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Zwei Söhne hat der Jochbauer: den Hoferben Hannes und den Ingenieur Matthias. Zwischen den beiden ungleichen Brüdern steht die schöne Sophie. Sie heiratet Hannes, denn sie glaubt, dass sie durch den Wohlstand und die Sicherheit des eigenen Hofes das Glück fi nden wird. Trotz Hannes' aufrichtiger Liebe, zweifelt Sophie bald an ihrer Entscheidung. Als sich Sophie und Matthias nach langer Zeit wieder gegenüberstehen, brechen die Gefühle mit neuer Macht über sie herein. Beide wehren sich verzweifelt gegen ihre Liebe zueinander, doch das Schicksal lässt sich nicht aufhalten …
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LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2011
© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Bearbeitung und Lektorat: Dr. Elisabeth Hirschberger, RegensburgTitelfoto oben: Rene Prager, © www.fotolia.comTitelfoto unten: Studio von Sarosdy, DüsseldorfSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-475-54384-5 (epub)
Hans Ernst
Wo der Alpbach rauscht
Zwei Söhne hat der Jochbauer: den Hoferben Hannes und den Ingenieur Matthias. Zwischen den beiden ungleichen Brüdern steht die schöne Sophie. Sie heiratet Hannes, denn sie glaubt, dass sie durch den Wohlstand und die Sicherheit des eigenen Hofes das Glück finden wird. Trotz Hannes’ aufrichtiger Liebe zweifelt Sophie bald an ihrer Entscheidung.Als sich Sophie und Matthias nach langer Zeit wieder gegenüberstehen, brechen die Gefühle mit neuer Macht über sie herein. Beide wehren sich verzweifelt gegen ihre Liebe zueinander, doch das Schicksal lässt sich nicht aufhalten …
Weit schwingen die melodischen Klänge der Kirchenglocken von Reuth ins Land hinaus. Ihr Echo klingt über die blühenden Sommerwiesen bis zu den hoch gelegenen Weilern und Höfen hinauf um dann in den Felswänden zu verhallen.
Das Hochamt ist gerade zu Ende. Die Leute strömen durch den Friedhof auf den breiten Dorfplatz hinaus. Die Frauen müssen heim, die Männer suchen das Wirtshaus »zum Lamm« auf, nachdem sie die Anschlagtafel am Rathaus gelesen haben, auf der steht, dass in der kommenden Woche endlich die Hagelschäden des vergangenen Jahres ausgeglichen werden sollen. Unter den schattigen Kastanienbäumen des Wirtsgartens aber versammeln sich die jungen Burschen und besprechen unter sich die Neuigkeiten der Woche. Sie stehen abseits von den Männern und reden ein wenig prahlerisch über die Liebe, die sie entweder noch gar nicht oder nur zu einem geringen Teil erlebt haben. Nein, sie wissen noch nichts Bedeutendes von der Liebe, noch nichts von ihrer Schönheit und nichts von ihrer dämonischen Gewalt.
Unter den jungen Burschen steht einer, der die anderen fast um Haupteslänge überragt. Sein schmales, braun gebranntes Gesicht ist kühn geschnitten. Die Nase ist am Rücken ganz leicht gebogen, der Mund hat eine knabenhaft trotzige Strenge. Es ist der jüngste Sohn vom Kremser im Joch, dem höchstgelegenen Hof der Gemeinde Reuth. Er ist Student, will Ingenieur werden und es ist sein letzter Tag in diesen Semesterferien. Nichts erinnert allerdings daran, dass er Student wäre. Er trägt die einfache Kleidung der Bauern dieses Tales und seine Hände sind rau von der harten Arbeit des Sommers.
Manchmal lächelt er, wenn er die anderen so großspurig von dem sprechen hört, was eigentlich geheimnisvoll bleiben sollte. Die Liebe ist etwas so Wertvolles, dass man alles, was damit zu tun hat, nur mit großer Achtung in den Mund nehmen sollte. Aber nein, sie müssen sie zerreden, zerpflücken und in ihrer Angeberei abwerten.
Matthias äußert sich überhaupt nicht, obwohl ihm die Liebe nicht mehr ganz unbekannt ist. Allerdings hat sie auch ihn noch nicht tiefer berührt. Nur Begegnungen hat es in seinem Leben gegeben, wie sie jeder Student gern mitnimmt.
Matthias Kremser sollte einmal Rechtsanwalt werden. Sie brauchen so einen aus ihren Reihen, die Bauern, einen, der mit der Verstocktheit oder der Pfiffigkeit ihres Wesens vertraut ist, der mit instinktiver Sachkenntnis die krummen Wege wieder begradigt und sich auch vor einem Staatsanwalt nicht beeindrucken lässt, wenn es heißt, dass sie geschmuggelt oder gewildert hätten. Und so waren sie ein wenig enttäuscht, als es dann plötzlich bekannt wurde, dass der junge Kremser nicht Rechtsanwalt, sondern Ingenieur werden wolle.
Ingenieur? Die Bauern des Tales finden auch darin etwas Nützliches für sich. Vielleicht kann der Matthias diesen verdammten Alpbach, dieses reißende Gebirgswasser, bändigen, das alle drei oder vier Jahre die Wiesen vermurt und die Ernte vernichtet. Ja, so etwas Ähnliches erwartet man von Matthias, obwohl er nie darüber spricht, denn er besitzt die Verschwiegenheit der Kremser, die so oft als Arroganz ausgelegt wird.
Die jungen Männer haben das Thema jetzt gewechselt und sind von den Mädchen auf die Mechanik gekommen. Der Büchler Florian will wissen, dass Mercedes einen neuen Wagen herausbringt, den dann der Stabler Anton mit seinem klapprigen Fiat nicht mehr überholen kann. Wenn es über Motoren geht, kann auch der Matthias ein wenig mitreden, und er weiß auch, dass Mercedes jetzt wohl ein neues Modell herausbringen wird. Aber weder er noch sonst einer in dieser Runde kann sich so einen Wagen leisten.
»Am besten ist’s, wir bleiben bei unserer Hausmarke ›RTS‹«, meint der Angerer Schorschl und schiebt dabei seinen Hut aus der Stirn.
»Was wär denn das für eine Marke?«, fragt der Schneekugl Sepp, den die Natur zwar mit sehr erstaunlichen Körperkräften, dafür aber auch mit nur geringen Geisteskräften ausgestattet hat.
»Rindviech, tritt selber«, klärt der Schorschl ihn lachend auf und greift nach seinem Fahrrad, das an der Holzwand der Kegelbahn lehnt.
Die Kirchgänger haben sich fast alle verlaufen, als um die Ecke des Schulhauses noch ein Mädchen biegt und mit festem Schritt über den Dorfplatz geht. Den jungen Burschen reißt es die Köpfe in die Höhe und der Angerer Schorschl, der bereits auf seinem Fahrrad sitzt, steigt wieder ab und schnauft durch die Nasenflügel:
»Donnerwetter! Die hat Rasse.«
Er sagt es so laut, dass das Mädchen es unbedingt hören muss. Aber sie wendet ihr Gesicht nicht um, sondern geht unbeirrt weiter. Die Seidenfransen ihres Schultertuches zittern bei jedem Schritt. In ihrem fast blauschwarzen Haar flimmert die Sonne.
Nicht nur die anderen, sondern auch Matthias Kremser blickt diesem Mädchen wie gebannt nach. Er weiß nicht, was es ist, aber irgendwie hat dieses Gesicht einen tiefen Eindruck in ihm hinterlassen. Es hat ihn etwas angerührt und er spürt eine merkwürdige, leise Unruhe in sich. Das wundert ihn eigentlich, weil er so etwas nicht kennt.
»Wer war denn das Mädl?«, hört er sich selbst wie in einem Traum fragen. Und da stellt sich heraus, dass eigentlich niemand es kennt.
Eine Fremde also, die vielleicht nur zu Besuch in Reuth ist. Beim Brunnhuber vielleicht, unter dessen Haustür sie jetzt verschwunden ist.
Nachdenklich schaut Matthias in den blauen Himmel hinauf, in dem ein paar kleine Schäfchenwolken segeln. Blitzschnell schießen die Schwalben über die Dächer hin. Dann läutet die Wandlungsglocke der Zehnuhrmesse. Es ist höchste Zeit für Matthias, sich auf den Heimweg zu machen.
Den brausenden Alpbach entlang geht Matthias Kremser den steilen Karrenweg hinauf. Zwar führt in einem weiten Bogen auch eine bequemere Fahrstraße zum Hochtal, aber hier ist er eben rascher daheim. Manchmal bleibt er stehen und schaut auf das Dorf zurück, das immer weiter in der Tiefe zurückbleibt.
