Wir sind für die Ewigkeit - Erinnerung - Astrid Töpfner - E-Book

Wir sind für die Ewigkeit - Erinnerung E-Book

Astrid Töpfner

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Beschreibung

Zwei Frauen. Zwei Schicksale. Ein Land in Aufruhr./


Lucía hat im beschaulichen Cadaqués Heimat, Familie und Berufung gefunden. Aber die Fehde zwischen Carmencita und ihr erreicht schließlich einen Höhepunkt, der Lucías Glück ins Wanken bringen könnte./


Am anderen Ende Spaniens, in Bilbao, sucht währenddessen eine junge Frau nach ihren Wurzeln und gerät dabei an die falschen Freunde – aber nur dank dieser fatalen Begegnung, die sie ihr Leben lang bereuen wird, trifft sie auf ihre große Liebe. Wird sie irgendwann auch ihre Eltern finden?/


Atmosphärisch dicht erzählt und voller unvorhersehbarer Wendungen entführt die Fortsetzung der Spanien-Saga den Leser in die tumultreichen Jahre zwischen 1956 und 1975./


Der mitreißende zweite Teil der Spanien-Saga/

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis
TEIL 1 1956–1959
1: Die Melodie der Familie
2: Der Tod des Frühlings
3: Risse in einem Gefäß voller Nichts
4: Alles kaputt
5: Erkenntnis ist die Strafe der Neugier
6: Das Ende eines Anfangs
7: Pfirsiche, die in der Sonne duften
8: Erinnerungen, verbrannt
9: Ein Wiedersehen mit Folgen
TEIL 2 1961–1965
10: Vom Glück, dazuzugehören
11: Ein Stich ins Wespennest
12: Eigentlich …
13: Keine Revolution ohne Opfer
14: Die Welt verändert sich
15: Das Glück ist ein Verräter
16: Einmal Familie, immer Familie
17: Liebe passiert einfach
18: Wenn alles einen Sinn ergibt
19: Wir werden uns wiedersehen
TEIL 3 1967–1970
20: Der süßliche Duft des Trotzes
21: Die Untiefen des Meeres
22: Es sollte nicht umsonst sein
23: Kartenhauselegie
24: Ein Schiff läuft auf Grund
25: Wie ein Blatt im Wind
26: Das Dorf frisst seine eigenen Kinder
27: Neuanfang, wieder einmal
TEIL 4 1970–1975
28: Vor allem Liebe
29: Eine Berührung, ungespürt
30: Alles Mörder!
31: Besuch bei einem alten Bekannten
32: Ein Hauch von Algen und Salz
33: Tanz in den Abgrund
34: Und dann – warten
35: Freiheit
Teaser Band 3
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
Die verschwundenen Jahre
Bis wir unsere Stimme finden
Bevor uns die Luft ausgeht
Die Frau des Spatzen
Dort, wo die Feuer brennen
Wenn Schmetterlinge fliegen lernen
Impressum

An die ErinnerungenManchmal muss man loslassen, um festhalten zu können.

TEIL 11956–1959

KAPITEL 1

Die Melodie der Familie

Cadaqués, Ende Januar 1956

In diesem Dorf wollte sie leben und sterben. Nirgendwo sonst. Dieser kleine Punkt auf der Landkarte war ihre Heimat geworden, die sie um nichts und für niemanden eintauschen würde. Das hier war die heile Welt. Tief sog Lucía die Luft ein. Mandelblüten und warmer Stein – der Geruch nach Frühling versetzte sie jedes Jahr aufs Neue in Hochstimmung. Die Winter in Cadaqués waren windig und einsam, kaum jemand verlor sich in den Monaten zwischen November und März in das Dörfchen am äußersten Zipfel der Iberischen Halbinsel. Während dieser Zeit lief ihr kleines Hotel nicht gut, das hatte sich in den vergangenen vier Jahren seit der Eröffnung herauskristallisiert. Aber heute würde ein Gast ankommen, Señor García, ein Künstler, wie sie oft kamen, da sie genau diese Einsamkeit suchten. Es war die Abgeschiedenheit, die Fremde nach Cadaqués kommen ließ, die Ursprünglichkeit des Dorfes, der Menschen und der Landschaft, geprägt von der rauen Natur. Hier besaßen die Felsen Formen von Tieren; Kamele, Adler und Kaninchen, moduliert vom Zusammenspiel der Wellen, der salzigen Luft, des Lichts und des Windes, auf Leinwände gebannt vom berühmtesten Einwohner Cadaqués’, dem Maler Salvador Dalí. Es war diese Isolation, die auch Lucía schätzte. Sie hüllte sie ein und gab ihr Schutz. Sie war die Eierschale und Lucía das Küken.

Durch das geöffnete Zimmer drang nicht nur die für die Jahreszeit ungewohnt laue Luft, sondern auch das Lachen eines kleinen Mädchens. Lucía schüttelte das Kissen auf, strich die Decke glatt und sah hinaus. Obwohl es die vom Meer abgewandte Seite war, liebte sie die Aussicht, die sich ihr bot: ein sanfter Hügel, auf dem in perfekten Linien gepflanzte Olivenbäume standen, ihre Olivenbäume, ihr Hain, den Luís und sie erst vor einem Jahr gekauft hatten. Die Bäume spendeten wertvolles grün-goldenes Öl, mit dem sie ihre Einnahmen aufbesserten. Ihre erste Ernte, die sie vor wenigen Wochen von den Ästen geschüttelt hatten, war zufriedenstellend gewesen, aber die nächste, da war sich Lucía sicher, würde noch besser werden. Sie spürte es, es lag in der Luft, in dieser Milde, die die Bäume bereits sanft aus dem Winterschlaf holte. Für Lucía, die mit dem Element Wasser nicht viel anfangen konnte, gab es nichts Entspannenderes als den Anblick dieser knorrigen Majestäten, die dort schon länger standen, als die Dorfältesten lebten. Was der Wind ihnen wohl alles schon zugeflüstert haben mochte?

Neben dem Hain verlief die schmale Straße aus gepresster Erde, die ins Dorf hinabführte. Und eben diese Straße kam die kleine Luz heraufgerannt, Luz, ihr Licht, wie sie ihre Tochter Lucía nannten, um Verwechslungen vorzubeugen. Im Sommer würde sie drei Jahre alt werden, drei Jahre waren schon vergangen … Lucía schüttelte energisch den Kopf, um die Melancholie, die diesem Gedanken unweigerlich beilag, sofort zu unterdrücken. Aber es war Luz’ wildes Kichern, das Lucías Mundwinkel nach oben zog wie an Fäden. Wie immer. Sie konnte diesem Geräusch einfach nicht widerstehen. Und Luís noch viel weniger. Er trabte hinter seinem Kind her, immer bereit, es aufzufangen, sollte es stolpern. Er war vernarrt in das Mädchen und für einen Wimpernschlag wog die Melancholie in Lucía schwerer als das Glück. Es würde ihm das Herz brechen, zu erfahren, dass Luz nicht sein Kind war. Niemals würde sie ihn dermaßen verletzen wollen.

 

»Wie groß die Kinder geworden sind, Doña Lucía«, sagte Señor García und tätschelte Luz den dunklen Scheitel, kniff Francisco in die Wange und schlug Miguel, dem ältesten der drei Kinder, freundschaftlich auf die Schulter.

»Zweieinhalb, sieben, fast zehn«, antwortete Lucía und hörte selbst den Stolz in ihrer Stimme. »Ein Jahr älter und größer als bei Ihrem letzten Besuch hier.« Francisco bewegte sich unruhig. Er war wie ein junges Pferd, kaum dazu fähig, zwei Minuten stillzustehen. Sie sah seinen Finger, noch bevor er ihn in Miguels Seite stoßen konnte, um ihn zu triezen, und warf ihm einen strengen Blick zu. Sofort stand er wieder stramm. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen, Señor García. Der Frühling hält bereits Einzug.« Mit einer kleinen Kopfbewegung erlaubte sie den Kindern, zu gehen. Kaum waren sie über die Türschwelle getreten, rannten und schrien und lachten sie los. Es war das schönste Geräusch in Lucías Ohren. Die Melodie der Familie.

»Achten Sie gut auf sie, Doña Lucía«, sagte Señor García, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. »Sie sind schneller aus dem Haus, als Sie es sich vorstellen können. Die wahre Stärke liegt im Loslassen.« Eine leise Wehmut schwang in seinen Worten mit.

Lucía aber wischte sie mit einer fliegenden Handbewegung aus der Luft. »Meine Kinder gehen nicht weg von hier. Cadaqués ist unsere Heimat. Hier haben wir alles, was wir brauchen, und eines Tages werden sie alle hier im Betrieb mitarbeiten.« Schon einmal hatte sie ihre gesamte Familie verloren. Sie würde alles dafür tun, ihre jetzige Familie zusammenzuhalten. Alle hier in Cadaqués. Alle unter ihren schützenden Schwingen. Das war mitunter einer der Gründe gewesen, das Hotel zu eröffnen.

