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Eventmanagerin Sophie befindet sich auf der Überholspur des Lebens. Zusammen mit Freundin und gleichzeitig Chefin Esther plant sie Tag und Nacht Hochzeiten. Was gibt es Wichtigeres, als Bräuten den schönsten Tag im Leben zu gestalten? Die Agentur „White Yes“ in Aachen läuft prima und auch sonst hat Sophie viel Spaß. Doch dann bekommt Sophie einen Anruf aus Österreich. Ihr Mann ist in den Bergen verunglückt. Flachländerin Sophie, die Berge hasst, reist in die Klinik nach Zams , um Benjamin zur Seite zu stehen. Was sie dort erwartet, stellt ihr Leben auf den Kopf. Denn nichts mehr scheint, wie es war.
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1. Auflage Oktober 2022Copyright © 2022 Tanja EickholtForstweg 16, 73547 Lorchtanja.eickhol[email protected]
Umschlaggestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise: ©Composer, ©tomertu, ©bannosuke, ©parinya – stock.adobe.comenvatoelements.com, rawpixel.com
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Gewidmet all jenen liebevollen Herzen, die ihrer Seele klar machen müssen, dass sie von einem geliebten Menschen getäuscht wurden. Nehmt euren Mut und eure Kraft zusammen, steht auf und geht vorwärts! Die Liebe wird euch finden.
Das Schicksal ereilte einen immer im Moment der Ahnungslosigkeit. In meinem Fall hatte es sich als harmlose Alltagsbegebenheit getarnt angeschlichen, um mir ohne jeden Übergang den Boden unter den Füßen wegzureißen. Es nahm mir nicht nur die Standfestigkeit, sondern meine Zukunft, die Gegenwart und wie sich später herausstellte auch meine Vergangenheit.
Hätte ich geahnt, dass durch dieses Telefonat mein Alltag komplett aus den Fugen geriete, wäre ich nie an den Apparat gegangen. Ich hätte das penetrante Klingeln ignoriert, mir aus dem Kühlschrank eine Cola geangelt und mich mit Bruce auf die verschlissene Ledercouch gelümmelt. Das Glas wäre nicht zerbrochen. Alles wäre so geblieben, wie es war. Stressvoll, manchmal nervend, jedoch vorhersehbar und heil. Allerdings besaß ich keine hellseherischen Fähigkeiten. Leider.
Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, startete eine neue Zeitrechnung und mein Leben begann sich unaufhaltsam und in sämtliche Richtungen aufzulösen.
»Esther, bist du’s? Hey, du Workaholic, was gibt’s so spät?« Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während ich die Kühlschranktür öffnete und meinen linken Arm akrobatisch über die Milchflasche in den hinteren Bereich des Faches schob. Irgendwo hier musste sich die Cola-Dose versteckt haben. Das Bild von einem dick belegten Thunfischsandwich mit Majo und Tomaten tauchte in meinem Kopf auf. Ich hatte vergessen, genügend zu essen, und mein Magen beschwerte sich jetzt mit einem beleidigten Grummeln.
Als ich die Cola endlich blind zu fassen bekam, stieß ich versehentlich an die Milch und die halbvolle Glasflasche kippte mir entgegen und zerplatzte mit einem berstenden Geräusch auf den Fliesen.
»Mist, verdammter! Warte kurz, Esther, ich lege dich eine Sekunde weg«, vertröstete ich die Anruferin, schmiss ein Küchentuch auf die Milchlache und sperrte anschließend den Kater in die untere Etage, damit er sich nicht an den Scherben die Pfötchen zerschnitt.
»Nur zu deiner Sicherheit! Ich hol dich gleich wieder, Bruce, keine Sorge.«
Ehe ich den Hörer erneut aufnahm, schwor ich mir, nach dem Anruf erst meinen Hunger zu stillen, bevor ich das Chaos beseitigen würde. Der Tag war schweißtreibend genug gewesen und irgendwann musste ich lernen, Prioritäten zu setzen, sonst würde ich vor die Hunde gehen. In letzter Zeit kam ich nicht einmal mehr dazu, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wahrscheinlich, so spekulierte ich, war Esther noch etwas Lebenswichtiges eingefallen und ich schmunzelte trotz meines Missgeschicks mit der Milchflasche.
Meine Freundin und gleichzeitig Chefin Esther war so engagiert, wie sie es als Eventmanagerin nur sein konnte. Sie hatte sich mit ihrer Agentur auf Hochzeiten spezialisiert und kannte keine Pause. Das Wort Feierabend kam in ihrem Wortschatz nicht vor. Jedes Brautpaar, das uns buchte, wurde mit Feuereifer auf seinem Weg zum Traualtar begleitet. Ihr Handy war zweifelsfrei schon längst an ihr festgewachsen, dafür florierte der Laden und wir bekamen Aufträge von namhaften Persönlichkeiten, weit über die Stadtgrenzen Aachens hinaus. Dass das White Yes boomte, kam klarerweise auch mir zugute, denn ich agierte als Esthers gut bezahlte rechte Hand, die sich unter anderem um die ausgefallene Deko und die Kulinarik kümmerte. Meine Disziplin war nicht nur die Verwirklichung der mehrstöckigen Brauttorten, sondern des gesamten Buffets. Das bedeutete, ich war verantwortlich für den Appetizer vorneweg, für den Hauptgang bis hin zum passenden Dessert und den Drinks, die einem Fest zu dem verhalfen, was es sein sollte: pompös, grandios, unvergesslich. Dabei galt stets: Das Brautpaar hatte die Entscheidungshoheit. Wenn die Braut einen lila Aperitif mit grünen Eiswürfeln nebst goldenen Halmen wollte, dann war es mir ein Befehl, ihrem Wunsch nachzukommen und einen Caterer zu finden, der sich darauf einließ. Im Extremfall musste ich selber ran und ich hatte inzwischen mehr als einmal ungemein originelle Hochzeitstorten kreiert. Wir zauberten Träume wahr und verkörperten ein klasse Team. Das beste überhaupt. Zu unserer eingeschworenen Crew gehörte ansonsten nur noch der heiße, südamerikanische Typ namens Kaffee, denn Koffein war der wahre Lebensgefährte eines jeden Eventmanagers. Ohne die richtige Dosis am Tag ging gar nix. Wir tricksten unser natürliches Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf aus, da wir uns es einfach nicht leisten konnten, auf der faulen Haut zu liegen. Fünf Stunden Schlaf war das absolute Maximum. Irgendwann gewöhnte man sich daran.
