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In achtzehn Kurzgeschichten kommen Menschen zu Wort, die zeit ihres Lebens versäumt haben zu sprechen. Es sind Täter und Opfer, Sehnsüchtige und Missverstandene, Einsame und Trauernde, die erst in hohem Alter mit der Vergangenheit hadern und mühselig ihre Erinnerung ans Licht bringen. Sie sprechen von Geheimnissen, Fehlern und Missverständnissen, von verlorenen Lieben, von Kriegserfahrungen und Schuld. Sie alle verbindet die Schwierigkeit, Vergangenes in Worte zu fassen, und eine tiefe Sehnsucht nach dem Leben. Mit großem Feingefühl und bildgewaltiger Sprache entwirft Lucia Leidenfrost ein Psychogramm der österreichischen Nachkriegszeit. Fast hört man die Stimmen ihrer Figuren, so genau trifft sie deren Ton. Bemerkenswerte Geschichten voller Schönheit, Melancholie und einer Ahnung von Hoffnung. "Meine Erinnerung könnte eine Eule sein. Tagsüber macht sie nur ein Auge auf, um zu sehen, wer ihr nahekommt, aber in der Nacht wartet sie, bis die Mäuse über den Waldboden huschen. Lautlos gleitet sie hinab und greift zu mit ihren Klauen."
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Seitenzahl: 168
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Lucia Leidenfrost
Mir ist die Zunge so schwer
Lucia Leidenfrost
Erzählungen
www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-01069-6
eISBN 978-3-218-01072-6
Copyright © 2017 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer
Unter Verwendung eines Schriftzugs von shutterstock/iralu und
einer Grafik von shutterstock/photosoft
Lektorat: Tanja Raich
Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, www.typic.at
Erdbeer-Rhabarber null sechs
Gefangenspielen
Flugübungen
Die vom Bach
Friedrich
Janek
Hans Warum
Derisch
Mir ist die Zunge so schwer
Lass dir eine Geschichte erzählen
Kalbin
Im Keller brennt ein Licht
Heimweg
Karfreitag am Sonntag
Vorm Jüngsten Gericht
Untergänge
Vogelfrei
Goldene Zeiten
Für meine Großeltern, ihr Vermögen, Geschichten zu erzählen, ihr Wissen um deren Wichtigkeit
Weißt du, welchen Tag wir haben? Donnerstag, nicht Sonntag. Und welchen Monat? Warum weißt du das nicht? Schau doch raus, da siehst du es, schau doch beim Fenster hinaus. Die Äpfel sind schon verblüht. Mitte Mai haben wir. Weißt du überhaupt, welches Jahr? Fast, aber sechsundsiebzig ist nicht schlecht.
Dieses Jahr hab ich noch keinen Rhabarber geschnitten. Der Rücken tut mir seit ein paar Monaten weh. Seither fällt mir das Bücken schwer. Rhabarber mag ich eigentlich nicht. Aber für die Marmelade brauch ich einen.
Ich kann dich nicht heimbringen, warum verstehst du das denn nicht? Du bleibst jetzt hier, wir essen zuerst etwas und dann gehen wir ins Bett. Das haben wir doch immer so gemacht. Kannst du dich denn gar nicht erinnern? Gestern, vorgestern, die letzten zweiundsechzig Jahre war das so.
Ich hab gar nicht gewusst, dass ich noch Marmelade kochen kann. Jetzt steh ich hier und koche unsere Erdbeeren und den Rhabarber ein.
In den siebziger Jahren haben die Leute aufgehört Marmelade zu machen, im Geschäft war die Marmelade billiger. Da waren die Kinder noch jung.
Hier bist du zu Hause, hörst du mir zu? Deine Mutter wartet vielleicht im Himmel auf dich, aber so gut habt ihr euch ja nie verstanden, dass du jetzt gleich in den Himmel musst. Ihr habt euch doch immer gestritten. Weißt du das noch? Zuerst wollte deine Mutter nicht, dass du weiter in die Schule gehst, weil sie dich am Hof gebraucht hat. Sie wollte, dass du dumm bleibst. Dann wollte sie nicht, dass du mich heiratest. Dafür war ich ihr nicht gut genug. Weißt du das nimmer?