Hier bin ich daheim, denkt er, und er denkt es mit einem Gefühl von Vertrautheit und Zuneigung. Von Geburt an ist er mit diesem Dorf verbunden. Den weiten Weg zur Schule ist er gegangen in Sonnenhitze und eisiger Winterkälte. Und manchmal ist es so gewesen, dass die Schule für ein paar Tage ausgefallen ist, wenn der wilde Alpbach das Dorf mitsamt der Schule überschwemmt hat. Aber immer wieder ist es wieder auferstanden aus Schlamm und Mur. Immer wieder sind sie da gewesen, die einfachen, schweigenden Reuther, haben die Häuser, Ställe und Schuppen wieder instand gesetzt, unverwüstlich in ihrer Art und tief erfüllt von der Liebe zu ihrem kleinen Dorf.
Ja, Rechtsanwalt hätte Matthias werden sollen. Die Reuther hätten es gerne gesehen, wenn einer aus ihrer Mitte ihr Recht bei Staat und Regierung durchgefochten hätte, damit man nicht immer um jeden entstandenen Schaden auf langwierigen Wegen hätte streiten müssen.
Aber Matthias hat frühzeitig erkannt, dass ihm die trockene Juristerei nichts geben könnte, dass sie ihn nicht befriedigen würde. Es drängte ihn nach kühnen Entwürfen, nach Werken, die seinen Namen bekannt machen würden. Er spürt die Kraft dazu und will sich alle Mühe geben. Wenn man schon so viel Vertrauen in ihn setzt, dann will er wirklich einmal etwas schaffen, das dieses Vertrauten rechtfertigt.
Der Alpbach braust und springt ungebärdig über Baumstrünke und Felsbrocken. Sein Bett ist zerklüftet und ausgeschwemmt. Und wenn man auch immer wieder versucht hat, ihm da oder dort einen Damm zu setzen, seine wilde Gewalt hat oft alles wieder niedergerissen, als spotte er über jegliche Mühe der Menschen.
Man müsste ihn schon viel weiter oben auffangen und das aufgestaute Wasser zum Nutzen des Tales verwenden, denkt Matthias. Vielleicht schon weiter hinter dem Joch im Hochtal. Und im Geist sieht er schon die schweren Krane durch die Luft schwenken und auf einer Seilbahn werden die Zementsäcke bergwärts geschafft! Um seinen Mund gräbt sich ein bitterer Zug, weil er weiß, dass dies ein Millionenprojekt sein würde. Die Regierung aber hat andere Sorgen, sie hat vor allem andere Leute an der Hand und wartet nicht darauf, dass so ein junger, neu gebackener Ingenieur daherkommt und seine Pläne für ein Kraftwerk vorlegt.
Als er so dasteht und auf die Wiesen hinunterschaut, blendet ihn auf einmal etwas. Seine Augen werden ganz schmal und dann fühlt er eine merkwürdige Beklemmung, denn er sieht das fremde Mädchen um eine Wegbiegung kommen. Sie geht ganz langsam und einmal bleibt sie stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es gibt keinen anderen Weg hier, sie muss an ihm vorbei.
Jede ihrer Bewegungen nimmt er in sich auf, als wolle er sich sie für immer in sein Gedächtnis prägen. Ihre Schritte sind federnd. Sie ist auch gar nicht mehr so jung, wie er am Anfang gemeint hat. Mindestens vierundzwanzig. Den Kopf trägt sie mit natürlicher Grazie. Den rechten Arm hat sie beim Gehen in die Hüfte gestemmt, der linke macht die Bewegung des Schrittes mit.
Nun sieht auch sie den jungen Mann und bleibt stehen. Ihre dunklen, fast rabenschwarzen Augen mustern ihn halb spöttisch, halb neugierig. Er aber verzieht keine Miene, starrt sie nur an wie ein Wunder, das aus der Tiefe des Tales zum ihm aufgestiegen ist.
»Warm ist’s heut«, sagt sie und lächelt dabei. Sie hat blendend weiße Zähne und Grübchen in den Wangen.
»Wie weit müssen Sie noch gehen?«, fragt er.
Kaum merklich bewegen sich ihre Brauen.
»Wie weit ich noch gehen muss?«, wiederholt sie endlich seine Frage und deutet mit ausgestrecktem Arm über einen mächtigen Hügelrücken hin, hinter dem man gerade noch ein rotes Schindeldach sehen kann. »Bis zum Toblacher hinauf.«
»Sind Sie dort angestellt?«
»Man kann es wohl so nennen«, gibt sie zu. »Aber seit wann ist es im Hochtal Brauch, dass man — ich meine — warum sagst du Sie zu mir?«
Da lächelt Matthias und gibt zu, dass er es in der Stadt eben so gelernt habe.
»Ach so, du lebst in der Stadt?« Das Mädchen mustert mit schnellem Blick seine Kleidung. »Siehst aber aus wie einer von hier.«
»Bin ich auch. Ich studiere nur in der Stadt. Aber wenn ich in den Ferien daheim bin, bin ich Bauer. Der Vater will es so.«
»Ach so, du studierst? Was denn? Willst du vielleicht Pfarrer werden? «
Er erschrickt über ihren spottenden Ton.
»Das Schlechteste wäre das auch nicht. Zumindest bräuchtest du darüber nicht spotten.«
»Ich spotte doch nicht. Es ist mir bloß so rausgerutscht. Sei nicht gleich bös.«
Sie sehen einander in die Augen. Matthias senkt seinen Blick zuerst. Ihr Blick hat ihn ein wenig verwirrt.
»Ich hab dich noch nie gesehn auf den Toblacherwiesen. Die grenzen teilweise an die unsern«, meint er nach einer Weile.
»Das glaub ich gern«, lacht das Mädchen. »Ich bin ja erst acht Tage hier und hauptsächlich im Haus beschäftigt. Die Toblacherin ist eine entfernte Verwandte von meinem Vater und ich bin bloß zum Aushelfen hier, bis sie wieder vom Kindbett aufsteht.«
»Und danach gehst du wieder?«
»Ja, danach geh ich wieder.«
»Verschwindest ganz einfach spurlos aus der Gegend?«
»Jawohl, ganz spurlos und schmerzlos. Aber weißt du eigentlich, dass du furchtbar neugierig bist?«
»Nein, wieso?«
»Weil du so viel wissen möchtest.«
»Gar nichts weiß ich«, lächelt Matthias und spürt, wie sein Mut zunimmt. »Vor allem weiß ich gar nicht, wie du heißt.«
»Möchtest es gerne wissen?«
»Sehr gerne«, gesteht er und macht dabei ein paar schmachtende Augen.
»Also, Sophia heiß ich. Aber es rufen mich alle nur Sophie. Reicht dir das?«
»Es müsste mir eigentlich reichen, denn du gehst wieder fort, und ich auch. Und zwar schon morgen.«
»Ach so, schon morgen? In die Stadt zurück?« Es klingt wie eine kleine Enttäuschung.
»Natürlich in die Stadt zurück, zu meinen Büchern.«
»Und zu deiner Freundin?«
Matthias schüttelt lachend den Kopf. »Wieso, schau ich so aus?«
»Wenn einer so ausschaut wie du, muss man das annehmen.«
»So? Wie sehe ich denn aus?«
Sie betrachtet ihn wieder aus einem schmalen Spalt ihrer Augen.
»Du willst wohl ein Kompliment hören?«
»Du verkennst mich. Obwohl, ein Kompliment möchte ich mir von dir ganz gern machen lassen.«
»Na also. Halb siehst du aus wie ein erwachsener Mann und halb wie ein Bub. Und jetzt muss ich weitergehn, es wird Mittagszeit.«
»Ein Stück haben wir noch den gleichen Weg, wenn es dir nichts ausmacht, begleit ich dich.«
»Was soll es mir ausmachen? Zu zweit ist es nicht so langweilig.«
Sie gehen im gleichen Schritt. Und wenn sie verschnaufend stehen bleibt, tut er es auch. Sie wechseln ein paar belanglose Worte, nichts Bedeutungsvolles. Das will Matthias sich aufheben bis zu der hölzernen Brücke, wo sie sich trennen müssen.
Immer wieder betrachtet er ihr schmales, rassiges Gesicht. Ihre Wangen sind vom Steigen gerötet, ihre Unterlippe ist etwas stärker als die obere. Er spürt eine brennende Lust, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen. Als er aber absichtlich im Gehen ihre Hand streift, zieht sie diese zurück. Aha, denkt er, so einfach ist das nicht. Sie nimmt mich vielleicht nicht ganz für voll.
