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Robert lässt nach dem Tod seiner Eltern und dem Abbruch des Elternhauses Denver zurück und reist in Richtung Westen. Er will den vorgegeben Weg verlassen und entdecken, wie sein Leben anders verlaufen könnte. Auf seinem Weg trifft er Menschen, die ebenfalls auf der Suche sind nach ihrer Bestimmung in einer Welt, die mehr Möglichkeiten als Antworten liefert. Obwohl sich Robert auf die Zukunft und Neues konzentrieren möchte, fragt er sich immer öfter, was ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. Ein mitreissendes Tagebuch durch das Jahr 1973 voller Liebe, Abenteuer, Natur und Gedanken zu unserer Bestimmung!
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Seitenzahl: 203
Markus Gasser ist 1973 in der Schweiz geboren. Während des Architekturstudiums konnte er als Flight Attendant der Swissair die Welt bereisen und lernte Menschen, Kulturen und die Schönheit der Erde, aber auch großes Elend und Ungerechtigkeit kennen. Noch früher prägten ihn seine Erfahrungen als Spitalsoldat und Nachtwachenaushilfe im Unispital Zürich. Sein Praktikumsjahr in Architektur verbrachte er in Denver, wo er eine große Liebe zu Colorado und dem Westen der USA entdeckte. In seiner Freizeit hat er mit Malen und bildnerischer Gestaltung, Themen wie Gesellschaft, Natur, Umwelt oder Gut und Böse thematisiert. Mit „Auf meinem Weg zu dir“ beschreitet er zum ersten Mal auch den literarischen Weg.
Weder Distanz noch Zeit spielen die Rolle, die wir denken. Alles ist miteinander verbunden, alles ist eins, ob wir wollen oder nicht …
1. Kein „Auf Wiedersehen“
2. Der Indianer in mir
3. Das hätte in die Hosen gehen können!
4. Das Innere von Lara
5. Stimmen aus der Dunkelheit
6. Ein Unfall vor Flagstaff
7. Durch die Prärie bei Nacht
8. Verschiedene Welten treffen aufeinander
9. Helden und Dämonen
10. San Francisco
11. Ein überraschender Besuch
12. Fertig geträumt!
13. Eine Hochzeit und eine Beerdigung
14. Das Vermächtnis des Himmels
15. Ein Kreis schließt sich
16. Alle haben Pläne
17. Weihnachten in Telluride
Vorschau Fortsetzung
Danksagung
1973
Leben und Wandel
Ich stand am vermoderten Holzzaun und sah zu, wie das Haus meiner Eltern abgerissen wurde. Ich hatte damit gerechnet, dass es mir das Herz zerreißen würde, doch es war ein wunderschöner, feierlicher Moment. Es war ein Abschiednehmen von meinen Eltern und von einem Leben, das auch sie immer als zu hart empfunden hatten. Bald fühlte ich, dass die schönen Momente mit meinen Eltern und die unendliche Liebe meiner Mutter immer in meinem Herzen bleiben würden. Die Erinnerungen und besonders die Liebe zu ihnen waren losgelöst von diesem dunklen Haus, mehr Hütte als Haus.
Meine Geschwister waren nach Denver gekommen, um mir schonend beizubringen, dass sie das Haus respektive das Grundstück verkaufen wollten. Sie brachten viele Argumente vor: „So schnell kommt kein so gutes Angebot mehr wie von der Supermarkt-Kette. Man darf dem Fortschritt nicht im Wege stehen. Das ist eine große Chance für das Quartier, nicht? Es werden Arbeitsplätze geschaffen, die nicht mehr so hart sind wie die unseres Vaters.“ Plus, das durfte auch nicht fehlen: „Auch für dich wird es Zeit, dein eigenes Leben in die Hände zu nehmen“, und sie gaben offen zu, dass sie beide um das Geld sehr froh wären. Als ich endlich zu Wort kam, erschraken sie fast, als ich einfach mit „Ja – kein Problem“ antwortete. Sie schauten mich an, schwiegen, warteten und lachten, als keine weiteren Einwände mehr kamen. Dieses „Ja“ war mit einer Selbstverständlichkeit über meine Lippen gekommen. Ich musste nichts überdenken und keine Argumente abwägen. Es war für mich einfach klar, dass dieses Haus kein Leben für mich war, auch wenn ich die letzten Jahre allein mit meiner Mutter und meinem Vater darin gelebt hatte.
