers Haus.«

»Das Haus, für das wir gerade ein kleines Vermögen hingeblättert haben?«

Er nickt gleichgültig.

»Was für Gerüchte? Wieso weiß ich davon nichts?«

»Ach, Isabelle, du weißt doch, was die Leute auf dem Land so reden.«

»Hat er« – Mama zeigt mit spitzem Finger auf den Zöllner – »mit dir geredet?«

»Ja, kann sein. Ich war mal an der Zollstation einen Kaffee trinken.«

»Ja, und was?«

»Was ›und was‹?«

»Spiel nicht den Idioten. Was habt ihr geredet?«

»Frag ihn doch selbst.«

Das tut sie auch gleich. Sie legt diesen resoluten Lehrerinnen-Achtung-hier-kommt-eine-Autorität-Gang ein, den Sie, Frau Fröhlicher, auch beherrschen, wenn Heiri Barth während der Prüfung heimlich whatsappt, pflanzt sich vor dem Staatsdiener auf und befiehlt – ja, befiehlt!: »Ich will wissen, was Sie zu meinem Mann gesagt haben.«

»Gar nichts.« Seelenruhig tritt er die Zigarette aus, hebt die Kippe auf und trägt sie zum nächsten Kübel, dann kommt er zurück. »Ich habe ihn nur gefragt, ob ihm schon jemand gesagt hat, dass das Haus Unglück bringt.«

Er ist ein hübscher Junge mit schwarzem Kraushaar, dunklen Augen und ellenlangen Wimpern, kaum älter als zwanzig. Während ich ihn anschaue, frage ich mich, ob Zöllner das ist, was man hier wird, wenn man was wird. Natürlich denke ich dabei an Robbie und mich.

Mama sieht aber nicht den Kerl, sie sieht nur drohendes Unheil. »Was meinen Sie mit Unglück?«

»Keine Ahnung«, sagt er freundlich. Das üben sie wohl auf der Zöllnerschule – freundlich bleiben, wenn jemand vor dir gerade die Fassung verliert. »Ich denke nur, wenn ein Haus so lange leer steht und keiner es kaufen will, gibt es dafür Gründe.«

Mama nickt, wozu auch immer, und hakt nach: »Sie kennen sie aber nicht? Ich meine, die Gründe?«

»Man redet so dies und das. Aber wissen Sie, ich bin nicht aus Samartin.«

Was er damit sagen will, bleibt offen, denn in dem Moment kommt der Bus. Der Zöllner wartet, bis wir alles Gepäck verstaut und uns platziert haben – schön auf der hinteren Radachse, wie uns teilnehmende Freunde geraten haben, als sie gehört haben, dass wir ins Gebirge ziehen: »Dort hält man am längsten durch, ohne sich zu übergeben« –, dann sucht er sich den Platz mit maximalem Abstand zu uns. Neben dem Fahrer. Mit dem er danach die ganze Fahrt plaudert, auf Romanisch natürlich. Obwohl auf dem Schild steht: »Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen.« Bestimmt nur über uns.

Mama zischt Papa zu: »Claus, was weißt du?«

Er reibt sich müde das Gesicht. »Isabelle, nicht mehr als du! Der alte Albert hat dort bis zu seinem Tod mit einer Pflegerin gewohnt. Er war ein ehrwürdiger Mann: Friedensrichter, Gemeindepräsident. Sein einziger Sohn hat das Haus geerbt, aber der ist in Chur zu Hause und hatte keinen Bedarf. Deshalb hat er es uns verkauft.«

»Aber sein Vater ist schon Jahrzehnte tot. Wa- rum ist er es nicht vorher losgeworden? Das hätte uns stutzig machen müssen.«

»Vielleicht wollte er gar nicht. Er hatte es vermietet, jedenfalls immer mal wieder. Das eine ist so gut wie das andere. Und ich glaube an Karma.«

Mama muss gegen ihren Willen lachen. »Du, an Karma?«

»Ja, in diesem Fall schon. Das Haus hat auf uns gewartet. Du wirst schon sehen.«

Wenn er gehofft hat, dass Mama so bessere Laune kriegt, hat er sich geschnitten.

Finster murmelt sie: »Fragt sich nur, warum es auf uns wartet.« Dann lehnt sie sich zurück und schließt die Augen.

In Samartin hatte sie sich wieder eingekriegt. Nachdem wir aus dem Bus geklettert waren, hat sie unser »kleines Gepäck« gezählt, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, alles noch da, dann sind wir im Gänsemarsch los Richtung Lobingers Palace. Im Gänsemarsch deshalb, weil da kein Gehweg ist und auch keine gemütliche Dorfstraße, sondern eine Kantonsstraße mit Dauerverkehr.

Trotzdem hat ein vielleicht Sechzehnjähriger mit Faserpelzjacke und Rasenmäherfrisur seinen gigantischen Traktor mitten auf der Fahrbahn angehalten, nur um uns anzustarren. Die anderen Autofahrer haben geduldig gewartet, so als wäre es völlig logisch, dass er uns anglotzt.

