Wir waren nicht allein - Markus Gasser - E-Book

Wir waren nicht allein E-Book

Markus Gasser

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Beschreibung

Robert lebt mit Lara und ihrer adoptierten Tochter Maple in Telluride. Sie pflegen eine enge Freundschaft sowohl mit Sophia und Mary, wie auch Bill und Frank, zwei homosexuellen Paaren, welche sie 1973 in San Francisco kennengelernt hatten. Alles läuft rund in ihrem privaten, beruflichen und schulischen Leben. Doch im Frühsommer 1982 erreicht die Familie die Nachricht, dass sich Frank das Leben genommen hat. Er hatte seit wenigen Monaten eine sehr schwere Immunschwächekrankheit. Erst im Spital hatten Frank und Bill erfahren, dass es bereits viele andere schwule Männer gab, die von der Krankheit betroffen und auch daran gestorben waren. Der Krankheit wurde von der Seuchenschutzbehörde der USA 1981 offiziell der Name GRID Schwulenbezogene Immunschwäche gegeben. Robert versucht Bill in seiner Verzweiflung zu unterstützen. Er ist jedoch selber stark überfordert und macht sich Vorwürfe, dass er die letzten Monate nicht für Bill und Frank dagewesen war. Gleichzeitig ist er befremdet über das ausschweifende Sexleben, welches Bill und Frank geführt hatten. Die Sorge, Bill könnte die Krankheit bereits haben, wächst mit jedem neuen Einblick in die Schwulenszene der späten 70er-Jahre.

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Markus Gasser wurde 1973 in der Schweiz geboren. Während des Architekturstudiums konnte er als Flight Attendant der Swissair die Welt bereisen und lernte Menschen, Kulturen und die Schönheit der Erde, aber auch großes Elend und Ungerechtigkeit kennen. Noch früher prägten ihn seine Erfahrungen als Spitalsoldat und Nachtwachenaushilfe im Uni-Spital Zürich. Sein Praktikumsjahr in Architektur verbrachte er in Denver, wo er eine große Liebe zu Colorado und dem Westen der USA entdeckte. In seiner Freizeit hat er mit Malen und anderen gestalterischen Ausdrucksformen Themen wie Gesellschaft, Natur, Umwelt oder Gut und Böse thematisiert. Wir waren nicht allein ist die Fortsetzung des Romans Auf meinem Weg zu dir.

Dieses Buch ist allen gewidmet, die sich bemüht haben, HIV- und AIDS-Betroffenen ein aufrechtes Leben oder einen Tod in Würde zu ermöglichen, und allen, die dann Liebe gezeigt haben, als die Mehrheit weggeschaut oder nur an sich gedacht hat.

Inhaltsverzeichnis

Wir waren nicht allein

Ein Gerücht bewahrheitet sich

Vergangene Zeiten an der Sonne

Neue, fremde Welt

Unterstützung aus den eigenen Reihen

Paradox

Die Reihen lichten sich

Weihnachten in San Francisco

Der Kreis schließt sich

AIDS Candlelight March

Ein neues Zuhause

Die Entdeckung und neue Hoffnung

Negativ ist positiv

Hoffnung aus Mexiko

Am Boden einer Kiesgrube

Wie die Schwalben so stolz und frei

Der rosa Briefkasten

Nachwort und Danksagung

Vorschau Fortsetzung

1982–1987

Geteiltes Leid

Ein Gerücht bewahrheitet sich

Mitte Juni 1982

Lara und ich saßen im Moose an unserem Tisch und warteten auf unsere Freunde Paula und George. Es würde sicherlich ein schöner Samstagabend werden mit Livemusik, Bier und einem Steak. Edgar brachte gerade unsere Getränke, als Tom Huckley durch den nebligen Zigarettenrauch von den Billardtischen rüberrief: „Hey, Robert, haben dich die Schwulen in San Francisco auf ihre Seite gezogen, dass du neuerdings in knappen Höschen in der Gegend rumrennst?“ Edgar, der die wenigen Tropfen überschäumendes Bier weggewischt hatte, klemmte den erstaunlich sauberen Trockner wieder hinter seinen Gürtel, lächelte mich an und meinte heiter: „Diese Reaktion war wohl zu erwarten gewesen, Robert!“

Ich blickte in Richtung Tom. Alle, die ihn gehört hatten, warteten gespannt auf meine Reaktion, so rief ich zurück: „Glaub mir, Joggen ist gesund, und ich glaube, deine Melissa wäre auch froh, wenn sie die nächsten zwanzig Jahre noch mehr von dir hätte, als dir den Bauch mit Schmerzsalbe einzureiben!“ Das war zwar leicht unter der Gürtellinie, da ich wusste, dass er Probleme mit der Leber hatte, aber damit war das Thema vorerst vom Tisch. Alle spielten, tranken oder unterhielten sich weiter und waren wohl enttäuscht, dass das kleine Intermezzo damit schon beendet schien und keinen längeren Unterhaltungswert bot.