Aber Schluss jetzt, das Kapitel mit deiner Mutter haben wir schon lang abgeschlossen.
Über dem Bett ist eine Spinnwebe. Mit dem Besen komm ich nicht hin, aber ich werd mich aufs Bett stellen, dann erwisch ich das Spinnennetz schon.
In der Marmelade schwimmt eine Fliege. Natürlich schwimmt die Fliege nicht mehr. Fliegen fliegen und Fische schwimmen und Schnecken fressen und Spinnen weben und ich, ich steh hier in der Küche und würd dir am liebsten beim Essen zuschauen, oder dir zuhören, wie du mir von dem neu gekauften Traktor oder von den Lausbuben aus der Nachbarschaft erzählst. Ich würd mich am liebsten mit dir aufs Bett legen und deine Haut streicheln, die noch nicht so faltig wäre wie jetzt. Ich würd dich gern spüren, wie früher.
Die ist nie geschwommen, die Fliege in der Marmelade, natürlich nicht. Die fliegen, diese Fliegen, die schwimmen doch nicht!
Riechst du das? Das ist die Marmelade. Das riecht gut und wenn du willst, dann kannst du umrühren, damit sie nicht anbrennt. Da, nimm den Kochlöffel, so, und jetzt rühr ein bisschen. Pass auf, dass es nicht spritzt!
Rühr du nur weiter, ich wärm das Essen auf. Riechst du das? Das sind Fleischlaberl mit Kartoffelbrei, davon haben wir schon zu Mittag gegessen, aber die bringen immer so viel. Riecht das gut! Ich mach uns noch eine Nudelsuppe, dann haben wir sicher genug. Heute hat mir die Sara ein Buch gegeben. Es ist ein Ratgeber für Angehörige. Da steht, dass ich mich auf deine Welt einlassen soll.
Vor dem Essen will ich noch die Spinnwebe wegmachen. Das kostet einige Überwindung, auf das Bett zu steigen und die Spinnwebe mit dem Besen wegzumachen. Vielleicht fällt mir noch was Besseres ein. Bettensteigen kann auch schiefgehen. Hier schlafen wir schon seit zweiundsechzig Jahren. Das geb ich nicht mehr auf, dass wir hier zu zweit schlafen.
Ich könnt auch die Frau fragen, die morgen das Essen bringt, ob sie mir hilft, wenn es eine von den netten ist. Die Sara ist auch eine nette, aber die hat Angst vor allem, was kriecht.
Jetzt iss was! Essen muss der Mensch, sonst fällt er vom Fleisch, und Hunger hab ich genug in meinem Leben gesehen, als dass ich dich jetzt verhungern lasse. Ich sag’s dir, ich werd dich sonst mit Gewalt zum Essen bringen!
Versteh das doch. Zu Hause wohnen jetzt die Kinder von deinem Bruder und die haben genug zu tun. Die haben den Hof doch längst aufgegeben und arbeiten jetzt in Büros, eine ist Krankenschwester, wenn mich nicht alles täuscht. Sie kommen nie rechtzeitig heim, um die Hennen einzusperren, bevor es dunkel wird, hat mir dein Bruder letztes Mal erzählt. Wir haben uns am Friedhof getroffen. Weißt du das noch? Deshalb haben sie nicht einmal mehr Hennen. Er sitzt jetzt im Rollstuhl. Daran kannst du dich sicher noch erinnern? Und er hat eine Polin, die ist Tag und Nacht bei ihm. Wir sollten uns so etwas auch überlegen, wenn das mit dem Bücken bei mir so bleibt.
Bei dir zu Hause hat jedenfalls keiner Zeit, dir auch noch zu erklären, dass du alt bist und deine Mutter seit dreißig Jahren tot ist. Jetzt iss!
Schau her, wenn du das isst, dann bring ich dich heim, ja? Wenn du den Teller da leer isst, brechen wir auf, dann gehen wir zuerst noch ein bisschen spazieren und dann, dann gehen wir zu dir, ja?