Nun haben sie die Brücke erreicht. Donnernd schießt das Wasser des Alpbachs unter ihr durch. Hier trennen sich die Wege nach dem Joch und nach Lehen, dem Weiler mit seinen vier Höfen. Im Joch aber gibt es nur einen Hof, den des Adam Kremser.
»Schade, dass wir uns erst jetzt kennen gelernt haben«, meint Matthias, beugt sich über das Brückengeländer und schaut in die Tiefe.
»Was soll dabei schade sein?«, fragt sie zurück und schaut ebenfalls in das rauschende Wasser.
Seine Schulter berührt ganz leicht die ihre, absichtlich, und er wartet darauf, dass sie ausweicht. Aber sie tut es nicht. Er spürt die Wärme, die von ihr ausstrahlt. Ihr Atem geht rasch.
»Wir hätten doch manchmal zusammen sein können«, meint er dann.
»Ja, das hätten wir, wenn du kein Student wärst.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Ich bin doch nur ein ungebildetes Mädchen.«
»Dafür hast du andere Qualitäten. Weißt, komm heut Abend ins Türkenholz. Ich warte dort auf dich. Ich möchte dich nämlich etwas sehr Wichtiges fragen.«
»Kannst du das nicht jetzt gleich?«
»Nein, nein, auf gar keinen Fall.«
Da wendet sie ihm ihr Gesicht zu. Zwischen ihren Brauen steht eine steile Falte.
»Glaubst du wirklich, dass ich so einfach kommen würde?«
Heiß schlägt ihm die Röte ins Gesicht.
»Nein, entschuldige! Ich kann doch genauso gut zum Toblacher kommen. Wenn es dir recht ist, natürlich.«
»Das will ich wieder nicht«, antwortet sie. »Ich will nicht ins Gerede kommen.«
Matthias betrachtet ihre seidige, braune Haut und den rötlichen Schimmer auf ihren Wangen. Dann blickt er auf die Erde. Ihr Blick aber bleibt fest auf ihn gerichtet.
»Dann eben nicht«, sagte er nach einer Weile niedergeschlagen. »Aber es hätte mich sehr gefreut.«
»Damit du danach in der Stadt deinen Freunden erzählen kannst, du hast nur mit dem kleinen Finger zu winken brauchen und das Mädchen sei dir schon zugeflogen.«
Zornig blickt er auf.
»Ich weiß nicht, wofür du mich hältst. Was weißt du überhaupt schon von mir?«
»Gar nichts. Drum kann ich auch nicht zu dir in den Wald gehen. Wer weiß, was du alles vorhast.«
»Also gut. Betteln kann ich nicht. Aber ich werde viel an dich denken müssen.«
Da stemmt sie sich mit den Händen vom Brückengeländer ab und lacht hell auf.
»Was ihr Männer euch alles einbildet!« Sie legt den Kopf zur Seite und betrachtet ihn. »Aber vielleicht komme ich doch.«
Und ehe er noch nach ihrer Hand fassen kann, um sich zu verabschieden, huscht sie davon und geht mit raschen Schritten auf den Toblacher-Hof zu.
Matthias lehnt sich gegen das Brückengeländer und folgt ihr mit den Blicken, bis sie verschwindet. Dann legt er den letzten, steilen Rest seines Weges zurück.
In der Stube des Kremsers im Joch ist es schon recht duster. Der schwere Schatten des nahen Waldes fällt durch die kleinen Fenster herein. Die schweren Balken an der Decke sehen in diesem Zwielicht wie drohende Ungeheuer aus.
Der Alte sitzt auf der Ofenbank. Sein Haar ist schneeweiß, sein Rücken gekrümmt von der Last der Jahre. Das Gesicht ist hager und gleicht gegerbtem Leder. Der Mund ist schmal wie ein Strich, das Kinn ist in der Mitte gespalten. Zwischen seinen Händen hält er einen Stock, den er zum Gehen benutzt, da sein rechter Fuß etwas gelähmt ist.
Jetzt schaut er auf die Uhr und stößt dann dröhnend den Stock gegen den Bretterboden.
»Heh, Lisa! Wo bleibt denn ’s Abendessen? Wirst wieder gar nicht fertig heut!«
Jetzt wird die Tür aufgestoßen und eine alte Magd trägt eine volle Suppenschüssel herein. Ihr auf dem Fuß folgt Matthias, der die Teller trägt. Dann kommt sein älterer Bruder Hannes und den Schluss bildet der Knecht Axel, ein kraftvoller und von Gesundheit strotzender Mann um die dreißig.
Reihum nehmen sie dann am Tisch mit der blank gescheuerten Ahornplatte Platz. Matthias geht hin und schaltet die Lampe ein. Sofort reißt der Alte seinen wuchtigen Schädel hoch und sagt mit beißendem Spott:
»Ah, der Herr Student findet wohl nicht den Mund mit dem Löffel und braucht Licht.«
»Ist doch schon so duster hier drinnen«, verteidigt sich Matthias.
»Und wer bezahlt das Licht? Du vielleicht? Nein, da kommt man schon zu mir, wenn man Geld haben will.«
Da steht der Hannes wortlos auf, geht hin zum Lichtschalter und dreht das Licht wieder aus.
Hannes sieht seinem Bruder nicht ähnlich, ist kleiner und breiter. Nur die leicht gebogene Nase, das Wahrzeichen der Kremser, hat auch er. Seine Gesichtsfarbe ist nicht so gesund, wie man es bei einem Menschen erwarten könnte, der in solcher Höhe wohnt, wo die Sonne oft glühend auf Menschen und Tiere herunterbrennt. Manchmal hustet er und dann blickt der Alte jedes Mal unwillig auf.
Matthias hat es heute sehr eilig. Schnell löffelt er seine Suppe und schaut immer wieder auf die Uhr. Auch das entgeht dem Alten nicht.
»Was pressiert dir denn heut noch so?«, fragt er.
»Ein bissl Luftschnappen will ich noch.«
»Hast dir noch nicht genug geschnappt heut? Leg dich lieber schlafen. Morgen musst früh raus.«
»Ich muss mir noch mal den Alpbach anschaun, unten, bei der Brücke«, weicht Matthias aus.
»So, so, den Alpbach. Ja, schau ihn dir nur gut an, damit kein anderer dazukommt, ihn zu regulieren. Das steht dir zu, verstehst du mich, Matthias? Dir ganz allein. Glaub nur nicht, dass ich das viele Geld für dein Studium umsonst ausgegeben haben will. Hörst mich, was ich sag? Nichts will ich umsonst ausgegeben haben.«
»Ja, Vater.«
»Das möchte ich noch erleben«, spricht Adam Kremser weiter. »Wohl dreißigmal hab ich’s erlebt, wie der Alpbach verrückt gespielt hat und unsere Wiesen vermurt hat. Und drum möchte ich’s noch erleben, dass er zahm wird und geduldig. Ganz zahm muss er werden.«
»Bei deiner Gesundheit erlebst du das leicht noch«, sagt Hannes.
»Ja, gesund bin ich«, lacht der Alte, schiebt aber gleich wieder seine dichten, weißen Augenbüschel zusammen. »Gesünder auf alle Fälle als du. Ich weiß überhaupt nicht, was mit dir los ist. Dauernd bist müd und matt und hast Atemnot. Wenn’s die Lunge ist, dann lass dir einen guten Rat von mir geben. Als ich jung war, war ich auch einmal krank. Erhitzt bin ich gewesen und hab vom eiskalten Bergquell droben getrunken. Hab ein paar Monate gehustet dann und es ist mir immer elender geworden. Aber dann hab ich mir gesagt, wenn die Sonn nicht helfen kann, der Doktor kann es auch nicht. Und dann hab ich mich auf die hohe Mahd hinaufgelegt. Da hat vielleicht die Sonn runtergebrannt auf mich. Jeden Tag hab ich das gemacht, ein paar Wochen lang. Und wie der Herbst gekommen ist, da war ich wieder gesund. Ich wäre noch ein bärenstarker Mensch, wenn ich meinen lahmen Haxen nicht hätte.«
Niemand hat bemerkt, dass Matthias die Stube bereits verlassen hat.
