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Ein abgeschiedenes Dorf. Leere Bauernhöfe. Eine aufgelassene Schule. Die Erwachsenen haben nach und nach das Dorf verlassen. Zurückgeblieben sind die Kinder. Sie empfangen Pakete und Geld. Sie kochen, putzen und pflegen die Großeltern und kleinen Geschwister. Scheinbar soll Krieg herrschen rundherum. Als auch der einzige Lehrer das Dorf verlässt, beginnen die Kinder, ihre eigenen Gesetze und Regeln aufzustellen. Was harmlos beginnt, wird rasch zu einem System aus Gewalt und Macht, dem sich alle zu unterwerfen haben. Nur Mila will sich nicht beugen und wird zur Außenseiterin, die bis zum Ende für das Gute kämpft. Lucia Leidenfrost entwirft in ihrem ersten Roman eine unheimliche und vielstimmige Parabel. Das Dorf könnte überall stehen, zu jeder Zeit. Gerade das verleiht dem Roman eine durchdringende Aktualität. Doch so düster die Aussichten auch sein mögen, die Hoffnung leuchtet kraftvoll wie ein Stern in der Dunkelheit. "Wir umarmen uns zum Abschied, stecken nach der Umarmung unsere Hände in die Hosentaschen. Wir spüren noch den Druck ihrer Körper auf unserer Brust. Jetzt steigen sie ins Auto, jetzt startet der Motor, jetzt fahren sie los."
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Seitenzahl: 204
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Lucia Leidenfrost
Roman
(Wir)
(Mila)
(Mila)
(Mila)
(Lidia)
(Mila)
(Mila)
(Wir)
(Die Grimmeisen)
(Wir)
(Mila)
(Eltern)
(Wir)
(Pfarrer)
(Wir)
(Wirtin)
(Wir)
(Wir)
(Mila)
(Automechaniker)
(Mila)
(Mila)
(Wir)
(Großmutter)
(Wir)
(Eltern)
(Wir)
(Mila)
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(Wir)
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(Automechaniker)
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(Wir)
(Wir)
(Mila)
(Pfarrer)
(Wir)
(Wir)
(Wir)
(Mila)
(Wir)
(Wir)
(Mila)
(Lehrer)
(Mila)
(Schmied)
(Wir)
(Mila)
(Wir)
(Mila)
(Wir)
(Wir)
Dank
Wir umarmen uns zum Abschied, stecken nach der Umarmung unsere Hände in die Hosentaschen, als würden wir so die Berührung von Mutters Rücken und Vaters Schultern in den Händen behalten können. Wir spüren noch den Druck ihrer Körper auf unserer Brust. Jetzt steigen sie ins Auto, jetzt startet der Motor, jetzt fahren sie los. Mutter winkt aus dem offenen Fenster. Der Schotter spritzt, weil es Vater immer so eilig hat. Wir winken ihnen nach. Jetzt verschwinden die Eltern um die nächste Kurve. Wir stehen trotzdem da und winken noch immer. Jetzt hören wir das Auto schon nicht mehr. Großmutter hat sich umgedreht, geht zurück zum Haus. »Kommt jetzt«, ruft sie von der Haustür. Immer noch stehen wir da: Wir warten darauf, dass das Auto zurückkommt, dass die Eltern umkehren, uns mitnehmen oder sagen: Nein, Kinder, wir bleiben bei euch, ein Leben ohne euch, das schaffen wir nicht! Wir werden uns in die Küche setzen und wie jeden Tag Suppe schlürfen und der Vater wird Gelegenheitsarbeiten annehmen und wir werden glücklich sein. »Nicht nur so ein bisschen wie früher, sondern richtig glücklich. Denn es gibt nichts Schlimmeres«, sagte der Vater vor einem Jahr, »als die eigene Familie hinter sich zu lassen.«
Manche von uns haben die Hoffnung aufgegeben, das spüren wir. Wie sie ihre Schultern hängen lassen, wie sie ihre Füße auf den Boden setzen, wie sie sich nicht mehr nach dem Auto umsehen.