Ich nippte an der Cola.
»Entschuldige, bin schon da, Esther. Warte, lass mich raten. Sabine will doch lieber den Mustang als den Rolls-Royce. Ist cooler. Hab ich recht oder hab ich recht?«, nahm ich den Grund ihres Anrufes vorweg und lachte.
»Spreche ich mit Sophie Andres?«, meldete sich eine unbekannte, männliche Stimme. Mein Gekicher erstarb, während der Fremde weitersprach. Sein Dialekt war nicht von hier und sein ernster Ton schlug mir auf den Magen. Ich spürte, dass irgendetwas, das mit mir zu tun hatte, ganz und gar nicht in Ordnung war. Sonst hätte er während meiner minutenlangen Milchorgie längst aufgelegt.
»Andreas Huber von der Bergwacht Zams in Österreich. Sind Sie die Ehefrau von Benjamin Andres?« Er wartete geduldig, bevor er weitersprach. Meine Körperhaare stellten sich auf, was ich an dem Kribbeln auf meiner Haut bemerkte.
»Ja, die bin ich.« Mehr bekam ich nicht heraus, mein ganzer Leib befand sich schlagartig in Alarmbereitschaft.
»Ich möchte Sie darüber informieren, dass es einen Unfall gegeben hat, bei dem ihr Mann beteiligt war. Er liegt in der Klinik in Zams. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, es sieht nicht gut aus. Können Sie herkommen?«
»Ben? Was ist mit ihm?«, versuchte ich die Frage zu formulieren, nachdem mir ein spitzer Angstschrei entglitten war. Beni? Oh mein Gott! Ich ging unbewusst einen Schritt rückwärts, ohne das Knirschen zu bemerken, als mein nackter Fuß in die messerscharfen Scherben trat. Der Schreck und die Furcht betäubten mich und selbst als die Splitter durch meine Fußsohle drangen und unter dem Druck meines Gewichtes brachen, spürte ich unterhalb des Herzens keinen Schmerz. Meine Mitte dagegen fühlte sich an wie ein Nadelkissen und bestand aus purer, zu unzähligen Nadeln gewordener Angst.
»Wie schwer ist er verletzt?«, krächzte ich und sank auf den Boden. Milch durchtränkte den Saum meines Shirts und ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase. Es roch süß und metallisch.
Erst jetzt bemerkte ich das Blut, das sich mit der weißen Flüssigkeit verband und dabei war, schlierige Muster auf den Fliesen zu bilden. Ich starrte auf die Lache. Wie ein kunstvolles Aquarell erblasste das dominante Rot an den Rändern zu Hellrot, daraufhin zu Rosa, bevor es als ein Hauch von Zartrosa ins Weiß der Milch überging.
Ich versäumte in den Bauch zu atmen, mir wurde schwindelig und mein Herz pochte in den Schläfen.
»Ist er …? Wird er …?« Tränen überquerten heiß meine Wangen, als ich mein Ohr an den Hörer presste und Gott anflehte, dass ich die Antwort erhalten würde, auf die ich hoffte.
»Machen Sie sich keine Sorgen Frau Andres. Ihr Mann ist auf dem Geröll ausgerutscht und hat einen Beinbruch. Er wird operiert, aber das wird wieder. Kommen Sie einfach morgen her und holen ihn nach dem Eingriff nach Hause.«
Ich schloss die Augen, während die Silben des fremden Anrufers erst mein Innenohr, dann meine Seele eroberten.
»Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihr Mann ist am Grat abgestürzt und hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er liegt derzeit im künstlichen Koma und schwebt in Lebensgefahr. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen. Wir haben ihn heute Nachmittag mit dem Rettungshelikopter Christophorus 5 ins Tal geflogen. Ich habe mehrmals versucht, Sie zu erreichen. Am besten setzen Sie sich in den nächsten Zug und fahren her. Lenken Sie bitte kein Fahrzeug selber.«
Der Boden verschwamm zu einem Einheitsrosa und ich hatte das Gefühl, plötzlich nicht mehr zu zwinkern, als ob selbst meine Lider erstarrt wären. Mit einem Mal nahm ich alles in Zeitlupe wahr und die Sekunden zogen sich in die Länge. Alles passte hinein. Mein ganzes Leben.
Was hatte der Mann gesagt? Die Umrisse von Benjamins fröhlichem Gesicht lösten sich aus der farbigen Lache und ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren.
Ich kannte diese seltsame Situation, in der ich gerade steckte, nur aus Romanen oder Verfilmungen. Es war jener Moment im Leben eines Menschen, in dem er krampfhaft versuchte, dem eingetroffenen Unheil die Daseinsberechtigung abzusprechen.
Ein schwerer Unfall? Hirnverletzungen? Das konnte nicht sein. Nix da! Alles sollte bleiben, wie es war. Etwas anderes kam gar nicht in die Tüte.
Eine warnende Stimme ertönte in meinem Kopf.
»Wach auf, Sophie, die Leichtigkeit deines Lebens ist vorüber. Ab jetzt wird es schwer.«
Benjamins Gesicht verschwand.
Die folgenden Sekunden musste ich verloren haben, denn als meine Sinne wieder funktionierten und ich die Umgebung verunsichert registrierte, lag das Telefon neben mir und ich saß immer noch bewegungslos in dieser Lache aus Milch, Scherben und Blut.
Benjamin. Die Zeit war stehen geblieben. Alles Wichtige war schlagartig unwichtig geworden. Ich hörte Bruce durch die Tür schreien. Er maunzte erbärmlich und kratzte auffordernd am Holz.
»Brucilein? Warte, ich komme gleich!«, wollte ich rufen, aber meiner Kehle entsprang nur ein trockenes Krächzen. Ich erhob mich und schleppte mich zur Tür.