»Was gibt es da zu sehen?«, habe ich zum Führerstand hochgerufen, aber der Typ hat nur stumm aufs Gas gedrückt und ist davongetuckert.

Dafür ziept dann mich eine alte Frau im sauber gebügelten Putzkleid am Ärmel, die so plötzlich im Hauseingang erschienen ist, als hätte sie schon hinter der Tür gelauert. »Es ist eben selten, dass jemand herzieht«, erklärt sie. »Wer kann, zieht weg.« Sie redet ganz langsam, so als hätte sie viel zu selten Gelegenheit und müsste sich erst wieder dran gewöhnen.

»Das hat nichts mit dem Haus zu tun?«, frage ich.

»Nicht nur«, sagt sie ausweichend. »Solche Häuser gibt es hier viele.«

Mama hat direkt neben uns gestanden und zugehört. »Was heißt ›solche Häuser‹?«, fragt sie ziemlich zickig.

Die Alte tut, als hätte sie nicht gehört, und geht langsam und unbeirrbar wie eine Schildkröte zurück in ihr Haus …

Oha, und jetzt höre ich einen Laster, das werden unsere Möbel sein. Gleich muss ich mich um den oberen Platz im Hochbett kloppen.

Liebe Frau Fröhlicher, bis übermorgen, ich vermisse Sie schon schrecklich!

Ihre Mathilda Lobinger, 1A

2Einbrecher

Hallo, Frau Fröhlicher.

Tilly hat sich ja gestern mächtig ins Zeug gelegt. Jetzt ist also die Reihe an mir, dabei hab ich eigentlich gar keine Zeit.

Wie Tilly schon geschrieben hat: Das Haus ist in einem verheerenden Zustand. Vielleicht nicht das Haus selber, vielleicht ist das Chaos oberflächlich. Das wissen wir erst, wenn das Gröbste weggeräumt ist. Papa hat gleich zwei Mulden bestellt. Wissen Sie, was Mulden sind? Diese riesigen Stahlwannen, in die man Sachen entsorgt. Eine für alles Brennbare – Rosshaarmatratzen, aus dem Leim gegangene Möbel, Teppiche und so –, eine für alles andere: Bauschutt, kaputtes Geschirr, Nachttöpfe, alte Strom-Isolatoren. Das Metall stapeln wir auf dem Vorplatz. Der Lastwagenchauffeur, der die Mulden auflädt und zur Deponie fährt, wird es dann zwischen Ladefläche und Führerkabine packen.

Was hier im Haus alles so rumliegt, erschließt sich uns erst nach und nach. Mama meint auch, es sei schlimmer geworden, seit sie das letzte Mal da war, vielleicht haben uns Leute aus dem Dorf ihren Krempel zusätzlich aufgehalst. Papa glaubt dagegen, dass es jetzt nur mehr ins Auge fällt, weil alles auch nur halbwegs Brauchbare inzwischen gemopst worden ist. Da waren noch schöne Truhen und Bilder und Schränke und Tische, richtig alter Kram, gotisch und so. Glaub ich. Ich war ja in einem früheren Leben Kirchenspezialist. Aber in einem sehr früheren.

Vielleicht beschreibe ich Ihnen doch erst mal unser Anwesen. Sie steigen also beim Zollamt aus dem Bus, gehen über die Brücke und landen auf der anderen Seite vom Fluss. Dort ist alles grün, und ein Sträßchen führt so in Schlenkern Richtung Wald. Nach gezählten dreiundneunzig Schritten geht links ein noch kleineres Sträßchen ab und führt auf einen Matschplatz, da lag früher wohl mal Kies. Und dahinter steht das Haus. Meterdicke Wände, alles etwas schief. Kleine Fenster mit Leibungen, die sich nach innen verjüngen. Da staunen Sie, was? Ich war in einem früheren Leben Architekt. Nein, aber wir haben ein Buch über die Art Häuser, das habe ich mir gestern Abend gleich unter den Nagel gerissen. Geschnitzte Tür, falsch, ein richtiges Tor, das knarrt und holpert, wenn man es aufmacht, und nur so weit schließt, dass man noch den Finger durch den Ritz stecken kann. Wie bei Hänsel und Gretel.

Hinterm Tor ist ein riesiger Flur, der durchs ganze Haus führt, dahinter ist wieder ein Tor, und wieder dahinter eine noch viel riesigere Scheune. Weil das Ganze mal ein Bauernhaus war. Nicht von gewöhnlichen Bauern natürlich. In dem Buch steht, dass auch die noblen Leute früher Tiere gehalten haben, der Pfarrer, der Lehrer, der Polizist.

Wer genau diesen Kasten hier ursprünglich gebaut hat, weiß keiner mehr, aber zuletzt so richtig als Hausherr darin gelebt hat ein Bonze. Also, kein Megabonze wie Trump und Rockefeller, der Dorfbonze eben. Der den armen Leuten Geld geborgt hat, und wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, hat er sich ihr Häuslein gekrallt und es mit Gewinn weiterverkauft. Woher ich das weiß? Lässt sich alles aus dem Krempel lesen, der hier rumliegt. Ich war ja in einem früheren Leben Detektiv. Und zugegeben, Papa hatte sich schon auch umgehört.