Jetzt ist es sehr ruhig, kein Motorengeräusch, kein Knirschen auf dem Schotter, nicht einmal die Großmutter hantiert in der Küche. Dort, wo die Eltern mit dem Auto um die Kurve gebogen sind, flirrt die Luft.
Der Großvater erschlägt eine Bremse auf seinem Unterschenkel. Das klatscht, dann ist es wieder still. Auch er dreht sich um und geht zum Haus. Wir stehen allein da, sehen noch immer in die Kurve und können es nicht glauben: Unsere Eltern haben nicht einmal versucht, uns zu versprechen, dass sie uns mitnehmen werden.
Wir sind neunzehn Kinder in unserem Dorf. Unser Dorf hat achtundzwanzig Häuser. Sechzehn Häuser sind nicht mehr bewohnt. Obwohl die Schule nie richtig bewohnt war und das Rathaus vielleicht auch nicht zählt. In unserem Dorf gibt es noch Pferde und Kühe. Unsere Großeltern kümmern sich um die Tiere. Wir müssen trotzdem manchmal helfen. Unser Dorf hat eine Kirche, nur keinen Pfarrer. An manchen Sonntagen oder wenn jemand stirbt, kommt einer aus dem Nachbardorf. In den bewohnten Häusern leben wir. Im letzten Haus vor dem Wald lebt der Bürgermeister mit seinen drei Töchtern. Daneben ist Annis Haus. Anni ist schon lange fort. Gegenüber von Annis Haus ist das Haus der Friseurin. Da wohnt noch eine Großmutter und die Friseurstochter. Alle anderen Häuser in dieser Straße sind unbewohnt. Auf dem Dorfplatz leben noch der Fleischhacker und die Grimmeisen. Bei der Grimmeisen kaufen wir Zucker, Öl und Mehl. Das Arzthaus ist zu Juris Haus geworden. Der Arzt war der Erste, der unser Dorf verlassen hat. Wir haben ihn ausgelacht, als er seine Koffer im Auto verstaut und seinen Hut zurechtgeschoben hat. Wir haben oft über den Arzt gelacht. Zu dieser Zeit haben uns die Erwachsenen noch ausgeschimpft, wenn wir über jemanden gespottet haben. Sieben von uns haben eine Großmutter oder einen Großvater oder sogarbeides. In unserem Dorf gibt es noch insgesamt zwölf Erwachsene. Aber vielleicht zählen die Alten gar nicht mehr richtig zu den Erwachsenen, dann sind es nur noch drei.
Wir waren einmal echte Kinder. Jetzt stapeln wir Holz in unsere Öfen, suchen nach kleinen Holzstücken und Papier. Wir nehmen das Streichholz zwischen Daumen und Zeigfinger und halten die Zündholzschachtel mit der anderen Hand. Schnell ziehen wir die Streichholzspitze über den braunen Streifen an der Seite der Schachtel. Wir versuchen es so oft, bis es uns gelingt und das Streichholz Feuer fängt. Wir führen es vorsichtig in den Ofen zum Papier. An manchen Tagen drückt dann der Rauch in unsere Küchen. Der Rauch wandert über den Boden und es riecht wie in einer Räucherkammer
Wir stellen Töpfe auf den Ofen. Wir kochen darin Suppen und Kartoffeln. Wir hieven die größten Töpfe darauf, wenn wir Windeln, Hosen und Unterhemden auskochen müssen.