»Hat etwas länger gedauert, Katerchen.«
Angst krallte sich an meinen Gedanken fest. Aber, und das war der Strohhalm, den ich ergriff: Benjamin lebte. Mein Mann hatte die Chance, gesund zu werden. Es war nicht zu spät. Eine Flut Tränen überschwemmte mein Gesicht und mein Hals war so eng, dass ich Schwierigkeiten hatte, zu schlucken. Ich versuchte, das Zittern meiner Knie unter Kontrolle zu bekommen. Zams in Österreich. Ich musste zu Benjamin. Sofort!
Die Nummer von Esther eintippend, ließ ich mich erschöpft auf das Sofa fallen. Ich hatte immer noch nichts gegessen. Mein Schädel pochte und mein Fuß hatte rote Spuren auf dem Parkett hinterlassen. Jeder Schritt hatte höllisch geschmerzt, sodass ich die letzten Meter auf einem Bein gehüpft war. Vorsichtig drehte ich die Fußinnenseite zu mir, um die Verletzungen in Augenschein zu nehmen.
»Esther?« Meine Stimme klang fremd. Behutsam zog ich mit den Fingernägeln ein Fragment heraus. Der stechende Schmerz ließ mich frösteln und auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Ich stöhnte auf, was Esther sofort für sich deutete.
»Sophie! Was gibt’s? Du schniefst ja. Nein, nein, nein! Sag nicht, dass du krank bist!« Esthers Ton wurde barsch. »Das geht momentan nicht, Liebelein, hörst du? Geh in die Nacht-Apotheke und lass dir Nasenspray und Ibuprofen geben. Nimm gleich drei Tabletten. Und morgen früh auch noch mal zwei«, forderte sie, ohne mich anzuhören. »Krank ist nicht, ich zähl auf dich, Sophie. Du kannst jetzt nicht schlapp machen. Nach dem Event bekommst du bezahlten Urlaub, okay?«, entschied sie resolut und führte fort: »Ach ja, Sabine will doch den Mustang. Findet sie cooler. Du kümmerst dich drum? Heute noch? Spätestens morgen. Merci!«
Ich atmete angestrengt ein und aus. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme und die Oberflächlichkeit ihrer Bitte klangen mit einem Mal penetrant in meinem Ohr: Sabine will einen Mustang. Mein Mann kämpft gerade um sein Leben und Sabine will einen besch… Mustang. Ich wollte, dass sie aufhörte zu reden und mir zuhorchte.
»Was ist? Du sagst gar nichts. Bist du ernsthaft krank?«
»Esther, Benjamin ist verletzt«, flüsterte ich und fing schon wieder an zu schluchzen.
»Ben ist was? Weinst du, Süße? Was ist passiert?« Sie klang erschrocken.
Mein Unterkiefer verspannte sich, als ob er sich weigerte, die Worte, die nun unweigerlich folgen würden, ins Freie zu entlassen. Sekundenlange Stille legte sich über meine verängstigte Seele, bis ich das Unglaubliche endlich auszusprechen wagte.
»Benjamin, du weißt schon. Er war auf diesem schrecklichen E5 unterwegs über die Alpen. Er ist beim Wandern in den Bergen schwer verunglückt. Ich muss zu ihm. Nach Zams«, klärte ich Esther auf, die stumm lauschte. Mein Tonfall hatte sich rau angehört und ich kam mir immer noch vor wie in einem Traum.
Die darauffolgende Redepause zog sich in die Länge und ich vernahm ihr Schlucken, bevor sie mich nach den näheren Umständen befragte.
»Oh Gott, Sophie. Das ist ja furchtbar! Was für Verletzungen hat er? Weißt du schon was?«, fragte sie besorgt. Ich erkannte am Klang ihrer Stimme, dass sie es ehrlich meinte.
»Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Es ist nicht klar, ob er überlebt«, flüsterte ich. Ein ersticktes Schluchzen entsprang meiner Kehle.
Sie japste nach Luft.
»Sophie! Sag, dass das nicht wahr ist! Du lieber Himmel! Was musst du gerade durchmachen … Ich kann das nicht glauben!«, rief sie entgeistert.
Es tat gut, jemanden zu haben, der mit einem litt. Eine Vertraute, mit der man seine Angst teilen konnte. Plötzlich war ich wieder froh, dass ich sie in der Leitung hatte. Sie gab mir die Sicherheit, nicht alleine zu sein, und die Kraft, nach vorn zu sehen. Gleichwohl wusste ich, welchen Super-GAU ich oder besser gesagt Benjamin ihr damit antat. Übermorgen war der Tag der Tage. Eine der wichtigsten Hochzeiten seit der Existenz von White Yes stand kurz bevor und wir hatten eine Menge zu tun. Wobei eine Menge zu tun human ausgedrückt war. Unser Arbeitsaufwand ähnelte vielmehr den Vorbereitungen für eine bemannte Raumfahrtmission. Mit Rückkehr, versteht sich. Esther würde das im Alleingang niemals bewältigen, was sie jedoch in diesem Moment nicht ansprach. Es wäre pietätlos rübergekommen und ich war eben auch eine Freundin. Das rechnete ich ihr hoch an.
Sie schluckte zum zweiten Mal, ehe sie sich räusperte.
»Du musst selbstverständlich zu ihm, Sophie. Ich verstehe das«, bestärkte sie mich.
»Esther, es tut mir leid. In dem Fall kann ich keine Rücksicht auf White Yes nehmen. Mir ist klar, in was für eine verdammt schwierige Situation ich dich bringe, aber ich darf und will Ben jetzt nicht hängen lassen. Wer weiß …«, schluchzte ich in den Hörer und wurde von einem erneuten Heulkrampf geschüttelt.
»Wer weiß, ob er überhaupt noch mal wird«, weinte ich voller Beklommenheit und mein Herz schmerzte bei der Vorstellung, dass Benjamin einen bleibenden Schaden davontragen könnte, so sehr, dass ich mir die linke Seite hielt.
