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Eine Städterin mitten in den Bergen, ein kerniger Tiroler und ein geheimnisvolles Rätsel, das es zu lösen gilt. Der 2. Teil des erfolgreichen Liebesromans von Suza Summer. Tauche ein in die faszinierende Bergwelt Österreichs und erlebe, wie es mit dem Traumpaar Sophie und Matteo weitergeht. Wird Sophie dem rauen Leben in Tirol standhalten? Und jetzt? Glück war kein glänzender Gegenstand, den man in seinen doppelt gesicherten Tresor sperren konnte. Wie war die Halbwertszeit von Glück? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Ein ganzes Leben? War nicht alles vom Schicksal festgelegt? „Verdammt kompliziert“, murmelte ich und ärgerte mich über mich selbst. „Anstatt endlich dein Leben zu genießen, hirnst du und malst die Zukunft düster“, schalt ich mich. „Matteo ist ein klasse Typ. Ihm wird nichts passieren und er wird dich nicht betrügen.“
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1. Auflage Oktober 2022Copyright © 2022 Tanja EickholtForstweg 16, 73547 Lorchtanja.eickhol[email protected]
Umschlaggestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise: ©Composer, ©tomertu, ©bannosuke, ©parinya – stock.adobe.com; envatoelements.com, rawpixel.com
Lektorat: Lektoratplus
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
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»Ich kann nicht lange bleiben«,flüsterte das Glück.
»Aber ich lege dir eine Erinnerungin dein Herz.«
(Verfasser unbekannt)
Ich träumte mal wieder mit offenen Augen. Die schlimmen Bilder von letztem Sommer spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Doch diesmal war es nicht mein Mann der starb, sondern Matteo. Paralysiert, wie vor einem Thriller vermochte ich es nicht, den Film zu stoppen: Ausgerüstet mit dicken Tüten sprintete ich in einer olympiareifen Zeitspanne in Richtung Klinikum, um wenig später kurzatmig über den Flur auf die Intensivstation zu hasten. Der Stoff meiner Bluse klebte lästig unter den Achseln, während ich die Klinke niederdrückte.
»Hier bin ich wieder, Schatz. Ich habe alles Nötige für dich eingekauft«, japste ich, bevor ich verwundert innehielt. Ich stutzte, ehe ich versuchte, meinen Atem zu regulieren. Meine Lunge stach unangenehm. Hatte ich mich in der Türe geirrt? Mein Blick suchte automatisch das Zimmer ab, ehe er am Nachtschrank kleben blieb. Unser kleiner Kater Bruce schaute aus einem Bilderrahmen auf eine verwaiste Liegestatt. Ich war definitiv richtig. Aber der Raum war verlassen.
»Kein Problem, Schatz. Ich komme. Wo auch immer du bist«, flötete ich fröhlich, bevor ich eilig vor das Schwesternzimmer trat und hektisch klopfte, um mich nach neuer Etage und Zimmernummer zu erkundigen. Als ich die versteinerte Mimik der Schwestern sah, erfasste mich Panik. Aber es war nicht deren Pokerface, das mich verwirrte. Warum in aller Welt lag dieser Funken Bedauern in ihren Augen? Irgendetwas stimmte nicht.
»Wo ist Matteo?«, hakte ich deshalb nach. Meine Stimme zitterte. Der gesenkte Blick der Krankenschwester, die sich auf meine Nachfrage hin hilfesuchend an ihre Kollegin wandte, gab mir den Rest. Meine Härchen stellten sich auf und eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Dann stürmte auch noch meine Freundin und Lieblingskrankenschwester Maria den Flur entlang auf mich zu. Ihre Schritte knallten auf dem hässlichen Linoleum und ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Sophie? Da bist du ja!«, rief sie schon von Weitem.
»Maria? Was ist los?« Ich hyperventilierte fast vor Bestürzung und ein Angstgefühl schnürte mein Herz ein.
»Matteo ist tot, Sophie.«
»Matteo? Nicht Matteo auch noch! Nein bitte nicht!«
Matteo stürzte in die Tiefe. Und ich mit ihm. Es war zu Ende. Es gab kein Gestern, kein Heute und kein Morgen mehr.
»Warte, Matteo, ich komme mit dir! Wo bist du?«
Ich wollte ihn unbedingt finden. Er war mein Geliebter und wir gehörten verdammt nochmal zusammen. Er durfte nicht einfach so ohne mich gehen! Ich fing an zu schreien, damit er mich hörte. »Matteo? Wo bist du? Lass mich nicht alleine!«
Alles blieb still.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Erschrocken riss ich die Augen auf. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein sportlicher Bauch, über dessen Muskulatur sich roter Goretexstoff spannte. Erstaunt hob ich den Blick. Über mir war der blaue Himmel. Eine Dohle schrie. Als ich mir mit dem Handrücken über die Augen fuhr, war er nass. Ich musste tatsächlich geweint haben.
