Wo der Wind von Liebe flüstert 1 - Suza Summer - E-Book
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Wo der Wind von Liebe flüstert 1 E-Book

Suza Summer

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Beschreibung

Eventmanagerin Sophie befindet sich auf der Überholspur des Lebens. Zusammen mit Freundin und gleichzeitig Chefin Esther plant sie Tag und Nacht Hochzeiten. Was gibt es Wichtigeres, als Bräuten den schönsten Tag im Leben zu gestalten? Die Agentur „White Yes“ in Aachen läuft prima und auch sonst hat Sophie viel Spaß. Doch dann bekommt Sophie einen Anruf aus Österreich. Ihr Mann ist in den Bergen verunglückt. Flachländerin Sophie, die Berge hasst, reist in die Klinik nach Zams , um Benjamin zur Seite zu stehen. Was sie dort erwartet, stellt ihr Leben auf den Kopf. Denn nichts mehr scheint, wie es war.

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Impressum

1. Auf­la­ge Ok­to­ber 2022Co­py­right © 2022 Tan­ja Eick­holtForstweg 16, 73547 Lorchtan­ja.eick­hol­[email protected]

Um­schlag­ge­stal­tung: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Bild­nach­wei­se: ©Com­po­ser, ©to­mer­tu, ©ban­no­suke, ©pa­ri­n­ya – stock.ad­o­be.comen­va­to­ele­ments.com, ra­wpi­xel.com

E-Book Kon­ver­tie­rung: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Alle Rech­te vor­be­hal­ten. Das vor­lie­gen­de Werk darf we­der in sei­ner Ge­samt­heit noch in sei­nen Tei­len ohne vor­he­ri­ge schrift­li­che Zu­stim­mung der Recht­e­in­ha­ber in wel­cher Form auch im­mer ver­öf­fent­licht wer­den. Das be­trifft ins­be­son­de­re je­doch nicht aus­schließ­lich elek­tro­ni­sche, me­cha­ni­sche, phy­si­sche, au­dio­vi­su­el­le oder an­der­wei­ti­ge Re­pro­duk­ti­on oder Spei­che­rung und oder Über­tra­gung des Wer­kes so­wie Über­set­zun­gen. Da­von aus­ge­nom­men sind kur­ze Aus­zü­ge, die zum Zwe­cke der Re­zen­si­on ent­nom­men wer­den.

Ge­wid­met all je­nen lie­be­vol­len Her­zen, die ih­rer See­le klar ma­chen müs­sen, dass sie von ei­nem ge­lieb­ten Men­schen ge­täuscht wur­den. Nehmt eu­ren Mut und eure Kraft zu­sam­men, steht auf und geht vor­wärts! Die Lie­be wird euch fin­den.

Ka­pi­tel 1

Das Schick­sal er­eil­te einen im­mer im Mo­ment der Ah­nungs­lo­sig­keit. In mei­nem Fall hat­te es sich als harm­lo­se All­tags­be­ge­ben­heit ge­tarnt an­ge­schli­chen, um mir ohne je­den Über­g­ang den Bo­den un­ter den Fü­ßen weg­zu­rei­ßen. Es nahm mir nicht nur die Stand­fes­tig­keit, son­dern mei­ne Zu­kunft, die Ge­gen­wart und wie sich spä­ter her­ausstell­te auch mei­ne Ver­gan­gen­heit.

Hät­te ich ge­ahnt, dass durch die­ses Te­le­fonat mein All­tag kom­plett aus den Fu­gen ge­ri­e­te, wäre ich nie an den Ap­pa­rat ge­gan­gen. Ich hät­te das pe­ne­tran­te Klin­geln igno­riert, mir aus dem Kühl­schrank eine Cola gean­gelt und mich mit Bruce auf die ver­schlis­se­ne Le­der­couch ge­lüm­melt. Das Glas wäre nicht zer­bro­chen. Al­les wäre so ge­blie­ben, wie es war. Stress­voll, manch­mal ner­vend, je­doch vor­her­seh­bar und heil. Al­ler­dings be­saß ich kei­ne hell­se­he­ri­schen Fä­hig­kei­ten. Lei­der.

Nach­dem ich das Ge­spräch be­en­det hat­te, star­te­te eine neue Zeit­rech­nung und mein Le­ben be­gann sich un­auf­halt­sam und in sämt­li­che Rich­tun­gen auf­zu­lö­sen.

»Esther, bist du’s? Hey, du Wor­k­a­ho­lic, was gibt’s so spät?« Ich klemm­te mir das Te­le­fon zwi­schen Ohr und Schul­ter, wäh­rend ich die Kühl­schrank­tür öff­ne­te und mei­nen lin­ken Arm akro­ba­tisch über die Milch­fla­sche in den hin­te­ren Be­reich des Fa­ches schob. Ir­gend­wo hier muss­te sich die Cola-Dose ver­steckt ha­ben. Das Bild von ei­nem dick be­leg­ten Thun­fisch­sand­wich mit Majo und To­ma­ten tauch­te in mei­nem Kopf auf. Ich hat­te ver­ges­sen, ge­nü­gend zu es­sen, und mein Ma­gen be­schwer­te sich jetzt mit ei­nem be­lei­dig­ten Grum­meln.

Als ich die Cola end­lich blind zu fas­sen be­kam, stieß ich ver­se­hent­lich an die Milch und die halb­vol­le Glas­fla­sche kipp­te mir ent­ge­gen und zer­platz­te mit ei­nem bers­ten­den Ge­räusch auf den Flie­sen.

»Mist, ver­damm­ter! War­te kurz, Esther, ich lege dich eine Se­kun­de weg«, ver­trös­te­te ich die An­ru­fe­rin, schmiss ein Kü­chen­tuch auf die Milchla­che und sperr­te an­schlie­ßend den Ka­ter in die un­te­re Eta­ge, da­mit er sich nicht an den Scher­ben die Pföt­chen zer­schnitt.

»Nur zu dei­ner Si­cher­heit! Ich hol dich gleich wie­der, Bruce, kei­ne Sor­ge.«

Ehe ich den Hö­rer er­neut auf­nahm, schwor ich mir, nach dem An­ruf erst mei­nen Hun­ger zu stil­len, be­vor ich das Cha­os be­sei­ti­gen wür­de. Der Tag war schweiß­trei­bend ge­nug ge­we­sen und ir­gend­wann muss­te ich ler­nen, Pri­o­ri­tä­ten zu set­zen, sonst wür­de ich vor die Hun­de ge­hen. In letz­ter Zeit kam ich nicht ein­mal mehr dazu, Grund­be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen. Wahr­schein­lich, so spe­ku­lier­te ich, war Esther noch et­was Le­bens­wich­ti­ges ein­ge­fal­len und ich schmun­zel­te trotz mei­nes Miss­ge­schicks mit der Milch­fla­sche.