Im Garten frisst der Schneck die Erdbeeren und den Salat. Ich steh am Fenster, wenn er das tut, was er immer tut, und denk an die siebziger Jahre. Da hat’s noch keinen spanischen Wegschneck bei uns gegeben. Wenn ich mit jungen Leuten red, mit der Sara zum Beispiel, dann sagen die Schnecke, wo wir immer der Schneck sagen. Ich hab auch mal gehört, dass der Schneck ein Zwitter sein soll. Da passt es ganz gut, dass ich von dem Schneck sprech und die Jungen von der Schnecke, das freut mich immer.
In der Speis stehen Gläser. Darauf steht: Brombeere neunzig oder Ribisel achtundneunzig. Ich hab letztes Jahr Erdbeer-Rhabarber null sechs drauf geschrieben. Dieses Jahr schreib ich: Erdbeer-Rhabarber fünfundsiebzig und nächstes Jahr vierundsiebzig. Aber bis dahin kann noch viel passieren.
Auch wenn ich den Rhabarber nicht mag, ich hab beschlossen, nichts mehr verkommen zu lassen. Früher oder später werden die Nichten das Haus erben oder der Neffe. Auch wenn sie sich nicht um uns scheren, sie sollen trotzdem eine volle Speis vorfinden.
Du kennst mich doch! Da, nimm noch einen Bissen. Warum erkennst du mich denn nicht? Ach so, das hat dir also deine Mutter gesagt, dass man nicht mit fremden Menschen mitgeht. Aber jetzt bist du eh schon hier. Deine Mutter hat dir sicher auch gesagt, dass es verschiedene fremde Menschen gibt. Dass es gute Menschen sind, die dir Suppe geben. Dort kannst du bleiben.
Iss noch einen Löffel von der Suppe. Deine Mutter, die kennt mich, die macht sich keine Sorgen. Du brauchst ihr nur zu sagen, du warst bei mir, dann schimpft sie dich nicht. Da wird sie sogar froh drüber sein, dass du schon was gegessen hast, wo ihr doch so viele seid.
Ich weiß jetzt nicht, was ich mit der Fliege machen soll. Wenn ich sie drin lasse, findet sie später vielleicht einer und schüttet die ganze Marmelade weg. Wenn ich sie raushol, tut sie mir leid, weil sie so wenigstens noch schwimmt. Eigentlich ist die Marmelade für die Fliege ein schönes Grab.
Jaja, später, später darfst du nach Hause, aber zuerst gehen wir noch im Garten spazieren. Lass die Hausschuhe an, ich kann mich nicht bücken. Wir gehen heute einfach so hinaus.
Beim Umrühren hab ich die Fliege jetzt verloren. Ich hätte sie begraben und auf den Grabstein geschrieben: In Süße ertrunken. Was soll’s, jetzt bleibt sie dort, wo sie ist. Und auf unsern Grabstein schreiben wir: Der spanische Wegschneck stirbt aus.
Lass doch die Schuhe an, sonst müssen wir sie morgen wieder anziehen. Das Bücken fällt uns beiden doch so schwer und heute haben wir uns schon genug gebückt beim Erdbeerpflücken. Wein nicht mehr um die verbrannte Marmelade! Rhabarber magst du doch gar nicht.
Mit unseren Kindern haben wir viele Ausflüge gemacht, als sie noch bei uns gewohnt haben. Im Zug haben wir Häuserfangen gespielt mit ihnen. Aber erst nach dem Krieg.
Ich hab als Apotheker zum Glück nicht in den Krieg müssen. Es sind so viele im Krieg gestorben, an der Front und auch zu Hause. Der Edi Holzapfel zum Beispiel ist im Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr verblutet. Der war eingesperrt und erst wie er zu stinken angefangen hat, ist aufgesperrt worden. Davor wär dem schon noch zu helfen gewesen. Der war ja nur angeschossen.
Aber eigentlich wollte ich von meinen Kindern erzählen.
Das Häuserfangen haben wir für sie erfunden. Unseren Kindern konnten wir nicht von den Radiomannderln erzählen, die die anderen Kinder alle kannten. Im Radio, hat’s geheißen, sitzen Mannderl drin, sprechen die Nachrichten und machen Musik. Das hab ich mir sogar als Erwachsener so vorgestellt: Wie sie mitsamt ihren kleinen Instrumenten, auf denen sie grad den Walzer gespielt haben, geduldig herumsitzen, während die Nachrichten von den unbegabteren Radiomannderln gesprochen werden. Das hätt ich meinen Söhnen auch gern erzählt. Aber sie konnten die Mannderl nicht hören.