»Um Gottes Willen, Sie sind ja ganz verzweifelt. Was ist denn passiert?« Die fürsorgliche Frau lehnte ihre Wanderstöcke gegen die Lehne der hölzernen Bank, auf der ich saß, und streckte die Hand aus. Die Wärme ihrer Handfläche auf meinem Rücken ließ mein Herz ruhiger schlagen. Ich versuchte zu sprechen.
»Entschuldigen Sie«, begann ich. »Habe ich laut geweint? Ich wollte Sie nicht erschrecken. Es ist mir nichts passiert.«
»Sie haben einen Namen gerufen. Matteo oder so ähnlich. Vermissen Sie jemanden? Hoffentlich nichts sehr Ernstes.«
»Nein, verirrt hat sich niemand, falls Sie das meinen.« Ich überlegte, was ich sagen wollte und was nicht. »Ich versinke ab und zu in unschönen Erinnerungen. Dann versacke ich in der Vergangenheit und vergesse die Gegenwart«, erklärte ich weiter. »Mein Mann ist letztes Jahr gestorben und seitdem leide ich unter Verlustängsten.«
»Oh, das tut mir leid für Sie. Sie sind noch so jung«, flüsterte sie ergriffen. »Vielleicht sollten Sie sich psychologische Hilfe suchen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe diese Angstzustände nur sehr selten«, log ich. »Eigentlich habe ich jetzt ein besseres Leben als vorher mit meinem Mann. Das hört sich seltsam an, nachdem Sie mich so angetroffen haben, aber ich lebe mit meinem neuen Partner Matteo in Vent und möchte mit niemandem auf der Welt tauschen«, sagte ich. Und das entsprach zu hundert Prozent der Wahrheit. »Ich bin jetzt glücklich.«
Die fremde Frau zog ihre Augenbrauen hoch und griff nach ihren Wanderstöcken.
»Na, dann bin ich ja beruhigt. Alles Gute!«
»Entschuldigen Sie bitte noch einmal! Es ist nicht meine Art, Menschen in Sorge zu versetzen«, verabschiedete ich sie, bevor sie mit ein paar gelenkigen Schritten auf den Pfad unterhalb der Bank hüpfte und kopfschüttelnd ihren Weg fortsetzte. Ich blieb noch einen Moment sitzen.
»Ich bin jetzt glücklich«, wiederholte ich laut. Ich war doch glücklich? Ja! Und wie! Wieso grinste ich dann nicht wie ein Honigkuchenpferd über beide Backen? Ich hatte mir immerhin den schönsten und kernigsten Mann aus ganz Tirol geangelt. Matteo sah unglaublich männlich aus. Jedes Mal, wenn ich an seine kraftvollen, braungebrannten und zugleich sanften Hände dachte, durchfuhr mich ein wohliger Schauer. An seinen seidig langen Wimpern blieben, wenn er aus dem Regen oder aus der Dusche kam, Wassertropfen hängen. Seine Augen sahen dann aus wie dunkel schimmernde Sterne. War das nicht unglaublich süß? Ich verzog mein Gesicht zu einem verkrampften Lachen. Na also, ging doch. Und der Charakter … ein absoluter Traummann. Meine große Liebe, wenn man meinen Mann nicht dazuzählte, in den ich zwar verliebt gewesen war, der sich im Nachhinein jedoch als unzuverlässig herausgestellt hatte. Unsere Pflegetochter war ein Sonnenschein und kerngesund. Das Leben war zurzeit nahezu perfekt und Fortuna auf meiner Seite. Ich verstand mich nicht. Aus welchem Grund rannte ich durch die Gegend und zog immer öfter ein miesepetriges Gesicht, als hätte man mir einen Teller Öcher Puttes vorgesetzt? Aachener Blutwurst – mein absolutes Hassgericht und das Leibgericht meines Bruders, weshalb unsere Mutter es heute noch ständig kochte. Aber das war eine andere Geschichte.
War es vielleicht genau das, fragte ich mich. Die kindliche Angst, etwas Schönes weggenommen zu bekommen? Das schmierige Gefühl, einen Teil, den man über alles liebte, zu verlieren? Meinte Happy End in Wirklichkeit das Ende der Fröhlichkeit? Das Wort Ende hörte sich jedenfalls nicht danach an, als würde der Freudentanz ewig andauern.
Ich strich mir über den linken Arm, als ob sich diese klebrige Schicht, die mir den Tag vermasselte, abstreifen ließ. Meine Häärchen stellten sich auf. Ich hatte zwar vorher oft darüber nachgedacht, was es bedeutete, Glück zu haben, aber nie über die Schwierigkeit nachgesonnen, es zu halten. Letztes Jahr hatte ich mich nach Liebe und Ehrlichkeit gesehnt, sie in jedem Winkel meines Herzens gesucht und zum Schluss sogar gefunden. Und jetzt? Glück war kein Gegenstand, den man doppelt gesichert in einen Tresor sperren konnte. Wie war die Halbwertszeit von Glück? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Ein Leben lang? Nützte es überhaupt, es pfleglich zu behandeln? War nicht alles vom Schicksal festgelegt?