Mei­ne Freun­din und gleich­zei­tig Chefin Esther war so en­ga­giert, wie sie es als Event­ma­na­ge­rin nur sein konn­te. Sie hat­te sich mit ih­rer Agen­tur auf Hoch­zei­ten spe­zi­a­li­siert und kann­te kei­ne Pau­se. Das Wort Fei­er­abend kam in ih­rem Wort­s­chatz nicht vor. Je­des Braut­paar, das uns buch­te, wur­de mit Feu­er­ei­fer auf sei­nem Weg zum Trau­al­tar be­glei­tet. Ihr Han­dy war zwei­fels­frei schon längst an ihr fest­ge­wach­sen, da­für flo­rier­te der La­den und wir be­ka­men Auf­trä­ge von nam­haf­ten Per­sön­lich­kei­ten, weit über die Stadt­gren­zen Aa­chens hin­aus. Dass das White Yes boom­te, kam kla­re­r­wei­se auch mir zu­gu­te, denn ich agier­te als Esthers gut be­zahl­te rech­te Hand, die sich un­ter an­de­rem um die aus­ge­fal­le­ne Deko und die Ku­li­na­rik küm­mer­te. Mei­ne Dis­zi­plin war nicht nur die Ver­wirk­li­chung der mehr­stö­cki­gen Braut­tor­ten, son­dern des ge­sam­ten Buf­fets. Das be­deu­te­te, ich war ver­ant­wort­lich für den Ap­pe­ti­zer vor­ne­weg, für den Haupt­gang bis hin zum pas­sen­den Des­sert und den Drinks, die ei­nem Fest zu dem ver­ha­l­fen, was es sein soll­te: pom­pös, gran­di­os, un­ver­gess­lich. Da­bei galt stets: Das Braut­paar hat­te die Ent­schei­dungs­ho­heit. Wenn die Braut einen lila Ape­ri­tif mit grü­nen Eis­wür­feln nebst gol­de­nen Hal­men woll­te, dann war es mir ein Be­fehl, ih­rem Wunsch nach­zu­kom­men und einen Ca­te­rer zu fin­den, der sich dar­auf ein­ließ. Im Ex­trem­fall muss­te ich sel­ber ran und ich hat­te in­zwi­schen mehr als ein­mal un­ge­mein ori­gi­nel­le Hoch­zeits­tor­ten kre­i­ert. Wir zau­ber­ten Träu­me wahr und ver­kör­per­ten ein klas­se Team. Das bes­te über­haupt. Zu un­se­rer ein­ge­schwo­re­nen Crew ge­hör­te an­sons­ten nur noch der hei­ße, süd­ame­ri­ka­ni­sche Typ na­mens Kaf­fee, denn Kof­fe­in war der wah­re Le­bens­ge­fähr­te ei­nes je­den Event­ma­na­gers. Ohne die rich­ti­ge Do­sis am Tag ging gar nix. Wir tricks­ten un­ser na­tür­li­ches Be­dürf­nis nach Ruhe und Schlaf aus, da wir uns es ein­fach nicht leis­ten konn­ten, auf der fau­len Haut zu lie­gen. Fünf Stun­den Schlaf war das ab­so­lu­te Ma­xi­mum. Ir­gend­wann ge­wöhn­te man sich dar­an.

Ich nipp­te an der Cola.

»Ent­schul­di­ge, bin schon da, Esther. War­te, lass mich ra­ten. Sa­bi­ne will doch lie­ber den Mu­s­tang als den Rolls-Royce. Ist coo­ler. Hab ich recht oder hab ich recht?«, nahm ich den Grund ih­res An­ru­fes vor­weg und lach­te.

»Spre­che ich mit So­phie Andres?«, mel­de­te sich eine un­be­kann­te, männ­li­che Stim­me. Mein Ge­ki­cher ersta­rb, wäh­rend der Frem­de wei­ter­sprach. Sein Di­a­lekt war nicht von hier und sein erns­ter Ton schlug mir auf den Ma­gen. Ich spür­te, dass ir­gen­d­et­was, das mit mir zu tun hat­te, ganz und gar nicht in Ord­nung war. Sonst hät­te er wäh­rend mei­ner mi­nu­ten­lan­gen Mil­chor­gie längst auf­ge­legt.

»An­dre­as Hu­ber von der Berg­wacht Zams in Ös­ter­reich. Sind Sie die Ehe­frau von Ben­ja­min Andres?« Er war­te­te ge­dul­dig, be­vor er wei­ter­sprach. Mei­ne Kör­per­haa­re stell­ten sich auf, was ich an dem Krib­beln auf mei­ner Haut be­merk­te.

»Ja, die bin ich.« Mehr be­kam ich nicht her­aus, mein gan­zer Leib be­fand sich schlag­ar­tig in Alarm­be­reit­schaft.

»Ich möch­te Sie dar­über in­for­mie­ren, dass es einen Un­fall ge­ge­ben hat, bei dem ihr Mann be­tei­ligt war. Er liegt in der Kli­nik in Zams. Es tut mir leid, Ih­nen das sa­gen zu müs­sen, es sieht nicht gut aus. Kön­nen Sie her­kom­men?«

»Ben? Was ist mit ihm?«, ver­such­te ich die Fra­ge zu for­mu­lie­ren, nach­dem mir ein spit­zer Angst­schrei ent­glit­ten war. Beni? Oh mein Gott! Ich ging un­be­wusst einen Schritt rü­ck­wärts, ohne das Knir­schen zu be­mer­ken, als mein nack­ter Fuß in die mes­ser­scha­r­fen Scher­ben trat. Der Schreck und die Furcht be­täub­ten mich und selbst als die Split­ter durch mei­ne Fuß­soh­le dran­gen und un­ter dem Druck mei­nes Ge­wich­tes bra­chen, spür­te ich un­ter­halb des Her­zens kei­nen Schmerz. Mei­ne Mit­te da­ge­gen fühl­te sich an wie ein Na­del­kis­sen und be­stand aus pu­rer, zu un­zäh­li­gen Na­deln ge­wor­de­ner Angst.

»Wie schwer ist er ver­letzt?«, krächz­te ich und sank auf den Bo­den. Milch durch­tränk­te den Saum mei­nes Shirts und ein un­an­ge­neh­mer Ge­ruch stieg mir in die Nase. Es roch süß und me­tal­lisch.

Erst jetzt be­merk­te ich das Blut, das sich mit der wei­ßen Flüs­sig­keit ver­band und da­bei war, schlie­ri­ge Mus­ter auf den Flie­sen zu bil­den. Ich starr­te auf die La­che. Wie ein kunst­vol­les Aqua­rell erb­lass­te das do­mi­nan­te Rot an den Rän­dern zu Hell­rot, dar­auf­hin zu Rosa, be­vor es als ein Hauch von Zart­ro­sa ins Weiß der Milch über­ging.

Ich ver­säum­te in den Bauch zu at­men, mir wur­de schwin­de­lig und mein Herz poch­te in den Schlä­fen.

»Ist er …? Wird er …?« Trä­nen über­quer­ten heiß mei­ne Wan­gen, als ich mein Ohr an den Hö­rer press­te und Gott an­fleh­te, dass ich die Ant­wort er­hal­ten wür­de, auf die ich hoff­te.

»Ma­chen Sie sich kei­ne Sor­gen Frau Andres. Ihr Mann ist auf dem Ge­röll aus­ge­rutscht und hat einen Bein­bruch. Er wird ope­riert, aber das wird wie­der. Kom­men Sie ein­fach mor­gen her und ho­len ihn nach dem Ein­griff nach Hau­se.«

Ich schloss die Au­gen, wäh­rend die Sil­ben des frem­den An­ru­fers erst mein In­ne­n­ohr, dann mei­ne See­le er­ober­ten.

»Es tut mir leid, Ih­nen das mit­tei­len zu müs­sen, aber Ihr Mann ist am Grat ab­ge­stürzt und hat ein schwe­res Schä­del-Hirn-Trau­ma er­lit­ten. Er liegt der­zeit im künst­li­chen Koma und schwebt in Le­bens­ge­fahr. Ge­nau­e­res kann ich Ih­nen nicht sa­gen. Wir ha­ben ihn heu­te Nach­mit­tag mit dem Ret­tungs­he­li­ko­pter Chri­s­to­pho­rus 5 ins Tal ge­flo­gen. Ich habe mehr­mals ver­sucht, Sie zu er­rei­chen. Am bes­ten set­zen Sie sich in den nächs­ten Zug und fah­ren her. Len­ken Sie bit­te kein Fahr­zeug sel­ber.«

Der Bo­den ver­schwamm zu ei­nem Ein­heits­ro­sa und ich hat­te das Ge­fühl, plötz­lich nicht mehr zu zwin­kern, als ob selbst mei­ne Li­der er­starrt wä­ren. Mit ei­nem Mal nahm ich al­les in Zeit­lu­pe wahr und die Se­kun­den zo­gen sich in die Län­ge. Al­les pass­te hin­ein. Mein gan­zes Le­ben.

Was hat­te der Mann ge­sagt? Die Um­ris­se von Ben­ja­mins fröh­li­chem Ge­sicht lös­ten sich aus der fa­r­bi­gen La­che und ich streck­te die Hand aus, um ihn zu be­rüh­ren.

Ich kann­te die­se selt­sa­me Si­tua­ti­on, in der ich ge­ra­de steck­te, nur aus Ro­ma­nen oder Ver­fil­mun­gen. Es war je­ner Mo­ment im Le­ben ei­nes Men­schen, in dem er krampf­haft ver­such­te, dem ein­ge­trof­fe­nen Un­heil die Da­seins­be­rech­ti­gung ab­zu­spre­chen.

Ein schwe­rer Un­fall? Hirn­ver­let­zun­gen? Das konn­te nicht sein. Nix da! Al­les soll­te blei­ben, wie es war. Et­was an­de­res kam gar nicht in die Tüte.

Eine war­nen­de Stim­me er­tön­te in mei­nem Kopf.