»Sophie, um Gottes Willen! Es wird alles gut! Bitte grübele nicht wegen der Agentur. Ich rufe gleich Bianca an, ob sie kurzfristig einspringt, und wir alle drücken Benjamin die Daumen, dass er so schnell wie möglich gesund wird. Natürlich fährst du sofort zu ihm. Keine Frau an deiner Stelle würde anders handeln. Ich wünsche euch viel Glück! Umarme Beni von mir. Kopf hoch, meine Liebe, und pass auf dich auf. Kannst ja dann hören lassen, wie es ausschaut, wenn du Näheres weißt. Informier mich, ja? Beni wird wieder! Mit Sicherheit«, tröstete sie mich.
»Danke, Esther«, schniefte ich, ehe wir das Gespräch beendeten und ich geistesabwesend damit begann, die Sauerei auf dem Küchenboden zu beseitigen.
Dann griff ich zum Telefon.
»Marc, Sophie hier. Könnt ihr für ein paar Tage Bruce versorgen?«
Mir war klar, dass ich mit dieser bescheidenen Bitte die heile Welt meines Bruders ins Wanken brachte. Er würde die Pflege des Katers postwendend an seine Freundin Katja delegieren, die Allergikerin war und Tierhaare über alles verabscheute, mitsamt der Kreatur, an dessen Haarwurzel das krank machende Übel hing.
»Du weißt genau, dass Katja allergisch reagiert. Und ich habe absolut keine Zeit, zweimal am Tag durch die halbe Stadt zu kutschieren, um dein Haustier zu verköstigen. Sorry! Frag Mama, der ist sowieso langweilig. Die könnte sich nachmittags zu ihm setzen. Dann sind sie beide nicht alleine«, schlug mein hilfsbereiter Bruder vor. Bingo! Wusste ich’s doch.
»Danke für deine Unterstützung, Bruderherz. Ich werde mich irgendwann revanchieren«, brüllte ich aufgebracht, ehe ich mich bremste. Ich hatte von vornherein geahnt, dass er es ablehnen würde, und es machte keinen Sinn, hysterisch zu werden. Ein kühler Kopf war jetzt das Wichtigste.
»Was ist überhaupt los? Verreist du?«, fragte Marc, ohne dass ich auch nur die Spur eines schlechten Gewissens bei ihm bemerkte. So war mein lieber Bruder. Selbstbezogen und rücksichtslos.
»War einen Versuch wert. Grüß Katja von mir«, beendete ich das Gespräch kalt und legte einfach auf. Mein Verhältnis zu Katja war ebenfalls gespalten. Keine Ahnung, warum. Vielleicht deshalb, weil sie die Frau meines Bruders war. Sie vergöttert und mich verachtet er, dachte ich sauer.
Meine zutiefst geschockte Mutter zeigte sofort Bereitschaft, Bruce zu versorgen, und nahm wie immer ihr Goldstück Marc in Schutz, nachdem ich mich bei ihr ausgeheult hatte.
»Das darfst du ihm nicht übelnehmen. Er ist viel beschäftigt und die Sorgen um Katja mit ihren vielen Unverträglichkeiten …«, versuchte sie mir den Wind aus den Segeln zu nehmen, während meine Nasenflügel bebten wie die Nüstern eines Pferdes.
Der Marc-Lobgesang meiner Mutter war mein wunder Punkt. Schon immer! Und Katja gehörte eben zu diesem Ekelpaket auf zwei Beinen. Die Gute sollte ihren Hintern hochbekommen und malochen, anstatt ihre Wehwehchen zu pflegen und sich von Marc vergoldete Wasserhähne kaufen zu lassen, dachte ich wütend, sprach es aber nicht aus. Für Marcs Schwächen war unsere Mutter blind und taub. Von Zeit zu Zeit überfiel mich das ungute Gefühl, sie habe meinen Bruder während ihrer langen Jahre als Alleinerziehende zum Herrn des Hauses erzogen. Genauso spielte er sich nämlich auf. Aber auch dieses Phänomen existierte nicht erst seit heute und war seit Benjamins Unfall unwichtig geworden. Bruce war versorgt. Ich konnte los. Das war es, was zählte.
Im Zug siegte die Panik. Ich saß eingeengt zwischen fremden Menschen im Abteil, hatte keine Ablenkung und die Angst darüber, was mich in Zams erwartete, fraß mich von innen auf. Unbewusst spielte ich alle Szenarien durch, um sie wieder von Neuem zu überdenken und auf deren Wahrscheinlichkeit zu überprüfen.
Ich versteckte mein verheultes Gesicht hinter einem Buch, dessen Seiten ich ab und zu weiterblätterte, ohne auch nur einen Buchstaben gelesen zu haben. Die meisten der Leute schienen ohnehin zu beschäftigt, um den desolaten Seelenzustand ihrer Mitreisenden zu bemerken. Ein älteres Ehepaar in Wanderkluft studierte eine ausgebreitete Landkarte und man merkte den beiden die Vorfreude auf gemeinsame Unternehmungen an.
Ein verbissen blickender Mann in grauem Anzug und schwarzer Krawatte versank im Monitor eines Laptops und hämmerte mit langgliedrigen Fingern ununterbrochen auf die Tastatur ein.
Ich sehnte mich danach, eine von ihnen zu sein. Eine unbeschwerte Frau auf dem Weg zu einer Freundin, um mit ihr zu shoppen und zu klönen, oder eine Managerin auf Dienstreise, die einen auf »very busy« machte, sich dabei erfolgreich vorkam und es eventuell sogar war. Wie prompt sich das Leben änderte, ohne dass man das beabsichtigte. Als ob über uns allen zeitlebens das Damoklesschwert schwebte, das irgendwann wahllos auf einen Kopf herunterstieß. Eine zufällige Auslese. Jetzt hatte es Benjamin getroffen. Das war ungerecht.
Kopfschüttelnd packte ich das Buch weg und zog meinen Timer aus der Handtasche. Esther regelte alles Terminliche auf dem Handy, wohingegen ich eher steinzeitlich veranlagt war und meine Dates konventionell mit Kugelschreiber auf Papier schrieb. Ich schlug den heutigen Tag auf und fing an, auszustreichen.