So stand ich also da am Zaun, dessen uraltes Holz ich unzählige Male gestrichen hatte und vor mir mein Vater unzählige Male, ließ die Schneeflocken mein Gesicht kitzeln und sah zu, wie unser Haus, unsere Hütte, unsere Bleibe, unsere Existenz in Bretterform abgebrochen wurde. Ich hatte mir nicht überlegt, wie ein billiges Gebäude entsorgt wird, darum musste ich fast lachen, vor allem über mich selbst, als nach zehn Minuten alles dem Erdboden gleichgemacht war und wenig später alles in den Mulden der Lastwagen verstaut war. Wow, hätte sich die schwere Last meiner Eltern auch so einfach plattmachen und einpacken lassen? Ich hatte oft davon geträumt, meinen Eltern ein schöneres Haus zu ermöglichen. Meine Mutter hatte immer die kleinen viktorianischen Backsteinhäuser in der Nachbarschaft bewundert. Diese hatten, im Gegensatz zu unserem Haus, ein solides Fundament oder gar einen Keller. Das Erdgeschoss war meistens sehr hoch mit großen Fenstern, die viel Licht ins Innere brachten und das Obergeschoss war voll bewohnbar. In unserem Obergeschoss war es an heißen Sommertagen, direkt unter dem Dach, nicht auszuhalten gewesen. Ich war jedoch zu jung, um diesen Traum in Angriff zu nehmen und die Zeit war am Ende zu kurz, respektive waren meine Eltern viel zu jung gestorben. Mein Bruder war vor wenigen Jahren mit seiner Familie in Richtung Osten vor die Stadt gezogen in ein sehr großes Haus. Er hatte Mutter nach dem Tod unseres Vaters gebeten, zu ihnen zu ziehen. Doch sie wollte dies nicht mehr. Es gab fast keine Hoffnung mehr auf Genesung und sie wollte keinen neuen Abschnitt in ihrem Leben beginnen. „Ich bleibe hier in unserem Haus und hoffe, dass ich den Abschluss von Roberts Ausbildung noch miterleben darf. Dann gehe ich zu Dad und lebe mit ihm ein hoffentlich unbeschwertes Leben. Ich freue mich darauf, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie dieses Leben nach dem Tod aussehen wird!“ So blieb ich mit Mutter in dem Haus und alle halfen mit, sie zu versorgen. Es war trotz allem eine zumindest harmonische Zeit. Sie beklagte sich nie, wenn ich am Abend oder am Wochenende wegblieb, und freute sich umso mehr, wenn ich da war.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste noch etwas länger am Zaun stehen bleiben, dem Abschied zuliebe, so wie man nicht nach kurzer Zeit schon wieder von einem Grab weggeht. Darum hatte ich noch einige Minuten dagestanden und den Mitarbeitern des Contractors zugeschaut, bis ich das Gefühl hatte, dass jede Sekunde zur Minute wurde und ich für die Arbeiter zum Sonderling werden könnte, der noch in fünfzig Jahren hier stehen und über das Haus nachdenken würde. Es war Zeit zu gehen.
Mein Bruder hatte mir vor seiner Abreise noch geholfen, ein gutes Auto zu finden. Der zweitürige Impala war definitiv seine Wahl gewesen und ich tat mich zuerst schwer, ein derart unpraktisches Auto zu kaufen. Er hatte mir aber versichert, dass ich dieses jederzeit zu einem guten Preis wieder eintauschen könne, und es war ja tatsächlich so, dass ich meine ganze Habe in zwei Taschen verstauen konnte, plus zwei Kisten mit Dingen meiner Eltern. Nachdem ich den Impala zwei Wochen gefahren war, fand ich großen Gefallen an dem blauen Wagen, was auch an den vielen Komplimenten meiner Kollegen und ihrer Freundinnen gelegen hatte.