»Wach auf, So­phie, die Leich­tig­keit dei­nes Le­bens ist vor­über. Ab jetzt wird es schwer.«

Ben­ja­mins Ge­sicht ver­schwand.

Die fol­gen­den Se­kun­den muss­te ich ver­lo­ren ha­ben, denn als mei­ne Sin­ne wie­der funk­tio­nier­ten und ich die Um­ge­bung ver­un­si­chert re­gis­trier­te, lag das Te­le­fon ne­ben mir und ich saß im­mer noch be­we­gungs­los in die­ser La­che aus Milch, Scher­ben und Blut.

Ben­ja­min. Die Zeit war ste­hen ge­blie­ben. Al­les Wich­ti­ge war schlag­ar­tig un­wich­tig ge­wor­den. Ich hör­te Bruce durch die Tür schrei­en. Er maunz­te er­bärm­lich und kratz­te auf­for­dernd am Holz.

»Bru­ci­lein? War­te, ich kom­me gleich!«, woll­te ich ru­fen, aber mei­ner Keh­le ent­sprang nur ein tro­ckenes Kräch­zen. Ich er­hob mich und schlepp­te mich zur Tür.

»Hat et­was län­ger ge­dau­ert, Ka­ter­chen.«

Angst krall­te sich an mei­nen Ge­dan­ken fest. Aber, und das war der Stroh­halm, den ich er­griff: Ben­ja­min leb­te. Mein Mann hat­te die Chan­ce, ge­sund zu wer­den. Es war nicht zu spät. Eine Flut Trä­nen über­schwemm­te mein Ge­sicht und mein Hals war so eng, dass ich Schwie­rig­kei­ten hat­te, zu schlu­cken. Ich ver­such­te, das Zit­tern mei­ner Knie un­ter Kon­trol­le zu be­kom­men. Zams in Ös­ter­reich. Ich muss­te zu Ben­ja­min. So­fort!

Die Num­mer von Esther ein­tip­pend, ließ ich mich er­schöpft auf das Sofa fal­len. Ich hat­te im­mer noch nichts ge­ges­sen. Mein Schä­del poch­te und mein Fuß hat­te rote Spu­ren auf dem Par­kett hin­ter­las­sen. Je­der Schritt hat­te höl­lisch ge­schmerzt, so­dass ich die letz­ten Me­ter auf ei­nem Bein ge­hüpft war. Vor­sich­tig dreh­te ich die Fu­ßin­nen­sei­te zu mir, um die Ver­let­zun­gen in Au­gen­schein zu neh­men.

»Esther?« Mei­ne Stim­me klang fremd. Be­hut­sam zog ich mit den Fin­ger­nä­geln ein Frag­ment her­aus. Der ste­chen­de Schmerz ließ mich frös­teln und auf mei­nen Ar­men bil­de­te sich eine Gän­se­haut. Ich stöhn­te auf, was Esther so­fort für sich deu­te­te.

»So­phie! Was gibt’s? Du schniefst ja. Nein, nein, nein! Sag nicht, dass du krank bist!« Esthers Ton wur­de barsch. »Das geht mo­men­tan nicht, Lie­be­lein, hörst du? Geh in die Nacht-Apo­the­ke und lass dir Na­sen­spray und Ibu­pro­fen ge­ben. Nimm gleich drei Ta­blet­ten. Und mor­gen früh auch noch mal zwei«, for­der­te sie, ohne mich an­zu­hö­ren. »Krank ist nicht, ich zähl auf dich, So­phie. Du kannst jetzt nicht schlapp ma­chen. Nach dem Event be­kommst du be­zahl­ten Ur­laub, okay?«, ent­schied sie re­so­lut und führ­te fort: »Ach ja, Sa­bi­ne will doch den Mu­s­tang. Fin­det sie coo­ler. Du küm­merst dich drum? Heu­te noch? Spä­tes­tens mor­gen. Mer­ci!«

Ich at­me­te an­ge­strengt ein und aus. Die Dring­lich­keit in ih­rer Stim­me und die Ober­fläch­lich­keit ih­rer Bit­te klan­gen mit ei­nem Mal pe­ne­trant in mei­nem Ohr: Sa­bi­ne will einen Mu­s­tang. Mein Mann kämpft ge­ra­de um sein Le­ben und Sa­bi­ne will einen besch… Mu­s­tang. Ich woll­te, dass sie auf­hör­te zu re­den und mir zu­horch­te.

»Was ist? Du sagst gar nichts. Bist du ernst­haft krank?«

»Esther, Ben­ja­min ist ver­letzt«, flüs­ter­te ich und fing schon wie­der an zu schluch­zen.

»Ben ist was? Weinst du, Süße? Was ist pas­siert?« Sie klang er­schro­cken.

Mein Un­ter­kie­fer ver­spann­te sich, als ob er sich wei­ger­te, die Wor­te, die nun un­wei­ger­lich fol­gen wür­den, ins Freie zu ent­las­sen. Se­kun­den­lan­ge Stil­le leg­te sich über mei­ne ver­ängs­tig­te See­le, bis ich das Un­glaub­li­che end­lich aus­zu­spre­chen wag­te.

»Ben­ja­min, du weißt schon. Er war auf die­sem schreck­li­chen E5 un­ter­wegs über die Al­pen. Er ist beim Wan­dern in den Ber­gen schwer ver­un­g­lückt. Ich muss zu ihm. Nach Zams«, klär­te ich Esther auf, die stumm lausch­te. Mein Ton­fall hat­te sich rau an­ge­hört und ich kam mir im­mer noch vor wie in ei­nem Traum.

Die dar­auf­fol­gen­de Re­de­pau­se zog sich in die Län­ge und ich ver­nahm ihr Schlu­cken, be­vor sie mich nach den nä­he­ren Um­stän­den be­frag­te.

»Oh Gott, So­phie. Das ist ja furcht­bar! Was für Ver­let­zun­gen hat er? Weißt du schon was?«, frag­te sie be­sorgt. Ich er­kann­te am Klang ih­rer Stim­me, dass sie es ehr­lich mein­te.

»Schwe­res Schä­del-Hirn-Trau­ma. Es ist nicht klar, ob er über­lebt«, flüs­ter­te ich. Ein er­stick­tes Schluch­zen ent­sprang mei­ner Keh­le.

Sie japs­te nach Luft.

»So­phie! Sag, dass das nicht wahr ist! Du lie­ber Him­mel! Was musst du ge­ra­de durch­ma­chen … Ich kann das nicht glau­ben!«, rief sie ent­geis­tert.

Es tat gut, je­man­den zu ha­ben, der mit ei­nem litt. Eine Ver­trau­te, mit der man sei­ne Angst tei­len konn­te. Plötz­lich war ich wie­der froh, dass ich sie in der Lei­tung hat­te. Sie gab mir die Si­cher­heit, nicht al­lei­ne zu sein, und die Kraft, nach vorn zu se­hen. Gleich­wohl wuss­te ich, wel­chen Su­per-GAU ich oder bes­ser ge­sagt Ben­ja­min ihr da­mit an­tat. Über­mor­gen war der Tag der Tage. Eine der wich­tigs­ten Hoch­zei­ten seit der Exis­tenz von White Yes stand kurz be­vor und wir hat­ten eine Men­ge zu tun. Wo­bei eine Men­ge zu tun hu­man aus­ge­drückt war. Un­ser Ar­beits­auf­wand äh­nel­te viel­mehr den Vor­be­rei­tun­gen für eine be­mann­te Raum­fahrt­mis­si­on. Mit Rü­ck­kehr, ver­steht sich. Esther wür­de das im Al­lein­gang nie­mals be­wäl­ti­gen, was sie je­doch in die­sem Mo­ment nicht an­sprach. Es wäre pi­e­tät­los rü­ber­ge­kom­men und ich war eben auch eine Freun­din. Das rech­ne­te ich ihr hoch an.

Sie schluck­te zum zwei­ten Mal, ehe sie sich räus­per­te.

»Du musst selbst­ver­ständ­lich zu ihm, So­phie. Ich ver­ste­he das«, be­stärk­te sie mich.

»Esther, es tut mir leid. In dem Fall kann ich kei­ne Rück­sicht auf White Yes neh­men. Mir ist klar, in was für eine ver­dammt schwie­ri­ge Si­tua­ti­on ich dich brin­ge, aber ich darf und will Ben jetzt nicht hän­gen las­sen. Wer weiß …«, schluchz­te ich in den Hö­rer und wur­de von ei­nem er­neu­ten Heul­krampf ge­schüt­telt.