Auf dem Weg ins Dorf hielt Lucía das Gesicht in die letzten Sonnenstrahlen. Gleich würde sich die winterblasse Kugel hinter die Hügel, die sie vom Rest des Landes trennten, verabschieden, drei, zwei, eins, zählte Lucía, und auf einen Schlag fuhr statt der milden Luft eine Frische über ihre Wangen wie die raue Zunge einer Katze. Es war eben doch erst Januar. Und Januar war der perfekte Monat für Miesmuscheln. Sie liebte es, die Wünsche ihrer Gäste erfüllen zu können, und sie wusste, dass Señor García diese Muscheln sehr gern aß. Er kam aus dem Landesinneren, wo Meeresfrüchte und Fisch weniger auf dem Speiseplan standen, während sie hier dafür wenig Fleisch aßen. Die schwarzen Muscheln würde sie in einem Sud aus eingemachten Tomaten, viel Knoblauch und Zwiebeln kochen, und wie immer würden sie das Abendessen zusammen mit ihrem Gast einnehmen. Das Hotel del Mar verfügte nur über wenige Zimmer und die Besucher mochten die familiäre Atmosphäre. Wie gern würde sie anbauen, aber bereits einmal war ihr Baugesuch ohne haltbaren Grund vom Bürgermeister abgelehnt worden. Sie ging davon aus, dass es mit ihrer politischen Gesinnung zusammenhing.

»Hola amor, meine Liebste.« Luís trat aus der Gasse, in der seine Eltern lebten, und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ist Señor García gut angekommen?«

Sie nickte. »Ich bin auf dem Weg zu den Fischern. Begleitest du mich?« Lucía spürte sein Zögern, auch wenn es nur so kurz war, dass sie es eigentlich gar nicht hätte wahrnehmen können. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet, weil sie wusste, dass er den Kontakt zu den Fischern mied, obwohl er selbst einmal einer gewesen war. Aber er hakte sich bei ihr unter und gemeinsam spazierten sie an der Bar Marítimo und danach an der Bar Casino vorbei, den beiden Konkurrenten an der Strandpromenade. Entweder besuchte man das eine oder das andere Lokal, scherzte man im Dorf, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Und dennoch, fand Lucía, sagte es etwas über die hiesige Gemeinschaft aus. Sie stritt sich nicht wirklich darüber, in welcher Bar der beste caferitu oder der beste pescadito frito, kleine knusprig frittierte Fischchen, angeboten wurden. Sie war zerrissen zwischen der Akzeptanz und der Ablehnung des Regimes unter Franco, auch wenn es niemandem in den Sinn kommen würde, zweiteres öffentlich kundzutun. Man wusste es meist auch ohne Worte. Franco bringe Frieden und Einheit, sagten die Befürworter, Ruhe und Ordnung. Aber zu welchem Preis? Hatte er das Chaos nicht überhaupt hervorgerufen, sahen sie das nicht? Hungerte nicht das halbe Land, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, autark sein zu wollen, Spanien allein mit dem ernähren zu wollen, was hier gedieh und hergestellt wurde? Und selbst jetzt, wo sich das Land langsam, langsam öffnete, litt die Bevölkerung vieler autonomer Regionen immer noch. So sehr, dass sie ihre Dörfer, in denen sie wahrscheinlich seit Generationen gelebt hatten, verließen, um ihr Glück in den Regionen zu suchen, denen es besser ging. Ökonomisch gesehen. Wie das Baskenland und Katalonien mit ihrer Industrie. Barcelona, hatte ihr vor einiger Zeit ein Gast erklärt, der aus der Hauptstadt gern nach Cadaqués in die Sommerfrische kam, wäre überschwemmt von Tagelöhnern und Bettlern aus Andalusien und Extremadura.

Lucía hatte am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutete, die Heimat und damit ein Stück seiner Identität zu verlieren. Und dabei war es egal ob es sich um ein Land oder eine Region oder ein Dorf handelte. Fern der Heimat fühlte man sich wie ein Fremdkörper, den die Alteingesessenen abkratzen wollten. Man störte. Sie hatte auch gestört am Anfang, und es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich den Respekt des Dorfes zu erkämpfen. Manche mochten sie immer noch nicht. Die, die ihre Franco-kritischen Ansichten nicht teilten, so wie der Bürgermeister. Und die, die auf der Seite von Carmencita und Guillermo standen. Sie waren schuld gewesen daran, dass Luís ins Gefängnis gesteckt worden war. Denunzianten. Carmencita hatte aus Eifersucht gehandelt. Guillermo, weil er das Fischerboot wollte, damals das einzige motorisierte im ganzen Dorf. Gebracht hatte es beiden nichts, dachte Lucía und fast hätte sie hämisch aufgelacht, wäre da nicht auch ein kleines, ach so unangebrachtes Fünkchen Mitleid in ihr. Luís gehörte immer noch ihr, sie waren glücklicher denn je, und sie sah in Carmencitas Gesicht, dass sie sich immer noch nach ihm verzehrte. Wie erbärmlich Guillermo sich fühlen musste!

Luís drückte ihren Arm, ganz leicht nur, und beschleunigte seine Schritte. Sie sah hoch. Vor ihnen am Strand lagen die Fischerboote, ihre Besitzer saßen und standen daneben, boten ihre Ware feil oder säuberten und flickten die Netze. Der Geruch nach Fisch und Algen lag in der Luft; früher waren Luís’ Haut und Haare davon getränkt gewesen. Einige der Männer senkten den Kopf, als sie an ihnen vorbeigingen. Andere grüßten mit dem ruppigen Nicken, das unter diesen von Wind und Salz gegerbten Männern als freundschaftlich galt. Guillermo wiederum verfolgte sie mit hasserfülltem Blick. Waren sie früher nicht beste Freunde gewesen, Luís und er, von Kindesbeinen an?

»Er hat den Motor immer noch nicht repariert«, raunte Luís ihr zu.

»Und so wie er uns ansieht, denkt er immer noch, wir würden dahinterstecken«, murmelte Lucía. Die haltlose Anschuldigung trieb den Keil noch tiefer zwischen die zwei Seiten, in die das Dorf gespalten war. Es gab deswegen mittlerweile genug Leute, die ihren Fisch nicht mehr von Guillermo bezogen. Oft musste er seinen Fang zu einem Spottpreis an die anderen verramschen. Auch sie kauften nicht bei ihm, natürlich nicht, genauso wenig wie Lucía das Gemüse bei Carmencita kaufte. Ihre Mutter war vor zwei Jahren gestorben und seitdem verkaufte Carmencita die Ernte aus deren relativ großen Gemüsegarten über die Straße. Irgendwie musste jeder schauen, wie er überlebte.

Drei Boote weiter stoppten sie vor ihrem Freund Héctor.

»Hola, qué tal?«, fragte der bärtige Mann nach ihrem Befinden. »Wenn man euch so ansieht, könnte man glatt meinen, ihr wärt frisch verliebt. Da flattern Turteltäubchen um eure Köpfe.« Luís sah tatsächlich nach oben und Héctor schlug sich lachend die Hand auf den Schenkel. »Dein Mann ist ein Phänomen, Lucía. Auf der einen Seite dumm wie ein Fisch, auf der anderen Seite …« Er beendete den Satz nicht, das brauchte er auch nicht. Auf der anderen Seite war Luís schlau genug, um jahrelang ohne ihr Wissen oder dem anderer, Widerstandskämpfer über das Meer nach Spanien geschleust zu haben. Und auch die Naivität, der er sich manchmal bediente, da war sich Lucía sicher, erfüllte immer einen Zweck. Und das war etwas, was ständig an ihrer Seele kratzte. Wie ein unbändiges Tier forderte es Einlass, um sie zu zerstören. Irgendwann würde er erfahren, was sie getan hatte. Oder vielleicht wusste er es bereits.

KAPITEL 2

Der Tod des Frühlings

Cadaqués, Februar 1956

Der Atem schien vor ihren Augen in der Luft zu gefrieren; gleich, dachte Lucía, würde das kleine weiße Wölkchen nicht mehr schweben können, zu Boden fallen und in hunderte spitze Eiskristalle zerbersten. Aber es flog mit einer fröhlichen Leichtigkeit davon, als wollte es Lucía verhöhnen. Sie zitterte und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Die tramontana, der Nordwind, heulte mit Vehemenz, aber die Blätter der Olivenbäume tanzten nicht wie üblich ihr silbrig-grünes Spiel. Sie bewegten sich gar nicht. Sie waren steifgefroren.

Am Ende des Grundstücks, dort, wo ihr kleiner Olivenhain lag, stupste Luís ganz vorsichtig einen Ast an. Mit einem leisen Knacken, das im Wind beinahe unterging, zerbrach er in zwei Teile. Als wäre er nichts weiter gewesen als der filigrane Stiel eines edlen Weinglases. Luís hob den Ast auf, zerbröselte die Blätter zwischen den Fingern. Lucía konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie spürte seine Ratlosigkeit sogar über die Distanz hinweg. Die warmen Temperaturen des Dezembers und des Januars hatten bereits die Säfte in den Bäumen und Pflanzen aufsteigen lassen; die Mandelbäume blühten prächtig wie schon lange nicht mehr, feine, kleine weiße und rosafarbene Blüten. Die Orangen und Zitronen hingen prallen Farbtupfen gleich zwischen ihren dunkelgrünen Blättern. So viel Kälte vertrugen sie nicht lange.