Da ich am Morgen bereits alles aus dem Zimmer bei meinem Kollegen Devon geräumt und im Kofferraum verstaut hatte, musste ich nur noch einsteigen und losfahren. Losfahren in ein neues Leben, von dem ich noch nicht wusste, wohin es mich führen sollte. Na ja, kurzfristig wusste ich dies doch. Ich war auf dem Weg zu meiner Tante Martha in Colorado Springs. Sie hatte mich bei der Beerdigung von Mom sehr eindringlich gebeten, bei ihr vorbeizukommen und auch bei ihr zu leben, so lange ich wollte. So plante ich, zuerst in Richtung Süden nach Colorado Springs zu fahren und von dort weiterzuziehen. Noch länger in Denver zu bleiben war keine Option. Es war lediglich ein Bauchgefühl, das mich wegzog. Ich hatte die Lieder von The Mamas and The Papas und Scott McKenzie in den Ohren und ich wollte auch Kalifornien kennenlernen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, an der Westküste zu leben. Aber es ging ja genau darum, das zu entdecken, was ich mir nicht vorstellen konnte. Wie weit war ich bereit zu gehen? Würde ich an der Westküste auf einem Schiff anheuern und die Welt besegeln? Ich musste schmunzeln, ich war derart mit dem Boden und den Bergen verwurzelt, dass mir die Idee, auf dem Meer zu leben, wie eine Strafe vorkam. Nein, ehrlicherweise zog es mich nicht in fremde, exotische Länder und auch nicht nach Paris, London oder Rom und sicher nicht in einen Aschram nach Indien. Ich wusste nicht, was ich wollte. Aber weit musste man vermutlich nicht gehen, um Neues kennenzulernen, wenn man sein ganzes bisheriges Leben in Colorado verbracht hatte, eigentlich gar nur in Denver. Die letzten Jahre hatte ich mit meiner Mutter zusammengelebt und die Abende mit einer Handvoll Freunden verbracht. Ein großer Teil meines Weltbildes stammte direkt von meiner Mutter. Es war beeindruckend, wie viel Wissen sie mir vermittelt hatte und wie groß ihre Allgemeinbildung war. Erst in den letzten Monaten war mir dies bewusst geworden. Gerade in den Diskussionen mit meinen Freunden bei einem Bier hatte ich aber sehr oft gemerkt, dass meine Welt trotz allem größer war als ihre. Ich war mir bewusst, dass ich sehr wenig wusste und von dieser Welt nichts gesehen hatte. Ihnen fiel nie auf, wie klein ihr Brosamen an Wissen war. Dies hatte mich weder gestört noch hielt ich ihnen dies vor. Ich verbrachte gern Zeit mit meinen Freunden und wir hatten sehr viel Spaß und hatten gerade an dieser kleinen Welt sehr viel Freude.
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Auf der Fahrt in Richtung Colorado Springs holte mich die Schwere meiner Eltern doch noch ein. Das Wetter war nicht sonderlich gut und die Gegend war in ein schmutziges Weiß gehüllt, das die Gefühle und Gedanken nicht sehr in Richtung Sonne und Neues lenkte. So blieb ich in Gedanken in der Vergangenheit hängen. Es gab sehr schöne Momente in unserer Familie, in denen nicht Probleme mit Geld, Gesundheit und Leere im Vordergrund standen. Ich konnte mich gut erinnern, wie meine Mutter an einem langen Wochenende den Picknickkorb in unser Auto lud und wir in Richtung Colorado Springs fuhren. Dort, ganz in der Nähe, trafen wir Tante Martha und ihren Mann in einem Park namens „Garden of the Gods“ zum Picknick. Es war ein wunderschöner Frühlingstag und rote Felsformationen leuchteten in hellgrüner Natur. Wir waren alle sieben so glücklich! Waren wir uns damals überhaupt bewusst, wie glücklich wir waren? Manchmal erscheint einem das Glück im Nachhinein fassbarer und vor allem messbarer als im Augenblick.
Kurz vor Colorado Springs bog ich nach Westen ab und stand nach wenigen Minuten vor dem Schild „Garden of the Gods“. Ich wollte dies gar nicht, denn es war von vornherein klar, dass ich hier nichts von dem vergangenen Glück finden würde. Es würde mich deprimieren, dass ich niemanden kannte und niemand wusste, dass unsere Familie hier einen der glücklichsten Momente ihres Seins erlebt hatte. Vielleicht würde ich später nochmals mit Tante Martha hierhin zurückkehren und mit ihr gemeinsam über den längst vergangenen Ausflug reden.