Edgar hatte recht. Ich hatte bereits damals in San Francisco gewusst, als ich mir die Laufschuhe und die Sportkleidung gekauft hatte, dass es sogar im recht sportlich orientierten Telluride einen Aufschrei geben könnte, wenn einer der Einheimischen zum Vergnügen joggen gehen würde. „Ich hatte nicht gerade damit gerechnet, als schwul bezeichnet zu werden wegen dem Joggen. Der ist doch nicht ganz dicht!“, meinte ich nun doch etwas aufgebracht zu Lara. „Ach Robert, es lohnt sich nicht, sich darüber zu ärgern. Die Menschen hier kennen Tom und können ihn entsprechend einordnen.“ „Aber ist das ein Thema bei den Leuten? Fragt denn jemand, ob Jimmy Carter schwul ist, nur weil er joggt?“ „Das ist doch genau der Punkt, Robert. Die Menschen an der Ost- und Westküste joggen, vielleicht inzwischen auch in Denver, aber hier in den Bergen nur die Touristen und du. Lass dich deswegen nicht davon abhalten, sonst wird hier nie ein Einheimischer damit anfangen.“ Und sie meinte lachend: „Zudem siehst du süß aus in den knappen Höschen!“ Ich warf ihr meine Serviette lachend ins Gesicht und gab ihr einen Kuss.

Nach einer kurzen Pause meinte Lara nachdenklich: „Toms provokative Aussage fasst die ganze Lebensphilosophie jenes kleinen Teils der Einwohner von Telluride zusammen, die gerne in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stehen geblieben wären. Lieber ein hartes, karges und isoliertes Leben, als dass ihre Stadt sich ohne ihre Kontrolle in eine völlig neue Richtung entwickelt. Und Telluride entwickelt sich dank Tourismus, Skisport und kulturellen Anlässen tatsächlich sehr schnell. Für diese Menschen entspricht jeder Schritt in Richtung Kalifornien einer Annäherung an Oberflächlichkeit, Liederlichkeit und Dekadenz. Jeder Schritt in Richtung Osten ist für sie ein Schritt in Richtung Politkorruption und altem, unverdientem Geld.“ „Und wieso bezeichnen sie dann meine Jogginghose als schwul?“ „Weil sie wissen, wie oft wir in Kalifornien und San Francisco sind. Dass San Francisco offen und liberal ist, dürfte inzwischen auch in Telluride jedem bekannt sein und im Fernsehen kommen immer wieder Reportagen über das Leben der Schwulen in San Francisco.“

Ich sah Lara gespannt an, bis sie ihre Gedanken zu Ende bringen konnte. „Für Tom und seine Leute bedeutet es bereits ein demonstratives Abwenden von ihren Werten, dass unsere Familie die Ferien in Kalifornien oder gar in San Francisco verbringt. Dass du nun mit deinem Joggen das entfernte Kalifornien nach Telluride bringst, wird von ihnen als Bedrohung oder persönlicher Angriff gewertet.“ „So sind meine Jogginghosen also für sie das Sinnbild für die sich rasch verändernde Welt? Wow, das ist ja schon fast philosophisch. Andy Warhol sollte eine Bildserie über meine Jogginghosen machen!“ Wir mussten beide lachen und hörten dann eine Weile schweigend der jungen Band zu, die vor allem Coverversionen von Country- und Folkstücken spielte.