Leise schloss Lucía die Tür; sie klemmte leicht, der blau gestrichene Rahmen hatte sich wieder einmal durch die salzgeschwängerte Luft verzogen. Schlotternd rieb sie die Hände aneinander, drückte die Nase in ihre Armbeuge, um sie mit ihrem eigenen Atem wieder aufzuwärmen. Würden die Kinder überhaupt in die Schule gehen können bei den Temperaturen oder würde der Unterricht ausfallen? Durch das Fenster in der Hotelküche sah sie, wie Luís mit den Füßen stampfte, den Ast auf den Boden warf und in Richtung Dorfzentrum lief. Wahrscheinlich zu seinem Vater, um mit ihm gemeinsam den Rest der Bäume zu inspizieren.

Sie sah sich in der kleinen Küche um. Die Töpfe und das Geschirr waren sauber gestapelt, die haltbaren Vorräte gut verpackt. Noch lag der Duft nach Kaffee und geröstetem Brot im Raum wie die flüchtige Erinnerung an ein belebtes Haus; Señor García hatte das Hotel vor zwanzig Minuten verlassen, um den Bus zu erwischen, der frühmorgens die mühselige Reise nach Figueras antrat. Die nächsten angekündigten Gäste kamen erst Ende März, dann, wenn die Luft langsam wieder milder würde und zu Spaziergängen am Meer und auf der Halbinsel des Cabo de Creus einlud. Und wenn – falls – jemand unangemeldet an die Tür klopfen sollte, war immer ein Zimmer bereit.

Vorsichtig schaufelte Lucía die glühenden Kohlen aus dem Herd in einen Gusseisentopf; sie würde sie mit nach drüben nehmen. Dann schloss sie die Fensterläden des Küchenfensters und musste dabei gegen den kräftigen Wind ankämpfen. Schon nach diesen wenigen Sekunden waren ihre Finger bereits wieder so kalt, dass sie sie kaum biegen konnte. Wo war der Frühlingshauch hin, den sie erst vor wenigen Tagen gespürt hatte?

 

Sie eilte die paar Meter von der Eingangstür des Hotels zu dem kleinen Anbau, in dem sie wohnten, darauf bedacht, dass die Glut nicht aus dem Topf geblasen wurde. Das Meer unter ihr war grau und wütend, der Himmel aber würde sich strahlendblau und wolkenlos präsentieren, wenn sich der milchige Schleier der winterlichen Morgendämmerung verzogen hätte. Wie immer bei Nordwind. Er vertrieb jegliche Feuchtigkeit, sei es aus der Luft, den Lippen, die spröde wurden, oder dem Brot, das innerhalb von Stunden einem Stein glich, ließ man es aus Versehen auf dem Tisch liegen. Mit der tramontana konnte sich Lucía nicht anfreunden. Nicht, seit sie ihr an jenem Strand in Argelès schutzlos ausgeliefert gewesen war, als sie noch Mercedes geheißen hatte und noch nicht Lucía. Sand und Kälte und Elend waren es, die sie damit in Verbindung brachte.

Und Agustín.

Sie taumelte. War es der unerwartete Windstoß gewesen oder das Stolpern in ihrem Herzen, das sie aus dem Gleichgewicht geworfen hatte? Aber genauso rasch, wie sie sich fing, entfernte sie ihren einstmaligen Verlobten aus ihrem Kopf. Gedanken an ihn kamen und gingen, nur bleiben durften sie nicht. Sie stellte den Topf vor der Tür ab und sog tief die schneidende Luft in ihre Lungen. Der Geruch nach Schnee lag in ihr, ein zarter Duft, herabgeweht von den Bergen der Pyrenäen. In all seiner Schönheit verhieß er nichts Gutes. Lucía fröstelte und trat in den kleinen Windfang ein. Das Heulen des Sturms wich und machte Kindergeschrei Platz.

»Lass mich endlich in Ruhe, inútil, du Nichtsnutz!« Das war Miguel. Bestimmt wollte er lesen.

»Hau mich doch, hau mich doch, ich werd dir schon zeigen, wer der Stärkere ist!« Das war Francisco. Immer provokativ, immer größer, als er wirklich war. Schon hörte sie einen Stuhl zu Boden fallen, ein Quieken und Schreien. Und dazwischen plärrte die kleine Luz. Während draußen die Welt einfror, tobte in ihrem Zuhause das Leben gleich in dreifacher Ausführung, dachte Lucía und lächelte kurz. Dann setzte sie ihr strenges Gesicht auf und öffnete mit einem Ruck die Tür zum Wohnraum. Sofort erstarrten die drei Kinder, dann ging der Radau wieder los, mamá, er hat angefangen, nein, mamá, er war’s, er ist schuld, und Luz kam zu ihr gerannt und klammerte sich an ihre Beine, als wäre sie tagelang weg gewesen und nicht nur eine Stunde.

»Kinder! Schluss mit Streit!« Sie musste ihre Stimme erheben, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. »Zieht euch warm an, zwei Paar Socken, den dicksten Pullover, und packt eure Schulsachen. Wir werden schauen, ob der Unterricht heute überhaupt stattfindet.«

Sie selbst ging in ihr Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Irgendwo musste noch der Mantel sein, den sie vor der letzten Schwangerschaft getragen hatte. Sie hatte im darauffolgenden Winter nicht wieder hineingepasst und es war unmöglich gewesen, die Nähte zu versetzen. Erst recht für sie, der Näharbeiten schon immer verhasst gewesen waren. Ganz hinten im obersten Regal lag er, ordentlich zusammengefaltet. Sie bekam ihn gerade so zwischen die Fingerspitzen und zog, zog, bis er ihr entgegenfiel. Etwas Spitzes landete dabei auf ihrer Stirn, ein leiser Schmerzensschrei entfuhr ihr, aber im selben Moment wusste sie, was seine Ecke in ihr Gesicht geschlagen hatte, und sie begann noch stärker zu frösteln als bis gerade eben.

Das Bündel mit Agustíns Briefen.

Schon wieder Agustín. Ihre Hände zitterten und sie wusste nicht, ob es nur von der Kälte war. Beunruhigt warf sie einen Blick aus dem Fenster. Dann erst, nachdem sie festgestellt hatte, dass natürlich weder Agustín noch ihr Mann hereinspähten, sank sie langsam auf das Bett, den Mantel über die Knie ausgebreitet, und erlaubte sich, die Briefe zu betrachten. Erlaubte ihren Gedanken ausnahmsweise, fast gezwungenermaßen, länger bei diesem Mann zu verweilen, der erst ihr Verlobter, dann ihr verbotener Geliebter gewesen war. Etwas mehr als drei Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Seit sie ihn nicht nur um seine Tochter Felicidad betrogen hatte, die sie verloren hatte, sondern auch um seine Tochter Lucía, die kleine Luz, die er nie kennenlernen würde. Weil sie ihm gesagt hatte, sie wäre von Luís. Drei Jahre, seit er in seiner verzweifelten Liebe für sie ihr diese eine Information vorenthalten hatte, nach der sie jahrelang gedürstet hatte, nämlich die des Aufenthaltsortes ihres kleinen Bruders Felix. Drei Jahre, seit sich Schuld und Liebe und Hoffnung und Verrat zu einem hässlichen Knoten verschlungen hatten, der nur auf eine einzige Art und Weise hatte entwirrt werden können: mit einem klaren und endgültigen Schnitt. Sie zählte eins, zwei, drei, vier, fünf Umschläge.

 

Meine Geliebte,ich werde dich nicht Lucía nennen, denn der Name passt nicht zu dir. In meinem Herzen wirst du immer meine kleine Mercè sein …

 

Lucía ließ den Brief sinken. Sie erinnerte sich gut, es war der erste gewesen, den Agustín ihr hatte zukommen lassen, nachdem sie ihn in der Kaserne der Guardia Civil in Figueras besucht hatte. Um die Freilassung Luís’ zu bewirken.

 

Meine Liebe,… Ich wünschte, es gäbe eine Zukunft für uns, aber inzwischen glaube ich, dass unsere Liebe von vornherein unter einem schlechten Stern stand. Und trotzdem kann ich sie nicht aufgeben … Erinnerst du dich, was ich dir damals am Strand von Argelès sagte? Dein Name stand schon in meinem Herzen geschrieben, bevor ich dich kennenlernte. Dort wird er ewig stehen bleiben …

 

Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust. Sie presste ihre Hand mit dem Brief dagegen, als ob die Nähe ihres Geliebten das Wummern beruhigen könnte. Ihres ehemaligen Geliebten, korrigierte sie sich. Wie konnte es sein, dass Agustín heute so präsent war, präsenter als sonst? Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, ihn tagein, tagaus in den grauen Augen ihrer kleinen Tochter zu sehen. Er war immer da, immer bei ihr. Ein Staubkorn, das im leichten Wind der Erinnerung nie zur Ruhe kam, immer wieder aufgewirbelt wurde und mal stärker, mal schwächer im Sonnenlicht funkelte. Aber sie konnte die Gefühle mittlerweile gut kontrollieren. An diese Briefe jedoch hatte Lucía schon lange nicht mehr gedacht und sie fragte sich das erste Mal seit Langem, wo er wohl sein mochte. Hatte er Spanien wirklich verlassen, wie er es bei ihrem letzten Treffen angekündigt hatte? Wohin war er gegangen? Nach Frankreich, nach Portugal, nach Amerika vielleicht? War er glücklich? Denn sie war es, das konnte sie aus vollster Überzeugung bejahen. Ihr Herz gehörte unzweifelhaft Luís. Deswegen erstarrte sie manchmal, wenn jemand an die Tür klopfte. Aus Angst, Agustín könnte davorstehen. Denn von hier, von diesem Ort und dieser Familie würde sie nie jemand weglocken können, mit keinem Sirenengesang der Welt und keinen Liebesbeteuerungen.