Ich parkte dennoch, ohne zu überlegen, meinen Wagen zwischen zwei roten Felsen, die in weißen Schnee gehüllt waren, und schritt in Richtung eines kleinen Pfades. Nach einem kurzen Spaziergang stand ich auf einer Anhöhe und hatte das volle Panorama von Landschaft, Schnee und roten Felsen vor mir. Ein paar wenige Vögel zwitscherten und es wurde heller. Es sah wunderschön aus. Nirgends war jemand oder etwas Störendes zu hören oder zu sehen. Vergessen waren sogar das Picknick, meine Familie, Tante Martha und alles. Nur noch ich und etwas Wunderschönes.
So hatten sich also die Menschen den Garten vorgestellt, in dem sich Gott niederlassen würde, oder so, wie Gott seinen Garten gestalten würde? Ich musste schmunzeln – wenn schon, dann hätte ich mir eher den Garten des Santa Claus so vorgestellt. Um die Felsformationen würden die Rentiere einen Übungsparcours absolvieren durch den Sommer, um im Winter fit zu sein. Wer wusste, was Gott wollte oder wie er seinen Garten gestalten würde? Ist nicht das ganze Universum sein Garten?
Für mich war Gott auf sehr persönliche Weise nahe und zutiefst beeindruckend, gerade weil ich ihn nicht fassen konnte. Gott war für mich alles, was ich kannte, und alles, was ich nicht kannte über das Ende des Universums und der Zeit hinaus. Ich wusste nicht, ob Gott allmächtig war, aber Gott war alles erschaffend und alles zerstörend. Nichts hielt dem Wandel stand, weder eine Mücke noch Berge, noch Meere, noch unsere Erde und auch nicht meine Eltern. Alles wandelte sich in eine Richtung, die ich nicht kannte. „He is the God of nothing, if that’s all that you can see – He is the God of everything, he is inside you and me.“ Diese Strophe eines Jethro-Tull-Songs begleitete mich viel in den letzten Wochen und Monaten. Sie besagte das Gleiche. Gott wäre nichts, wenn er nur daraus bestünde, was wir sehen und was wir in menschliche Gedanken fassen können. Mein Gott war aber unendlich groß, jenseits jeglicher Raum- und Zeitvorstellung.
Für mich war dies hier nicht ein so schöner Ort, dass es der Garten von Gott hätte sein können, sondern Gott selber, wie alles andere auch. Für mich waren auch meine Eltern ein Teil von Gott, sowohl als sie noch lebten wie nun auch nach ihrem Tod. Ich fühlte mich ihnen nahe im Sonnenschein, der durch die Wolken brach, in der kühlen, frischen Luft, die ich einatmete oder in den Vögeln, die sich still von den Ästen erhoben. In meinem Bild gab es keinen Himmel über uns und keine Hölle unter uns, sondern alles war eins.
Bevor ich mich auf den Weg zum Auto zurückmachte, nahm ich mir vor, mich in Zukunft noch mehr anzustrengen. Noch mehr zum Guten dieser Welt beizutragen und auch das Böse und Schlechte nicht zu tolerieren.
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Ich war in den letzten Monaten nicht gewachsen, seit wir uns bei der Beerdigung zum letzten Mal gesehen hatten, aber Martha bestand darauf, was wir beide mit viel Lachen und Umarmen diskutierten. Ich war noch nicht aus dem Auto gestiegen, stand sie mit einem strahlenden Gesicht und schön frisiertem, grauem Haar in der Tür unter dem Vordach. Sie streckte mir die Hände entgegen, während ich die wenigen Tritte zu ihr hochging.
Das Haus war viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, aber alles war perfekt gereinigt und alle Wände und Decken waren in makellosem Weiß gestrichen, daher strahlte das Haus sogar bei Regen und bedecktem Himmel etwas Helles und Warmes aus. Obwohl ich seit Jahren nicht mehr da war, fühlte ich mich sofort wohl. Es gab einen herrlichen Braten zum Abendessen und nach einem gemeinsamen Glas Wein war ich in meinem Zimmer glücklich eingeschlafen mit der Frage, was die Zukunft wohl bringen mochte.