Wenn man jetzt zum Beispiel nach der Haustür scharf links geht, liegt da ein Büro. In dem steht noch der Safe, keiner mit Zahlentastatur, sondern so ein antikes Ungetüm mit Drehrad und Mahagoniverkleidung. Jemand hat ihn aufgebohrt, deshalb liegt im Büro überall Sand. Solche Safes sind doppelwandig, müssen Sie wissen, dazwischen ist Sand, damit das Gold nicht verdampft, wenn es brennt. Das war das Büro vom alten Albert, Pankraz mit Vornamen. Wenn man die Schubladen von seinem Schreibtisch aufmacht, wimmelt es dort von Schreibpapier mit x verschiedenen Briefköpfen. Der Mann war alles: Gemeindepräsident, Vorsitzender des Jagdvereins, Fremdenpolizist, Standesbeamter … Und dann sind da diese Stempel: erste Mahnung, zweite Mahnung, Vollzug. Da weiß man doch schon Bescheid.

Angesehen war er wohl auch auf nationaler Ebene, an der Wand hängen neben zwei Kalendern von 1980 und alten Landkarten verschiedene Urkunden und Auszeichnungen, dazu eine Dankesbezeugung der Regierung für seinen Dienst am Vaterland. Genau, Offizier im Aktivdienst war er auch noch.

Das ist aber das einzige Zimmer, das ziemlich klar Aufschluss gibt über den früheren Herrn des Hauses, in den anderen Räumen ist alles überlagert von Müll. Seit seinem Tod haben hier die unterschiedlichsten Leute gehaust. Ja, gehaust trifft es am besten. Einer hatte Kampfhunde und hat zwei Zimmer zu einem Zwinger umgebaut. Eine Familie hat mit Spannteppichen, Dachpappe, altem Blech und von irgendwelchen Tieren oder Menschen angekauten Perserteppichen vernagelt, was immer sie konnte, um wenigstens ein paar Zimmer für den Winter beheizbar zu machen. Denn Zentralheizung ist natürlich nicht, hier hat jedes Zimmer seinen Ofen, mal Gas, mal Holz, mal Kohle, mal elektrisch. Und ganz offensichtlich hat das nicht gereicht, damit es gemütlich wurde.

Ein Messie (oder mehrere) hat das Haus auch als Lager für seine Schätze gebraucht, da liegen stapelweise Zeitungen: Der freie Rätier, Schweizer Illustrierte, manches noch in … wie heißt die Schrift, Sütterlin? Aber auch eine Regenschirm- und eine Schirmmützensammlung ist dabei, der Typ hat offensichtlich systematisch Verkaufsmessen abgeklappert. Nicht zu reden von Zimmern voll altem Geschirr, den sonderbarsten Küchengeräten, Rasierapparaten der ersten Stunde und Spitzenhäubchen. Dazwischen überall Mäusedreck und in den Lampengläsern Millionen toter Messingkäfer. Ein paar leben auch noch.

Sie sehen, Frau Fröhlicher, wir müssen erst mal tüchtig durchgreifen. Denn in dem Zustand ist das Haus wirklich gespenstisch. Kalt. Finster.

Teilweise sind die Fenster zugemauert. Oder vergittert. Oder erst vergittert, dann zugemauert. Türen haben dreifache Schlösser und Riegel. Und manche dubiose Kratzspuren. Kennen Sie das fürchterliche Ende von Indiana Joe in Tom Sawyer? Hier ist alles denkbar.

Unser erster Abend war entsprechend spaßig. Die Möbelmänner haben erst mal alles in die Scheune geladen, außer den Betten. Die kamen alle eine Etage höher, dort ist ein schön getäfeltes Zimmer – Arvenholz, sagt Mama –, das wohl mal das Schlafzimmer der Herrschaft war. Und der Staubsauger kam mit. Dann haben wir drei Schichten stinkende Teppiche und einen Schrank entfernt, das Gröbste an Insektenleichen mit einem alten Reisigbesen zusammengefegt, haben gesaugt und Boden, Decke und Wände mit Schmierseife abgewaschen. Danach haben wir alle Betten in diesem einen Zimmer aufgebaut. Dreißig Quadratmeter Gemütlichkeit in Feindesland. Als wir die Fensterläden schließen wollten, ist einer gleich runtergekracht und zerschellt. Gegessen haben wir auf den Bettkanten, Dosenmais und Crackers. Es war ja noch nicht mal spät, aber irgendwie waren wir totally stoned. Außer Maja, die mit tollem Spürsinn toten Käfern nach ist, bis Mama zu Papa gesagt hat: »Jetzt gib ihr schon was mit Proteinen, damit das endlich aufhört.«

»Friss doch selber Proteine, schließlich stillst du sie«, hat Papa geantwortet.

So war die Stimmung.