Wir gehen nicht mehr in die Schule, seit der Lehrer fortgegangen ist. Das Schultor ist himmelblau gestrichen. Hinter dem Tor gibt es einen Hof, mitten auf dem Hof steht ein Kastanienbaum. Rund um den Baum haben wir vor Jahren eine Bank aus Holz gebaut. Eine grüne Tür führt in die Klassenzimmer. Wir haben den Boden gewischt, bevor der Lehrer gegangen ist. Damit der Nachfolger in eine ordentliche Schule kommt. Der Lehrer ist schon lange fort. Zuerst haben wir die Nächte gezählt: zwei Nächte, seit wir keine Schule mehr haben, vier Nächte, zehn Nächte. Nach der dreißigsten Nacht sind wir über das Tor geklettert. Wir haben durch die Fenster geschaut. In den Klassenzimmern stehen die Stühle immer noch so auf den Tischen, wie es uns der Lehrer befohlen hat. Die Tafeln sind grün und leer, die Wände sind bunt von unseren Zeichnungen. In der Schule hat es immer ein bisschen gerochen. Nach Linoleumboden, Kreide, nach Büchern und Schweiß. Manchmal war es stickig. Es hat nie nach Zigaretten und warmem Fett gerochen. Wir sind über das himmelblaue Tor wieder aus dem Schulhof geklettert.
Als der Lehrer noch da war, haben wir ihn höflich auf der Straße gegrüßt, wenn wir ihm begegnet sind. Mit unserem Lehrer haben wir nicht nur in der Schule gelernt. Einmal sind wir zum Haus des Bürgermeisters gegangen und durften seine Bienenstöcke ansehen. Die Bewegungen des Bürgermeisters waren langsam, als er die Waben aus dem Bienenstock gehoben und uns gezeigt hat.
Im Sommer vor drei Jahren sind wir mit unserem Lehrer an den Weiher gegangen und haben dort Schwimmen gelernt. Zuerst haben wir nur im Gras geübt. Wie Frösche haben wir unsere Beine bewegt. Das Gras hat uns dabei an den Oberschenkeln gekitzelt. Wir haben einen ganzen Vormittag lang geübt. Am nächsten Tag erst hat uns der Lehrer ins Wasser gelassen. Er hatte mit Schnüren Steine an Benzinkanistern und großen Wasserflaschen befestigt, an denen wir uns festhalten sollten. Dann haben wir die Bewegungen wie der Frosch gemacht und täglich mit ihm geübt, bis die meisten von uns schwimmen konnten. Der Lehrer ist gegangen, noch bevor alle von uns alt genug waren, um auch in die Schule zu gehen.
Er hat uns gelobt, wenn wir sauber in die Schule gekommen sind oder unsere Hausaufgaben gemacht haben. Manchmal hatten wir auch Streit mit ihm.
Einmal haben wir deshalb Teile eines roten Ameisenhaufens unter seine Bettdecke gelegt. Wir hatten den riesigen Haufen am Waldrand entdeckt. Wir haben den Ameisenhaufen mit einer Schaufel aus Metall in Dosen gefüllt. Wir haben darauf geachtet, dass viele Ameisen darunter waren. Am nächsten Tag ist der Lehrer nicht zum Unterricht gekommen, stattdessen hat der Bürgermeister das Klassenzimmer betreten. »Der Lehrer ist in die Stadt gefahren, um etwas Wichtiges zu erledigen«, hat er gesagt. Auf dem Gesicht des Bürgermeisters hat sich ein Schatten ausgebreitet. Mila hat ganz vorne gesessen und sich in diesem Augenblick kleiner gemacht. Er hat uns Bilder von Menschen gezeigt, die mit Säure überschüttet worden sind. Er hat uns angesehen und zuerst noch ruhig gesagt, dass er weiß, was wir mit dem Lehrer gemacht haben. Dann hat uns der Bürgermeisterlange angeschrien.
Wir erinnern uns kaum noch daran, dass es richtige Erwachsene in unserem Dorf gab. Juris Mutter zum Beispiel kam einmal, um ihm seine neue Schwester zu bringen. Er hat sie nicht erkannt. Sieben von uns haben noch Großeltern und Mila und ihre Schwestern haben noch einen Vater. Er ist der Bürgermeister.