»Wer weiß, ob er über­haupt noch mal wird«, wein­te ich vol­ler Be­klom­men­heit und mein Herz schmerz­te bei der Vor­stel­lung, dass Ben­ja­min einen blei­ben­den Scha­den da­von­tra­gen könn­te, so sehr, dass ich mir die lin­ke Sei­te hielt.

»So­phie, um Got­tes Wil­len! Es wird al­les gut! Bit­te grü­bele nicht we­gen der Agen­tur. Ich rufe gleich Bi­an­ca an, ob sie kurz­fris­tig ein­springt, und wir alle drü­cken Ben­ja­min die Dau­men, dass er so schnell wie mög­lich ge­sund wird. Na­tür­lich fährst du so­fort zu ihm. Kei­ne Frau an dei­ner Stel­le wür­de an­ders han­deln. Ich wün­sche euch viel Glück! Um­ar­me Beni von mir. Kopf hoch, mei­ne Lie­be, und pass auf dich auf. Kannst ja dann hö­ren las­sen, wie es aus­schaut, wenn du Nä­he­res weißt. In­for­mier mich, ja? Beni wird wie­der! Mit Si­cher­heit«, trös­te­te sie mich.

»Dan­ke, Esther«, schnief­te ich, ehe wir das Ge­spräch be­en­de­ten und ich geis­tes­ab­we­send da­mit be­gann, die Sau­e­rei auf dem Kü­chen­bo­den zu be­sei­ti­gen.

Dann griff ich zum Te­le­fon.

»Marc, So­phie hier. Könnt ihr für ein paar Tage Bruce ver­sor­gen?«

Mir war klar, dass ich mit die­ser be­schei­de­n­en Bit­te die hei­le Welt mei­nes Bru­ders ins Wan­ken brach­te. Er wür­de die Pfle­ge des Ka­ters post­wen­dend an sei­ne Freun­din Kat­ja de­le­gie­ren, die All­er­gi­ke­rin war und Tier­haa­re über al­les ver­ab­scheu­te, mit­samt der Krea­tur, an des­sen Haa­r­wur­zel das krank ma­chen­de Übel hing.

»Du weißt ge­nau, dass Kat­ja all­er­gisch re­a­giert. Und ich habe ab­so­lut kei­ne Zeit, zwei­mal am Tag durch die hal­be Stadt zu kut­schie­ren, um dein Haus­tier zu ver­kös­ti­gen. Sor­ry! Frag Mama, der ist so­wie­so lang­wei­lig. Die könn­te sich nach­mit­tags zu ihm set­zen. Dann sind sie bei­de nicht al­lei­ne«, schlug mein hilfs­be­rei­ter Bru­der vor. Bin­go! Wuss­te ich’s doch.

»Dan­ke für dei­ne Un­ter­stüt­zung, Bru­der­herz. Ich wer­de mich ir­gend­wann re­van­chie­ren«, brüll­te ich auf­ge­bracht, ehe ich mich brems­te. Ich hat­te von vorn­her­ein ge­ahnt, dass er es ab­leh­nen wür­de, und es mach­te kei­nen Sinn, hys­te­risch zu wer­den. Ein küh­ler Kopf war jetzt das Wich­tigs­te.

»Was ist über­haupt los? Ver­reist du?«, frag­te Marc, ohne dass ich auch nur die Spur ei­nes schlech­ten Ge­wis­sens bei ihm be­merk­te. So war mein lie­ber Bru­der. Selbst­be­zo­gen und rück­sichts­los.

»War einen Ver­such wert. Grüß Kat­ja von mir«, be­en­de­te ich das Ge­spräch kalt und leg­te ein­fach auf. Mein Ver­hält­nis zu Kat­ja war eben­falls ge­spal­ten. Kei­ne Ah­nung, war­um. Viel­leicht des­halb, weil sie die Frau mei­nes Bru­ders war. Sie ver­göt­tert und mich ver­ach­tet er, dach­te ich sau­er.

Mei­ne zu­tiefst ge­schock­te Mut­ter zeig­te so­fort Be­reit­schaft, Bruce zu ver­sor­gen, und nahm wie im­mer ihr Gold­s­tück Marc in Schutz, nach­dem ich mich bei ihr aus­ge­heult hat­te.

»Das darfst du ihm nicht übel­neh­men. Er ist viel be­schäf­tigt und die Sor­gen um Kat­ja mit ih­ren vie­len Un­ver­träg­lich­kei­ten …«, ver­such­te sie mir den Wind aus den Se­geln zu neh­men, wäh­rend mei­ne Na­sen­flü­gel beb­ten wie die Nüs­tern ei­nes Pfer­des.

Der Marc-Lob­ge­sang mei­ner Mut­ter war mein wun­der Punkt. Schon im­mer! Und Kat­ja ge­hör­te eben zu die­sem Ekel­pa­ket auf zwei Bei­nen. Die Gute soll­te ih­ren Hin­tern hoch­be­kom­men und ma­lo­chen, an­statt ihre Weh­weh­chen zu pfle­gen und sich von Marc ver­gol­de­te Was­ser­häh­ne kau­fen zu las­sen, dach­te ich wü­tend, sprach es aber nicht aus. Für Ma­r­cs Schwä­chen war un­se­re Mut­ter blind und taub. Von Zeit zu Zeit über­fiel mich das un­gu­te Ge­fühl, sie habe mei­nen Bru­der wäh­rend ih­rer lan­gen Jah­re als Al­lein­er­zie­hen­de zum Herrn des Hau­ses er­zo­gen. Ge­nau­so spiel­te er sich näm­lich auf. Aber auch die­ses Phä­no­men exis­tier­te nicht erst seit heu­te und war seit Ben­ja­mins Un­fall un­wich­tig ge­wor­den. Bruce war ver­sorgt. Ich konn­te los. Das war es, was zähl­te.

Kapitel 2

Im Zug sieg­te die Pa­nik. Ich saß ein­ge­engt zwi­schen frem­den Men­schen im Ab­teil, hat­te kei­ne Ab­len­kung und die Angst dar­über, was mich in Zams er­war­te­te, fraß mich von in­nen auf. Un­be­wusst spiel­te ich alle Sze­na­ri­en durch, um sie wie­der von Neu­em zu über­den­ken und auf de­ren Wahr­schein­lich­keit zu über­prü­fen.

Ich ver­steck­te mein ver­heul­tes Ge­sicht hin­ter ei­nem Buch, des­sen Sei­ten ich ab und zu wei­ter­blät­ter­te, ohne auch nur einen Buch­sta­ben ge­le­sen zu ha­ben. Die meis­ten der Leu­te schie­nen oh­ne­hin zu be­schäf­tigt, um den de­so­la­ten See­len­zu­stand ih­rer Mit­rei­sen­den zu be­mer­ken. Ein äl­te­res Ehe­paar in Wan­der­kluft stu­dier­te eine aus­ge­brei­te­te Land­kar­te und man merk­te den bei­den die Vor­freu­de auf ge­mein­sa­me Un­ter­neh­mun­gen an.

Ein ver­bis­sen bli­cken­der Mann in grau­em An­zug und schwa­r­zer Kra­wat­te ver­sank im Mo­ni­tor ei­nes Lap­tops und häm­mer­te mit lang­glied­ri­gen Fin­gern un­un­ter­bro­chen auf die Ta­s­ta­tur ein.

Ich sehn­te mich da­nach, eine von ih­nen zu sein. Eine un­be­schwer­te Frau auf dem Weg zu ei­ner Freun­din, um mit ihr zu shop­pen und zu klö­nen, oder eine Ma­na­ge­rin auf Dien­st­rei­se, die einen auf »very busy« mach­te, sich da­bei er­folg­reich vor­kam und es even­tu­ell so­gar war. Wie prompt sich das Le­ben än­der­te, ohne dass man das be­ab­sich­tig­te. Als ob über uns al­len zeit­le­bens das Da­mo­kles­schwert schweb­te, das ir­gend­wann wahl­los auf einen Kopf her­un­ters­tieß. Eine zu­fäl­li­ge Aus­le­se. Jetzt hat­te es Ben­ja­min ge­trof­fen. Das war un­ge­recht.