Stattdessen haben wir eben Häuserfangen gespielt. Das ging so: Wenn wir mit dem Zug nach Linz gefahren sind, hab ich meine Hände vors Fenster gehalten und meinen Kopf ganz nah ans Fenster. Ich hab mit der Hand nach den Häusern geschnappt und sie in meiner Faust gefangen.
Der Edi Holzapfel hat sich versteckt, der wollte nicht einrücken. Der war kein Kommunist, ein Arier wie wir alle im Ort, der wollte einfach nicht an die Front. Der ist als Landstreicher durch die Ortschaften gezogen. Hat die Bauern gefragt, ob er bei ihnen arbeiten kann, ist ein paar Tage geblieben und war dann wieder weg, ohne jemandem zu sagen, wo er als nächstes hingeht. Wenn ich einen Tipp bekommen hab, dann war er dort nicht mehr vorzufinden. Der hat genau gewusst, bei wem er gar nicht erst fragen braucht. Je länger der Krieg gedauert hat, desto vorsichtiger ist er geworden. So hat er sich gut zwei Jahre vor der Front gedrückt. Wir haben ihn immer wieder gesucht und nicht gefunden. Dabei ist er immer in der Nähe gewesen. Wahrscheinlich hat er sogar seine Schwester besucht, die ein krankes Kind hatte.
Am Anfang haben wir nicht gewusst, was nicht richtig ist mit unseren Söhnen, aber später haben wir’s verstanden. Zwei Kinder sind uns gestorben, noch vor dem Krieg. Meine Frau hätt das nicht geschafft, wenn die beiden auch noch weggewesen wär’n. Die hätt selbst nicht mehr leben wollen. So hab ich die zwei halt versteckt. Das war auch gut so. Im Nachhinein.
Weil’s Zwillinge waren und man mit denen ja gern Experimente gemacht hat, hab ich zu meiner Frau gesagt, dass wir was machen müssen. Wir haben gesagt, dass uns die zwei auch weggestorben sind und wir keine Kinder mehr haben. Wir haben sie im Stüberl versteckt. Da kommt man bei uns durch die Stube rein. Das ist der einzige Raum, der nur eine Tür hat. Deshalb haben wir einen Kasten vor die Tür gestellt, haben in die Rückwand eine Tür eingebaut und dann nur Tischdecken, Bettdecken, leichtes Zeug halt, reingelegt. In dem Zimmer dahinter haben unsere Kinder dann gelebt. Fünf Jahre lang. Wenn jemand gefragt hat, was wir mit dem Stüberl gemacht haben, haben wir gesagt, dass man jetzt vom Schlafzimmer dorthin kommt. Meine Frau hat in der Zeit selten bei mir geschlafen.
Die Vorhänge waren sogar am Tag zugezogen, obwohl das Fenster nur in den Hof geht. Vielleicht hat aber doch jemand was mitgekriegt. Der Edi hat’s ja gewusst und seine Schwester auch. Da werden’s andere auch gewusst haben.
Wir haben gehofft, dass der Krieg endlich vorbei geht und wir die Kinder wieder normal spielen lassen können.
Und nach dem Krieg haben wir ihnen dann die Welt gezeigt, Ausflüge gemacht, jeden Samstag. Überall sind wir hingefahren, mit dem Zug oder dem Bus. Bad Ischl, Salzburg, Ried und sogar nach Mauthausen haben wir uns getraut. Zum Zeitvertreib hab ich meine Hand vors Fenster gehalten. Wenn die Häuser in meiner Hand waren, dann hab ich sie ganz schnell zugemacht und da waren dann die Häuser in meiner Faust. Da drin, hab ich zu meinen Söhnen gesagt, da drin sind jetzt die Häuser.
Zweimal waren wir in Mauthausen. Einmal, als das noch gar keine Gedenkstätte war und einmal, als die Kinder schon größer waren.
Von Wels nach Linz ist es nicht weit und von Linz nach St. Valentin und von dort nach Mauthausen, alles nicht weit, alles nur ein Katzensprung, und die Häuser schauen dort ganz anders aus. Beim zweiten Mal waren wir dort, damit sie sehen, dass sie überlebt haben, damit sie wissen, warum sie fünf Jahre nur uns gehabt haben.