09.00 Uhr Sabine Weller, Tischdeko durchgehen. Typ Auto, Farbe, Blumen?
09.30 Uhr Fabrikhallenbesichtigung. Quadratmeterzahl Böden??? Heizkörper? Beleuchtung?
11.00 Uhr FINAL COUNTDOWN letzte Besprechung Brautpaar Holger und Antje de Boer
Die de Boers repräsentierten eine einflussreiche Unternehmerfamilie aus Hamburg, die morgen standesamtlich und übermorgen kirchlich heiratete. Auf diese Traumhochzeit hatten Sophie und ich monatelang hingesteuert. Antje war ausgesprochen anspruchsvoll und sogar die Presse würde an beiden Tagen anwesend sein. Wir hatten literweise Blut und Wasser geschwitzt und alle Krisen und Eventualitäten durchgekaut, die eintreten könnten. Vom Sturmtief mit Hagel über verkrachte Verwandtschaft bis hin zum Streik der Fluggesellschaft, mit der die Gäste anreisten. Dass Benjamin verunglückt, damit hatten wir nicht gerechnet.
Die Kratzgeräusche des Stifts verscheuchten die Bilder und stoppten auf positive Weise meine Verzweiflung. Ich strich die Eintragungen, ohne zu merken, dass ich weiter krakelte, bis die komplette Fläche mit Tinte durchtränkt war, was auf dem nächsten Blatt Löcher und hässliche Flecken hinterließ.
Erschrocken hielt ich inne und spürte den entsetzten Blick meiner Sitznachbarin auf mir. Meine Gedanken schweiften zu meinem Mann.
Benjamin. Wir waren seit zwölf Jahren ein Paar und im verflixten siebten Ehejahr angelangt. Benjamin war Lehrer für Sport, Mathe, Englisch und ein ausgesprochener Outdoorfreak. Sein Beruf passte ausgezeichnet zu ihm und ich sah ihn vor mir, wie er blond gelockt und lässig gekleidet inmitten seiner Schüler stand. Er konnte gut mit Jugendlichen, vielleicht weil er selber ein Junge geblieben war oder weil er mit seiner Coolness in ihnen den heimlichen Wunsch auslöste, so zu werden wie er. Und nicht so spießig und langweilig wie die anderen Erwachsenen. Seine Abenteuerlust imponierte auch mir. Wann immer er die Zeit fand, und die fand er regelmäßig, wanderte er in den Bergen, befuhr mit seinem Kajak einen Fluss oder bezwang mit dem Mountainbike irgendeinen Gipfel. Er hatte es sogar einmal fertiggebracht, in einer Berghütte, wo er sich im Matratzenlager mit siebzehn anderen Kletterern die Schlafstatt geteilt hatte, Mathearbeiten zu korrigieren, um nicht zu Hause bleiben zu müssen. Ich war das Gegenteil. Ich verkörperte die Großstädterin und liebte das geschäftige Treiben auf den Straßen und Plätzen Aachens, von dem ich mich gerne mitziehen ließ. Ich ging shoppen, saß mit Kumpels stundenlang in Kneipen herum und vor allem mochte ich das Flachland. Je flacher, desto besser. Anhöhen über zehn Meter flößten mir Angst ein, weil sie mir die Sicht versperrten; ich fühlte mich von ihnen eingeengt und bedroht. Sie zu besteigen, schien mir gleichermaßen unsinnig wie aussichtslos. Es kostete nur Schweiß und man bekam Höhenangst davon. Jedes Mal, wenn Benjamin mir von dem Freiheitsgefühl erzählte, das er empfand, wenn er mit Blasen an den Füßen und nach Atem ringend ins Tal hinunterschaute, staunte ich nur, da ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Nach zwei verpatzten Ausflügen in die nahe gelegene Eifel, wo ich auf der Staumauer des Rursees aufgrund von akutem Fracksausen umgekippt war, hatte er resigniert aufgegeben, mich von der Einzigartigkeit von Höhe und dünner Luft überzeugen zu wollen.
Wir harmonierten trotz dieser nicht nennenswerten Differenz einwandfrei und es gab viele andere Gemeinsamkeiten, die uns innig verbanden.
Ein Kichern breitete sich auf meinem tränennassen Gesicht aus. Der immer hungrige Benjamin verkostete zum Beispiel mit Feuereifer meine Kreationen, die ich zu Hause für die Agentur zur Probe mixte, buk oder kochte.
»Du musst nicht zufällig was Neues kreieren?«, fragte er oft beiläufig und sah mich erwartungsvoll an. Ich lachte ihn dann wegen seiner Unersättlichkeit aus und wir diskutierten angeregt, ob ein Drink mit Mango besser schmeckte als mit frischen Weinbergpfirsichen oder ob die Farbe der Eiswürfel noch einen Tick intensiver orange zu leuchten hatte.
»Ich kann das erst entscheiden, wenn ich es geschmeckt habe«, provozierte er mich jedes Mal grinsend, ehe ich mal wieder loszog, um das ganze Zeug zu besorgen.
Wir erlebten vergnügte Abende, sobald ich seine Tipps umzusetzen versuchte, während er sich einen Spaß daraus machte, ausgesprochen verzwickte Abänderungen vorzuschlagen. Auch wenn ich bei White Yes sehr eingespannt war und mit Zeit geizte, liebten wir uns, das spürte ich genau. Und dass Benjamin an den Wochenenden in Wald und Flur herumwanderte, kam mir ehrlich gesagt gelegen, da Esther und ich logischerweise speziell an den Samstagen und Sonntagen einiges zu stemmen hatten. Er murrte nie, wenn ich mal wieder entschwunden war und die Feuerwehr auf einer festlichen Veranstaltung spielte, während er sich selbst überlassen war.
Wir waren jung, hatten noch genügend Zeit vor uns, hauptsächlich die Schulferien, wenn sich Ben zu hundert Prozent nach mir richten konnte. An solchen Tagen fuhren wir ans Meer bei Domburg, lagen in den Dünen herum oder liehen uns in Maastricht eine Jolle, mit der wir herumschipperten, bis wir an einem der fantastischen Fischrestaurants vor Anker gingen und zu Mittag aßen.