 

Lieber Agustín …

 

Es war der Brief, den sie ihm geschrieben hatte, der zweitletzte, den, den sie nicht übers Herz gebracht hatte, abzuschicken.

 

Wir waren Träumer, Agustín, geliebter Agustín, wir haben uns glückliche Stunden erträumt, die in Wirklichkeit nicht existieren können. Und nun sind wir aufgewacht aus diesem Delirium, enttäuscht vom Leben, enttäuscht voneinander … Ich wollte, ich könnte in deine wunderschönen grauen Augen schauen und sagen: Wir sind für die Ewigkeit. Aber der Moment ist gekommen, in dem ich mein Herz nicht länger aufteilen kann …

 

Die Tür wurde mit einem Ruck geöffnet, Lucía sprang auf, die Briefe und Umschläge flatterten zu Boden.

»Mamá, komm?« Lucía sah die Ungeduld im Gesicht ihres kleinen Mädchens. Ihr Herz, für ein paar lange Sekunden stehen geblieben, pochte nun umso schneller wieder, als ob es die verlorene Zeit aufholen wollte, und mit einem unangenehmen Kribbeln kehrte das Blut in ihren Kopf zurück. Hinter Luz drängten die zwei Buben ins Zimmer.

»Warte mamá, ich helfe dir.« Miguel, wie immer der Aufmerksamste und Verantwortungsvollste der drei Geschwister, bückte sich.

Da rührte sich Lucía endlich. »Ich mach schon. Raus mit euch!« Sie drehte den Kindern den Rücken zu, so, dass Miguel nicht an die Papiere kam, und sammelte die Briefe schnell ein, steckte sie wahllos in die Umschläge. Trampelnd verließen die Kinder das Zimmer. Lucía schloss die Augen und stützte sich an der Schranktür ab. Was hatten diese Briefe hier noch verloren? Sie würde sie verbrennen. Dieser Teil ihres Lebens war vorbei, sie brauchte keine Worte, die sie daran erinnerten. Und sie brauchte keine Zeugen, die dieses Leben, dieses sichere und ruhige Leben an der Seite ihres Luís gefährden könnten. Sie hatte es sich erkämpft, sie hatte es sich verdient. Nie dürfte er von der Existenz der Briefe – und damit ihrem alten Ich – erfahren.

Fürs Erste würde sie sie wieder verstecken, bis sie die nötige Ruhe dafür fände. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, langte nach oben und bekam einen Stoffsack zu fassen. Der Geruch nach Mottenkugeln strömte ihr entgegen, als sie ihn öffnete. Ihr Hochzeitskleid lag darin, ein einfaches Kleid, das Luís’ Mutter Paulina für sie geschneidert hatte, das aber mit seinen weißen Spitzenborten dennoch zu fein war für das tägliche Leben hier. Schade eigentlich. Vielleicht könnte sie die Verzierungen entfernen und den Stoff einfärben, um es in den lauen Sommernächten zu tragen, wenn das Dorforchester zum Tanze aufbot. Nach einem letzten versichernden Blick aus dem Fenster legte sie die Briefe sorgfältig zwischen die Falten des Kleides und fühlte sich unangenehm schuldig.

 

In der kleinen Bucht von Es Poal standen einige der Fischer in einem Schwarm aus Fragezeichen. Lucía erkannte Héctor nur am üppigen Bart; die Männer, die sonst selbst im Winter barfuß ins Wasser sprangen, um ihre Boote an den Strand zu ziehen, trugen die Mützen tief ins Gesicht gezogen und dicke Tücher um Hals und Ohren gewickelt.

»Das Meer friert ein, Lucía«, sagte Héctor und die Ungläubigkeit in seiner Stimme knirschte wie der feuchte Sand unter ihren Füßen. In einigen Lachen war das Salzwasser, das die Wellen an den Strand gespuckt hatten, tatsächlich gefroren, und dort, wo die Felsen die Ränder der Bucht markierten, schwappte das Wasser träger als sonst, als wäre es schwer und müde. Die Kinder standen um eine der größeren Pfützen und bestaunten das Eis ehrfürchtig, weiße Atemwolken vor den offenen Mündern. Francisco tappte vorsichtig mit dem Fuß auf die glatte Oberfläche, aber es war solide. Luz legte ihre kleine Hand darauf und zog sie sofort wieder zurück. Mit großen Augen, so grau und schimmernd wie das Eis, starrte sie Lucía an.

»Kalt«, sagte sie und blinzelte. Die Männer neben ihnen nickten unisono. Es war kalt. Francisco hob eine kleinere Eisplatte aus dem Sand und warf sie mit aller Kraft gegen die Felsen. Sie zersplitterte mit einem lauten Knall, der sie alle aus ihrer Ratlosigkeit riss.

»Gehen wir weiter«, befahl Lucía ihren Kindern. Francisco wollte noch eine Eisplatte aufheben, aber Lucía gab ihm eine Kopfnuss und trieb ihn vor sich her. Die weißen Häuser des Dorfkerns umschäumten die Kirche auf ihrer kleinen Erhebung wie die gefrorene Gischt die Felsen am Strand. Die Kinder rannten vor und zurück, hin und her, Lucía wusste nicht, ob vor Staunen oder vor Kälte. Sie selbst spürte ihre Nase nicht mehr, obwohl sie den Schal bis unter die Augen gezogen hatte. Noch bevor sie die kleine Schule in der Gasse hinter der Bar Casino erreichten, begegneten sie erneut einer kleinen Ansammlung von Einwohnern, dieses Mal dicht gedrängt vor der Apotheke.

»Das Thermometer, mamá!« Miguel rannte los und drängte sich zwischen den Menschen durch. »Minus zwölf Grad, mamá!« Minus zwölf Grad … Wo doch vor zwei Tagen noch achtzehn Grad plus geherrscht hatten. Eine der verhutzelten alten Frauen bekreuzigte sich. Minus zwölf Grad. Wenn selbst sie solche Temperaturen noch nicht erlebt hatte …

Luz und Francisco spielten mit ein paar Steinen am Boden, warfen sie, als wären sie Murmeln. Aus den Augenwinkeln nahm Lucía eine Bewegung wahr und drehte sich um. Es war Carmencita mit ihrer Tochter Julia.

»Miguel!«, rief das Mädchen, und bevor Carmencita reagieren konnte, rannte es los. »Heute gibt es keinen Unterricht, es ist zu kalt!«

»Julia!«, rief Carmencita mit so viel Kälte in der Stimme, dass die Temperatur gleich noch um ein paar Grad fiel. Sie konnten nicht verhindern, dass die Kinder in die gleiche Schule gingen. Es gab ja nur eine. Aber sie verhinderten, dass sie in ihrer Freizeit Zeit miteinander verbrachten. So wenig Schnittstellen wie möglich, das war die Vereinbarung, die sie stillschweigend getroffen hatten. Carmencitas Gesicht war dünn, fand Lucía, und da war er wieder, dieser Anflug von Mitleid. Aber vielleicht war es auch nur der zu große Mantel, wahrscheinlich von Guillermo, der sie kleiner aussehen ließ, als sie war. Julia trottete zu ihrer Mutter zurück, Miguel winkte ihrem Rücken noch einmal zu und kam dann zu ihnen. Luz nahm einen der Steine und rannte plötzlich los, direkt zu Julia und Carmencita, drückte ihn der Frau in die Hand.

»Für dich!«, sagte sie und kicherte ihr blubberndes Lachen. Carmencita hingegen bedachte sie mit einem Blick, der so abschätzig war wie das Meer tief, und warf den Stein in hohem Bogen in Richtung Strand. Dann starrte sie zu ihnen. Lucía sah, wie sich ihr Mund bewegte, und verstand das Wort, ohne dass sie es laut aussprach:

»Puta«, formten Carmencitas Lippen. »Hure.«

KAPITEL 3

Risse in einem Gefäß voller Nichts

Bilbao, Februar 1956

Manchmal, wenn Felicidad nicht aufpasste, träumte sie. In jenen Nächten, in denen man so tief schlief, dass man sich nicht selbst aufwecken konnte, suchte sie ein immer wiederkehrender Traum heim wie eine Erinnerung. Feuer. Das verschwommene Gesicht einer Frau. Und der quälende Schmerz, sich immer weiter von dieser Frau zu entfernen. Wenn sie dann aufwachte, brannte die Narbe an ihrem Bein, und sie schwor sich bei ihrem schweißgebadeten Antlitz, nie wieder schlafen zu wollen.

Heute war eine dieser Nächte gewesen. Während Felicidad die Strumpfhose ihrer Schuluniform über die Wade zog, strich sie über die alte Wunde, und eine Traurigkeit, schwerer als sonst, drückte auf ihre Brust.

 

Draußen schneite es. Felicidad sah es im Spiegel. Dicke, große Schneeflocken vor der bleifarbenen Morgendämmerung, fast so dunkel wie die Ringe unter ihren grauen Augen. Sie sah so müde aus, wie sie sich fühlte, und selbst an Tagen, an denen sie nicht so müde war, sah sie aus, als ob sie nicht geschlafen hätte. Die Müdigkeit zeichnete ihr Gesicht, wie es bei anderen die Lachfalten taten. Sie wünschte sich den Tag herbei, an dem sie sich endlich etwas Farbe ins Gesicht malen dürfte. Die Schneeflocken fielen dicht an dicht, still und stumm, hypnotisierend.