Ich war in San Francisco zweimal mit Bill joggen gegangen. Es war wunderschön, die Küste entlangzulaufen, sich völlig zu verausgaben, seine Grenzen zu spüren und zu wissen, dass genau dies dem Körper guttat. So hatte ich also die Sportkleider mit nach Telluride gebracht und ging seither meist zweimal die Woche laufen. Zuerst trainierte ich nur in der Ebene des Tales. Inzwischen war ich auf den Flurstraßen in den Bergen der Umgebung anzutreffen. Gerade jetzt im Frühsommer war es herrlich, wenn sich am Abend die Wärme des Tages mit der kühlen Bergluft mischte. Ich konnte den Pflanzen förmlich zusehen, wie sie sich von Mal zu Mal weiterentwickelten und grüner und saftiger wurden. Obwohl ich rannte, fühlte ich mich so stark mit der Welt und der Natur und insbesondere mit dem Boden verbunden wie nie zuvor. Ich hatte manchmal das Gefühl, ich sollte den Weg verlassen und senkrecht die Hänge hochrennen, wie es die Big-Horn-Schafe taten. Natürlich wusste ich, dass ich weder ihren Halt noch ihre Ausdauer hatte, aber es fühlte sich an, als wenn meine Energie unerschöpflich wäre. Mein Körper war mein einziger und bester Partner beim Laufen.

Ich hatte Sport vorher höchstens mit den Mannschaftssportarten aus meiner Kindheit und Jugend verbunden oder allenfalls noch mit halsbrecherischen Übungen auf uralten, stinkenden Barren, Springböcken und Matten. Das Rennen hatte so gar nichts mit all dem zu tun. Es war Freiheit pur – nur ich, mein Körper und die Natur um mich herum. Es fühlte sich so an, als könnte ich allen Alltagssorgen förmlich davonrennen. Und das Beste, ich konnte auf diese Weise essen, was immer ich wollte, ohne zuzunehmen – es war eine gute Balance. Lara brachte immer neue Ideen und Rezepte nach Hause. Dadurch kochten wir teilweise so viel Neues und Köstliches, dass der Appetit den Hunger überstieg. Hinzu kam, dass Maple einen feinen Kuchen nach dem anderen backte. Die ersten Kuchen hatte ich damals mit ihr gemeinsam kurz vor unserem Wegzug aus San Francisco gebacken. In Telluride wollte sie sofort damit weitermachen. Ich war mir sicher, sie wollte mit all den Kuchen sicherstellen, dass die glücklichen Zeiten aus San Francisco in Telluride kein Ende finden würden. Zu zerbrechlich schien ihr unser junges, gemeinsames Glück als Familie. Wir hatten sie ja erst wenige Monate zuvor adoptiert.

In der Zwischenzeit war Backen ihr großes Hobby und trotz ihres jungen Alters von knapp sechzehn Jahren war sie vermutlich die beste Bäckerin von ganz Telluride. Ihrem Alter geschuldet, war sie aber sicherlich auch die launenhafteste, schwierigste Hobbybäckerin der Welt. Sie konnte sich in einem Moment zu mir auf das Sofa kuscheln und mich umarmen, um fünf Minuten später wie ein Gewitter durch das ganze Haus zu donnern und uns Inkonsequenz, Unverständnis oder gar Kleingeistigkeit vorzuwerfen. Wenigstens schlug sie die Türen dabei nicht mehr zu, seit ich ihr gedroht hatte, ihre Zimmertüre zu demontieren.

Wir lebten nun bereits seit neun Jahren als kleine Familie in Telluride und waren ein fester Teil der Gemeinschaft hier. Wir fühlten uns wohl wie die Fische im Wasser. Jeder kannte jeden und jeder half dem anderen. Dank dem Tourismus, dem Ski-Resort, dem Bluegrass-Festival und all den anderen attraktiven Angeboten florierte die Kleinstadt. Die ganze Bevölkerung arbeitete hart. Die ruhigsten Zeiten im Tourismus waren der Frühling nach dem Schnee und der Spätherbst bis Weihnachten. Aber auf der anderen Seite waren es die Monate, in denen gebaut und saniert wurde, was immer noch irgendwie reinging.

Bei aller Umtriebigkeit im Beruflichen waren wir stolz darauf, wir selbst geblieben zu sein. Wir gaben nicht mehr Geld aus, als nötig war, und stellten das Familienleben an oberste Stelle. Auch mit unseren Freunden und Freundinnen, insbesondere Ellie und Edgar, Bill und Frank, Sophia und Mary und Paula und George, verbrachten wir viel Zeit und waren immer zur Stelle, wenn es nötig war.