Kopf­schüt­telnd pack­te ich das Buch weg und zog mei­nen Ti­mer aus der Hand­ta­sche. Esther re­gel­te al­les Ter­min­li­che auf dem Han­dy, wo­hin­ge­gen ich eher stein­zeit­lich ver­an­lagt war und mei­ne Dates kon­ven­ti­o­nell mit Ku­gel­schrei­ber auf Pa­pier schrieb. Ich schlug den heu­ti­gen Tag auf und fing an, aus­zu­strei­chen.

09.00 Uhr Sa­bi­ne Wel­ler, Tisch­de­ko ­durch­ge­hen. Typ Auto, Fa­r­be, Blu­men?

09.30 Uhr Fa­brik­hal­len­be­sich­ti­gung. Qua­drat­me­ter­zahl Bö­den??? Heiz­kör­per? ­Be­leuch­tung?

11.00 Uhr FI­NAL COUNT­DOWN letz­te ­Be­spre­chung Braut­paar Hol­ger und Ant­je de Boer

Die de Boe­rs re­prä­sen­tier­ten eine ein­fluss­rei­che Un­ter­neh­mer­fa­mi­lie aus Ham­burg, die mor­gen stan­des­amt­lich und über­mor­gen kirch­lich hei­ra­te­te. Auf die­se Traum­hoch­zeit hat­ten So­phie und ich mo­na­te­lang hin­ge­steu­ert. Ant­je war aus­ge­spro­chen an­spruchs­voll und so­gar die Pres­se wür­de an bei­den Ta­gen an­we­send sein. Wir hat­ten li­ter­wei­se Blut und Was­ser ge­schwitzt und alle Kri­sen und Even­tu­a­li­tä­ten durch­ge­kaut, die ein­tre­ten könn­ten. Vom Sturm­tief mit Ha­gel über ver­krach­te Ver­wandt­schaft bis hin zum Streik der Flug­ge­sell­schaft, mit der die Gäs­te an­reis­ten. Dass Ben­ja­min ver­un­g­lückt, da­mit hat­ten wir nicht ge­rech­net.

Die Kratz­ge­räu­sche des Stifts ver­scheuch­ten die Bil­der und stopp­ten auf po­si­ti­ve Wei­se mei­ne Ver­zweif­lung. Ich strich die Ein­tra­gun­gen, ohne zu mer­ken, dass ich wei­ter kra­kel­te, bis die kom­plet­te Flä­che mit Tin­te durch­tränkt war, was auf dem nächs­ten Blatt Lö­cher und häss­li­che Fle­cken hin­ter­ließ.

Er­schro­cken hielt ich inne und spür­te den ent­setz­ten Blick mei­ner Sitz­nach­ba­rin auf mir. Mei­ne Ge­dan­ken schweif­ten zu mei­nem Mann.

Ben­ja­min. Wir wa­ren seit zwölf Jah­ren ein Paar und im ver­flix­ten sieb­ten Ehe­jahr an­ge­langt. Ben­ja­min war Leh­rer für Sport, Ma­the, Eng­lisch und ein aus­ge­spro­che­ner Out­door­fre­ak. Sein Be­ruf pass­te aus­ge­zeich­net zu ihm und ich sah ihn vor mir, wie er blond ge­lockt und läs­sig ge­klei­det in­mit­ten sei­ner Schü­ler stand. Er konn­te gut mit Ju­gend­li­chen, viel­leicht weil er sel­ber ein Jun­ge ge­blie­ben war oder weil er mit sei­ner Cool­ness in ih­nen den heim­li­chen Wunsch aus­lös­te, so zu wer­den wie er. Und nicht so spie­ßig und lang­wei­lig wie die an­de­ren Er­wach­se­nen. Sei­ne Aben­teu­er­lust im­po­nier­te auch mir. Wann im­mer er die Zeit fand, und die fand er re­gel­mä­ßig, wan­der­te er in den Ber­gen, be­fuhr mit sei­nem Ka­jak einen Fluss oder be­zwang mit dem Moun­tain­bi­ke ir­gend­ei­nen Gip­fel. Er hat­te es so­gar ein­mal fer­tig­ge­bracht, in ei­ner Berg­hüt­te, wo er sich im Ma­trat­zen­la­ger mit sieb­zehn an­de­ren Klet­te­rern die Schlaf­statt ge­teilt hat­te, Ma­the­a­r­bei­ten zu kor­ri­gie­ren, um nicht zu Hau­se blei­ben zu müs­sen. Ich war das Ge­gen­teil. Ich ver­kör­per­te die Groß­städ­te­rin und lieb­te das ge­schäf­ti­ge Trei­ben auf den Stra­ßen und Plät­zen Aa­chens, von dem ich mich ger­ne mit­zie­hen ließ. Ich ging shop­pen, saß mit Kum­pels stun­den­lang in Knei­pen her­um und vor al­lem moch­te ich das Flach­land. Je fla­cher, des­to bes­ser. An­hö­hen über zehn Me­ter flößten mir Angst ein, weil sie mir die Sicht ver­sperr­ten; ich fühl­te mich von ih­nen ein­ge­engt und be­droht. Sie zu be­stei­gen, schien mir glei­cher­ma­ßen un­sin­nig wie aus­sichts­los. Es kos­te­te nur Schweiß und man be­kam Hö­hen­angst da­von. Je­des Mal, wenn Ben­ja­min mir von dem Frei­heits­ge­fühl er­zähl­te, das er emp­fand, wenn er mit Bla­sen an den Fü­ßen und nach Atem rin­gend ins Tal hin­un­ter­schau­te, staun­te ich nur, da ich mir das beim bes­ten Wil­len nicht vor­stel­len konn­te. Nach zwei ver­patz­ten Aus­flü­gen in die nahe ge­le­ge­ne Ei­fel, wo ich auf der Stau­mau­er des Rur­sees auf­grund von aku­tem Frack­sau­sen um­ge­kippt war, hat­te er re­si­gniert auf­ge­ge­ben, mich von der Ein­zig­ar­tig­keit von Höhe und dün­ner Luft über­zeu­gen zu wol­len.

Wir har­mo­nier­ten trotz die­ser nicht nen­nens­wer­ten Dif­fe­renz ein­wand­frei und es gab vie­le an­de­re Ge­mein­sam­kei­ten, die uns in­nig ver­ban­den.

Ein Ki­chern brei­te­te sich auf mei­nem trä­nen­nas­sen Ge­sicht aus. Der im­mer hung­ri­ge Ben­ja­min ver­kos­te­te zum Bei­spiel mit Feu­er­ei­fer mei­ne Kre­a­ti­o­nen, die ich zu Hau­se für die Agen­tur zur Pro­be mix­te, buk oder koch­te.

»Du musst nicht zu­fäl­lig was Neu­es kre­i­e­ren?«, frag­te er oft bei­läu­fig und sah mich er­war­tungs­voll an. Ich lach­te ihn dann we­gen sei­ner Un­er­sätt­lich­keit aus und wir dis­ku­tier­ten an­ge­regt, ob ein Drink mit Man­go bes­ser schmeck­te als mit fri­schen Wein­berg­pfir­si­chen oder ob die Fa­r­be der Eis­wür­fel noch einen Tick in­ten­si­ver oran­ge zu leuch­ten hat­te.

»Ich kann das erst ent­schei­den, wenn ich es ge­schmeckt habe«, pro­vo­zier­te er mich je­des Mal grin­send, ehe ich mal wie­der los­zog, um das gan­ze Zeug zu be­sor­gen.

Wir er­leb­ten ver­gnüg­te Aben­de, so­bald ich sei­ne Tipps um­zu­set­zen ver­such­te, wäh­rend er sich einen Spaß dar­aus mach­te, aus­ge­spro­chen ver­zwick­te Ab­än­de­run­gen vor­zu­schla­gen. Auch wenn ich bei White Yes sehr ein­ge­spannt war und mit Zeit geiz­te, lieb­ten wir uns, das spür­te ich ge­nau. Und dass Ben­ja­min an den Wo­chen­en­den in Wald und Flur her­um­wan­der­te, kam mir ehr­lich ge­sagt ge­le­gen, da Esther und ich lo­gi­scher­wei­se spe­zi­ell an den Sams­ta­gen und Sonn­ta­gen ei­ni­ges zu stem­men hat­ten. Er murr­te nie, wenn ich mal wie­der ent­schwun­den war und die Feu­er­wehr auf ei­ner fest­li­chen Ver­an­stal­tung spiel­te, wäh­rend er sich selbst über­las­sen war.