Dann setzte sich Ainhoa hinter sie und damit vor das friedliche Bild, langte über Felicidads rechten Arm nach der Bürste, die auf dem Schränkchen unter dem Spiegel lag, und machte sich daran, sie zu kämmen. Als wäre sie sechs und nicht sechzehn. Mit wenig Feingefühl fuhr ihr Ainhoa durchs dunkle Haar. Manchmal dachte Felicidad daran, vor der Zeit aufzustehen und sich selbst zu bürsten, aber sie wusste genau, ihre Adoptivmutter würde immer etwas an ihren Zöpfen auszusetzen haben, sie wieder auftrennen und neu flechten. Und irgendwie verspürte Felicidad auch jedes Mal ein verwirrendes Gefühl der Zufriedenheit, wenn Ainhoa an ihren Locken riss und dabei ein säuerliches Gesicht machte.

»Deine Haare sind so widerspenstig wie du«, murmelte sie dann, und Felicidad antwortete jeweils mit ihrer lauten Stimme, die sie einfach nicht kontrollieren konnte:

»Hätte ich doch bloß deinen Goldschopf, nicht wahr?«

Und beide wussten, dass sie es nicht so meinte und Ainhoa sich genau das wünschte. Ihre blonde Dauerwelle saß immer perfekt, ihre pastellfarbenen Kostüme passten immer perfekt; als Kind hatte Felicidad geglaubt, ihre Adoptivmutter würde im Stehen schlafen, damit sie morgens so aussehen konnte. Und ein ebenso perfektes Kind hätte Ainhoa wohl gern gehabt. Aber Felicidad hatte sich nicht formen lassen.

Ainhoa und Eusebio, so nannte Felicidad ihre Adoptiveltern. Nie mamá und papá, nie madre und padre. Wie könnte sie sie so nennen, wenn sie doch fühlte, dass ihre Eltern irgendwo waren, irgendwo? Man konnte nicht zwei Mütter und zwei Väter haben. Das ging nicht. Egal wie klein, wie verstört oder stumm sie in jenem September 1943 gewesen sein mochte, in dem sie adoptiert worden war: Sie hatte sehr wohl verstanden, dass diese zwei Menschen nicht ihre leiblichen Eltern waren. Und obwohl ihr immer wieder gesagt wurde, dass sie dankbar sein sollte, eine zweite Chance bekommen zu haben, eine Familie, die sie mit dem Vorsatz aufgenommen hatte, sie zu lieben, ihr ein sicheres, warmes Heim, Erziehung und Bildung zu geben, fragte sie sich genauso oft: Hätte sie all das nicht auch von ihren richtigen Eltern bekommen können? Sie hatte nicht um diese zweite Chance gebeten. Vielleicht hatte sie sich nur verlaufen gehabt in jenem Bahnhof, in dem sie damals aufgegabelt worden war, dreijährig, sichtbar verstört und mit einer schlecht verheilten Wunde am Bein. Vielleicht waren ihre Eltern in der Nähe gewesen, vielleicht hatten sie einen Unfall gehabt und konnten sich nicht an sie erinnern.

Ihr fehlte die Endgültigkeit des Abschieds.

Selbst nach Jahren noch fühlte sie sich durch eine unsichtbare, zum Zerreißen dünne Nabelschnur mit diesen zwei Menschen verbunden, an die sie keine andere Erinnerung hatte als die des Albtraums. Und Felicidad war sich sicher, dass sie ebenso verloren da draußen umherirrten wie sie selbst, auf der Suche nach einem Teil, das fehlte. Sie wollte, sie könnte so etwas wie Liebe für Ainhoa und Eusebio aufbringen, die sich wirklich bemüht hatten, vor allem in den ersten Jahren. Sie wollte, sie hätte bereits vor Langem mit ihrer ätherischen Vergangenheit abschließen und sich auf ihre neue Familie einlassen können. Dieses fehlende Teil in ihr hatte jedoch scharfe Kanten. Es zerschnitt jegliche Annäherungsversuche sofort. Wenn sie zumindest wüsste, dass sie nach ihnen suchen könnte, nach ihren wahren Eltern. Aber sie war ein weißes Blatt. Ohne Papiere, ohne Nachnamen, ohne Herkunft. Sie wusste nicht, wer sie waren. Und damit auch nicht, wer sie selbst war.

»Warum habt ihr mir eigentlich nicht auch einen neuen Vornamen gegeben?«, fragte Felicidad in den Spiegel hinein, aber Ainhoa sah nicht hoch, sondern band eine Masche um den linken Zopf. »Ist es nicht normal, seinem Kind einen eigenen Stempel aufzudrücken?« Sie kannte die Antwort bereits. Es war ein Spiel, das sich seit Jahren wiederholte, nur dass Ainhoas Mundwinkel jedes Mal tiefer sanken.

»Dein Name war alles, was man von dir wusste. Und wir dachten, dass er ein gutes Omen wäre. Felicidad. Glück und Freude. Wir dachten, wir würden mit dir eine glückliche Familie werden.« Ganz kurz begegneten sich ihre Blicke im Spiegel, beide ein wenig ratlos. Dann schüttelte Ainhoa den Moment weg, zog einmal an beiden starren, perfekten Zöpfen. Es hätte eine liebevolle Geste sein können, aber dafür zog sie ein klein wenig zu fest. »Frühstück und dann ab. Du weißt, was passiert, wenn du zu spät kommst.«

Felicidad stand auf, strich sich die graue Schuluniform glatt und starrte skeptisch aus dem hohen Fenster. Das Weiß ließ sie frösteln. »Und du glaubst wirklich, dass heute Schule ist?«

 

Natürlich war Ainhoa unerbittlich. Warum, bitte schön, sollten die Nonnen heute keinen Unterricht erteilen? Vielleicht weil ihnen, den Schülerinnen, bereits seit einer Woche die Tinte im Fässchen gefror in dieser ungewohnten Kälte? Aber den spitzen Kommentar ersparte sich Felicidad. Draußen mit Nerea war schließlich immer noch besser als drinnen mit Ainhoa. Und so verließ sie um halb neun das Haus – und trat in eine fremde Welt. Eigentlich sollte es bereits hell sein, aber das Schneegestöber war so dicht, dass sie kaum die Häuserfront auf der anderen Seite des Flusses Nervión ausmachen konnte. Es war ruhig.

Ruhig.

Ein paar Sekunden lang stand sie einfach nur da und nahm die eigenartige Stille in sich auf. Es war, als ob die weiße Decke jegliche Geräusche unter sich begraben würde, und alles, was blieb, war das leise Knistern der Flocken, so unmerklich leise, dass man es nur wahrnahm, wenn man ganz genau hinhörte. Die Welt um sie herum war rein und weiß wie ein Neuanfang. Ein unbeschriebenes Papier. Sie könnte ihr Blatt mit neuen Informationen füllen, aber egal wie angestrengt sie schrieb, die Tinte blieb unsichtbar. Vorsichtig fuhr sie mit den behandschuhten Fingern durch die Schneehaube, die auf der untersten Stufe lag, und betrachtete die perfekten Formen, die locker aufeinanderlagen, im absoluten Gegensatz zu der lähmenden Wehmut, die seit dem Aufwachen durch ihren Körper floss.

Hinter ihr krachte die Eingangstür zu und der seltsame Señor Itzibarri aus der Wohnung über ihnen, die obligate Zigarette im Mund, Hut tief ins Gesicht gezogen, drängelte sich an ihr vorbei, dass sie erschrocken zur Seite springen musste. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er in den drei Jahren, die er im selben Gebäude lebte wie sie, jemals ein Wort mit ihnen gesprochen hätte. Die Kälte kroch durch ihre Strumpfhosen und sie stapfte energisch los, versuchte damit nicht nur, irgendwie Wärme in ihren Körper zu pumpen, sondern auch dem Schatten des Traumes zu entfliehen. Heute Nacht, schwor sie sich, würde sie nicht schlafen.

Bereits nach mehreren Metern zog sie ihren weitgeschnittenen Mantel enger um sich, setzte die Ohrenwärmer auf und legte sich den Schal über den Kopf, um sich vor der Nässe und den Temperaturen zu schützen, die bestimmt weit unter null lagen. Vor einigen der herrschaftlichen Wohnblöcke waren die Hausmeister dabei, dem Schnee mit Reisigbesen und Schaufeln zu Leibe zu rücken, um die Gehwege freizuhalten. Trotzdem spürte Felicidad schon, wie die Feuchtigkeit in ihre Schuhe drang und rollte die Zehen ein. Es schneite ab und zu in Bilbao, aber an solch eine lang anhaltende Kälte konnten sich nicht einmal die Alten erinnern. Die Schneeflocken setzten sich auf ihre Wimpern und froren fast augenblicklich fest. Entgegen ihrem vorherigen Gedanken sehnte sie sich jetzt danach, umkehren und sich mit einer Wärmeflasche im Bett verkriechen zu können. Aber dann machte sie den Schemen ihrer besten Freundin Nerea hinter der Wand aus weißem Geriesel aus. Wie jeden Morgen wartete sie an der Puente del General Mola, der Brücke, die über den Nervión ins Zentrum führte.