Im April besuchten wir meistens Bill, Frank, Sophia und Mary in San Francisco. Wir genossen die herrliche Wärme und spazierten bei angenehm kühlem Wind in Shorts das Meer entlang. Wir genossen es, in der Stadt alles kaufen zu können, was es auch im weitesten Umkreis von Telluride nirgends gab. Lara verbrachte halbe Tage in den wundervollen Bücherläden, wo man neben dem Schmökern auch noch einen feinen Kaffee trinken konnte. Ich entdeckte manchmal beim Vorbeigehen auf Baustellen spezielle Werkzeuge und Maschinen und konnte mit wunderbar schrägen Typen fachsimpeln, die über ein Fachwissen verfügten, das man ihnen auf den ersten Blick nie zugetraut hätte. Wir gingen sehr oft auswärts essen, denn hier konnte man Gerichte aus der ganzen Welt kosten. Wenn wir etwas besonders mochten, kauften wir ein entsprechendes Rezeptbuch, um es zu Hause nachzukochen. Aber am schönsten empfand ich es, in den städtischen Parkanlagen oder am Meer zu sitzen und mit der Familie oder den Freunden der Ruhe zu lauschen und das Zusammensein zu genießen. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm – in Telluride ging früh genug die Bau- und Frühsommersaison wieder los.

Bill kam meistens im Sommer nach Telluride zu Besuch zum Wandern oder im Winter mit Frank zusammen zum Skifahren. Sophia und Mary kamen meistens im Spätherbst, wenn die Aspen goldig wurden, nur noch wenige Touristen in Telluride waren und Ruhe in den Rockies einkehrte. Obwohl Denver nur halb so weit entfernt war wie San Francisco, war ich die letzten Jahre kaum mehr nach Denver gefahren. Somit hatte ich auch meine Geschwister nicht so oft gesehen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Wir telefonierten aber regelmäßig und waren immer auf dem Laufenden, wie es uns jeweils ging.

„Robert, wo bist du mit deinen Gedanken? Ich hoffe nicht, dass du gedanklich bei deiner Arbeit bist, während du mit mir hier im Moose sitzt?“ „Bitte entschuldige, Lara! Nein, ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Arbeit, aber ich muss zugeben, auch nicht hier. Ich habe über unser Leben und unsere Freunde nachgedacht.“ „Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“ „Ich bin dankbar, dass es uns so gut geht und sich alles so wunderbar entwickelt hat. Ich sitze hier an diesem uns vertrauten Eichentisch mit der schönsten und intelligentesten Frau der Welt. Das Moose ist eine Institution mit feiner Musik und gutem Essen. Die Inneneinrichtung hat ihren Zenit definitiv überschritten und der Zigarettenqualm ringsherum kratzt im Hals. Du aber machst diesen Ort für mich zum schönsten und einzigartigsten der Welt!“ „Das war jetzt wirklich sehr viel Süßholz, aber ich nehme die Entschuldigung gerne an“, sagte sie mit einem fröhlichen Lachen. „Und es stimmt. Auch du machst für mich diesen Ort zu etwas Besonderem. Und ja, alles läuft rund in unserem Leben – sehr rund.“

Paula und George kamen zur Tür herein und wir winkten sie zu uns an den Tisch. Wir verbrachten einen wunderschönen Abend mit feinem Essen, Bier, viel Lachen über alte Geschichten und stimmiger Musik. Nach der letzten Zugabe der jungen Band wechselten wir an einen der Billardtische, da nun viele Billardspieler an die Bar wechselten und ein Tisch frei wurde. Auf drei Bildschirmen lief auf MTV Physical von Olivia Newton John. Ich fand, dass weder das Video noch der Song ihr besonders gerecht wurden. Trotzdem war der Song ein riesiger Erfolg. Natürlich gab es noch den einen oder anderen Spruch über Tom Huckley und mich, da Olivia zwischen einerseits sehr dicken und andererseits gut trainierten Männern tanzte. Da viele das Video nun schon Dutzende Male in zu kurzer Zeit gesehen hatten und die Vergleiche platt und herangezogen waren, folgte darauf kein großes Echo und wir konnten unser Spiel genießen. Sicherlich hatten Lara und ich schon besser gespielt. So mussten wir uns nach einem langen und sehr schönen Abend geschlagen geben.