Wir wa­ren jung, hat­ten noch ge­nü­gend Zeit vor uns, haupt­säch­lich die Schul­fe­ri­en, wenn sich Ben zu hun­dert Pro­zent nach mir rich­ten konn­te. An sol­chen Ta­gen fuh­ren wir ans Meer bei Dom­burg, la­gen in den Dü­nen her­um oder lie­hen uns in Maas­tricht eine Jol­le, mit der wir her­um­schip­per­ten, bis wir an ei­nem der fan­tas­ti­schen Fischre­stau­rants vor An­ker gin­gen und zu Mit­tag aßen.

Ich war see­fest und see­krank wur­de ich zu­min­dest bei glat­ter See, Gott sei Dank, nie.

Ich über­leg­te an­ge­strengt, wann wir den letz­ten ge­mein­sa­men Aus­flug die­ser Art un­ter­nom­men hat­ten, und er­schrak. Das Jahr war ver­flo­gen, ohne dass ich es mit­be­kom­men hat­te. White Yes hat­te mich der­art in An­spruch ge­nom­men, dass wir in den zu­rück­lie­gen­den Mo­na­ten au­ßer Piz­zaes­sen um die Ecke nichts auf die Rei­he be­kom­men hat­ten. Mein schlech­tes Ge­wis­sen mel­de­te sich.

»Das muss sich än­dern«, nahm ich mir vor und mei­ne Ge­dan­ken ver­weil­ten wei­ter­hin bei mei­nem Mann.

Er hat­te sich nie be­schwert. Von Freun­din­nen wuss­te ich, wie ei­fer­süch­tig und kon­trol­lie­rend sich man­che Part­ner ver­hiel­ten. Das kann­te ich nicht. Das Le­ben mit Ben­ja­min war herr­lich. Er war so fried­fer­tig und un­kom­pli­ziert, dass ich mich ge­le­gent­lich frag­te, ob er wirk­lich kei­nen Ha­ken hat­te oder ob ich die­sen nur stän­dig über­sah.

Er war mein Mr. Right, mein Ret­tungs­an­ker in stür­mi­schen Pe­ri­o­den, de­nen ich bei White Yes an­dau­ernd aus­ge­setzt war. Jetzt brauch­te Ben einen Ret­tungs­an­ker. Und der war ich.

»Ich kom­me, Schatz. Sei stark, hal­te durch«, flüs­ter­te ich, ehe sich mein Blick in der ver­reg­ne­ten Land­schaft ver­lor, die wie im Film ra­send schnell an mir vor­über­zog und im­mer hü­ge­li­ger wur­de. Dün­ne Rinn­sa­le aus Re­gen­was­ser über­quer­ten die Schei­be. Ich zuck­te, als wir durch einen lan­gen Tun­nel fuh­ren und ich im Fens­ter in mei­ne ei­ge­nen dun­ke­lum­rän­der­ten Au­gen schau­te.

Ich sah aus wie ein Zom­bie. Die vor­mals at­trak­ti­ve, mäd­chen­haf­te Frau, An­fang drei­ßig, mit den schul­ter­lan­gen, gold­brau­nen Lo­cken und den quick­le­ben­di­gen, grün­brau­nen Au­gen hat­te sich in­ner­halb von vier­und­zwan­zig Stun­den in eine be­mit­lei­dens­wer­te Ge­stalt ver­wan­delt. Ich war nicht ge­schminkt, trug Schlab­ber­look und mei­ne Ge­sichts­fa­r­be war asch­fahl. Die Mund­win­kel hin­gen ge­nau­so schlaff her­ab wie das sträh­ni­ge, un­fri­sier­te Haar.

Herz­schmerz, so fol­ger­te ich iro­nisch, mach­te einen un­an­sehn­lich. Ich hat­te seit ges­tern Abend kei­nen ein­zi­gen Bis­sen ge­ges­sen. Bei dem Ge­dan­ken an Nah­rung wur­de mir schlecht und ich zwang mich, in einen Ap­fel zu bei­ßen, den ich, nach­dem ich ihn halb­her­zig an­ge­nagt hat­te, ver­stoh­len in den Müll­ei­mer schmiss.

Die Ki­lo­me­ter zo­gen sich. Ich war es durch mei­nen Job nicht ge­wohnt, lan­ge zu sit­zen, und ver­än­der­te alle paar Mi­nu­ten die Po­si­ti­on, ehe ich mir in Mün­chen end­lich die ein­ge­schla­fe­nen Füße ver­trat und mir einen schwa­r­zen Kaf­fee ge­neh­mig­te, der mei­nen Kreis­lauf in Schwung brach­te. Je nä­her Zams rück­te, des­to ner­ven­schwa­cher wur­de ich.

Das Ers­te, was mir an dem oran­ge­fa­r­be­nen Ge­bäu­de­kom­plex auf­fiel, war der Hub­schrau­ber­lan­de­platz, der in Form ei­ner über­di­men­si­o­na­len Schei­be auf dem Kli­nik­dach prang­te.

Ich guck­te ehr­fürch­tig nach oben, wäh­rend in mei­nem Kopf ein Film an­lief, wie es ge­we­sen sein muss­te. Dort in der Höhe war Chri­s­to­pho­rus mit Ben­ja­min ge­lan­det und die Berg­ret­ter hat­ten ihn mit ge­üb­ten Be­we­gun­gen und ein­ge­zo­ge­nen Häup­tern aus­ge­la­den. Die Äste der be­nach­bar­ten Bäu­me hat­ten im Luft­strom der Ro­tor­blät­ter ge­zit­tert. Staub war auf­ge­wir­belt und her­bei­ge­eil­te Kräf­te des Kran­ken­hau­ses hat­ten Ben­ja­min so schnell es ging über­nom­men und auf sei­ner ro­ten Bah­re in die Not­auf­nah­me ge­bracht, um sei­ne Kopf­ver­let­zun­gen im Kern­spin zu un­ter­su­chen. Sie wa­ren ge­rannt, um Zeit zu ge­win­nen. Frem­de Men­schen hat­ten ih­nen An­teil neh­mend, je­doch auch von Neu­gier er­füllt nach­ge­guckt und hat­ten sich er­leich­tert ge­fühlt, nicht in sei­ner Haut zu ste­cken. Mich schau­der­te.

Da Ben­ja­min in mei­ner Vi­si­on im OP-Be­reich ver­schwun­den war und kei­ne Sze­nen hin­ter­her­ka­men, schüt­tel­te ich mich wie ein Hund, der sich kör­per­lich von ei­nem ne­ga­ti­ven Er­leb­nis be­frei­te.

Eine kal­te Bri­se spiel­te mit mei­nen angst­ver­schwit­zen Haa­ren. Es war, als ob eine kal­te Hand in mei­nen Nacken griff, und eine Gän­se­haut über­zog mei­nen Kör­per. Wäh­rend mein Blick den stei­len Hän­gen hin­ter dem Ge­bäu­de nach oben folg­te, wur­de mir zu­sätz­lich flau im Ma­gen. Die licht be­wach­se­ne Berg­wand warf ih­ren rie­si­gen Schat­ten auf das Kli­ni­kum und ein un­heil­vol­les, schutz­lo­ses Ge­fühl über­fiel mich. Ich hol­te mir den Tod, wenn ich hier noch län­ger Wur­zeln schlug.

»Es geht nicht um dich, So­phie. Geh jetzt rein, er braucht dich!«, be­fahl ich mir, at­me­te tief ein, trat bib­bernd durch die Dreh­tür aus Glas ins Foy­er und ließ mir den Weg zum Arzt­zim­mer zei­gen.

»Be­vor Sie ihn se­hen, Frau Andres, möch­te ich Sie über ein paar Din­ge auf­klä­ren.«

Un­se­re Bli­cke tra­fen sich. Ich igno­rier­te das Glas Was­ser, das vor mir stand, und ver­zog kei­ne Mie­ne. Ich hat­te mir ge­schwo­ren, nicht über­zu­re­a­gie­ren, um dem Kli­nik­per­so­nal eine hys­te­ri­sche, in Trä­nen auf­ge­lös­te Ehe­frau zu er­spa­ren.

»Wir sind auf Ihre Mit­hil­fe an­ge­wie­sen und auch wenn wir alle me­di­zi­ni­schen Maß­nah­men durch­füh­ren, die not­wen­dig sind, so trägt Ihr Ein­satz we­sent­lich zur Sta­bi­li­sie­rung Ih­res Man­nes bei«, klär­te er mich auf.