Ich war seefest und seekrank wurde ich zumindest bei glatter See, Gott sei Dank, nie.
Ich überlegte angestrengt, wann wir den letzten gemeinsamen Ausflug dieser Art unternommen hatten, und erschrak. Das Jahr war verflogen, ohne dass ich es mitbekommen hatte. White Yes hatte mich derart in Anspruch genommen, dass wir in den zurückliegenden Monaten außer Pizzaessen um die Ecke nichts auf die Reihe bekommen hatten. Mein schlechtes Gewissen meldete sich.
»Das muss sich ändern«, nahm ich mir vor und meine Gedanken verweilten weiterhin bei meinem Mann.
Er hatte sich nie beschwert. Von Freundinnen wusste ich, wie eifersüchtig und kontrollierend sich manche Partner verhielten. Das kannte ich nicht. Das Leben mit Benjamin war herrlich. Er war so friedfertig und unkompliziert, dass ich mich gelegentlich fragte, ob er wirklich keinen Haken hatte oder ob ich diesen nur ständig übersah.
Er war mein Mr. Right, mein Rettungsanker in stürmischen Perioden, denen ich bei White Yes andauernd ausgesetzt war. Jetzt brauchte Ben einen Rettungsanker. Und der war ich.
»Ich komme, Schatz. Sei stark, halte durch«, flüsterte ich, ehe sich mein Blick in der verregneten Landschaft verlor, die wie im Film rasend schnell an mir vorüberzog und immer hügeliger wurde. Dünne Rinnsale aus Regenwasser überquerten die Scheibe. Ich zuckte, als wir durch einen langen Tunnel fuhren und ich im Fenster in meine eigenen dunkelumränderten Augen schaute.
Ich sah aus wie ein Zombie. Die vormals attraktive, mädchenhafte Frau, Anfang dreißig, mit den schulterlangen, goldbraunen Locken und den quicklebendigen, grünbraunen Augen hatte sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in eine bemitleidenswerte Gestalt verwandelt. Ich war nicht geschminkt, trug Schlabberlook und meine Gesichtsfarbe war aschfahl. Die Mundwinkel hingen genauso schlaff herab wie das strähnige, unfrisierte Haar.
Herzschmerz, so folgerte ich ironisch, machte einen unansehnlich. Ich hatte seit gestern Abend keinen einzigen Bissen gegessen. Bei dem Gedanken an Nahrung wurde mir schlecht und ich zwang mich, in einen Apfel zu beißen, den ich, nachdem ich ihn halbherzig angenagt hatte, verstohlen in den Mülleimer schmiss.
Die Kilometer zogen sich. Ich war es durch meinen Job nicht gewohnt, lange zu sitzen, und veränderte alle paar Minuten die Position, ehe ich mir in München endlich die eingeschlafenen Füße vertrat und mir einen schwarzen Kaffee genehmigte, der meinen Kreislauf in Schwung brachte. Je näher Zams rückte, desto nervenschwacher wurde ich.
Das Erste, was mir an dem orangefarbenen Gebäudekomplex auffiel, war der Hubschrauberlandeplatz, der in Form einer überdimensionalen Scheibe auf dem Klinikdach prangte.
Ich guckte ehrfürchtig nach oben, während in meinem Kopf ein Film anlief, wie es gewesen sein musste. Dort in der Höhe war Christophorus mit Benjamin gelandet und die Bergretter hatten ihn mit geübten Bewegungen und eingezogenen Häuptern ausgeladen. Die Äste der benachbarten Bäume hatten im Luftstrom der Rotorblätter gezittert. Staub war aufgewirbelt und herbeigeeilte Kräfte des Krankenhauses hatten Benjamin so schnell es ging übernommen und auf seiner roten Bahre in die Notaufnahme gebracht, um seine Kopfverletzungen im Kernspin zu untersuchen. Sie waren gerannt, um Zeit zu gewinnen. Fremde Menschen hatten ihnen Anteil nehmend, jedoch auch von Neugier erfüllt nachgeguckt und hatten sich erleichtert gefühlt, nicht in seiner Haut zu stecken. Mich schauderte.
Da Benjamin in meiner Vision im OP-Bereich verschwunden war und keine Szenen hinterherkamen, schüttelte ich mich wie ein Hund, der sich körperlich von einem negativen Erlebnis befreite.
Eine kalte Brise spielte mit meinen angstverschwitzen Haaren. Es war, als ob eine kalte Hand in meinen Nacken griff, und eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Während mein Blick den steilen Hängen hinter dem Gebäude nach oben folgte, wurde mir zusätzlich flau im Magen. Die licht bewachsene Bergwand warf ihren riesigen Schatten auf das Klinikum und ein unheilvolles, schutzloses Gefühl überfiel mich. Ich holte mir den Tod, wenn ich hier noch länger Wurzeln schlug.
»Es geht nicht um dich, Sophie. Geh jetzt rein, er braucht dich!«, befahl ich mir, atmete tief ein, trat bibbernd durch die Drehtür aus Glas ins Foyer und ließ mir den Weg zum Arztzimmer zeigen.
»Bevor Sie ihn sehen, Frau Andres, möchte ich Sie über ein paar Dinge aufklären.«
Unsere Blicke trafen sich. Ich ignorierte das Glas Wasser, das vor mir stand, und verzog keine Miene. Ich hatte mir geschworen, nicht überzureagieren, um dem Klinikpersonal eine hysterische, in Tränen aufgelöste Ehefrau zu ersparen.
»Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen und auch wenn wir alle medizinischen Maßnahmen durchführen, die notwendig sind, so trägt Ihr Einsatz wesentlich zur Stabilisierung Ihres Mannes bei«, klärte er mich auf.
»Komapatienten, so wissen wir heute, spüren die Anwesenheit ihrer Lieben. Seien Sie also wie immer. Das mobilisiert seine Kräfte. Lesen Sie ihm vor, erzählen Sie ihm von zu Hause. Irgendwas. Auch ganz banale Alltagsgeschichten. Genau das braucht er jetzt.«
Ich nickte brav. Mein Mund fühlte sich trocken an. Dr. Moser lehnte sich ausatmend zurück, ehe er weitersprach.