Wir wollen von den Erwachsenen nicht mehr gestört werden. Wir lassen sie nicht in unsere Häuser. In unseren Häusern wohnen in den Küchen Mäuse. Sie knabbern am alten Brot und knistern mit dem Brotpapier. In der Nacht hören wir ihre kleinen Schritte. Wenn wir sie hören, dann fürchten wir uns nicht. Erwachsene mögen Mäuse nicht. Wir haben ihnen nicht von unseren Mäusen erzählt.
Unsere Väter und Mütter schicken Geld und Pakete. Sie haben woanders wieder Arbeit gefunden. Seither bauen unsere Großeltern hier und da noch ein neues Fenster in ein Haus ein, weil es so zieht, oder einen neuen Trakt an, für die, die wieder zurückkommen sollen. Unverputzt stehen die Ziegelmauern da, manche nur so hoch wie die Kleinsten unter uns, und warten auf bessere Zeiten und darauf, dass sie jemand von innen heizt.
Außer dem Lehrer sind noch gegangen: der dünne Bäcker mit seiner Frau, in deren Hof wir uns immer geschlichen haben. Wir haben gewettet, wer es diesmal schafft, unbemerkt Rosinen und Teig zu stehlen. Mit den Rosinen und dem Teig sind wir auf Bäume geklettert und wenn die Bäckersfrau uns erwischt hat, haben wir damit nach ihr geworfen. Es ist außerdem schon fort: unsere Friseurin mit den großen Ohrringen, die nicht darauf geachtet hat, wie sie uns an den Haaren gezogen hat, wenn sie uns gekämmt hat. Einmal hat einer von uns nach den Ohrringen gegriffen. Sie ist rechtzeitig zurückgewichen. Die Friseurin hat als Einzige ihr Kind mitgenommen. Sie hat es später wieder zurückgeschickt. Es steht meistens in einer Ecke, ist scheu geworden in der Fremde und schaut uns nur mehr beim Spielen zu.
Der Automechaniker mit seinem Schnauzbart ist auch nicht mehr hier. In seiner Werkstatt hat es nach Öl gerochen und wir durften ihm die Werkzeuge unter die Autos reichen. Knapp waren seine Ansagen und seine Hände schmutzig. Wir sind stundenlang bei ihm geblieben, haben uns in die kaputten Wagen gesetzt und die Kupplung durchgedrückt, als wäre sie das Gaspedal.
Geblieben sind: der Pfarrer aus dem Nachbardorf, der an manchen Sonntagen von Sünde und Vergebung predigt, der Bürgermeister, der im Rathaus sitzt, aufschreibt, wenn jemand geht oder stirbt und uns mit den Eltern telefonieren lässt, der Schmied, der noch immer mit einem Pferd arbeitet, der runzlig geworden ist in seiner verrußten Werkstatt. Schon seit Jahren macht er nichts anderes mehr, als die Hufe der Pferde zu beschlagen, damit unsere Großeltern mit ihnen pflügen und einmal im Jahr in die Stadt fahren können. Außerdem sind noch hier: der Fleischhacker, der nur noch darauf wartet, dass endlich auch die letzten Gäule bei ihm abgegeben werden, wir ihm unsere letzten Kühe bringen, bis er alles geschlachtet hat, was sich zu schlachten lohnt. Er steht noch jeden Tag hinter dem Tresen. Die Messer sind scharf, die neben seiner Vitrine liegen. Die Vitrine ist meistens leer und seine Schürze haben wir noch nie blutverschmiert gesehen. Manche von uns glauben sich noch daran zu erinnern, dass er ihnen immer Wurst zu kosten gegeben hat. Die Wurst war grob und würzig, die Hände danach fettig.