»Bei ihm ist es aber nicht die Lunge«, sagt jetzt die Lisa, die schon bald dreißig Jahre auf dem Hof ist. »Bei ihm ist es ’s Herz. Er hat immer schon ein schwaches Herz gehabt und das muss er von seiner Mutter geerbt haben.«
Adam Kremser hat wieder sein spöttisches Lächeln um den schmalen Mund. Er kann nicht verstehen, wieso ein Mann mit dreißig Jahren schon ein schwaches Herz haben kann. Nach seiner Meinung gibt es da nur ein Heilmittel und er sagt:
»Dann heirate was Herzhaftes, das stärkt dir dein eigenes Herz. Was meinst du, Matthias? Ach so, der Student ist schon verschwunden.«
Im Hinausgehen dreht jetzt der Knecht Axel das Licht an, und diesmal sagt der Kremser nichts mehr. Das Licht der Glühbirne spielt nun in dem grünen Blattgewirr des Efeus, der sich vom Fenster her über die halbe Stubendecke hinzieht.
Die Lisa hat jetzt den Tisch abgeräumt und schiebt dem Alten den gefüllten Tabaksbeutel hin. Der Adam Kremser raucht eine halblange Pfeife mit einem Porzellankopf. Weit zurückgelehnt sitzt er da und schaut den blauen Rauchwölkchen nach.
Um diese Zeit ist Matthias über die steile Hügelwiese, die große Mahd, wie der Vater sie nennt, gestiegen, denn dies ist der nächste Weg zum Türkenholz, einem stark gelichteten Fichtenwald, der dem Kremser gehört.
Einmal bleibt er stehen und schaut zurück auf den väterlichen Hof. Breit hingelagert liegt er in der tiefen Dämmerung. Nur die Untermauer ist aus Stein, sonst ist der ganze Hof aus Holz gebaut, das schon fast schwarz ist von der Sonne vieler Sommer. Das Dach ist mit großen Steinen beschwert. Neben der Esse ragt das kleine Türmchen mit der Dachglocke empor. Immer noch haben sie kein Licht angemacht und Matthias lächelt über den Geiz des Vaters, der am liebsten noch einer Maus das Fell abziehen würde, um es zu verkaufen. Aber ihm kann es gleich sein. Den Hof wird der Hannes einmal bekommen und der kann sich ins Fäustchen lachen über all den Reichtum, den der Geiz des Vaters in den vielen Jahren zusammengetragen hat.
Er beschleunigt nun seine Schritte. Ob sie wohl da sein wird, denkt er und stellt dabei fest, dass es ihm Leid täte, wenn sie nicht käme. Andererseits sagt er sich, dass ein Mädchen wie sie auf so einen Vorschlag nicht leicht eingehen wird. Wenn er an ihre Zurückhaltung vom Vormittag denkt, kann er sich gar nicht vorstellen, dass sie kommen wird. Und doch, er will nicht umkehren. Es ist eine ganz eigentümliche Unruhe, die ihn treibt.
Dann hat er das Türkenholz erreicht. Hier ist die Dämmerung schon zur Nacht geworden. Nur wenn er den Blick zu den Wipfeln aufhebt, sieht er noch den leisen Schimmer des glänzenden Abendlichts.
Nach kurzer Zeit hat er den Wald durchquert, geht noch einen kleinen Hügel hinauf und sieht dann weiter unten den Weiler Lehen mit seinen vier Höfen und der kleinen, weißen Kapelle in der Mulde liegen.
Dort brennen schon hell die Lichter in den Häusern. Irgendwo bellt ein Hund, eine Tür wird zugeschlagen. Dann wieder Stille.
Sie kommt also nicht, denkt er. Im selben Augenblick aber erfüllt sich sein Herz mit stürmischer Freude, denn hinter dem Toblacherhof wird eine Gestalt sichtbar, die jetzt langsam den Hang heraufkommt. Nein, es ist keine Täuschung: es ist die Sophie! Er erkennt sie an ihrem Gang, an der Haltung. Sie blickt nicht auf und schaut sich nicht um, sondern geht gelassen ihren Weg auf den Fichtenwald zu.
Da ruft er sie, als sie schon sehr nahe gekommen ist. Sie bleibt stehen, hebt den Kopf und lächelt ihm zu. Mit raschen Schritten eilt er zu ihr und fasst sie an den Händen.
»Ich habe mich kaum zu hoffen getraut, dass du kommst, Sophie.«
»Warum nicht? Hier bin ich öfter am Abend.«
»Und das hab ich nicht gewusst! Wie viel habe ich dadurch versäumt!«
»Ach du«, lächelt sie, »wie du doch von dir eingenommen bist! Du könntest doch genauso gut von mir enttäuscht gewesen sein.«
Er presst ihre Hände ganz fest. Seine Augen strahlen sie an.
»Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil du nicht so wirkst, als könntest du mich enttäuschen.«
In ihren Augen glüht ein schönes Leuchten auf.
»Wollen wir uns dort auf den Baumstamm setzen?«
Nebeneinander setzen sie sich hin. Am Himmel sind unzählige Sterne aufgeflammt und diese Nacht wird wohl nie ganz dunkel werden, denn hinter den Bergen schiebt sich schon die fahle Helligkeit des Dreiviertelmondes herauf.
Die Sophie verschränkt die Hände im Schoß und schaut in die Tiefe. Einmal streicht sie mit der Hand über ihre Stirne als wolle sie etwas wegwischen, was nicht sichtbar da war. Dann wendet sie sich ihm zu.
»Und?«, fragt sie. »Warum bist du jetzt so still? Ich dachte, wunder was du mir zu erzählen hättest.«
»Das hatte ich mir auch vorgenommen«, antwortet Matthias. »Aber nun weiß ich nichts. Deine Nähe macht mich froh, aber schweigsam. Und wenn ich dir jetzt sage, dass ich mich seit dem Vormittag schrecklich nach dir gesehnt habe, dann denkst du sicher, ich lüge.«
»Natürlich denk ich das. Du kennst mich ja kaum ein paar Stunden. Weißt von mir nur, dass ich Sophie heiße, und sonst gar nichts.«
»Du von mir auch nichts.«
»Doch, ein bissel schon. Du bist der Kremser Matthias vom Joch, der einmal den Alpbach zähmen soll. Und du hast noch einen Bruder, der den Hof erben wird.«
»Donnerwetter, wie viel du schon weißt«, lacht Matthias und fasst nach ihrer Hand. Sie hat sich für ihn interessiert und das ermutigt ihn.
»Wie alt ist dein Bruder?«, fragt sie unvermittelt.
»Neunundzwanzig«, antwortet er verdrossen. »Was fragst du denn nach dem Hannes, wenn ich mit dir hier sitze?«
»Man darf doch fragen. Will er bald heiraten?«
»Ich kümmere mich nicht darum«, entgegnet Matthias immer unwilliger. Was geht sie denn der Hannes an? Er, der Matthias, sitzt doch hier mit ihr am Waldrand. Er ist es doch, der ihre Hand in der seinen hält. Und er ist es doch, der mit ihr die Sterne betrachten kann.
Nachdenklich betrachtet er ihr Gesicht, das ihm in diesem Licht noch strenger und schöner erscheint. Kühl und sanft steigt der Hals aus dem Ausschnitt ihrer Bluse. Gerade will er versuchen, seinen Arm um diesen Hals zu legen, als sie ihr Gesicht wendet und ihn fragt:
»Du willst also Ingenieur werden?«
»Ja, ja, das weißt du ja schon. Aber ich studiere auch noch andere Sachen, so nebenbei. Vor allem die Natur, auch die menschliche. Ich mag alles so gern, was schön ist. Drum bin ich auch hergekommen um dich noch mal zu sehen.«
»Du bist gekommen und ich bin gekommen«, antwortet Sophie langsam und zögernd. »Nur sieht es bei dir anders aus als bei mir. Bei mir kann es wie Nachlaufen aussehn.«
»Sophie ...«, ruft er rasch und laut, »ich hab mich so gefreut, dass du gekommen bist. Zerstör mir doch jetzt diese Freude nicht durch solche Reden.«
»Also gut, ich will vernünftig sein«, verspricht sie.
»Ja, sei vernünftig und — wenn es geht, ein wenig lieb zu mir.«
»Das kommt ganz drauf an, was du dir darunter vorstellst. Wenn ihr Männer sagt, dass man vernünftig sein soll, dann heißt das, man soll unvernünftig sein.«
Etwas gekränkt rückt er zur Seite.
»Du scheinst ja schon allerhand Erfahrungen gesammelt zu haben.«
Die Sophie schaut ihn ruhig an. Dann zuckt ein wehes Lächeln um ihren Mund.