Wir waren bereits dabei, unsere Jacken anzuziehen, als Tom nochmals an uns vorbeilief auf seinem Weg zur Toilette. Er legte mir die Hand auf die Schultern und sagte: „Passt auf euch auf, Robert, die sterben nun da drüben wie die Fliegen in San Francisco!“ Ich stand da wie ein geschlagener Hund und zog meine Jacke geistesabwesend an. Erst auf halbem Weg nach Hause fand ich meine Gedanken wieder. „Lara, ich habe dieses Thema zu lange ignoriert. Ich habe die wenigen Nachrichten zum Schwulenkrebs oder wie immer sie die Krankheit betiteln, als Hetze gegen Schwule abgetan. Ich wollte Bill und Frank bei unserem nächsten Treffen danach fragen. Die beiden sind letzten Winter nicht nach Telluride gekommen. So habe ich das Gespräch wieder und wieder verschoben und fast ganz vergessen. Ich habe Bill am Telefon nie danach gefragt und er hat von sich aus diese Krankheit nie erwähnt. Jetzt wird mir bewusst, dass ich alleine in den letzten Monaten mehrmals entsprechende Schlagzeilen ignoriert habe. Bill hat sich auch noch immer nicht gemeldet, ob sie im Juli kommen werden. Müssen wir uns Sorgen machen? Was weißt du über die Krankheit, Lara?“ „Ich weiß auch nicht viel mehr als das, was uns letzten Herbst Sophia und Mary berichtet haben. Sie sprachen von mehreren mysteriösen Todesfällen in der schwulen Community in San Francisco und anderen Städten. Damals diskutierte man noch, ob es allenfalls mit einer Droge zusammenhängen könnte, die von schwulen Männern mehr und mehr konsumiert wird. Oder ob es sich gar um Giftanschläge handeln könnte. Du solltest morgen einmal Bill und Frank anrufen. Wenn du möchtest, kann ich auch Claire fragen. Sie hat über die Redaktion des Daily Planet sicher Zugang zu aktuellen Informationen.“

Bereits am Sonntagabend kam Claire vorbei und brachte uns einen im Mai erschienenen Artikel aus der New York Times. „Ich finde, dieser Artikel fasst die Situation recht gut zusammen. Auch für uns Journalisten ist es schwer, an weitere Informationen zu kommen. Es werden lediglich Fachartikel in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht,“ meinte Claire. „Seitens Regierung ist noch kein Wort zu der Krankheit geäußert worden, obwohl Experten warnen, dass die USA auf eine der größten Gesundheitskrisen der Geschichte zusteuern könnten.“

Der Artikel folgte einer Pressemitteilung des CDC, des Nationalen Zentrums für Seuchenschutz. Die Rede war von einer Immunschwächekrankheit, die dem Anschein nach, fast nur homosexuelle Männer betreffe. In sehr seltenen Fällen seien aber auch heterosexuelle Männer und Frauen betroffen. Häufig sei bei Letzteren eine Drogenabhängigkeit im Spiel. Die Krankheit war bereits über 300 Mal diagnostiziert worden und 136 junge Männer waren daran gestorben. Oft waren sie gleichzeitig an einer sehr seltenen Krebsart, dem Kaposi-Sarkom, erkrankt. Die Immunschwäche mache den Körper anfällig für zahlreiche, sehr ernsthafte Infektionen und Krankheiten. Das CDC machte darauf aufmerksam, dass man allenfalls nur die Spitze des Eisberges sehe und in den USA bereits Zehntausende, ohne es zu wissen, erkrankt sein könnten. Die Krankheit war bereits in zwanzig Bundestaaten und sieben Ländern aufgetreten. Man müsse daher von einer Epidemie reden.

Nachdem wir den Artikel gelesen hatten, wählte ich gleich Bills Nummer. Etwas zu unbeholfen und zu fordernd fragte ich Bill direkt, was bei ihnen los sei, wieso er sich nicht gemeldet habe und wie es ihnen gehe. Während Lara neben mir die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte, brachte Bill kein Wort raus. „Bitte entschuldige, Bill, ich wollte dich nicht überfahren. Ich wollte mich schon so lange bei euch melden, um zu fragen, was es mit dieser neuen Krankheit auf sich hat. Inzwischen machen wir uns Sorgen um euch. Geht es euch gut?“