Wenn man überleben möchte, sagt der Schmied immer, dann muss man erfinderisch sein. Er sagt auch, dass früher andere Regeln gegolten haben und es früher besser war. Früher, sagt der Schmied, da gab es noch eine Struktur über den Tag und Respekt vor den Alten. Wir mögen den Schmied nicht besonders. Wenn wir über die Straße wollen, wenn wir fangen spielen oder wenn wir jemandem hinterherjagen, dann ist es immer der Schmied, der sich uns in den Weg stellt. Wir bremsen ab, wir bleiben stehen. Wir hören uns seine Vorstellung von der Welt an. Der Schmied kennt keine Angst, auch nicht vor uns und unseren Füßen. Wir laufen so schnell, dass wir ihn einmal zertrampeln. Wir laufen so sicher, dass wir ihn umhauen.
Wir haben uns den Schmied trotzdem zum Vorbild genommen. Es sieht heldenhaft aus, wie er in seiner Werkstatt vor dem Feuer steht und das glühende Eisen mit einer Zange herausnimmt. Er hat seine Regeln. Wir haben auch unsere Regeln. Mit unseren Regeln streichen wir durchs Dorf. Wir wissen, wie wir uns zu benehmen haben. Seit wir unsere Regeln haben, ist vieles leichter geworden in unserem Dorf. Wenn wir streiten, wissen wir, was wir tun. Wir vermeiden es zu streiten. Manchmal passiert es uns doch.
Wir bauen uns auf. Wir verschränken die Arme vor unserer Brust, wir schauen auf die Kleine herab. Sie liegt auf dem Boden. Wir stellen unsere Füße auf ihren Körper. Wir achten dabei darauf, unser Gewicht nicht auf den Fuß zu verlagern, der auf ihr steht. Wir werden es nicht dulden, wenn unsere Regeln missachtet werden. Wir haben beschlossen, dass den Älteren nicht widersprochen wird. Wenn wir uns nicht an unsere Regeln halten, werden wir im Chaos untergehen, wissen die Großen. Wir glauben ihnen. Sie haben schon Flaum auf dem Kinn und Haare unter den Achseln. Wir werden niemanden schlagen, haben wir versprochen. Die kleinen Kinder dürfen nicht kratzen und beißen und tun sie es doch, befehlen wir ihnen, was sie zu machen haben. »Iss!«, sagen wir deshalb zu ihr und sie wird essen. Wir nehmen unsere Füße von ihr. Die Nacktschnecke legen wir ihr auf die Zunge. Es würgt uns, als wir beobachten, wie sie anfängt zu kauen. Jetzt drückt es uns in der Kehle. Gleich wird einer von uns sich übergeben, obwohl sie die Schnecke kaut, obwohl wir ihr nur dabei zusehen. Einer von uns wird hier sicher gleich seinen Mittagseintopf vermengt mit Magen- und Gallensaft auf den Boden spucken und Fäden werden ihm aus dem Mund hängen. Sie kaut die Nacktschnecke so lange, als wäre es wirklich gut, was sie da im Mund hat. Jetzt schluckt sie und jetzt lächelt sie uns überlegen an. »Schmeckt gut«, sagt sie, steht auf und geht Richtung Dorfplatz. Wir sehen auf den Schotter, wir erkennen noch die Steine, die ihren Körper umgeben haben. Auch wir gehen weg, verlieren uns in den schmalen Gassen und Mila bleibt allein zurück, schaut auf die trockene Stelle und ihre Beine werden dabei zittrig.