»Eine einzige Enttäuschung kann schon ausreichen.«
In diesem Augenblick scheint sie ihm noch schöner und begehrenswerter. Er schlingt seine Arme um sie, küsst sie auf die Wangen und dann auf den Mund. Sie rührt sich kaum, öffnet ihre Lippen nicht, lehnt den Kopf nur weit zurück und schaut zu den Sternen hinauf, die durch das stärkere Mondlicht ihre Leuchtkraft ein wenig verloren haben.
Enttäuscht lässt er sie los.
»Sei mir nicht böse«, sagt er beklommen. »Versteh mich, Sophie, ich konnte einfach nicht anders.«
»Ach, ihr Männer seid doch alle gleich«, sagt sie und macht sich aus seinen Händen frei. »Warum heiratet dein Bruder eigentlich nicht? Ich habe mir sagen lassen, dass dein Vater schon ziemlich alt ist.«
Erschrocken starrt er sie an.
»Sophie, was soll denn das? Du küsst mich und fragst mich im gleichen Atemzug, warum mein Bruder nicht heiratet.«
»Wer hat dich geküsst? Ich?«
»Na ja, dann habe halt ich dich geküsst. Im Grunde genommen ist es dasselbe.«
»Ich mein, das ist doch schon ein großer Unterschied. Und warum ich nach deinem Bruder frage? Es interessiert mich eben. Ich kenne ihn ja gar nicht.«
»Eben, deswegen.« Er rückt ihr wieder näher und legt zögernd seinen Arm um sie. »Hör einmal, Sophie. Es ist wirklich die Wahrheit, was ich dir jetzt sage. Ich hab dich gern. Mir hat noch keine so gefallen wie du. Und ich glaube, dass es eine sehr, sehr große Liebe werden könnte. Sophie, komm mit mir in die Stadt.«
»Was bist du noch für ein dummer Junge! Was soll denn ich in der Stadt?«
»Ich werde eine Anstellung für dich finden. Lass mich nur machen. Du musst nur Vertrauen zu mir haben.«
»Ich will aber doch gar nicht in die Stadt«, antwortet sie.
Matthias aber wird Feuer und Flamme.
»Du würdest es nie bereuen, Sophie. Wir könnten immer zusammen sein. Oder kannst du nicht fort, weil du schon an einen andern gebunden bist?«
»Und dann, meinst du, würde ich bei dir sitzen?«, fragt sie kurz.
»Also, komm mit mir Sophie. Oder komm nach, ich werde in der Zwischenzeit schon das Passende für dich finden.«
»Nein, hab ich gesagt. Was soll ich denn dort? Dein Liebchen sein, bis du mich satt hast? Ich glaube immer, du hältst mich für etwas, was ich nicht bin.«
»Das ist nicht wahr, Sophie. Ich begreife mich doch selber nicht mehr. Seit ich dich heut Morgen gesehn hab, ist es wie ein Sturm über mich gekommen. Sophie, ist es denn ein Verbrechen zu lieben?«
»Ein Verbrechen nicht, aber es muss einen Sinn haben. Und mit uns beiden hat es keinen Sinn.« Sie steht plötzlich auf und streift ihren Rock glatt. »Verstehst du, warum ich nicht in die Stadt gehen kann? Weil ich mit dem Land zu stark verwurzelt bin. Ich brauche die Wiesen, die Äcker, den Wald um atmen zu können. In der Stadt würde ich sterben vor Heimweh.«
»Nein, du würdest tanzen vor Lebenslust und Freude.«
»Das meinst du nur, weil das Leben auf dem Land dir nichts mehr bedeutet. Es ist aber meine Welt, die ich liebe. Ja, wenn du ein Bauer wärst und einen Hof hättest es dürfte auch ein kleiner Hof sein —, es müsste nur dein eigener sein — dann könnte ich zu dir kommen. Du bist ein liebenswerter Mensch — ein bissel jung noch zwar — aber dich könnte ich gern haben.«
»Sophie«, ruft er heftig. »Wie kann man so denken! Wie willst du denn je einmal in deinem Leben glücklich werden, wenn du solche Antworten hast!«
»Besitz macht glücklich«, antwortet sie. »Ein hungriger Magen singt keine Liebeslieder.«
»Verdammt kluge Weisheiten hast du mir zu sagen«, ruft er zornig und will sie wieder in die Arme reißen. Aber sie befreit sich rasch und geht davon.
Einen Augenblick steht er wie erstarrt. Dann rennt er ihr nach, holt sie ein und umschlingt sie mit seinen Armen.
»Sophie, lass uns doch nicht so auseinander gehen.«
Nun spürt er keine Abwehr mehr. Weich schmiegt sie sich an ihn. Ihre Stirn ist beglänzt vom Mondlicht und ihr Mund steht halb offen, so dass er ihre Zähne schimmern sieht.
»Morgen gehst du fort?«, fragt sie.
»Ja, morgen in aller Frühe.«
Sie schlingt die Arme um seinen Hals und Matthias stockt fast das Herz vor der Glut, die in ihren Küssen liegt.
»Sophie ...«, flüstert er, »hast mich lieb?«
Sie antwortet mit einem neuen Kuss.
»Ja, weil du morgen weggehst, Matthias. Und wir werden uns nie mehr wieder sehen.«
»Sophie, das darf und kann nicht sein. Komm mit mir.«
Sie schüttelt den Kopf. Dann reißt sie sich schnell los und eilt den Hang hinunter.
»Sophie ...!«, schreit er hinter ihr her. Und nochmals: »Sophie...!«
Aber sie antwortet nicht. Kurze Zeit darauf hört er unten eine Tür zuschlagen. Dann ist es wieder still ringsum. Nur das Rauschen des Alpbachs ertönt in der warmen Sommernacht.
Ursprünglich sollte die Sophie nur so lange auf dem Toblacherhof bleiben, bis sich die Bäuerin von ihrer vierten Geburt erholt hätte. Dieses vierte Kind aber machte der Toblacherin recht zu schaffen. Sie kränkelt und will nicht mehr das werden, was sie vorher gewesen ist. So ist nun die Sophie schon die vierte Woche in Lehen und versieht rasch und zuverlässig den Haushalt und die Kinder der Toblacherin und schaut auch auf das übrige Leben auf dem Hof.
Manchmal denkt sie auch an den Studenten Matthias Kremser und sie denkt dann, dass er eigentlich ein wunderbarer Mann gewesen ist. Wer weiß, wäre er nicht am nächsten Morgen schon wieder fortgegangen, was daraus noch geworden wäre. Vielleicht hätte sie seiner brieflichen Aufforderung folgen und die Stelle, die er ihr beschafft hatte, antreten sollen. Aber gerade wenn sie daran denkt, empfindet sie ihre tiefe Verbundenheit mit dem Land am allerheftigsten, spürt, wie sie es zum Leben braucht.
Ja, einen einzigen Brief hat Matthias ihr geschrieben. Einen tief empfundenen Liebesbrief. Am Ende war es wie ein verzweifeltes Rufen, sie möge doch kommen, er warte sehr auf sie.
Sie hat den Brief nicht beantwortet und hat sich nicht getäuscht. Der Stolz hat Matthias verboten, einen zweiten zu schreiben. Sie weiß nur nicht, wie sehr sie Matthias mit ihrem Schweigen verletzt hat, wie sehr es ihn enttäuscht hat.
Sophie stammt aus einem kleinen Anwesen jenseits des Gebirges und hat keine besonders glückliche Kindheit und Jugend gehabt. Mit neunzehn Jahren ist sie von einem jungen Ziegeleibesitzer, der öfter in die Gegend gekommen war, enttäuscht worden. Und seitdem hat sie keinen rechten Glauben an die Liebe mehr finden können. Es wäre leicht für sie gewesen, an jedem Finger einen Verehrer zu haben. Aber es waren größtenteils auch nur arme Angestellte, keiner mit eigenem Grund und Boden. Die Bauernsöhne, na ja, sie sind nicht weniger hinter ihr her gewesen, aber keiner meinte es ernst, keiner sagte ihr: Werde meine Bäuerin!
Manchmal packt sie solche Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach Wärme und Liebe, dass sie selber vor der Heftigkeit dieser Gefühle erschrickt. Wenn sie genau nachdenkt, weiß sie, dass dies erst nach der Begegnung mit Matthias so geworden ist. Er ist es gewesen, der versunken Geglaubtes in ihr wieder wachgerufen hat. Manchmal, wenn sie nachts schlaflos liegt, denkt sie an seine Küsse, dann presst ihr die Erinnerung das Herz zusammen und oft ist sie nahe daran, seinen Brief zu beantworten. Aber wenn sie dann am Morgen aufsteht und die Aufgaben sieht, die auf sie warten, dann erstirbt dieses Verlangen wieder so jäh, wie es gekommen ist.