»Ko­ma­pa­ti­en­ten, so wis­sen wir heu­te, spü­ren die An­we­sen­heit ih­rer Lie­ben. Sei­en Sie also wie im­mer. Das mo­bi­li­siert sei­ne Kräf­te. Le­sen Sie ihm vor, er­zäh­len Sie ihm von zu Hau­se. Ir­gend­was. Auch ganz ba­na­le All­tags­ge­schich­ten. Ge­nau das braucht er jetzt.«

Ich nick­te brav. Mein Mund fühl­te sich tro­cken an. Dr. Mo­ser lehn­te sich aus­at­mend zu­rück, ehe er wei­ter­sprach.

»Ein Schä­del-Hirn-Trau­ma ist eine Schä­del­ver­let­zung mit Ge­hirn­be­tei­li­gung. Aus­lö­ser ist oft eine Ge­walt­ein­wir­kung auf den Kopf, wie zum Bei­spiel ein Sturz, ein Schlag oder ein Auf­prall. Schä­del­brü­che, meist in Ver­bin­dung mit Blu­tun­gen im Ge­hirn und Schwel­lun­gen, sind die Fol­ge«, er­klär­te er, wäh­rend sein Blick vä­ter­lich auf mir ruh­te. Wie oft er das wohl schon aus­ge­spro­chen hat­te? Ich schluck­te schwer, in­des sich duns­ti­ger Ne­bel in mir aus­brei­te­te. Eine Fra­ge form­te sich in mir. WIE?

Ich woll­te ger­ne ver­ste­hen, wie es pas­siert war, doch aus Furcht vor der Ant­wort schwieg ich. Er könn­te mir Ein­zel­hei­ten be­schrei­ben. Ich könn­te Bil­der se­hen, die Angst mach­ten. Die sich nicht mehr stop­pen lie­ßen. Frü­her oder spä­ter er­füh­re ich die De­tails so­wie­so.

»Für mich als Arzt ist es un­mög­lich, die Aus­wir­kun­gen des Schä­del-Hirn-Trau­mas Ih­res Man­nes ab­zu­schät­zen. Zwi­schen voll­stän­di­ger Ge­ne­sung und Tod ist im Mo­ment al­les vor­stell­bar. Ich möch­te, dass Sie das wis­sen, Frau Andres. Wir ge­ben un­ser Bes­tes, um sein Le­ben zu ret­ten.«

Zwi­schen Tod und Ge­ne­sung. Es gab eine er­heb­li­che Band­brei­te an Zu­stän­den da­zwi­schen, an die ich nicht den­ken woll­te. Eine Läh­mung. Ein Da­sein im Roll­stuhl. Ein zu­rück­blei­ben­der Ge­hirn­scha­den.

»Du wirst ge­sund, Ben­ja­min. Das schwö­re ich dir!«, mur­mel­te ich, ehe ich mich von Dr. Mo­ser ver­ab­schie­de­te und mit Kit­tel und Mund­schutz aus­ge­rüs­tet den Raum be­trat.

Kapitel 3

End­lich war ich bei Ben, ge­nau­er ge­sagt auf der In­ten­sivsta­ti­on für Neu­ro­chir­ur­gie, auf wel­cher Pa­ti­en­ten mit spon­ta­nen oder, wie in sei­nem Fall, mit trau­ma­ti­schen Hirn­blu­tun­gen la­gen.

Ei­ni­ge rot blin­ken­de Mo­ni­to­re be­fan­den sich rechts und links des Kli­nik­bet­tes und un­zäh­li­ge Schläu­che ver­ban­den sei­nen Kör­per mit ver­schie­dens­ten Ma­schi­nen und Ge­rä­ten. Er la­ger­te nicht flach, son­dern er­höht, fast ste­hend, als ob er sich je­den Mo­ment der Ka­bel ent­le­di­gen und zur Tür hin­aus­mar­schie­ren wür­de. Se­kun­den spä­ter be­merk­te ich, dass die Schlaf­statt mo­bil war und sich im gleich­mä­ßi­gen Rhyth­mus nach oben und in Rich­tung vorn lif­te­te und nach­fol­gend er­neut in die Ho­ri­zon­ta­le senk­te. So hiel­ten sie sei­ne Durch­blu­tung auf­recht. Mein Herz krampf­te sich zu­sam­men. Die Re­a­li­tät war zu ab­surd, um sie zu be­grei­fen. Knall­hart und er­bar­mungs­los. Ein di­cker Kopf­ver­band zier­te sei­nen Schä­del und in sei­nen Ra­chen führ­ten meh­re­re Tu­ben.

»War­um ha­ben Sie ihm denn die Au­gen zu­ge­klebt?«, rief ich fas­sungs­los. Ich trau­te mich nicht, ihn an­zu­fas­sen, ob­wohl ich mich da­nach sehn­te, ihn an mich zu drü­cken und nie mehr los­zu­las­sen. Strei­fen wei­ßer Pflas­ter ver­schlos­sen sei­ne Li­der.

In den Au­gen saß, mei­ner Mei­nung nach, der Aus­druck ei­nes Cha­rak­ters und ich woll­te nicht, dass sie ihm das Le­ben­digs­te nah­men, was er be­saß. Es fühl­te sich für mich an, als ob sie Ben­ja­mins Per­sön­lich­keit in sei­ner mal­trä­ti­er­ten Hül­le ge­fan­gen hiel­ten, was mich sau­er mach­te.

Schluch­zend such­te ich nach sei­ner Hand. Schürf­wun­den ver­lie­fen quer über die Hand­flä­chen. Er muss­te ver­sucht ha­ben, sich im Fel­sen fest­zu­kral­len, und war dar­auf­hin ab­ge­rutscht.

Ich wand­te kurz den Blick ab, um das er­schüt­tern­de Bild sei­nes Auf­pralls los­zu­wer­den und riss mich dann zu­sam­men.

»Ben?«, sprach ich ihn im Flüs­ter­ton an. »Was hast du nur ge­macht, Ben­ja­min? Kannst du hö­ren, was ich sage? Ich bin bei dir, ver­stehst du? Und ich gehe nicht mehr weg. Hab kei­ne Angst!«

Ich streck­te vor­sich­tig die Hand aus. Er war hier und so weit weg.

Eine Be­rüh­rung er­reich­te mich sanft auf der Schul­ter.

»Die Kle­be­strei­fen sind un­ent­behr­lich, da­mit die Au­g­äp­fel nicht aus­trock­nen. Man­che Pa­ti­en­ten ha­ben kei­nen Lid­schlag. Wenn die Au­gen durch­ge­hend einen Spalt ge­öff­net sind, gibt es schmerz­haf­te Ent­zün­dun­gen«, er­klär­te mir die In­ten­sivschwes­ter. »Wir ver­su­chen jetzt, den Hirn­druck zu re­du­zie­ren. Die Blu­tun­gen wur­den be­reits ope­riert. Die nächs­ten 24 Stun­den sind ent­schei­dend für ihn.«

»Ent­schei­dend für ihn?«, woll­te ich ru­fen, schluck­te den Satz aber her­un­ter. Es ging nicht nur um Bens Le­ben. Es ging um sei­ne An­ge­hö­ri­gen. Sei­ne Frau. Es ging, ver­dammt noch mal, auch um mich!

Der Mund­schutz kleb­te un­an­ge­nehm auf mei­nen Wan­gen, da die Trä­nen, die sich dort sam­mel­ten, vom Zell­stoff auf­ge­so­gen wur­den.

»Er be­sitzt eine re­el­le Chan­ce und die nut­zen wir, okay?«, er­mun­ter­te sie mich, ehe sie mir einen un­be­nutz­ten Mund­schutz reich­te.

»Es ist im­mer ein Schock, wenn so et­was ge­schieht, aber ver­säu­men Sie bit­te nicht, sich um Ihre Be­dürf­nis­se zu küm­mern. Vie­le Fa­mi­lien­an­ge­hö­ri­ge ver­brau­chen ihre Kraft am Bett ih­rer Lie­ben. Ver­ges­sen zu es­sen, trin­ken zu we­nig, dazu Schla­f­ent­zug.« Sie dreh­te sich fra­gend zu mir. Ihre Er­schei­nung war der­art frisch und le­ben­dig, dass ich fast auf­ge­lacht hät­te. Ich las trotz ih­rer Em­pa­thie und Für­sorg­lich­keit Le­bens­freu­de hin­ter ih­ren Pu­pil­len. Leich­tig­keit.