Milas Beine zittern. Über ihr fliegen blecherne Vögel. Vor ihr verschwimmt die Straße und wird zu einem Fluss, der sie mitreißt, weil sie die Schnecke nicht isst. Die Füße der Kinder stehen auf ihrem Körper. Sie soll ihren Mund öffnen, ihre Zunge herausstrecken. Mila wehrt sich und das Wasser treibt sie zum Glück von den anderen fort. Und plötzlich merkt Mila, wie warm das Wasser ist und wie sanft es sie Richtung Wald trägt. Wie das Wasser es nicht zulässt, dass sie jemand einholt. Milas Beine machen mit, stoßen sich im Wasser ab. Hinter einer Hauswand duckt sie sich weg, entkommt den Blicken der anderen, entwischt den Rufen der Schwestern. Ihre Beine erreichen die Wiese. Dahinter ist der Wald. Im Wald wiegen sich die Bäume sanft im Wind. Im Wald kann man sich verstecken, in Deckung gehen, man ist geschützt vor den fragenden Blicken der Schwestern, vor den Bestrafungen der Älteren. Im Wald ist der Boden weich und nicht hart wie der Schotter auf der Straße. Im Wald riecht es nach warmen Nadeln und der Waldboden auf den Wegen ist diesen Sommer aufgesprungen wie Milas Haut an den Händen vom Arbeiten oder vom Winter. Mila setzt sich auf den Waldboden. Sie lehnt sich gegen einen Baum und schaut in seine Krone. Durch die Äste und Blätter sieht sie den hellgrauen Himmel. Jetzt erst fällt ihr auf, wie die Bäume um sie herum größer geworden sind. Hier ist der Nieselregen noch immer nicht bis auf den Boden gelangt. Mila versteht nicht alle Regeln, die es im Dorf gibt. Sie versteht die Regeln des Vaters nicht und die neuen Regeln der anderen Kinder nicht. Vaters Regeln sind Stillsein und Bravsein. Mila und ihre Schwestern können das nicht immer. Mila darf dem Vater nicht widersprechen, die Schwestern dürfen keine neuen Wörterbenutzen, die sie im Dorf hören.
Heute fühlt sich der Boden unter ihr so anders an. Er ist viel härter und die Luft ist plötzlich so geruchschwanger, dass es ihr fast den Atem nimmt. Noch immer zittern Milas Beine, sodass sie nicht aufstehen und weglaufen kann. Nicht einmal vor den Käfern, die sich um sie herum scharen, die über den Stamm zu ihrem Kopf laufen, die schon fast ihre Beine erreicht haben.
»Mila«, flüstert der ganze Wald, »du gehörst zu mir, du kannst hier nicht mehr fort.« Mila will nicht wie der Vater werden. »Mila«, flüstert der Wald wieder, »du gehörst zu mir«, und während er ihr eintrichtert, dass sie nicht fortkann, dass es kein Entkommen gibt, schreit jemand. Mila schafft es, springt auf und läuft los. Sie spürt Kraft in sich, die sie doch fortbringt, aus dem Wald heraus auf die nasse Wiese. Sie streckt ihr Gesicht dem Himmel entgegen, der Nässe. Langsam geht Mila nach Hause zu ihren Schwestern, der Katze, der Kuh und dem Vater mit seiner Spinne, und mit jedem Schritt, den sie Richtung Haus macht, schwindet der Schrecken und seine Energie.
Vaters Spinne lebt schon lange unbemerkt auf seinem Rücken. Eines Tages hat sie sich dort eingenistet, baut seither keine Netze mehr, sondern ernährt sich von den Stimmungen des Vaters. Sie frisst seine guten Stimmungen, kommt hervor, wenn Vaters Laune schlecht wird. Die Spinne greift mit ihren Beinen nach seinen Augen, in seinen Mund, steckt sie ihm in die Ohren. Deshalb ist er selten in einer guten Art still. Alle guten Gefühle hat er an die Spinne abzugeben.
Mila und ihre Schwestern lieben den Vater, sie beten ihn an, sie weichen ihm aus, laufen vor ihm davon, schleichen sich in die Räume, in denen er sich aufhält. Sie reden mit gedämpfter Stimme. Sie sprechen nie direkt mit dem Vater, schauen ihm nicht in die Augen und vor allem sprechen sie nie über den Vater. Noch nie hat Mila oder eine ihrer Schwestern ein gutes oder schlechtes Wort über den Vater verloren. Überall hat er seine Ohren. Man kann sich nicht sicher sein, was er hört und wie er es versteht.