Da kommt eines Sonntagnachmittags, es ist der dritte, seit Matthias fort ist, der Kremser Hannes auf den Toblacherhof, um nach einer Kälberkuh zu fragen, die zu verkaufen wäre. Der Zufall will es, dass die Sophie allein in der Stube ist, als Hannes sie betritt.
Später wusste sie selber nie, weshalb ihr sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen war, dies müsste der junge Kremser vom Joch sein. Vielleicht erinnerte sie die leicht gebogene Nase an Matthias oder die Partie um das Kinn herum. Im Übrigen sagt der Hannes selber gleich:
»Ich bin der Sohn vom Kremser oben und möchte den Toblacher sprechen.«
Sophie, die gerade die Wäsche eingespritzt hat, legt nun die Arbeit weg und sagt:
»Vor zehn Minuten ist er erst weggegangen. Die Bäuerin schläft jetzt gerade und mit mir wird dir nicht geholfen sein?«
Hannes schaut sie an. In seinen hellen Augen zuckt es schnell einmal auf. Dann schlägt er sie verwirrt nieder.
»Ich weiß nicht«, meint er, während er unsicher den Hut in den Händen dreht. »Stimmt es denn überhaupt, dass der Toblacher eine Kälberkuh abzugeben hat? Wir bräuchten eine.«
»Ja, das ist schon richtig und ich kann sie dir zeigen.«
Sie gehen miteinander in den Stall hinaus. Wieder umfangen Hannes’ Augen ihre herrliche Gestalt, als er so hinter ihr hergeht. In diesem Augenblick dreht sie den Kopf nach ihm zurück und sagt:
»Dich hab ich bisher nicht gekannt. Deinen Bruder aber, den Studenten, den hab ich einmal flüchtig kennen gelernt.«
»Ach, den Matthias?«
»Ganz richtig, den Matthias.«
Inzwischen sind sie bei der Kuh angekommen. Hannes betrachtet das Tier von allen Seiten, greift es ab und nickt zufrieden.
»Die wäre nicht schlecht. Was sie kosten soll, weißt du wohl nicht?«
»Nein, das weiß ich nicht. Müsstest halt warten, bis der Bauer heimkommt. Oder du kommst morgen wieder, wenn dir das Warten bei mir zu lang wird.«
Hannes Kremser lacht nun. Sie sieht, dass er schöne Zähne hat und dass durch das Lachen sein ernstes Gesicht einen freundlichen Schimmer erhält. Eigentlich hätte er nun auf ihre Frage eingehen müssen, vielleicht hätte er sagen müssen, dass ihm das Warten bei einem so attraktiven Mädel gar nicht lange genug dauern könne. Aber der Hannes versteht sich auf dergleichen nicht. Er hat eine gewisse Scheu Frauen gegenüber. So sagt er schließlich nur:
»Na ja, ein klein’s bissel kann ich ja warten.«
»Ich werde dir eine Tasse Kaffee kochen«, meint sie und geht ihm voran wieder ins Haus hinüber. Der Mann gefällt ihr und gefällt ihr nicht. Auf keinen Fall kann er sich mit seinem Bruder Matthias messen. Aber er hat Grund und Boden, ist der höchstgelegene Bauer im Tal und es ist ein guter Hof, den er einmal erben wird.
Sie nötigt ihn, am kleinen Ofentisch Platz zu nehmen und verspricht, gleich zu kommen. Während er nun so allein sitzt, fährt er sich ein paar Mal über die Stirn. Er schwitzt schon wieder, obwohl er eigentlich gar nicht so schnell gegangen ist. Und sein Herzschlag geht sehr schnell. Das aber könnte auch mit dem Mädchen zusammenhängen, das ihn nun mit Kaffee bewirten will.
Wer ist sie? Warum hat er sie bisher nie gesehen? Warum beschäftigt er sich überhaupt mit ihr? Er, der sich bisher noch nichts aus Frauen gemacht hat. Diese hier aber berührt sein Inneres auf eigentümliche Weise.
Bald darauf bringt sie den Kaffee in einer kleinen, blau gewürfelten Kanne. Dazu zwei Tassen und ein paar große Stücke Gesundheitskuchen.
»So, nun greif fest zu. Es wird dir doch nichts ausmachen, wenn ich mit dir trinke«, lacht sie und schenkt ihm ein. Sie gibt ihm Zucker und Milch dazu und Hannes betrachtet während der ganzen Zeit ihre Hände, die gar nicht rau sind, sondern schmal und schlank. Plötzlich fragt er sie:
»Wo bist du daheim?«
»Von Luschbach drüben. Ich helfe hier nur aus, bis die Bäuerin wieder gesund ist.«
»Ja, ich hab gehört, dass ihr das letzte Kindbett recht zu schaffen macht«, antwortet Hannes, worauf sie dann sogleich die Frage stellt:
»Und wie viele Kinder hast du?«
Verwirrt stellt er seine Kaffeetasse nieder.
»Ich? Ich bin ja noch gar nicht verheiratet.«
Sie weiß das genau, sie tut nur erstaunt und beginnt damit, ihre Netze auszuwerfen.
»Ach, du bist noch ledig?« Sie schüttelt verständnislos den Kopf. »Hat der Mann so einen Hof und weder Frau noch Kind.«
Verlegen rührt er in seiner Tasse und sagt nach einer langen Zeit: »Es ist mir die Richtige noch nicht begegnet.«
»Du wirst halt recht heikel sein. Oder du kannst dich noch nicht binden, weil du nicht weißt, an welche unter den vielen?«
Ganz treuherzig schaut er sie an.
»Das ist nicht wahr. Es gibt keine, die mir nahe steht. Immerhin, du hast Recht. Es müsste eingeheiratet werden bei uns. Die Lisa wird schon alt und kann’s nimmer recht machen. Eine junge Kraft müsste halt auf den Hof.«
Die Sophie schiebt ihre Tasse fort und schaut ihn an.
»Das dürft nicht schwer sein. Gibt doch Mädl genug.«
Nun will er sagen: Aber keine wie dich. Doch das verschluckt er. Er getraut sich einfach nicht, etwas zu wagen und schluckt nur. Die Sophie merkt seine Hilflosigkeit und spricht weiter in ihrem Sinne:
»Bei dir müsst es halt eine sein, die viel Geld hat.«
»Das ist nicht einmal wahr«, antwortet er schnell. »Arbeiten muss eine mögen auf dem Joch. Es ist ein schönes Zuhause bei uns für jede, die den kargen Boden nicht scheut.«
»Ich weiß nicht, ich kenn das Joch nicht.«
»Dann schau es dir halt einmal an«, platzt er heraus.
Hellauf lacht nun die Sophie.
»Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts zu euch hinauflaufen und sagen: Zeig mir deinen Hof!«
»Warum nicht? Das kannst du ohne weiteres.«
Und wieder sagt die Sophie lachend:
»Das geht nicht. Am End gefällt es mir da droben so gut, dass ich gar nicht mehr weg möchte.«
Da findet er endlich den Mut, nach ihrer Hand zu fassen.
»Das wär vielleicht gar nicht so dumm.«
Die Sophie stützt nun das Kinn auf die Fäuste und schaut eine Weile vor sich hin.
»Magd kann ich hier auch bleiben«, sagt sie dann. »Hier bin ich sogar etwas Besseres, Haushälterin nämlich. Aber du isst ja gar nichts und trinkst nichts. Schmeckt dir mein Kaffee nicht?«
»Hab nie einen besseren getrunken«, gesteht er schüchtern und bricht sich noch ein Stück vom Kuchen ab. Es ist ihm ungemein wohl bei allem. Daheim wird er nie so bedient, die Lisa kann auch keinen solchen Kuchen backen. Bei ihr reicht es höchstens bis zu einem Gugelhupf.
Ja, dieses fremde Mädchen hat doch eine ganz merkwürdige Gewalt über ihn. Aber er weiß in seiner Schüchternheit im Augenblick nichts weiter mit ihr anzufangen und ist froh, dass ein paar Kinder hereinkommen und von der Sophie ein Stück Kuchen verlangen.
»Sind die vom Toblacher?«, fragt Hannes.
»Ja, das ist das Vronerl und das der Michl«, antwortet die Sophie. Dann gibt sie jedem der Kinder ein großes Stück Kuchen. »So, jetzt verschwindet aber wieder hinaus.«
Inzwischen hat sich auch Hannes erhoben.