»Ein Schädel-Hirn-Trauma ist eine Schädelverletzung mit Gehirnbeteiligung. Auslöser ist oft eine Gewalteinwirkung auf den Kopf, wie zum Beispiel ein Sturz, ein Schlag oder ein Aufprall. Schädelbrüche, meist in Verbindung mit Blutungen im Gehirn und Schwellungen, sind die Folge«, erklärte er, während sein Blick väterlich auf mir ruhte. Wie oft er das wohl schon ausgesprochen hatte? Ich schluckte schwer, indes sich dunstiger Nebel in mir ausbreitete. Eine Frage formte sich in mir. WIE?
Ich wollte gerne verstehen, wie es passiert war, doch aus Furcht vor der Antwort schwieg ich. Er könnte mir Einzelheiten beschreiben. Ich könnte Bilder sehen, die Angst machten. Die sich nicht mehr stoppen ließen. Früher oder später erführe ich die Details sowieso.
»Für mich als Arzt ist es unmöglich, die Auswirkungen des Schädel-Hirn-Traumas Ihres Mannes abzuschätzen. Zwischen vollständiger Genesung und Tod ist im Moment alles vorstellbar. Ich möchte, dass Sie das wissen, Frau Andres. Wir geben unser Bestes, um sein Leben zu retten.«
Zwischen Tod und Genesung. Es gab eine erhebliche Bandbreite an Zuständen dazwischen, an die ich nicht denken wollte. Eine Lähmung. Ein Dasein im Rollstuhl. Ein zurückbleibender Gehirnschaden.
»Du wirst gesund, Benjamin. Das schwöre ich dir!«, murmelte ich, ehe ich mich von Dr. Moser verabschiedete und mit Kittel und Mundschutz ausgerüstet den Raum betrat.
Endlich war ich bei Ben, genauer gesagt auf der Intensivstation für Neurochirurgie, auf welcher Patienten mit spontanen oder, wie in seinem Fall, mit traumatischen Hirnblutungen lagen.
Einige rot blinkende Monitore befanden sich rechts und links des Klinikbettes und unzählige Schläuche verbanden seinen Körper mit verschiedensten Maschinen und Geräten. Er lagerte nicht flach, sondern erhöht, fast stehend, als ob er sich jeden Moment der Kabel entledigen und zur Tür hinausmarschieren würde. Sekunden später bemerkte ich, dass die Schlafstatt mobil war und sich im gleichmäßigen Rhythmus nach oben und in Richtung vorn liftete und nachfolgend erneut in die Horizontale senkte. So hielten sie seine Durchblutung aufrecht. Mein Herz krampfte sich zusammen. Die Realität war zu absurd, um sie zu begreifen. Knallhart und erbarmungslos. Ein dicker Kopfverband zierte seinen Schädel und in seinen Rachen führten mehrere Tuben.
»Warum haben Sie ihm denn die Augen zugeklebt?«, rief ich fassungslos. Ich traute mich nicht, ihn anzufassen, obwohl ich mich danach sehnte, ihn an mich zu drücken und nie mehr loszulassen. Streifen weißer Pflaster verschlossen seine Lider.
In den Augen saß, meiner Meinung nach, der Ausdruck eines Charakters und ich wollte nicht, dass sie ihm das Lebendigste nahmen, was er besaß. Es fühlte sich für mich an, als ob sie Benjamins Persönlichkeit in seiner malträtierten Hülle gefangen hielten, was mich sauer machte.
Schluchzend suchte ich nach seiner Hand. Schürfwunden verliefen quer über die Handflächen. Er musste versucht haben, sich im Felsen festzukrallen, und war daraufhin abgerutscht.
Ich wandte kurz den Blick ab, um das erschütternde Bild seines Aufpralls loszuwerden und riss mich dann zusammen.
»Ben?«, sprach ich ihn im Flüsterton an. »Was hast du nur gemacht, Benjamin? Kannst du hören, was ich sage? Ich bin bei dir, verstehst du? Und ich gehe nicht mehr weg. Hab keine Angst!«
Ich streckte vorsichtig die Hand aus. Er war hier und so weit weg.
Eine Berührung erreichte mich sanft auf der Schulter.
»Die Klebestreifen sind unentbehrlich, damit die Augäpfel nicht austrocknen. Manche Patienten haben keinen Lidschlag. Wenn die Augen durchgehend einen Spalt geöffnet sind, gibt es schmerzhafte Entzündungen«, erklärte mir die Intensivschwester. »Wir versuchen jetzt, den Hirndruck zu reduzieren. Die Blutungen wurden bereits operiert. Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend für ihn.«
»Entscheidend für ihn?«, wollte ich rufen, schluckte den Satz aber herunter. Es ging nicht nur um Bens Leben. Es ging um seine Angehörigen. Seine Frau. Es ging, verdammt noch mal, auch um mich!
Der Mundschutz klebte unangenehm auf meinen Wangen, da die Tränen, die sich dort sammelten, vom Zellstoff aufgesogen wurden.
»Er besitzt eine reelle Chance und die nutzen wir, okay?«, ermunterte sie mich, ehe sie mir einen unbenutzten Mundschutz reichte.
»Es ist immer ein Schock, wenn so etwas geschieht, aber versäumen Sie bitte nicht, sich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern. Viele Familienangehörige verbrauchen ihre Kraft am Bett ihrer Lieben. Vergessen zu essen, trinken zu wenig, dazu Schlafentzug.« Sie drehte sich fragend zu mir. Ihre Erscheinung war derart frisch und lebendig, dass ich fast aufgelacht hätte. Ich las trotz ihrer Empathie und Fürsorglichkeit Lebensfreude hinter ihren Pupillen. Leichtigkeit.
»Wann haben Sie die letzte Mahlzeit zu sich genommen?«
Ertappt schaute ich zur Seite.