»Wartest du schon lange?«, fragte Felicidad statt einer Begrüßung, aber eigentlich war die Frage überflüssig. Nerea trippelte von einem Fuß auf den anderen und ihr Tuch, das sie wie Felicidad auch über den Kopf gelegt trug, wies eine Fingerbreite Schnee auf.

»Gar nicht«, log ihre Freundin ganz offensichtlich, schüttelte sich und ein herzliches Lachen entwich ihrem Mund in einer weißen Atemwolke. Ihre Wangen leuchteten rot wie die der Porzellanpuppen, mit denen sie früher gespielt hatten. Früher, wie das klang! Aber Nerea und sie, sie kannten sich, seit sie, Felicidad, Teil ihrer neuen Familie geworden war. Eusebio und Iñaki, Nereas Vater, verband eine dieser tiefen Männerfreundschaften, die nichts und niemand auseinanderbringen konnte, Waffenbrüder im Krieg, jetzt war der eine Finanzdirektor und der andere Maschinenbauingenieur bei derselben Schiffswerft.

Nerea wischte mit behandschuhten Fingern die Nässe von Felicidads Wangen – ein sinnloses Unterfangen –, breitete dann die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. »Gott legt ein weißes Tuch der Gnade über all unsere Sünden, Felicidad! Wir sind reingewaschen!«

Felicidad lachte laut. »Lass das bloß Schwester Encarnación nicht hören, sonst bekommst du den Stock zu spüren.« Blödelnd und lachend stampften sie weiter durch den Schnee, über den Fluss, der so grau und ruhig dalag, dass er ebenso gefroren sein könnte, vorbei an den limpiavías, den Männern, die mit ihren schmalen Schaufeln dafür verantwortlich waren, die Schienen und Weichen der elektrischen Straßenbahn sauber zu halten. Sie hatten alle Hände voll zu tun. Die wenigen Automobile, die üblicherweise durch Bilbaos Straßen tuckerten, waren gegen die Schneemassen machtlos, und so stieg, wer sich keine nassen Füße holen wollte, in die cremefarbenen tranvías. Und dennoch hatten einige der Männer immer noch Zeit, sich kurz auf ihre Schaufeln zu stützen und den jungen Frauen nachzupfeifen oder ihnen Anzüglichkeiten hinterherzurufen. Während Nerea kichernd die Augen verdrehte, hätte Felicidad am liebsten einen Schneeball geformt und ihnen ins Gesicht geschmettert. Stattdessen senkte sie den Kopf, beschleunigte ihre Schritte und zog Nerea mit sich, noch gute fünfzig Meter geradeaus, dann bogen sie in die schmale Seitenstraße ein, in der sich die Schule befand.

Schwester Rafaela räumte vor dem Tor den Schnee weg, ohne Mantel und wie immer barfuß, als ob die Kälte für sie nicht existieren würde. Sie lächelte ihnen freundlich zu, der Blick unstet und irgendwo, wo sonst niemand hingelangte. Als Schwester Rafaela so alt gewesen war wie sie jetzt, hatte Ainhoa Felicidad erzählt, war ihr Schreckliches widerfahren. Die republikanischen Truppen, die 1937 vor Francos Nationalisten aus Bilbao geflohen waren und auf ihrem Weg so ziemlich jede mögliche Gräueltat begangen hatten, hatten in ihrem Dorf ein Gemetzel angerichtet, bei dem ihre Familie umgebracht worden war und sie nur mit viel Glück überlebt hatte. Seitdem sprach sie kein Wort und ging nurmehr barfuß. Warum?, hatte Felicidad natürlich gefragt. Schwester Rafaela war ihr immer schon unheimlich gewesen. Und jetzt noch ein wenig mehr. Um Buße zu tun, hatte Ainhoa gesagt. Buße wofür? Dass sie überlebt hatte. Ainhoa wusste, wovon sie sprach. Schließlich kannte sie aufgrund ihrer ehrenamtlichen Arbeit beim katholischen Hilfswerk so ziemlich jede Nonne der Stadt. Diese roten Schweine, hatte Ainhoa dann gewettert, diese Kommunisten und Anarchisten, die das Land in den Ruin geritten, in Blut getränkt und Zwietracht und Hass gesät hatten. Zum Glück hatte Franco gesiegt und Ordnung geschaffen. Heimlich hatte Felicidad die Augen verdreht. Der Krieg war seit beinahe zwanzig Jahren vorbei.

Schwester Rafaelas Körper, dachte Felicidad, als sie nun respektvoll grüßend an ihr vorbeigingen, musste an jenem Tag all seine Wärme verloren haben, dass er das überhaupt aushielt. Ihre eigene Nasenspitze war tiefgefroren und die steckte noch nicht einmal im Schnee wie Rafaelas Füße. Sie zog die Handschuhe aus und dann die Ohrenwärmer. Hoffentlich waren die Schulbücher im Ranzen nicht nass geworden. Einige der jüngeren Kinder schlüpften gerade noch in ihr Klassenzimmer, bevor die Schwester die Tür schloss.

»Wollen wir uns heute Nachmittag treffen?«, fragte Nerea leise. »Julen ist bestimmt auch da.« Sie kicherte, als ob sie selbst in ihren Bruder verliebt wäre und nicht eigentlich Felicidad mit ihm verkuppeln wollte.

Felicidad ignorierte die Andeutung und beschleunigte ihre Schritte. »Ich muss nach dem Mittagessen Ainhoa bei einer ihrer ehrenamtlichen Pflichten helfen. Du weißt schon. Wie jeden Samstag. Vielleicht danach.«

»Nerea Ortíz! Felicidad Damboreno!« Schwester Encarnacións bellende Stimme hallte durch den hohen, leeren Gang. Sie waren zu spät. Das Paternoster wartete nicht.

 

Die Hiebe mit dem hölzernen Messstock hatten auf den kalten Händen besonders geschmerzt. Und wie vermutet war die Tinte zu dickflüssig, um mit ihr zu schreiben, weswegen Schwester Encarnación die Schülerinnen stattdessen mit ihren Stickrahmen beschäftigte. Der Ofen, der natürlich vorn neben dem Lehrertisch stand, schaffte es nicht, gegen die Kälte im Raum anzukommen; die Finger waren steif und ungelenk, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Felicidad alles hasste, was mit Nadel und Faden zu tun hatte.

»Du bist eine Schande für deine Mutter«, schimpfte die Nonne, als sie ihr unsauber gesticktes Werk begutachtete.

»Sie ist nicht meine Mutter«, entgegnete Felicidad ruhig und wartete darauf, dass die Ordensfrau scharf die Luft einsog, wie jedes Mal, wenn sie eine unpassende oder freche Antwort gab. Und diese Antwort war besonders provokant gewesen. Sie war ihr rausgerutscht. Irgendwie. Oder auch nicht. Die Frau in ihrem Albtraum war ihre Mutter und heute mehr als sonst vermisste Felicidad sie, sie wusste nicht, wieso. Die Stille im Raum verdichtete sich. Ihre Schlagabtausche mit Schwester Encarnación erfreuten sich großer Beliebtheit bei ihren Mitschülerinnen; vielleicht, weil sich sonst keine traute, den Mund zu öffnen, oder vielleicht, weil sie schadenfroh bereits auf die Strafe warteten, die in wenigen Sekunden auf Felicidad herabfallen würde wie die Rache Gottes.

»Dankbar sein solltest du, von solch einer angesehenen Familie aufgenommen worden zu sein …« Die übliche Litanei. Dankbarkeit, Barmherzigkeit, was für ein Glück sie doch hätte, wie respektlos sie damit umginge. Worte, die durch sie hindurchsickerten wie Wasser durch einen gesprungenen Krug. Am Schluss blieb nichts als Leere. Sie war ein leeres Gefäß. Eine Hülle ohne Inhalt, ein Mensch ohne Identität. Sie war niemand. Und das erste Mal in all diesen Jahren der Aufsässigkeit obsiegte die Traurigkeit in ihr und sie brach vor der ganzen Klasse in Tränen aus.

 

Ainhoa war einsilbig. Seit der Lektüre des kurzen Briefes, den Schwester Encarnación geschrieben und den Felicidad ihr nur widerwillig ausgehändigt hatte, war sie in Gedanken versunken wie die Landschaft vor dem Fenster im dicken Schneekleid. Ob es wohl auch genauso still war in ihrem Kopf? Geduldig wartete Felicidad auf ihre Strafe, es wäre die dritte des heutigen Tages, aber das war sie gewohnt. Den Besuch bei Nerea konnte sie getrost vergessen.

Aber nachdem sich Eusebio zurückgezogen hatte, um eine kurze siesta zu halten, wies Ainhoa sie an, als wäre nichts geschehen: »Mach dich bereit. Wir haben eine Verpflichtung einzuhalten.«

Ihre Schuhe, die sie mit Zeitungspapier ausgestopft und vor den Ofen gestellt hatte, waren immer noch leicht feucht innen, und Felicidad fröstelte, als sie hineinschlüpfte.