»Willst denn schon gehen?«, fragt die Sophie.
»Ja, wer weiß, wann der Toblacher heimkommt. Dank auch recht schön für Kaffee und Kuchen. Vielleicht schau ich am Abend noch mal her.«
»Ich werd’s dem Bauern ausrichten, dass du da warst.«
Sie begleitet ihn hinaus, und da er nicht den Mut hat, ihr die Hand zu geben, tut sie es.
»Auf Wiedersehn«, sagt sie.
»Auf Wiedersehn«, antwortet er und drückt nun zum ersten Mal ihre Hand recht fest. »Auf Wiedersehn, vielleicht noch heut!«
Dann geht er hinter dem Hof den Hang hinauf. Sein Schritt ist ganz langsam, den Kopf hat er zu Boden gesenkt. Als er einmal tief atmend stehen bleibt und zurückschaut, steht das Mädchen immer noch unter der Tür. Nun hebt sie die Hand und winkt ihm zu. Sofort hebt er nun auch seine Hand und winkt. Ihm ist plötzlich zumute, als kenne er sie schon jahrelang oder als habe er sich zumindest seit Jahren nach einer so wunderbaren Frau gesehnt.
Als er in den Schatten des Waldes kommt, lässt er sich auf einem Felsbrocken nieder und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der Atem geht ihm so schwer und er muss es mit Gewalt versuchen, wenn er durchschnaufen will. Dann drückt er beide Fäuste an die Schläfen und stöhnt vor sich hin.
»Verdammtes Herz. Willst gar nicht recht ...«
Plötzlich überfällt ihn eine grenzenlose Mutlosigkeit.
Eigentlich sollt ich nie heiraten, denkt er. Wer weiß, ob es nicht plötzlich einmal zu schlagen aufhört, mein Herz.
Ja, das sagt sich so leicht. Andererseits aber merkt er, wie etwas gänzlich Neues sein Herz erfüllt und bewegt. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt um das Mädchen noch mal zu sehen. Aber eine gewisse Scheu hindert ihn daran. Er wird am Abend noch mal hingehen. Er hat ja die schönste Ausrede, muss er doch den Toblacher wegen des Preises für die Kuh fragen.
Schließlich macht er sich auf den Heimweg. Aber gerade, als er in den Wald einbiegen will, kommt von der anderen Seite der Toblacher daher, ein kleiner, untersetzter Vierziger mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart.
»Ja, wen seh ich denn da? Grüß dich, Hannes! Wo kommst denn her?«
»Bei dir war ich grad, wegen der Kälberkuh.«
»Ach so. Ja, die will ich verkaufen.«
»Die Dingsda — deine Haushälterin, oder was sie ist — hat sie mir gezeigt. Sie schaut gut aus.«
»Wer? Die Sophie?«
»Nein, die Kälberkuh«, antwortet Hannes errötend. »Was verlangst dafür?«
Der Toblacher nennt einen Preis, der ziemlich hoch ist. Und mit der Zähigkeit, die Hannes von seinem Vater geerbt hat, beginnt er sofort einen Teil herunterzuhandeln. Aber der andere wehrt sich entrüstet dagegen.
»Ja, was glaubst denn du? Da zahl ich ja drauf! So eine Kuh hast du noch nie im Stall gehabt. Die Kuh gibt unter Garantie sechzehn Liter pro Tag. Der Teufl darf mich holen, wenn’s nicht wahr ist.«
»Vierzehn Liter hat die Dingsda gesagt.«
»Vierzehn? Ja, kann auch sein. Aber wenn’s richtig ausgemolken wird, lassen sich schon fünfzehn rauszapfen.«
So feilschen sie noch eine Weile hin und her. Schließlich gibt Hannes ein wenig nach und der andere auch.
»Holst sie selber oder soll ich sie hinaufschicken?«, fragt dann der Toblacher.
Hannes überlegt blitzschnell.
»Die Dingsda — wie hast gesagt, dass sie heißt?«
»Die Sophie meinst?«
»Ja, die mein ich. So, so Sophie heißt’s? Also, die Sophie soll sie morgen hinaufbringen, weil sie gesagt hat, sie möchte so gern einmal unsern Hof sehn.«
Der Toblacher kneift lustig die Augen zusammen und feixt:
»Du, das wär eine für dich. Sie ist eine entfernte Verwandte von meiner Frau. Und tüchtig, sag ich dir. Was die anpackt, hat Händ und Füß. So was bräuchtest du.«
»Geh, was du gleich denkst«, weicht der Hannes aus. »Ich hab sie ja bloß flüchtig gesehn.«
»Dann schaust sie morgen einmal genauer an. Auf alle Fälle bringt sie morgen die Kuh. Gibst ihr dann auch gleich das Geld mit?«
»Das kann ich dir jetzt auch gleich geben.«
Hannes zieht die Brieftasche und überreicht dem Toblacher das geforderte Geld. Dann verabschieden sie sich und jeder geht seines Weges.
Ein wolkenloser Himmel hängt über dem Joch. Es ist noch sehr früh am Tag. Aus dem nahen Wald hört man ein melodisches Vogelkonzert und manchmal geht ein Rauschen durch die Zweige der Tannen, das für Augenblicke das Brausen des Alpbachs übertönt.
Auf dem Steilhang hinter dem Hof mähen Hannes und Axel Grummet. Adam Kremser, der Alte vom Joch, sitzt auf der Hausbank, den Knotenstock neben sich, auf den Knien die Hände gespreizt. Sie sehen aus wie Wurzeln, so lang sind sie, so dunkel gebräunt und von dicken Adern durchzogen. Die Sonne scheint auf sein langes schneeweißes Haar und ab und zu öffnet sich sein Mund zu einem schweren Seufzer.
»Der verfluchte Haxen«, grollt er dann. »Lässt mich nimmer auf die Mahd ...«
Er kann nicht mehr mitmähen und das wurmt ihn, denn er ist mit seinen siebzig Jahren noch kein Greis. In seinen Gliedern steckt noch eine wilde Kraft. Nur sein Fuß will eben nicht mehr mitmachen. So muss er es geduldig schlucken, dass die Lisa ihm einen Topf voll gekochter Kartoffeln auf die Hausbank stellt, damit er sie abschält. Sie sagt dabei kein Wort, stellt ihm einfach den Topf hin, als ob er eine Küchenmagd wäre, die ihren Anteil für den Mittagstisch zu leisten habe. Na ja, Arbeit ist es auch. Die Hände der Lisa werden dadurch für anderes frei. So ganz unnütz ist er noch lange nicht, der Alte vom Joch.
Heiraten sollt er halt einmal, der Hannes, denkt Adam Kremser, während er behutsam die erste Kartoffel abschält. Er kann nicht begreifen, weshalb dieser Sohn nicht die Sehnsucht hat, wirklich Bauer zu sein auf dem Joch, mit Weib und Kind. Wenn er, der Vater, in einer gutmütigen Absicht seinem Sohn schon manchmal zugeredet hat, die oder jene könnte doch die richtige Bäuerin sein für den Hof im Joch, dann hat Hannes nur immer ungläubig den Kopf geschüttelt und gemeint, das habe noch Zeit.
Als ob ein Siebzigjähriger noch recht viel Zeit hätte, auf Enkel zu warten! Das aber gerade ist es, was den Adam Kremser oft mit Ungeduld bewegt. Er will sein Lebenswerk, vom Vater einst übernommen, weiterblühen sehen in einer neuen Generation. Er will wissen, wer einmal in vierzig oder fünfzig Jahren die große Mahd mähen wird, wer die Bäume des Waldes dann fällt und die Apfelbäume aberntet, die er im Vorjahr erst noch gesetzt hat, zwei Dutzend an der Zahl.
Kartoffel um Kartoffel schält er und legt sie in die Schüssel, die daneben steht. Der Brunnen plätschert wie in leiser Erregung, dass es so still ist im Hof um diese Vormittagsstunde. Die Bienen summen in den alten Apfelbäumen. Es hört sich an wie ein lang gezogener Orgelton. Langsam und majestätischen Schrittes stelzt ein Pfau mit aufgeschlagenem Rad über den Hof und verschwindet im Schatten des Wagenschuppens, in dem die Hühner gackern.
Auf einmal werden die Augen des Alten ganz schmal. Angestrengt blickt er auf den Weg hinunter, auf dem sich langsam etwas heraufbewegt. Seine Augen sind nicht mehr ganz so gut wie früher, aber er kann dann schließlich doch erkennen, dass es eine Frau ist, die eine Kuh am Strick führt.