Milas Vater ist der oberste Mann im Dorf. Er hat noch Arbeit. In seinem Büro steht ein Telefon. Wenn die Kinder aus dem Dorf mit ihren Eltern telefonieren wollen, müssen sie ins Rathaus zum Vater gehen. Dort verwaltet er den Familienkontakt. Der Vater telefoniert auch mit der Stadt und fragt nach, wann sie einen neuen Lehrer schicken. Er berichtet, wie viele Leute abgewandert sind. Wenn er mit der Stadt telefoniert, ist seine Stimme nicht laut und sicher, sondern dünn und leise. Er wählt seine Formulierungen bedacht. Manchmal denkt er so lange nach, dass die Stadt schon wieder aufgelegt hat, bevor Milas Vater etwas gesagt hat.
Milas Vater ist vierzig Jahre alt, vielleicht jünger, vielleicht älter. Er ist jedenfalls im besten Alter, sagen die Großmütter und Großväter, deshalb haben sie ihn zum Bürgermeister gemacht. Der Vater bekommt zwar ganz wenig Lohn für seine Arbeit, er macht trotzdem alles, was er kann. Erst gestern hat er irgendwoher Schutt und Erde bekommen. Mit einem Pferdewagen und dem Fleischhacker ist er durch die Straßen gezogen und hat Schutt und Erde in die Schlaglöcher geleert. Oben vor dem Rathaus haben sie begonnen. Das Pferd war langsam, der Fleischhacker stützte seine Hände über Kreuz auf die Schaufel, der Vater wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Schutt und Erde haben nicht bis zu Milas Haus gereicht, es sind viel zu viele Löcher in den Straßen.
Wenn der Vater wütend wird, breitet sich der Schatten der Spinne in seinem Gesicht aus, zuerst auf der Stirn, dann über den Augen, auf der Nase, dem Mund. Der ganze Vater wird dann dunkler.
Mila kennt die Spinne schon. Sie sieht sie, wenn der Vater wütend wird, sie weiß schon, wenn sie wieder ihre Beine auch nach ihr ausstreckt, ihre Augen sie fixieren. Mila nimmt dann die kleine Schwester auf den Arm und die andere Schwester an der Hand. Sie gehen vor die Tür. Dort warten sie, bis der Vater genug Teller zerbrochen hat. Dafür nimmt der Vater die Teller wie ein Frisbee in die Hand und wirft sie gegen die Wand. Einmal ist ein Teller aus dem Fenster geflogen. Zuerst hat das Fensterglas geklirrt, dann der Teller, als er auf dem Boden aufschlug. Seither zieht es in der Küche. Zum Glück kochen sie dort. So ist es in der Küche meistens warm vom Dampf.
Im Wohnzimmer sitzt Milas Mutter und strickt eine neue Decke für das Baby in ihrem dicken Bauch. Die Decke ist dunkelgrün und aus dem Bauch wurde die kleine Schwester. Sie musste mit einer Flasche gefüttert werden, wie kleine Kätzchen, wenn sie aus ihrem Nest fallen. Der Vater musste deshalb oft in die Stadt fahren. Der Vater wickelte das schreiende Kind in der Decke zu einem Bündel, das Bündel schrie trotzdem. Wenn der Vater in die Stadt fuhr, blieben Mila und ihre andere Schwester mit dem kleinen Bündel allein. Seine Beinchen und Ärmchen waren stärker als das Gewickle des Vaters und es befreite sich daraus und sein Kopf wurde beim Schreien ganz rot und die Fäustchen waren geballt. Mila und die Schwester konnten das schreiende Baby kaum halten. Denn beim Schreien konnte es sich verkrampfen und drehen. Aber das Baby lächelte auch, wenn man es gewickelt hatte. Es gluckste und quieckte, wenn man ihm ein Glöckchen vor die Augen hielt und es klingeln ließ. Bevor es einschlief, quengelte es, und sobald es greifen konnte, steckte es alles in den Mund. Wenn es schlief, dann lagen seine winzigen Fäustchen immer neben seinen Ohren. Eines Nachts, da konnte es schon sein Köpfchen heben, legte es der Vater in Milas Bett und sagte, dass die Schwester groß genug ist, dass Mila ab jetzt immer auf sie aufpassen kann.