»Wo gehen wir hin?«, fragte sie und versuchte gar nicht erst, ihrer Stimme einen heiteren Ton zu verleihen. Seit zwei Jahren musste sie Ainhoa jeden Samstagnachmittag begleiten, wenn sie in der Kirchgemeinde hilfsbedürftige Familien besuchte oder mit den anderen Frauen strickte und stickte oder im Hospital frischgebackene Mütter begrüßte. Schließlich sollte sie spätestens ab ihrer Volljährigkeit dieselbe Runde drehen, in bloßer Erwartung darauf, zu heiraten, Kinder zu bekommen und ihrem Mann zu dienen. Felicidad langweilte sich schrecklich bei diesen Besuchen, und die Vorstellung des Lebens, wie es Ainhoa und Eusebio für sie malten, flößte ihr Angst ein. Aber wenn sie sich im täglichen Leben umsah, waren die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen immer noch beschränkt und wurden von Staat und Kirche beiderseits abgelehnt. Laut diesen Institutionen sollte jede Frau froh sein, nicht in einer Fabrik schuften oder sich in einem Büro den Blicken der Männer aussetzen zu müssen.

»Wir gehen ins Hospicio de Santa Misericordia«, beantwortete Ainhoa knapp ihre Frage, die Felicidad vor gefühlt einer halben Stunde gestellt hatte, und die Kälte, in der ihre Füße steckten, floss nun durch ihren ganzen Körper. Das Haus der Waisen, Findelkinder und der gefallenen Frauen. Der schrecklichste aller Besuche. Und sie wusste, das war die Strafe für ihren respektlosen Kommentar in der Schule. Leicht wippte sie vor und zurück, als ob ihr Körper überlegte, ob er fliehen könnte, obwohl ihr Kopf wusste, dass es nichts gab, das sie vor diesem Nachmittag beschützen könnte. Der glänzende walnussbraune Parkettboden knarzte leise, es war solch ein tröstendes Geräusch, sie wollte sich einfach auf den Boden legen, aber da fühlte sie sich bereits am Arm gepackt und zur Tür hinausbugsiert.

Wie immer wenn sie Armenbesuche machte, wie sie sie nannte, trug Ainhoa ein devotes Kopftuch statt eines schicken Hutes. Armenbesuche, ein abschätziges Wort verkleidet in Wohltätigkeit. Die Doppelmoral machte Felicidad jedes Mal wütend. Es hatte zwar aufgehört, zu schneien, und einige vorwitzige Automobile schoben sich wie schwarzes Ungeziefer durch das reine Weiß, aber dennoch hielt diese eigenartige Stille noch an. Felicidad öffnete während des Gehens den Mund und schluckte so viel wie möglich davon, um noch lange von diesem friedlichen Gefühl zehren zu können. Sie mussten in der Pfarrei der Kirchgemeinde zwei Koffer mit Spenden abholen – abgetragene Kleider, ein paar Decken, vielleicht sogar ein oder zwei Puppen –, und dann brachte sie die tranvía viel zu schnell nach Santurce, wo das Waisenhaus lag.

Nur einmal war sie mit Ainhoa hier gewesen. Und hatte sie gebeten, sie nie wieder mitzunehmen. Es war kein Ort, an dem Kinder aufwachsen sollten. In der Eingangshalle stolperten sie beinahe über eine junge Frau, die den eiskalten Steinboden scheuerte. Ihre Bewegungen waren müde und als Felicidad richtig hinsah, merkte sie, dass sie kaum älter sein konnte als sie selbst, und hochschwanger war. Ein gefallenes Mädchen. In der Nonnenschule erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand grausame Geschichten über diese Frauen. Putitas, kleine Huren, die für jeden die Beine öffneten, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. Junge Damen, die außerehelichen Umgang mit Männern gepflegt hatten. Und solche, die gewaltsam entehrt worden waren. Von Unbekannten, von Vätern, von Onkeln. Sie alle landeten an Orten wie diesen bis zur Geburt, dann wurde ihnen das Kind weggenommen und sie selbst vor die Tür gesetzt. Der Staat hatte kein Geld und keine Gnade, sie durchzufüttern, und waren sie schließlich nicht selbst schuld an ihrer Misere?

Die Mutter Oberin kam ihnen entgegen. Ainhoa begrüßte sie mit einem kleinen Knicks und demütig gebeugtem Kopf, und Felicidad tat es ihr nach. Dann setzte sie ihr automatisches Lächeln auf, heftete ihren Blick auf das Kreuz, das vor der Brust der Ordensfrau baumelte, und konzentrierte sich auf das langsame Bürstgeräusch hinter ihr. Nur am Rande bekam sie mit, wie Ainhoa der Nonne die Koffer übergab. Das Mädchen hustete bellend. Dann putzte es weiter, noch langsamer als zuvor. Ein kalter Durchzug strömte um Felicidads Beine, und sie musste die Kiefer aufeinanderpressen, um ihre Zähne davon abzuhalten, zu klappern.

»Lasst uns eine kleine Runde drehen«, sagte die Mutter Oberin und machte eine salbungsvolle, weitausladende Geste mit ihrer Hand, als ob sie ihnen ihren prunkvollen Palast zeigen wollte und nicht ein kaltes, graues und grauenvolles Gebäude voller armer Seelen, die das Wort Wärme und Liebe nicht einmal aus Büchern kannten.

»Lächle«, flüsterte Ainhoa ihr zu, und erst jetzt merkte Felicidad, dass die Wut ihr im Gesicht stehen musste. Sie lächelte nicht und erfreute sich heimlich an Ainhoas missbilligendem Kopfschütteln.

Die Nonne führte sie durch den Saal, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden, um diese Uhrzeit natürlich verwaist, zeigte ihnen die Küche, in der einige Ordensschwestern, aber auch junge Frauen und Mädchen arbeiteten. Es wurde geschwiegen. Dann führte sie sie durch die Schlafsäle und zum Schluss in die Wäscherei. In dem Raum war es zumindest warm, so stickig warm und feucht, dass Felicidad sofort der Schweiß ausbrach und sie sich kurz an Ainhoas Arm festhalten musste. Es roch nicht angenehm nach Seife, wie sie vermutet hatte. Ein junges Mädchen, jünger als sie, vielleicht zwölf Jahre alt, rührte mit einem Stab in einem großen Topf, die Hände rot und rissig. Ein anderes Mädchen, kaum älter, schrubbte ein Kleidungsstück an einem geriffelten Holzbrett. Es hielt alle paar Sekunden inne, um seine Hände aus dem Wasser zu nehmen; sie waren voller offener Blasen, an manchen Stellen schien sich die Haut direkt vom Fleisch zu lösen. Felicidad wurde übel, und ohne um Erlaubnis zu fragen, wankte sie aus dem Raum. Nur Sekunden später folgte ihr Ainhoa.

»Ihre Hände«, murmelte Felicidad. »Warum sehen ihre Hände so aus?«

»Sie waschen die Wäsche mit Lauge. Seife ist zu teuer.«

»Aber warum müssen sie sich so abquälen? Es sind Kinder!«

Ainhoa lächelte sie milde an. »Sie müssen sich ihr Dach über dem Kopf und das Essen verdienen, Felicidad. Ihre Mütter waren entweder Frauen, die keinen Platz in unserer Gesellschaft verdient haben, weil sie unehrenhaft waren. Oder ihre Eltern sind gestorben oder haben sie weggegeben. Weil sie sie nicht durchfüttern konnten oder weil sie sie nicht wollten.« Und in dem Moment wusste Felicidad, warum sie heute hier waren, aber es war Ainhoa, die es aussprach: »So wie deine Eltern, hija mía, meine Tochter. So wie deine Eltern. Wir haben dich vor diesem Schicksal bewahrt.«

Die Mutter Oberin trat zu ihnen. Ainhoa bedankte sich mit großen Worten für den freundlichen Empfang und die Ordensfrau bedankte sich mit knappen Worten für die Spende. Felicidad drehte sich um und rannte davon, ohne sich zu verabschieden, die Treppe hoch, durch die Eingangshalle, in der das Mädchen wieder hustete und sich dabei auf dem Boden krümmte, durch das Tor hinaus in die graue Dämmerung hinein, die die Umgebung noch trostloser erscheinen ließ, als sie war, und dennoch ein herzlicherer Ort war als der, aus dem sie gerade geflohen war. Tränen traten ihr in die Augen und sie kamen weder von der Kälte noch vom Schmerz, der Ainhoas Worte ausgelöst hatte, denn denen schenkte sie keinen Glauben. Es waren Tränen der Wut, der Wut auf einen Gott, der nicht barmherzig war, auf eine Welt, die nicht gerecht war, auf einen Staat, der den Ärmsten und Schwächsten nicht half, sondern sie noch mehr zu Opfern machte, als sie es bereits waren. Und diese Wut fühlte sich gut an.

 

Erst am Sonntagnachmittag durfte sie Nerea einen Besuch abstatten – in Begleitung von Ainhoa und Eusebio, die sich per Telefon bei ihren Freunden angemeldet hatten. Die Stimmung bei Tee und dem Kuchen, den Ainhoa in der Konditorei gekauft hatte, war angestrengt. Oder vielleicht fühlte sie sich auch nur für Felicidad so an. Es fiel ihr schwer, ruhig zu sitzen und zuzuhören, wie sich die Erwachsenen über Oberflächlichkeiten unterhielten, und es fiel ihr schwer, sich selbst nur über Oberflächlichkeiten mit Nerea auszutauschen, während die Wut in ihrem Inneren so heiß war, dass sie wie Lava aus ihr herausschießen wollte.

Gerade als Iñaki sich endlich seine Zigarette anzündete und damit das Ende des offiziellen Teils einläutete, öffnete sich die Eingangstür und Julen trat ein. Wieder vergingen fünf Minuten, in denen sich Nereas Bruder den Fragen seiner Eltern und deren Besucher stellen musste.