Die folgenden zwei Wochen schnitt ich im großen Garten von Martha Bäume zurecht, stutzte Büsche, richtete Zäune und dichtete das Dach des Gartenhauses ab. Ich konnte sehen, dass in den letzten Jahren starke Arme gefehlt hatten. Martha wollte mich für die Arbeiten bezahlen, aber natürlich war ich mit Kost und Logis mehr als zufrieden. Während ich bei der Arbeit gut meinen Gedanken nachhängen konnte, waren die Abende oft ausgefüllt mit Nachbarn, die zu Besuch kamen. Diese entwickelten sich für mich zu einem lockeren Freundeskreis und wir hatten eine schöne, unbeschwerte Zeit zusammen. Die neuen Kollegen und Kolleginnen in meinem Alter zeigten mir die Stadt, die Bars, die Restaurants oder Kinos. Sie betrieben viel Werbung, wie gut es sich in Colorado Springs leben ließe. Dabei wuchs mir vor allem Bill sehr ans Herz. Er war etwa in meinem Alter und wohnte wenige Häuser die Straße runter. Er hatte hin und wieder für Martha Reparaturen vorgenommen, war aber mehr als glücklich, dass ich ihm nun diese Arbeit abnahm. Er war gerade am Abschluss einer mehrmonatigen Weiterbildung, die ihm sein Arbeitgeber ermöglicht hatte. Er musste diese allerdings neben seiner Arbeit bewerkstelligen und war daher mehr als ausgelastet. Er erzählte mir von riesigen Rechnern, die so viel leisteten, wie tausende Ingenieure zusammen. Ich machte Witze, dass er sich ja bei der NASA bewerben könne. So wie er mich darauf ansah, wäre dies wohl nicht abwegig gewesen. Kurz, ich verstand keinen Deut von seinem Metier, daher konzentrierten wir uns auf die Biere, das Billardspiel oder das Reparieren von Dingen und redeten über das Leben und die Welt. Da er einen Pick-up hatte, fuhren wir oft gemeinsam zum Baumarkt und hatten einfach einen guten Draht zueinander gefunden.
Die nachfolgenden Wochen dehnte ich meine Arbeiten auf die Nachbargärten aus und verdiente dabei auch das eine oder andere. Auch über Jobangebote konnte ich mich nicht beklagen, worüber ich mich auch etwas stolz fühlte und großen Dank empfand. Ich konnte mich also auch in eine andere Gesellschaft einleben und vertraute Menschen finden, von denen ich geschätzt wurde. Dies war nicht selbstverständlich. Nach wenigen Wochen hatte ich bereits das Gefühl, ein Teil der Stadt und ihrer Bewohner zu sein. Meine Absicht war jedoch nie, meine Wurzeln zwei Stunden südlich von Denver wieder wachsen zulassen – zumindest nicht, bevor ich mehr gesehen hatte; mehr von unserem wundervollen Land und mehr ganz einfach vom Leben. Seit ich Denver verlassen hatte, auch wenn ich noch nicht weit gekommen war, spürte ich wieder eine Liebe zu diesem Land, die ich seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Es war eine Liebe oder vielmehr ein tiefes Gefühl von Verbundenheit, das alle aktuellen Probleme verblassen ließ. Nach all den Kriegen, den Morden an den Kennedys und Martin Luther King, nach Nixon und aller Korruption, nach all den für immer verlorenen Arbeitsplätzen hatte ich jeglichen Bezug zu Amerika verloren. In den letzten Tagen schien mir dies alles nebensächlich und das Land, die Geschichte, unsere Vorfahren strahlten auf mich eine Ruhe und Stärke aus, die ich so von den USA noch gar nicht kannte. Mir schienen all das Gezanke der Politiker und unsere kleinen Sorgen des Lebens so klein, eine so kurze Phase im Leben dieses Kontinents zu sein, dass auch meine letzten Sorgen dabei verblassten.