»Dachte ich mir doch«, murmelte sie, während ein mildes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. Dann bereitete sie kopfschüttelnd eine Injektion vor, die sie Benjamin routiniert verabreichte.
»Bitte! Sie müssen sich um sich sorgen!«
Ich nickte und sah zu Ben. Er sah aus wie ein Dummy und nicht wie ein lebendiger Mensch. Er zuckte nicht einmal, als die Nadel tief in sein Fleisch drang.
»Wir haben genug mit den Patienten zu schaffen. Tun Sie mir den Gefallen und sorgen sie für ausreichend Mahlzeiten und Schlaf. Ich weiß, dass es schwerfällt. Aber ihr Mann braucht sie kräftig«, bat die Schwester.
Da ich erneut brav nickte, fuhr sie fort.
»Unweit der Klinik beginnen einige Wege nach oben. Gönnen Sie sich ab und zu eine Pause und unternehmen Sie einen Bergspaziergang an der frischen Luft. Das wird Ihnen guttun.«
»Sie sprechen von der dunklen Wand, die sich so bedrohlich über den Ort erhebt? Ich danke!«, wehrte ich geschockt ab. Wie um meine Worte zu unterstreichen, berührte ich sachte Bens Kopfverband. Ich würde das Gebäude die kommenden Tage nicht verlassen. Das war klar.Bergspaziergang? Was dachte sich diese Frau?
»Ja, das Zammer Loch flößt etlichen Menschen Furcht ein. Dabei ist die Schlucht, wenn man ein wenig aufpasst, wunderschön. Oder ist ihr Mann dort abgestürzt?« Erschrocken hielt sie inne und suchte in meinem Blick nach einer Antwort.
»Entschuldigen Sie«, versuchte sie, die Situation zu retten.
»Nein. Ist schon gut! Ich weiß bisher nicht genau, wie und wo es sich abgespielt hat«, beruhigte ich sie.
Ich fand sie sympathisch. Sie musste in meinem Alter sein und ich hatte das Gefühl, ihr vertrauen zu können.
»Ihr Mann hatte Glück im Unglück. Die arme Frau war ja sofort tot.«
Eine Welle Übelkeit riss mich brutal aus meinem plumpen Denkmuster. Es hatte eine Tote gegeben? Es fühlte sich an, als hätte die Schwester mit ihrer Feststellung meinen begrenzten Horizont gesprengt, der endlich begriff, dass die Welt nicht so einfach gestrickt war, wie ich das bisher angenommen hatte. Die Scheuklappen, die ich trug, wurden jede verdammte Stunde größer. Hatte ich irgendetwas mitbekommen in den zurückliegenden Monaten? Ich hatte weder links noch rechts geschaut und überlegte, was in meinem Leben alles existierte, von dem ich keine Ahnung hatte. Angst beschlich mich. Ich fürchtete die Wahrheit wie einen Schwarm Hornissen und wenn ich ehrlich war, wollte ich die Details gar nicht wissen. Ich sah ja, wo das endete. Nicht nur Ben war verletzt, sondern eine Frau war gestorben. Aus dem Leben gerissen. Einfach so.
»Ach so, falls Sie Genaueres wissen möchten, dürfen Sie den Andi Huber von der Bergrettung fragen. Der hat ihn geborgen und herabgeflogen. Das ist ein total Netter.«
Sie schien meine Bestürzung nicht wahrgenommen zu haben. Sie kicherte wie ein Mädchen, was mir ihre verheißungsvollen Empfindungen für diesen Herrn Huber verriet.
»Sie werden ihn mit Sicherheit kennenlernen. Er ist so gut wie jeden Tag in der Klinik. Sprechen Sie ihn an«, schlug sie vor, ehe sie mir die Hand reichte und ich überlegte, ob er nicht der Anrufer gewesen war, der mich über Bens Unfall informiert hatte.
»Ich glaube, jemand von der Bergrettung hat mich angerufen. Es ging alles so schnell«, murmelte ich.
Ihre Augen strahlten.
»Das war er sicher«, nickte sie und hielt mir immer noch die Hand hin, die ich endlich ergriff.
»Ich bin nebenbei bemerkt die Maria. Wir begegnen uns jetzt öfter, da erleichtert es die Sache ungemein, wenn wir uns duzen, findest nicht?«
Ich rang mir ein ernst gemeintes Lächeln ab.
»Danke für alles, Maria. Ich bin Sophie«, bedankte ich mich für ihre Warmherzigkeit. »Benjamin war mit einer Gruppe von Leuten auf dem E5 unterwegs. Sie wollten gemeinsam über die Alpen von Kempten nach Meran trecken«, führte ich aus.
Maria nickte wissend, ehe sie antwortete.
»Kein Einzelfall! Der E5 führt mitten durch Zams. Die meisten Weitwanderer auf dieser Etappe kommen von der Memminger Hütte. Einige Mutige steigen von Holzgau auf und kraxeln noch am selben Tag weiter, über die Memminger Hütte hinunter nach Zams. Das sind Verrückte, sag ich dir.« Sie verdrehte die Augen. »Wir bekommen nicht selten dehydrierte, entkräftete E5-Wanderer, die sich mit der Wegstrecke verschätzt haben. Meistens langen dann ein paar aufmunternde Worte und Infusionen über Nacht. Aber manchmal ist es ernster.« Sie schaute wissend auf Ben. »Das Zammer Loch ist sehr abgründig, steinschlaggefährdet und zieht sich kilometerlang wie Kaugummi. Die nächste Jausenstation ist, wenn die untere Lochalm geschlossen hat, erst wieder hier im Tal«, vertraute sie mir an und auf einmal wurde mir bewusst, was für ein gefährliches Abenteuer Benjamin unternommen hatte.
Ich als überzeugte Flachländerin hatte nicht an die Risiken im hochalpinen Gelände gedacht und schämte mich nun für meine Oberflächlichkeit.
Meine Blindheit war so weit gegangen, dass ich nicht bemerkt hatte, dass ein Mensch gestorben war. Auf rauem Fels. Neben Ben. Ein Herz hatte aufgehört zu schlagen, während ein anderes gekämpft und weitergepumpt hatte.