»Wie groß du geworden bist!«, rief Ainhoa aus und das Entzücken stand ihr ins Gesicht geschrieben. Julen war zweiundzwanzig, natürlich war er groß und er war auch bestimmt nicht mehr gewachsen in den letzten zwei Wochen, hätte Felicidad am liebsten gerufen. Nur der kleine Oberlippenbart, der war neu an ihm. Er gab seinem Gesicht einen verwegenen Anstrich.

»Wie ist das Leben als Student?«, fragte Eusebio. »Wirtschaftsökonomie, nicht wahr? Solche Männer braucht das Land. Weise Wahl.« Er klopfte ihm anerkennend auf den Rücken, und Felicidad fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie überhaupt ein Mädchen adoptiert hatten und keinen Jungen.

»Du musst hungrig sein!«, rief seine Mutter Sabina besorgt und eilte in die Küche, um einen Teller zu holen, bevor Julen verneinen konnte. Artig reichte ihm nun Felicidad die Hand und er bedachte sie mit einem Augenzwinkern, das Nereas Wangen glühen ließ. Wahrscheinlich sah sie die beiden bereits vor dem Traualtar. Die Mütter zogen sich plaudernd in die Küche zurück, um den Abwasch zu erledigen, die Männer fachsimpelten mit Julen, und endlich konnten die Mädchen in Nereas Zimmer verschwinden.

»Du siehst nicht gut aus, du wirst doch nicht etwa krank?«, fragte Nerea.

Felicidad lugte in den Spiegel. Die Augenringe gaben ihr den Anschein einer Eule; Ainhoa hatte sie heute Morgen bereits darauf angesprochen. Dass sie nicht geschlafen hatte, hatte nicht einmal damit zu tun gehabt, dass sie es nicht gewollt hätte. Um ihrem Albtraum zu entgehen. Es waren die Bilder des Nachmittags gewesen, die ihr keine Ruhe gelassen hatten, das Entsetzen über die Ungerechtigkeit, und ja, auch die Frage, ob Ainhoa vielleicht sogar recht gehabt hatte damit, dass ihre Eltern sie ausgesetzt hatten. Dieser Gedanke sprengte weitere Fadenrisse in das Gefäß, das sie war, und sie hatte Angst, dass sie eines Tages einfach auseinanderfallen würde, ohne Möglichkeit, sich wieder zusammenzusetzen.

»He, du hörst mir gar nicht zu!« Nerea stupste sie in die Seite. Fahrig nahm sie das Magazin, das ihre Freundin ihr in die Hand drückte. »Hat mir Julen mitgebracht.« Es war die aktuelle Ausgabe der Eva, mit den neusten Modetrends und Schnittmustern. Im Gegensatz zu ihr nähte Nerea gern und gut. Lustlos blätterte sie darin herum, als ein Stück Papier herausflatterte. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und stieß dabei mit Nerea zusammen, deren Wangen bereits wieder ganz rot waren.

»Was ist das?«, fragte sie und sah sich das Papier genauer an. Es war eine säuberlich ausgeschnittene Zeitungsnotiz.

»Gib es mir. Bitte«, sagte Nerea, und verwirrt über das Flehen in ihrer Stimme las Felicidad den Titel. Aufruhr an der Universidad de Madrid. Ein hartes Klopfen an der Tür, Nerea riss an dem Artikel in ihrer Hand, und schon öffnete sich die Tür. Julen trat ein. Wahrscheinlich starrten sie ihn beide an wie verschreckte Kaninchen, aber sobald sein Blick auf den Rest des zerrissenen Papiers fiel, den Felicidad noch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, schloss er die Tür sofort und drehte ganz leise den Schlüssel um.

»Was passiert hier?«, flüsterte Felicidad und inspizierte das bisschen Text in ihrer Hand. Studentenmanifestation vor dem Bildungsministerium … Zusammenstoß … Anhänger des faschistischen Franco-Regimes und Studenten liberaler Ausrichtung … Die neue Generation der Gewinner und Verlierer des Bürgerkriegs … Rücktritt des Rektors … Ausnahmezustand verhängt.

»Es lag in dem Magazin«, jammerte Nerea, während sie Julen die andere Hälfte des Artikels hinhielt. Der bewegte seinen Kiefer, als ob er immer noch den Kuchen kauen würde, sehr angestrengt und sehr langsam. Dann ging er vor Felicidad auf die Knie und nahm ihr vorsichtig das Papier aus der Hand.

Sie packte ihn am Handgelenk. »Was ist das?«, fragte sie wieder. »Manifestationen sind nicht erlaubt. Davon habe ich im Radio nichts gehört. Warum gehen die aufeinander los? Und was ist das für eine Zeitung? Und – warum steckt der Artikel in dem Magazin?«

Mit seiner freien Hand legte ihr Julen den Zeigefinger an die Lippen. »Leise.« Dann setzte er sich neben sie aufs Bett. Er roch gut, nach Pomade und einem herben Männerparfüm, nach selbstgedrehten Zigaretten und Abenteuer. Dann tauchte das Bild des schwangeren Mädchens vor ihr auf, wie es hustend den eiskalten Boden schrubbte, und sie rückte von ihm ab. Nächsten Sonntag würde sie beichten. Nein, würde sie nicht.

»Es ist eine geheime Studentenzeitung«, erklärte er ihr leise. Nerea stand auf und stellte sich mit dem Ohr an die Tür.

Verwirrt schüttelte Felicidad den Kopf. »Eine was?«

»Eine Zeitung, die von unserer Studentenbewegung gedruckt wird. Verstehst du? Wir sammeln Informationen aller Geschehnisse, die es aufgrund der Einschränkung der Pressefreiheit nicht an die Öffentlichkeit schaffen. Damit die Wahrheit ans Licht kommt.«

»Welche Wahrheit?«

»Die Wahrheit über die Unterdrückung der Menschenrechte in diesem Land, die Wahrheit über die Lügen, die die faschistische Propaganda verteilt, die Wahrheit darüber, dass immer mehr junge Menschen nicht mehr zufrieden sind mit dieser Regierung. In Spanien allgemein und ganz besonders hier im Baskenland.« Er strahlte eine unglaubliche Hitze aus, als würde in seinem Körper die gleiche Wut darauf warten, zu explodieren, wie in Felicidads. »Wir sind die neue Generation«, flüsterte er, und sein Atem und die Botschaft darin kitzelten aufregend in ihrem Ohr. »Wir wollen Freiheit. Wir wollen Rechte. Wusstest du, dass während und nach dem Krieg Hunderte von Professoren republikanischer Universitäten ermordet oder eingesperrt worden sind, weil sie sich weigerten, ihre Ideologie zu wechseln?«

»Der Krieg ist seit fast zwanzig Jahren vorbei, was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«

Julen schüttelte den Kopf. »Der Krieg auf dem Schlachtfeld ist beendet, aber in den Köpfen der Menschen geht er weiter. Wir werden mit Lügen gefüttert. Indoktriniert. Und dagegen wehren wir uns. Wir sind Basken. Und wir wollen unsere Identität zurück.«

Nerea hob alarmiert die Hand; Schritte näherten sich, gingen am Zimmer vorbei. Wahrscheinlich ins Bad.

Felicidad griff sich an die Stirn, sie glühte, vor Fieber, vor Eifer, vor Erwartung. Da war auf einmal ein Gefühl in ihr, das sie nicht kannte, nicht beschreiben konnte. Wie etwas, auf das sie lange gewartet hatte, ohne es überhaupt zu wissen. Was auch immer es war, es kittete einige der Risse in ihrer Hülle. »Ich möchte helfen.«

KAPITEL 4

Alles kaputt

Cadaqués, März 1956

Es stank im Dorf. Lucía presste ihre Nase in den Mantelärmel, während sie mit ihrer Schwiegermutter Paulina den Schaden in deren huerto, dem Gemüsegarten, begutachtete.

»Es ist alles verfault«, flüsterte die alte Frau und pikste mit ihrem Stock in eine am Boden liegende Orange. Die Frucht zerfiel vor ihren Augen zu Matsch. »Gott hat uns verflucht, Lucía. Das ist die Strafe für all unsere Sünden.« Sie sah sie mit ihren wässrigen hellblauen Augen an, so hell, dass sie schon fast grau sein könnten, aber eben nur fast. Auch wenn Luís jedem im Dorf erzählte, dass Luz die Augen seiner Mutter geerbt hatte, erschien es Lucía wie ein schlechter Witz, dass er so an dieser Version festhielt. Glaubte er es wirklich? Oder wollte er es einfach glauben, um der Tatsache, dass das Kind nicht von ihm war, nicht in die Augen sehen zu müssen? Was für ein Wortspiel, dachte Lucía, und ihr Herz wurde schwer. Wie verräterisch eine simple Farbe sein konnte, wie einfach alles wäre, hätte Luz ihre braunen Augen bekommen. War ihre Affäre mit Agustín, ihr ganz eigener Sündenfall, mit schuld an dieser Katastrophe, die ihr Dorf und halb Europa heimgesucht hatte? Gott hatte in ihrem Leben noch nie einen großen Stellenwert besessen; wie hätte ein barmherziger Schöpfer all das gutheißen können, was in der Welt geschah? Vielleicht hatte sie sich aber all die Jahre geirrt. Vielleicht war Gott einfach nicht barmherzig.