Immer näher kommen die beiden. Adam Kremser legt nun das Messer weg und greift nach dem Stock. Dann geht er ein paar Schritte in den Apfelgarten hinein. Die Frau kennt er nicht, aber er nimmt an, dass es eine Magd vom Toblacher sein wird, die die gestern vom Hannes gekaufte Kuh bringt.
Inzwischen ist die Sophie herangekommen und fragt stehen bleibend:
»Ich bin doch hier richtig beim Bauern vom Joch?«
»Ja, beim Bauern vom Joch«, antwortet der Alte, und seine hellen Augen gehen über die kräftige Gestalt des Mädchens hin. Dann erst mustert er die Kuh, betastet sie und nickt dann anerkennend:
»Da hat er gut eingekauft, der Hannes.« Und wieder umfassen seine hellen Augen das Mädchen. »Hast du sie bisher gemolken?«
»Nein, ich bin im Haushalt, seit die Toblacherin kränkelt.«
»Aha! ...«
Im selben Augenblick erscheint die Lisa unter der Haustür. Ihr hageres Gesicht ist unbeweglich. Nur in ihre Augen kommt ein abweisender Ausdruck, als sie das fremde Mädchen dort stehen sieht. Sie zieht die linke Schulter ein wenig hoch und blinzelt misstrauisch auf die Gruppe.
»Schau nicht lang und tu die Kuh in den Stall!«, fordert der Kremser die Lisa auf. Dann deutet er mit dem Stock auf die Bank hin. »Ein bissl niedersetzen wirst du dich wohl?«
Die Sophie folgt dieser Aufforderung nicht sofort. Sie schaut sich erst ein wenig im Hof um, sieht die vielen Blumen an den Fenstern und die blutroten Astern hinterm Pflanzgartenzaun. Ein wenig später sieht sie auch die zwei Mäher am Hang und fragt:
»Ist das dort dein Hannes?«
»Der Kleinere, ja. Kennst ihn doch. Er war doch gestern bei euch.«
»Ja. Hat er dir erzählt, dass wir ganz schön lang miteinander geplaudert haben?«
»So? Das wundert mich. Er bringt sonst sein Maul recht langsam auf. Was hat er denn alles gesagt?«
»Na ja, so allerhand. Zum Beispiel, dass hier eine junge Kraft hermüsst und dass es ein guter Hof sei.«
»Genau«, antwortet der Alte. Dann klemmt er die Augen schmal. Um seinen schmalen Mund zuckt ein spöttisches Lächeln. Er nickt mit dem Kopf. »Ja, ja, da hat er Recht, der Hannes. Die Lisa wird alt. Aber — sag einmal — hat er vielleicht gar gemeint, dass etwa du die junge Kraft sein könntest?«
Die Sophie wird ein wenig rot unter dem forschenden Blick dieser meergrauen Augen.
»Da hat er nichts gesagt.« Sie lacht hart und trocken. »Ich bin ja schließlich auch bloß eine bessere Magd.«
»Das sagt nicht, dass eine gute Magd nicht auch eine gute Bäuerin werden könnte«, meint der Kremser.
»Ich weiß nicht, wie dein Sohn darüber denkt.«
»Fragst ihn halt mal«, antwortet der Alte und deutet mit dem Stock zum Stadel hinüber, hinter dem der Hannes gerade hervorkommt.
Ja, Hannes hat es nicht mehr ausgehalten auf der Mahd oben. Er hat die Sophie im Hof stehen sehen und da hat es ihn mit Gewalt hergetrieben.
Nun aber steht er doch in einer grenzenlosen Verlegenheit vor ihr. Sie ist so offensichtlich, dass Sophie in ein helles Lachen ausbricht.
»Du stehst ja da, wie eine Statue. Und ich hab mir gedacht, es tät dich ein bissl freuen, wenn ich aufs Joch käme, von dem mir gestern einer sagte, dass es ein schönes Zuhause ist.«
»Sehr wohl«, bestätigt der Alte. »Ist es auch — ein schönes Zuhause. Geh zu, Hannes, zeig ihr halt, was es auf dem Joch zu sehen gibt.«
Nun erst kommt Hannes in eine geschäftige Eile. Er hängt seine Sense an den großen Haken neben der Feuermauer, dann reicht er ihr erst die Hand.
»Also, grüß dich Gott im Joch.«
»Grüß dich Gott«, lächelt Sophie zurück.
Dann zeigt er ihr den Stall mit dem guten Simmentaler Vieh. Die Sophie staunt über die Sauberkeit, die hier herrscht. Auf dem Weg zur Tenne hinüber, in die man durch die hintere Stalltür gelangt, sagt Hannes plötzlich, indem er stehen bleibt:
»Sophie, ich kann dir gar nicht sagen, wie es mich freut, dass du gekommen bist.«
»Du hast es doch haben wollen, dass ich komm?«
»Ja, freilich. Hab es dem Toblacher eigens aufgetragen, er soll dich schicken.«
»Warum eigentlich?«
»Warum?« Er sieht sie hilflos an. Er hat die gleichen Augen wie sein Vater, meergrau in der Farbe. Unwillkürlich muss Sophie an die Augen des jüngeren Kremser, des Matthias denken. Sie sind von einer dunklen Bläue gewesen, mit einem warmen Glanz. Plötzlich spürt sie, dass sich die Hand des Mannes um ihr Handgelenk spannt.
»Hab so viel an dich denken müssen, seit gestern, Sophie.«
Langsam und nachdenklich bewegen sich ihre Brauen. Und doch ist sie hellwach in allen Gedanken. Sie weiß, dass der nächste Augenblick entscheidend sein kann.
»Das kann ich glauben oder nicht«, sagt sie nach einer Weile.
»Sophie, ich lüg dich nicht an.«
»Kann sein. Ich möchte dir recht gern glauben.«
»Tu es nur, Sophie.« Ihr üppiger Mund macht ihn verwirrt. »Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, Sophie. Seit gestern bin ich ganz verwandelt.«
In Sophie ist jeder Nerv gespannt.
»Ja, wie denn?«
»Ich kann dir’s nicht so sagen. Ich fühl’s bloß da drinnen.« Er schlägt sich mit der Faust gegen die Brust. »Es liegt mir halt nicht, solche Worte zu finden, dass sie einem Mädl wie dir etwas bedeuten könnten.«
»Einem Mädl wie mir?«, fragt sie und schaut ihn lange an. »Bin ich denn anders, meinst du, als andere Mädl?«
»Ja — wie soll ich denn gleich sagen? Der Matthias brächt das leichter heraus wie ich. Der studiert ja auch.«
Ja, denkt die Sophie. Der brachte es freilich leichter heraus. Dann gibt sie ihren Gedanken wieder einen scharfen Ruck zur Gegenwart zurück.
»Vielleicht bildest du dir alles bloß ein«, meint sie lauernd und schaut dabei zur Höhe hinauf. Sie hat im Gewölbe der Tenne einen Balken entdeckt, der etwas morsch ist. Sie deutet hinauf: »Der müsste durch einen neuen ersetzt werden«, sagt sie, als interessiere sie der morsche Balken viel mehr als das, was dieser unbeholfene Mann ihr noch zu sagen hat. Und doch wartet sie fast gierig auf jedes weitere Wort.
»Komm«, sagt er plötzlich und führt sie vor die Tenne hinaus hinter das Haus. Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete er ringsum. »Alles, was du sehen kannst von hier aus, gehört zum Jochhof.«
»Auch der Wald da oben?«
»Ja, auch der Wald. Und der dort drüben auch, der Türkenwald.«
Mit weiten Augen schaut sie herum.
»Ein schöner Besitz«, sagt sie mit einer Stimme, in der Sehnsucht schwingt.
Hannes schaut sich vorsichtig um, ob niemand in der Nähe ist. Dann fasst er sie schnell an beiden Schultern.
»Sophie — du könntest Bäuerin werden, wenn du willst.«
Er rüttelt sie ein wenig. »Bäuerin im Joch, Sophie.«
Einen Augenblick ist ihr zumute, als stünde ihr Herz still. Sie schaut zu ihm auf, sieht seinen schmalen, bittenden Mund. Seine Augen hängen fast flehend an ihr, als hätte er Angst vor ihrer Antwort.
»Weißt du, was du da sagst, Hannes?«
»Ja, Sophie, ich weiß es ganz genau.«
»Und wenn ich jetzt ja sagen und dich beim Wort nehmen würde?«
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