Am nächsten Tag saß die Mutter im Wohnzimmer. Möbelstücke hatte der Vater weggestellt und die Mutter dafür an der Wand befestigt. Seither sitzt die Mutter strickend im Wohnzimmer und lächelt zu jeder Zeit in den Raum.
Noch sind die Glieder steif und müde, noch gibt es nichts, was Mila davon überzeugt, aus dem Bett zu steigen, sich anzuziehen, das Frühstück zu machen. Sie liegt da wie ein Stein, spürt eine Schwester schlafwarm mit ihr Rücken an Rücken, die andere berührt sie mit ihren Zehenspitzen. Den Vater hört sie schon aus dem Schlafzimmer husten. Die kleine Schwester liegt am Fußende. Mila hat sie heute Nacht dort hingeschoben, damit sie mehr Platz hat. In der Nacht zappelt und streckt sie sich so, dass sie einmal quer und einmal gerade im Bett liegt. Leise deckt Mila sich auf, vorsichtig steigt sie aus dem Bett, stellt ihre nackten Füße auf den Boden, sucht nach ihren Socken. Sie sind unters Bett gerutscht.
Mila steht in der Küche. Die Katze trinkt ihre Milch. Der Vater hustet lauter. Die Milch für die Schwestern auf dem Ofen dampft noch nicht. Mila stellt Brot und Marmelade auf den Tisch, kocht Kaffee für den Vater. Die Schwester tappst in die Küche. Sie setzt sich auf die Bank.
»Müde?«
Sie schüttelt den Kopf, macht ein ablehnendes Geräusch. Noch will sie nicht sprechen. Noch ist es zu früh. Mila legt größere Holzstücke in den Ofen, stellt sich davor und fühlt die Wärme auf ihrem Bauch und ihren Oberschenkeln. An der Wand hängt Vaters Schlüsselbund. Sonst hängt er ihn nie dorthin, schon lange nicht mehr. Die Schwester hat ihren Kopf in beide Hände gelegt und die Augen zu. Mila nimmt den Schlüsselbund und steckt ihn sich in die Rocktasche.
Beim Frühstück schweigen sie wie immer. Der Vater wird bald aus dem Haus gehen, die Straße entlang, jedes Schlagloch vermeidend. Bald wird er nach den Schlüsseln in seiner Hosentasche greifen. Er wird in der einen Hosentasche und dann in der anderen danach suchen. Er wird sich auch an die Brusttasche greifen. Zum Aufsperren der Tür ins Rathaus wird ihm heute der Schlüsselbund fehlen. Dann wird die Spinne dem Vater das Gesicht verdunkeln und der Vater wird wütend und gefährlich sein.
»Wir gehen heute zur Tante«, sagt Mila deshalb. Dabei schaut sie in ihre Tasse, steht auf und beginnt die Schüsseln der Schwestern abzuräumen. Eine Schwester möchte protestieren, die Milch ist noch nicht ausgetrunken, aber Mila sieht sie an und die Schwester verstummt. Sie hat schon gelernt, dass sie ihrer großen Schwester nicht in jedem Moment widersprechen darf. Der Vater blickt kaum auf, nickt. Die Tante wohnt im Dorf über dem Fluss. Sie wohnt nah an der Brücke zum zerstörten Dorf, in das man nicht gehen darf. Tante Tatiana sagt immer, dass es drüben noch etwas zu holen gibt. Es solle aber alles vermint sein. So wie die Stimmung des Vaters, bei jeder Bewegung könnte er explodieren und heute wird er ganz sicher explodieren. Mila lässt das Feuer ausgehen und sie legt die Bücher in ihrem Zimmer unter das Bett.