Wenn wir den Edi schneller gefunden hätten, hätten wir ihn nach Mauthausen geschickt. Da hätten wir das anders gemacht. Ich weiß nicht, was den getrieben hat. Der Edi hat sich nicht aus christlichen Gründen dagegengestellt, oder weil er ein Zeuge oder was anderes war, der hat das einfach aus Überzeugung gemacht, der wollte einfach nicht in den Krieg und damit basta. Dann hat er sich eben verstecken müssen.
Ich hab immer gewusst, dass das mit den Kranken und Behinderten ein Blödsinn vom Hitler war. Aber mit den Juden hat er schon irgendwie recht gehabt und vom Zusammenhalt hat der auch was verstanden, da hat jeder seine Pflicht gehabt. Die Pflicht vom Edi wär gewesen, fürs Vaterland zu kämpfen. Wir sind endlich wieder wer gewesen im Deutschen Reich. Österreich hätt ja gar nicht überleben können, so klein und eingepfercht zwischen dem Deutschen Reich und Italien. Der hat schon sehr gute Ideen gehabt, der Hitler. Und wenn sich wer gedrückt hat, hab ich das genauso wenig mögen wie der Führer.
Der Edi wär wahrscheinlich auch gern eins von den Radiomannderln gewesen, als er sich zwei Jahre lang versteckt hat. Ich hab mir oft gewünscht, dass unsere Kinder so klein werden und leise bleiben wie die Radiomannderl. Ich hab mir manchmal sogar gedacht, dass es besser wäre, wenn ich sie nicht versteckt hätt. Aber dann hab ich an meine Frau gedacht, die das nicht verkraftet hätt und dann hab ich ihnen halt den Mund zugehalten, wenn sie geschrien haben. Auch wenn das jeder immer denkt, nur weil einer taub ist, ist er nicht gleich stumm.
Im Mai vierzig haben wir unsere Söhne pro forma begraben. Zwei kleine leere Särge, sie waren damals eineinhalb Jahre. Meine Frau hat sogar wirklich geweint. Vielleicht weil sie gewusst hat, wie das jetzt wird die nächsten Jahre. Niemanden haben wir mehr zu uns eingeladen, dünner sind wir geworden, wir konnten ja nicht für vier einkaufen, meine Frau hat selten in unserem Bett geschlafen, damit in der Nacht gleich jemand bei ihnen ist.
Als wir das Grab aufgelassen haben und wir unsere Söhne endlich wieder aus dem Versteck geholt haben, da ist die Berger, die Schwester vom Edi, mal zu uns in die Apotheke gekommen. Sie hat mir den Brief hingelegt, den sie vor Kriegsende an die Gestapo geschrieben, aber nicht mehr abgeschickt hat. Da, hat sie gesagt, der ganze Ort hat von deinen Kindern gewusst und vom Edi hat auch jeder gewusst und hätten nicht alle drei –
Die Schwester vom Edi hat oft wegen dem Kind zu uns in die Apotheke müssen. Sie hat nicht gegrüßt, die Medikamente immer ganz genau angeschaut, den Zettel vom Arzt mit den Medikamenten verglichen, sich weder bedankt noch verabschiedet. Sie hat mir einfach den Zettel auf den Tresen gelegt. Ich hab der Berger nach dem Krieg immer doppelt so viele Tabletten zum gleichen Preis in die Schachtel gestopft. Die hat mir leidgetan und das Kind obendrein. Aber bedankt hat sie sich nie dafür. Kein einziges Mal.
Beim ersten Mal, als wir nach Mauthausen gefahren sind, haben Blumen in meinen Händen geblüht. Wir sind mit den Kindern nach Linz gefahren, haben uns Wurstsemmeln gekauft, sind umgestiegen in den Zug nach St. Valentin und dann weiter nach Mauthausen.