»Wann ha­ben Sie die letz­te Mahl­zeit zu sich ge­nom­men?«

Er­tappt schau­te ich zur Sei­te.

»Dach­te ich mir doch«, mur­mel­te sie, wäh­rend ein mil­des Lä­cheln ihre Mund­win­kel um­spiel­te. Dann be­rei­te­te sie kopf­schüt­telnd eine In­jek­ti­on vor, die sie Ben­ja­min rou­ti­niert ver­ab­reich­te.

»Bit­te! Sie müs­sen sich um sich sor­gen!«

Ich nick­te und sah zu Ben. Er sah aus wie ein Dum­my und nicht wie ein le­ben­di­ger Mensch. Er zuck­te nicht ein­mal, als die Na­del tief in sein Fleisch drang.

»Wir ha­ben ge­nug mit den Pa­ti­en­ten zu schaf­fen. Tun Sie mir den Ge­fal­len und sor­gen sie für aus­rei­chend Mahl­zei­ten und Schlaf. Ich weiß, dass es schwer­fällt. Aber ihr Mann braucht sie kräf­tig«, bat die Schwes­ter.

Da ich er­neut brav nick­te, fuhr sie fort.

»Un­weit der Kli­nik be­gin­nen ei­ni­ge Wege nach oben. Gön­nen Sie sich ab und zu eine Pau­se und un­ter­neh­men Sie einen Bergspa­zier­gang an der fri­schen Luft. Das wird Ih­nen gut­tun.«

»Sie spre­chen von der dunk­len Wand, die sich so be­droh­lich über den Ort er­hebt? Ich dan­ke!«, wehr­te ich ge­schockt ab. Wie um mei­ne Wor­te zu un­ter­strei­chen, be­rühr­te ich sach­te Bens Kopf­ver­band. Ich wür­de das Ge­bäu­de die kom­men­den Tage nicht ver­las­sen. Das war klar.Bergspa­zier­gang? Was dach­te sich die­se Frau?

»Ja, das Zam­mer Loch flößt et­li­chen Men­schen Furcht ein. Da­bei ist die Schlucht, wenn man ein we­nig auf­passt, wun­der­schön. Oder ist ihr Mann dort ab­ge­stürzt?« Er­schro­cken hielt sie inne und such­te in mei­nem Blick nach ei­ner Ant­wort.

»Ent­schul­di­gen Sie«, ver­such­te sie, die Si­tua­ti­on zu ret­ten.

»Nein. Ist schon gut! Ich weiß bis­her nicht ge­nau, wie und wo es sich ab­ge­spielt hat«, be­ru­hig­te ich sie.

Ich fand sie sym­pa­thisch. Sie muss­te in mei­nem Al­ter sein und ich hat­te das Ge­fühl, ihr ver­trau­en zu kön­nen.

»Ihr Mann hat­te Glück im Un­g­lück. Die arme Frau war ja so­fort tot.«

Eine Wel­le Übel­keit riss mich bru­tal aus mei­nem plum­pen Denk­mus­ter. Es hat­te eine Tote ge­ge­ben? Es fühl­te sich an, als hät­te die Schwes­ter mit ih­rer Fest­stel­lung mei­nen be­grenz­ten Ho­ri­zont ge­sprengt, der end­lich be­griff, dass die Welt nicht so ein­fach ge­strickt war, wie ich das bis­her an­ge­nom­men hat­te. Die Scheu­klap­pen, die ich trug, wur­den jede ver­damm­te Stun­de grö­ßer. Hat­te ich ir­gen­d­et­was mit­be­kom­men in den zu­rück­lie­gen­den Mo­na­ten? Ich hat­te we­der links noch rechts ge­schaut und über­leg­te, was in mei­nem Le­ben al­les exis­tier­te, von dem ich kei­ne Ah­nung hat­te. Angst be­schlich mich. Ich fürch­te­te die Wahr­heit wie einen Schwarm Hor­nis­sen und wenn ich ehr­lich war, woll­te ich die De­tails gar nicht wis­sen. Ich sah ja, wo das en­de­te. Nicht nur Ben war ver­letzt, son­dern eine Frau war ge­stor­ben. Aus dem Le­ben ge­ris­sen. Ein­fach so.

»Ach so, falls Sie Ge­nau­e­res wis­sen möch­ten, dür­fen Sie den Andi Hu­ber von der Berg­ret­tung fra­gen. Der hat ihn ge­bor­gen und her­ab­ge­flo­gen. Das ist ein to­tal Net­ter.«

Sie schien mei­ne Be­stür­zung nicht wahr­ge­nom­men zu ha­ben. Sie ki­cher­te wie ein Mäd­chen, was mir ihre ver­hei­ßungs­vol­len Emp­fin­dun­gen für die­sen Herrn Hu­ber ver­ri­et.

»Sie wer­den ihn mit Si­cher­heit ken­nen­ler­nen. Er ist so gut wie je­den Tag in der Kli­nik. Spre­chen Sie ihn an«, schlug sie vor, ehe sie mir die Hand reich­te und ich über­leg­te, ob er nicht der An­ru­fer ge­we­sen war, der mich über Bens Un­fall in­for­miert hat­te.

»Ich glau­be, je­mand von der Berg­ret­tung hat mich an­ge­ru­fen. Es ging al­les so schnell«, mur­mel­te ich.

Ihre Au­gen strahl­ten.

»Das war er si­cher«, nick­te sie und hielt mir im­mer noch die Hand hin, die ich end­lich er­griff.

»Ich bin ne­ben­bei be­merkt die Ma­ria. Wir be­geg­nen uns jetzt öf­ter, da er­leich­tert es die Sa­che un­ge­mein, wenn wir uns du­zen, fin­dest nicht?«

Ich rang mir ein ernst ge­mein­tes Lä­cheln ab.

»Dan­ke für al­les, Ma­ria. Ich bin So­phie«, be­dank­te ich mich für ihre Warm­her­zig­keit. »Ben­ja­min war mit ei­ner Grup­pe von Leu­ten auf dem E5 un­ter­wegs. Sie woll­ten ge­mein­sam über die Al­pen von Kemp­ten nach Me­ran tre­cken«, führ­te ich aus.

Ma­ria nick­te wis­send, ehe sie ant­wor­te­te.

»Kein Ein­zel­fall! Der E5 führt mit­ten durch Zams. Die meis­ten Weit­wan­de­rer auf die­ser Etap­pe kom­men von der Mem­min­ger Hüt­te. Ei­ni­ge Mu­ti­ge stei­gen von Holz­gau auf und kra­xeln noch am sel­ben Tag wei­ter, über die Mem­min­ger Hüt­te hin­un­ter nach Zams. Das sind Ver­rück­te, sag ich dir.« Sie ver­dreh­te die Au­gen. »Wir be­kom­men nicht sel­ten de­hy­drier­te, ent­kräf­te­te E5-Wan­de­rer, die sich mit der Weg­stre­cke ver­schätzt ha­ben. Meis­tens lan­gen dann ein paar auf­mun­tern­de Wor­te und In­fu­si­o­nen über Nacht. Aber manch­mal ist es erns­ter.« Sie schau­te wis­send auf Ben. »Das Zam­mer Loch ist sehr ab­grün­dig, stein­schlag­ge­fähr­det und zieht sich ki­lo­me­ter­lang wie Kau­gum­mi. Die nächs­te Jau­sen­sta­ti­on ist, wenn die un­te­re Lochalm ge­schlos­sen hat, erst wie­der hier im Tal«, ver­trau­te sie mir an und auf ein­mal wur­de mir be­wusst, was für ein ge­fähr­li­ches Aben­teu­er Ben­ja­min un­ter­nom­men hat­te.

Ich als über­zeug­te Flach­län­de­rin hat­te nicht an die Ri­si­ken im hoch­al­pi­nen Ge­län­de ge­dacht und schäm­te mich nun für mei­ne Ober­fläch­lich­keit.

Mei­ne Blind­heit war so weit ge­gan­gen, dass ich nicht be­merkt hat­te, dass ein Mensch ge­stor­ben war. Auf rau­em Fels. Ne­ben Ben. Ein Herz hat­te auf­ge­hört zu schla­gen, wäh­rend ein an­de­res ge­kämpft und wei­ter­ge­pumpt hat­te.

---ENDE DER LESEPROBE---