Lara stand mit großen, gespannten Augen vor mir und wartete darauf, dass sie an meinem Gesichtsausdruck etwas ablesen konnte oder aus dem Hörer an meinem Ohr leise etwas zu vernehmen war. Zwei ewig lange Sekunden später hörte ich, dass Bill einatmete, um zu antworten, wieder abbrach und dann endlich mit gebrochener Stimme sprach: „Robert, Frank hat die Krankheit. Es geht ihm seit einem Jahr nicht gut.“ „Oh nein, Bill! Was bedeutet das für ihn und für euch?“ „Er hat immer wieder starke Entzündungen, Ausschläge, Schmerzen und auch Hautkrebs. Er hat stark abgenommen, ist immer müde und vergisst vieles – wie ein sehr alter Mann. Er war die letzten Tage im Spital.“ Bill konnte nicht mehr weiterreden. Nach einer Weile sagte er leise mit zugeschnürtem Hals: „Mir geht es gesundheitlich gut und ich habe keine Symptome. Ich kümmere mich um Frank. Sophia, Mary und viele Freunde unterstützen uns. Wir fühlen uns sehr gut getragen, aber es geht Frank immer schlechter. Wir hoffen noch immer auf Besserung, aber mehrere unserer Bekannten sind bereits gestorben. Auf schreckliche Weise sind sie verendet: Ausgezehrt und aufgefressen von verschiedensten Krankheiten. Bitte entschuldige, Robert, dass ich mich nicht gemeldet habe. Sophia fragt mich fast wöchentlich, ob ich nun mit euch geredet habe. Aber es ist so schwierig, damit umzugehen. Ich habe immer gehofft, es geht vorbei und ich kann euch irgendwann bei einem Bier berichten, wie wir diese schwere Zeit gemeistert haben.“

Ich war schockiert und überfordert mit diesem Gespräch. Die Situation war also noch schlimmer, als wir befürchtet hatten. „Du musst dich nicht entschuldigen …“ Etwas anderes konnte ich ihm nicht antworten, aber er fuhr ohnehin fort: „Die Krankheit löst zu Recht große Angst aus. Es ist schrecklich, Rob, meine Welt fällt auseinander. Wir wissen nicht, was die Krankheit auslöst und auch nicht, ob Menschen dahinterstecken oder gar die Regierung. Das wäre das Allerschlimmste, wenn wir ausgelöscht werden sollten, wie damals die Ureinwohner, als die Regierung ihnen in einem strengen Winter mit Pocken verseuchte Decken abgegeben hatte. Auch sie starben alle.“

„Bill, es tut mir unendlich leid, dass ich in dieser schweren Zeit nicht für euch da war. Ich werde nächste Woche alles mit meiner Arbeit klären und komme zu euch, so schnell ich kann.“ „Es wäre sehr schön, dich zu sehen, Rob. Du musst aber nichts überstürzen. Du wirst hier nicht viel ausrichten können. Frank trägt übrigens fast immer die Jacke, die Maple für ihn gestrickt hat. Sie wärmt ihn und tut ihm gut. Er lässt euch alle grüßen!“

Vergangene Zeiten an der Sonne

Ende Juni 1982

Am Mittwochmorgen hatte ich mit George besprochen, dass ich in der folgenden Woche ein paar Tage frei nehmen würde. Am Mittag rief Bill an. Frank hatte sich das Leben genommen. Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen und im ersten Augenblick fühlte ich eine erdrückende Schuld. Die Schuld, dass ich die letzten Monate nicht für die beiden da gewesen war.

Wir redeten nicht mehr lange am Telefon und ich versprach, so schnell als möglich zu kommen. Bill hatte mich gebeten, allein zu kommen. Er meinte, es würde ihm sicherlich guttun, Zeit zu zweit zu verbringen. Er könne sich nicht vorstellen, eine große Beerdigung abzuhalten. Lara wiederum versicherte mir, dass dies für sie in Ordnung sei.

Sie würde in Telluride alles weiterführen und mit mir, Bill, Sophia und Mary in Kontakt bleiben.

So fuhr ich am Samstagmorgen los, nach einer festen Umarmung mit Lara und Maple und dem Versprechen, mich täglich zu melden. Ich wäre am liebsten bereits am Donnerstag gefahren, doch es gab noch so viel zu organisieren und vorauszuplanen, dass ich am Freitag noch bis in die Nacht im Büro war.

Die ersten Stunden der Fahrt nahm ich nichts von außen wahr und der Wagen lenkte sich wie von Geisterhand durch den Verkehr und über den Highway.