Da drin, hab ich gesagt und die Faust meinen Söhnen gezeigt, da drin sind jetzt die Häuser und die Bäume. Meine Söhne haben auf meine Faust geschaut und drauf gewartet, dass ich sie endlich öffne. Ein großes Haus, hab ich gedeutet und viele kleine Bäume, und in dem Haus, da wohnen Menschen drin und sind glücklich und essen und spielen, während wir unsere Wurstsemmeln essen und auch glücklich sind, weil wir alle überlebt haben. Wie ich die Faust geöffnet hab, waren lauter kleine Gänseblümchen in meiner Hand aufgeblüht.
Die ersten Blumen haben schon geblüht, als wir den Edi gefunden haben. Wir haben den Edi Holzapfel gejagt. Eine Treibjagd hab ich’s genannt, wie ich sie alle zusammengetrommelt hab. Im März fünfundvierzig hab ich wieder einmal einen Hinweis bekommen, wo er ist. Die Hunde waren scharf abgerichtet und unten am Weißenbach haben wir ihn gestellt. Im Wald hatte er sich einen Unterschlupf gebaut. Gesund hat der auch nicht mehr ausgeschaut.
Er hat mich erkannt und hat gerufen: Alois, denkst nicht an deine Kinder? Da bin ich erschrocken. Dass er das gesagt hat, vor den anderen. Ich hab nicht gewusst, dass er das weiß. Erst da hab ich zu schießen begonnen. Wir haben vom Pferd auf ihn herabgeschossen.
Als er schon ziemlich verwundet war, haben wir ihn bei der Freiwilligen Feuerwehr eingesperrt und das Blut ist beim Tor herausgesickert. Einen hab ich als Wache vor der Tür abgestellt. So ist niemand zum Edi Holzapfel hineingekommen.
Da ist alles warm und ich warte auf nichts. Nicht einmal mehr auf den kommenden Tag. Auf die Heidi vielleicht. Dass sie wieder hinter mir liegt und ihren Arm um mich legt, danach sehn ich mich. Die Heidi hat nie Bettdecken und Vorhänge mögen. Vor allem nicht, wenn sie weiß waren. So weiß wie hier. Krankenhausweiß.
Warum kommt mich deine Mutter eigentlich nicht besuchen?
Wie es mir geht? Ich mach immer noch alles wie früher. Ich schlag Purzelbäume. Neuerdings kann ich auch wieder fliegen. Mir geht’s gut, ich muss es nur sagen: Mir geht es gut.
Wann darf ich nach Hause?
So weiße Decken gibt’s bei uns zu Hause nicht. Ich öffne die Augen und schon wieder ist die Bettdecke weiß. Ich werd sie färben müssen, wenn ich noch länger hierbleiben muss. Neben mir schnarcht einer. Zweibettzimmer, sagt der Herbert, Zweitbettzimmer und immerhin nicht zu sechst in einem Raum. Die Ärzte sind gut, sagt er, und die Schwestern freundlich. Dabei merken sie sich nicht einmal meinen Namen. Müssen vorher immer das Namensschild anschauen! Dabei bin ich schon so lange hier. Der Herbert hat mir einen Rosenkranz mitgebracht. Damit ich mich wohler fühl. Wenn ich das Schnarchen nicht mehr aushalt, nehm ich den Rosenkranz.
Früher haben wir uns nach dem Rosenkranzgebet geschlagen. Wir, das waren der Johann, der Lois, der Binder und ich. Das heißt, eigentlich haben der Johann und ich mit dem Lois und dem Binder. Warum, kann ich jetzt auch nicht mehr sagen. Später dann wegen den Dirndln, aber eigentlich war das auch kein Grund.
Mir geht es gut, sag ich, wenn jemand den Raum betritt, immerhin, sag ich, ich kann ja noch alles machen. Und das Fliegen geht ja jetzt auch wieder.
Gestern war die Heidi da, in der Nacht. Der Schnarcher neben mir behauptet, dass das nicht wahr ist.
Weißt du was? Du fragst mir zu viel, Herbert. Du solltest langsamer machen mit mir. Das sagen sie hier immer zu mir. Zeig mal mein Namensschild her. Siehst du, da steht’s schwarz auf weiß. Ferdinand Kranebitter. Weil sie sich meinen Namen und die Diagnose nicht merken können, schauen sie vorher immer drauf und dann sagen sie: Ganz langsam, Herr Kranebitter.
Wie lange bin ich jetzt schon hier?