Bei einem gemeinsamen Abendessen deutete ich gegenüber Bill und Martha an, dass es für mich Zeit war, weiterzuziehen. Martha ließ die Gabel fallen und meinte: „Ich habe gewusst, dass du weiterziehen wirst. Du warst sogar länger da, als ich am Anfang zu hoffen gewagt hatte. Aber nun, da der Abschied kommt, wird er mir umso schwerer fallen. Ich weiß, es ist egoistisch, aber ich hoffe sehr, dass du am Ende deiner Reise nach Colorado Springs zurückfinden wirst.“ Bill zog die Augenbrauen hoch und aß weiter. Als Martha schwieg, sagte er lediglich „Dito“ und nahm einen weiteren Bissen Kartoffeln in den Mund. „Weißt du denn inzwischen, wo dich deine Reise hinführen soll?“, fragte Martha. „Sicherlich gegen Westen, mehr habe ich mir bewusst noch nicht überlegt. Ich will Orte entdecken, nicht sie suchen.“
Ich fuhr in Richtung Süden, ohne mir groß Gedanken zu machen, wie weit ich kommen oder wohin mich die nächsten Monate bringen würden. Ich wusste, dass es in der Nähe ein National Monument namens „Great Sand Dunes“ geben sollte, welches mir Martha empfohlen hatte. Es war gut, mit einem kleinen Ziel vor Augen loszufahren, wenn ich mir auch bewusst war, dass dahinter die große Ungewissheit auf mich wartete. Ich hatte es nicht als Abenteuer empfunden und war auch überraschend wenig unternehmungslustig unterwegs. Wenn man einen Lebensabschnitt abbrach, ohne den neuen zu kennen, löste dies bei jemandem wie mir durchaus auch ein mulmiges Gefühl aus. Ich war jedoch zu jedem Zeitpunkt überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.
An unseren vielen gemeinsamen Abenden mit Martha hatte ich gemerkt, dass sie und ihr Mann nie Zweifel hatten, ob sie am richtigen Ort waren oder ob es einen besseren Ort für sie gegeben oder ob ein besseres Leben irgendwo auf sie gewartet hätte. Die beiden waren immer sehr glücklich mit ihrem gemeinsamen Leben in Colorado Springs. Ich konnte mir vorstellen, dass die neu gewonnene Freiheit unsere Generation nicht glücklicher machen würde. War es eine neu gewonnene Freiheit? Immerhin waren in der Vergangenheit hunderttausende Menschen vor mir in Richtung Westen aufgebrochen. Manche aus Abenteuerlust, andere einfach um eine bessere Existenz zu finden. Die Reise war heute viel angenehmer, das Risiko viel niedriger und die Aussicht viel sicherer. Für Frauen war die Freiheit ungleich größer geworden nach deren Unterdrückung die ganze Geschichte hindurch. Bill war dennoch sehr beeindruckt, wie selbstverständlich ich das Bisherige in Frage stellte und mich auf Neues freute. Ich war gespannt, ob auch er seine Reise antreten würde. Ich hatte sehr stark das Gefühl, dass er wie ich auf der Suche war nach etwas, das er noch gar nicht benennen konnte.
Nach etlichen Hinweisschildern tauchten am Horizont tatsächlich Sanddünen auf, die aussahen, als ob ein gigantischer Hubschrauber sie aus Versehen verloren hätte. Je näher ich kam, umso unwirklicher sahen sie aus. Der Ort war wunderschön mit Bäumen, Wasser, Sand und Bergen. Ich musste mir immer wieder sagen, dass dies kein Filmset war, sondern ein Naturphänomen. Es war zwar bereits später Nachmittag, aber ich wollte losmarschieren, um den Ort besser fassen zu können. Nach etlichen Umwegen war ich nach einer knappen Stunde auf einer Dünenspitze angelangt und setzte mich in den kalten Sand. Wirklich realer wirkte die Szenerie noch immer nicht, aber es wurde langsam Abend und die Stimmung mit den Wolken war wunderschön.