Ich war fassungslos. Wie hatte es so weit kommen können? Was war diese Krankheit? Wieso traf sie fast nur Schwule? Wieso war ich in keiner Weise darauf vorbereitet, dass sich in meinem Freundeskreis eine Tragödie von so großem Ausmaß abzeichnete? Und immer wieder kamen Wellen von Schuldgefühlen in mir hoch: Wieso war ich für meine Freunde Bill und Frank nicht mehr da gewesen?

Die letzten Jahre waren so einfach, so harmonisch abgelaufen. Vor nicht allzu langer Zeit fragte ich mich noch, ob wir in unserem Leben eine neue Herausforderung bräuchten, da zwar nicht gerade jeder Tag dem anderen glich, aber doch jedes Jahr dem vorhergehenden. Ich fand es undankbar von mir selbst, etwas an einem Leben ändern zu wollen, das mir so unsagbar viel gab und unsere Familie und auch unsere Freunde mit mehr versorgte, als wir benötigten. Lara und ich vereinbarten dann, dass wir uns darüber noch Gedanken machen könnten, wenn Maple älter wäre.

Ich hatte mich bewusst dagegen entschieden, mich selbstständig zu machen. Georges Unternehmen, in welchem wir damals im Frühsommer 1973 meist zu fünft gearbeitet hatten, war bereits bei meiner Rückkehr im Dezember doppelt so groß gewesen. Er bot mir einen guten Lohn und faire Bedingungen an. Ich war froh, mich am Anfang auf die Baustellen konzentrieren zu können und mich nicht um Akquisition, Rechnungswesen, Kontakte und all die administrativen Dinge kümmern zu müssen.

Wie sich in den folgenden Jahren jedoch herausstellte, war ich in diesen Aufgaben recht geschickt und es machte mir auch Spaß. So stieg ich in der Firma auf, die bald Dutzende Mitarbeitende beschäftigte. George hatte Verständnis dafür, dass die Abende und Wochenenden meistens meiner Familie gehörten. Ich ließ aber auch nie etwas liegen und dachte immer weit voraus, was kommen könnte und wie wir Fehler und Leerläufe vermieden. „Verdammt, im Beruf hatte ich tagtäglich über alle Eventualitäten nachgedacht, Kunden, Partner und unsere Leute informiert, abgefragt, gebrieft und im Leben meiner Freunde habe ich kaum über den Tellerrand geschaut!“

Lara hatte vor fünf Jahren ihr Psychologiestudium abgeschlossen und arbeitete zurzeit für mehrere Schulen. Diese Arbeit gefiel ihr sehr und sie war bei allen Beteiligten angesehen und beliebt wegen ihrer einerseits pragmatischen und andererseits sehr einfühlsamen Art.

Bill und ich waren uns in vielem ähnlich, wir glichen uns äußerlich, hatten aber auch ähnliche Charakterzüge und reagierten in vielem vergleichbar. Wenn wir zusammen unterwegs waren, egal ob in San Francisco oder in Telluride, wurden wir oft für Brüder gehalten. Ich hatte den Eindruck, dass Bill alles, was ich von Lara lernte, in gleichem Maße über sein Umfeld aufnahm. Die 68er-Bewegung hatte unsere Gesellschaft viel nachhaltiger verändert, als ich dies in der Anfangszeit wahrgenommen hatte. Auch wenn alle Menschen Sicherheit und Anerkennung in ihrem Leben anstrebten, gab es doch zwei verschiedene Lager. Jene, die ihr Leben ohne Zwänge selbst gestalten wollten, und die anderen, die sich an starken Strukturen festhielten, die ihnen hoffentlich Geld, Macht oder Anerkennung bescheren würden.

Es überraschte mich immer wieder, wie sehr Kalifornien von ersterer Gruppe dominiert wurde. Im Castro-Quartier, wo viele Homosexuelle lebten, war die Selbstgestaltung des Lebens an jeder Ecke fassbar. Aber natürlich wurde auch Kalifornien von Geld und Macht regiert – nur nicht sehr offensichtlich.

Das Castro-Quartier war wie eine kleine, schnell wachsende Insel, wie ein sprudelnder Vulkan, der sich ins Meer ergoss und dort täglich neues Land schuf. Bald hatten die Bewohner dieser neuen Community in Harvey Milk einen Fürsprecher und kurz darauf eine politische Führungsperson gefunden. Seine Forderungen waren die logische Fortsetzung der Bewegung, die gerade etwa mit Bills Eintreffen in San Francisco begonnen hatte. Alles, was langsam in den Köpfen herangereift war, konnte Harvey Milk in brillante Worte fassen und in klare Forderungen umwandeln. Man konnte Harvey Milk zuhören und dachte: „Stimmt, homosexuelle Menschen gab es schon immer, man hatte sie nur immer verfolgt, in die hinterste Ecke verdrängt oder gar getötet. Logisch darf niemand mehr aufgrund seiner Homosexualität verfolgt werden von der Polizei, den Behörden, dem Arbeitgeber, den Nachbarn. Homosexuelle sollen unter uns leben dürfen wie alle anderen Individuen in unserer Gesellschaft. Es wird Zeit, dass dieses Recht eingefordert wird über politische Ämter und politische Arbeit!“

Bill hatte Harvey in seiner Freizeit unterstützt, wo er nur konnte, und mit viel Überzeugungsarbeit und mit Flugblättern für ihn geworben. Harvey stellte sich als beharrlicher Kämpfer heraus, der sich nicht von Rückschritten einschüchtern ließ. Nach mehreren Kandidaturen hatte er es geschafft, als erster offen homosexuell lebender Mann in den Stadtrat gewählt zu werden. Nicht nur als bekennender Homosexueller, sondern vor allem als Kandidat, der sich transparent und offen für die Rechte von Homosexuellen einsetzte.

Alles schien erreicht oder zumindest erreichbar. Auch mir kamen noch immer die Tränen, wenn ich daran dachte, wie Harvey Milk im Jahr darauf ermordet worden war. Einerseits, weil ich mich durch Bill Harvey so nahe gefühlt hatte, und andererseits, weil ich ihn wirklich sehr bewundert hatte. Aber ich war vor allem schockiert und erschüttert, dass es heute noch möglich war, anders denkende Menschen oder unliebsame Gegner einfach mit der Pistole niederzustrecken.

Nach der Ermordung fielen Bill und viele seiner Freunde in ein Loch ohne Boden. Die Zukunft, die bereits selbstverständlich schien, wurde wieder in Frage gestellt. Natürlich wurde der Kampf von anderen weitergeführt. Spätestens mit dem Gerichtsurteil für den Mörder von Harvey wurde jedoch klar, dass wir noch immer in einem sehr konservativen Amerika lebten, das Schwulen und Lesben gegenüber eine radikal ablehnende Haltung einnahm. Das lächerlich milde Gerichtsurteil führte zu großen Protesten. So paarten sich Kampfgeist, Akzeptanz und Mitgefühl zu einer neuen Bewegung, die von vielen, weniger bekannten Menschen weitergeführt wurde.

Während ich über den Highway in Richtung San Francisco fuhr, fragte ich mich, ob Bill recht haben könnte. War es tatsächlich möglich, dass eine geheime Organisation oder im schlimmsten Fall sogar eine Regierungsbehörde einen Weg gefunden hatte, homosexuelle Menschen umzubringen? War dies wirklich denkbar? Nein, für mich war es zwar nicht denkbar, möglich aber schon. Die Regierung hantierte mit so vielen toxischen Stoffen, ob chemisch oder biologisch. Erst in den letzten Jahren war der Skandal um Agent Orange publik worden. Die USA hatten in Vietnam ihre eigenen Soldaten und die lokale Bevölkerung, ohne es damals zu wissen, mit einer schwerstens gesundheitsschädigenden Substanz besprüht.

San Francisco wäre für einen Anschlag bestens geeignet gewesen. Aus der ganzen Welt strömten jeweils über 200.000 Menschen für die Pride-Parade in die Stadt. Die Parade zeigte medienwirksam, dass man sich nicht länger zu schämen brauchte schwul oder lesbisch zu sein. Die gesamte Presse, egal ob konservativ oder liberal, stürzte sich auf die schrillen Menschen im Castro und bildeten eine Welt ab, die deutlich einseitiger und sexorientierter beschrieben wurde, als sie war – oder sie war es höchstens am Wochenende. Niemand berichtete, dass die Schwulen und Lesben häufig in verbindlichen Partnerschaften lebten, einem normalen Job nachgingen, gute Steuern zahlten und sich überdurchschnittlich sozial engagierten. Spätestens an der Wahlurne wurde offensichtlich, wie hoch ihre Wahlbeteiligung war und wie stark diese Menschen mobilisieren konnten.