Ich schaute über die Dünen und überlegte, wie lange diese bereits hier waren, woher der Sand gekommen sein mochte und ob dieser je wieder weggetragen würde. Auch wenn keine Dünen mehr hier sein würden, die Sandkörner würden woanders weiterbestehen. Sie würden sich vereinen mit dem Meeresgrund, als Baustein eines Hauses dienen oder an meinen Schuhen im Auto tausende Kilometer durchs Land getragen werden. War ein einzelnes Sandkorn vergänglich? Vielleicht war dies ja auch symbolisch für unser Leben. Vielleicht würden auch wir neue Formen annehmen, um am Ende unseres Universums zu etwas ganz Neuem zu verschmelzen am Rande der Unendlichkeit.
Kurz nach Sonnenuntergang sprach mich ein Parkranger von hinten recht unfreundlich darauf an, dass der Aufenthalt im Park am Abend verboten sei und dass ich mich bitte unverzüglich zum Ausgang begeben und das Monument verlassen solle. Ziemlich aufgeschreckt und offensichtlich aus den Gedanken gerissen entschuldigte ich mich stammelnd und erklärte, dass ich mich wohl zu sehr in meinen Gedanken verloren hatte, und begann, meine wenigen Sachen zusammenzupacken.
Er spazierte mit mir die Dünen runter, einerseits wohl, um mich definitiv nach draußen zu begleiten, andererseits war er vielleicht auch einfach froh, jemanden zu treffen. Die Gegend lag am Abend, so früh im Jahr, wie ausgestorben da.
„Ich war so sehr in meine Gedanken vertieft, dass ich alles um mich herum vergessen habe.“ „Kein Problem, worüber hast du denn nachgedacht? Ich bin übrigens John.“ Nachdem auch ich mich vorgestellt hatte, erklärte ich ihm, dass ich gerade im Begriff war, mir zu erklären, was Unendlichkeit war und bedeutete. Er quittierte dies mit einem Lachen, aber ernsten Augen. Er war beeindruckt von meinem einfachen Vergleich zu den Sandkörnern, die verschiedene Formen bilden konnten.
John hatte ebenfalls gute, einleuchtende Erklärungen und Ansichten und er konnte mit mehr Enthusiasmus erzählen, als es je einer meiner Lehrer vermochte. Vorstellen würde ich mir die Unendlichkeit aber wohl nie können. „Es ist möglich, dass unser Universum bereits unendlich oft existiert hat und jedes Mal wieder nach Milliarden von Jahren in sich zusammengefallen ist in einem riesigen Urknall, um wieder ganz von vorne zu beginnen. Was uns unendlich lange scheint, ist in Wahrheit vielleicht nur ein kurzes Ausdehnen und Zusammenziehen in einem wahrlich unendlichen Prozess. Was außerhalb dieses Phänomens liegt, entzieht sich unserer Kenntnis, vermutlich für immer. Was uns unvorstellbar groß und unvorstellbar alt scheint, ist in Wirklichkeit klein und ein kurzer Moment in der Ewigkeit.“ „Und was, glaubst du, passiert nach unserem Tod?“ „Wir haben den Trost, dass wir in mehrfacher Hinsicht weiterleben. Erstens wird die Energie unseres Körpers frei und kehrt dahin zurück, woher sie gekommen ist, oder zieht weiter zu etwas Neuem. Zudem leben wir in unserer Umgebung weiter – ob positiv oder negativ. Wir leben in den Herzen unserer Mitmenschen, der Haustiere, Nutztiere und schlussendlich unserer gesamten Umwelt weiter. Unsere Umwelt ist wie ein Spiegel oder ein schwaches Abbild von uns.“ „Ja, dies scheint auch mir ein großer Teil des ewigen Lebens zu sein: das Weiterleuchten in unserer Umwelt. Wie viele Generationen mag ich positiv oder negativ beeinflussen?“ „Ja genau, es ist wie die Schmetterlingstheorie. Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien mag in Texas einen Tornado verursachen. Wir haben oft keine Ahnung, was wir in der Zukunft anrichten, weder zum Guten noch zum Schlechten. Last, but not least steht die Frage nach der Seele, dem Stück Gott oder ewiges Leben in uns. Da wir Gott nicht verstehen, können wir die Seele nicht verstehen. Ich gebe mich mit den vorherigen Gedanken zufrieden und hoffe doch sehr auf die Seele“, sagte John mit einem hoffnungsvollen Lachen.