»Verdammt kompliziert«, murmelte ich und ärgerte mich über mich selbst. »Anstatt endlich dein Leben zu genießen, hirnst du und malst die Zukunft düster«, schalt ich mich. »Matteo ist ein klasse Typ. Ihm wird nichts passieren und er wird dich nicht betrügen.«
Anscheinend hatte ich, wie mir mal wieder bewusst wurde, Benjamins Tod längst noch nicht verkraftet. Wir hatten eine komplizierte Geschichte zusammen, die schlimm zu Ende gegangen war. Mein Exmann Benjamin war nicht nur gestorben, er hatte seine Freizeit, während ich hart gearbeitet hatte, heimlich in fremden Betten verbracht. Besser gesagt in einem fremden Bett. Das machte mich nicht nur zu einer Witwe, sondern zusätzlich zu einem gebrannten Kind, wie man so schön sagte. Den Ausdruck gebrannte Witwe gab es ja nicht, obwohl der vortrefflich auf mich gepasst hätte.
Ich nahm den letzten großen Schluck Wasser aus meiner Flasche, um den Rest der Angst herunterzuspülen, und sog im Anschluss die warme Luft ein. Seit der Unfall passiert war, befürchtete ich ständig, die Menschen um mich herum könnten verunglücken oder sterben.
Es war Frühsommer und Matteo unterwegs in seinem Revier, am Hang gegenüber. Er kontrollierte die Wanderwege, deren Beschilderungen über den schneereichen Winter gelitten hatten. Verirrte sich jemand in dieser Höhe, konnte das fatale Folgen haben. In den Bergen durfte man niemals die Kräfte der Natur unterschätzen. Zu den größten Gefahren gehörten starke Sturmböen, wolkenbruchartige Regenschauer und rutschige, nebelverhangene Steige. Die Wahrscheinlichkeit, von Eis oder einem Gewitter überrascht zu werden, war besonders im Gebirge sehr hoch. Wenn man dann die falsche oder keine Ausrüstung mit sich trug, unterkühlte man unter Umständen sogar im Sommer. Ich sah täglich den Rettungshubschrauber über die umliegenden Gipfel kreisen. Es gehörte zu meinem Alltag in Vent, zu beobachten, wie er libellengleich in der Luft verharrte, um dann einen geeigneten Landeplatz anzusteuern. Nirgendwo sonst war ein Hubschrauberflug so intensiv und mit Schwierigkeiten verbunden, wie bei einem Flug durch die alpine Landschaft. Ich wusste das, da ich letztes Jahr mehrfach mitgeflogen war und Marias Freund Andi, der Pilot, mir alles erklärt hatte. Denn die Bergretter sollten an allen Orten fliegen können, wo es der Einsatz verlangte. Zum Schluss folgte dann das Schwierigste; das Absetzen des Hubschraubers auf einem alpinen Naturplatz. Eine ebene, große Fläche ohne Hindernisse drumherum würde man um Vent herum kaum finden. Ich bewunderte das Können und den Mut der Bergretter und Piloten. Ohne sie wäre Benjamin von Anfang an verloren gewesen. Und auch Alois, der Hüttenwirt, den sie letzten Sommer mit starker Lungenentzündung ins Tal geflogen hatten, verdankte ihnen sein Leben.
Es war alles so anders als mein früheres Leben in Aachen. Dieses Früher war noch gar nicht so lange her. Nicht einmal ein Jahr, überlegte ich. Und doch kam es mit vor, wie eine andere Zeitrechnung.
Für Matteo und Joy hatte ich meine Aachener Designerbude gegen eine kuschelige Blockhütte mitten in den Bergen eingetauscht, die von außen so gemütlich aussah, wie die teuren Chalets aus den Urlaubsmagazinen. Trotzdem war sie mit Technik ausgestattet, so dass es uns an nichts fehlte. Die Entscheidung, hier zu leben, erschien mir nach wie vor richtig. Die tiefe Krise hatte etwas Wundervolles hervorgebracht und ich hatte gelernt, dass es wichtig war, nach vorne zu schauen, denn nach Bens tragischem Tod hatte ich mich ausgerechnet in den Bruder seiner Affäre verliebt, in Magdalenas Bruder Matteo. Und als ob das nicht genug Unfug gewesen wäre, verlor ich mein Herz auch noch an die verwaiste Tochter von Ben und Magdalena. Zuerst hatte ich mich dagegen gewehrt, doch die Gefühle waren stärker gewesen. Gott sei Dank! Durch meinen stressigen Beruf, waren die Jahre in Aachen nur so verflogen. Aber wo war ich geblieben? Hier spürte ich mich jeden Tag. In den Bergen gab es kein Burnout. Ich war weg vom tagtäglichen Hamsterrad und musste mich der Natur und ihren eigenen Gesetzten beugen. Der viele Schnee, Stürme und Lawinen und auch das Vieh, das die Lebensgrundlage vieler Einwohner bildete, zwangen mich zur Langsamkeit oder zum Innehalten. Wir kauften selten im Supermarkt ein, sondern bei benachbarten Bauern oder ernteten Gemüse aus Opa Josefs Garten und säten im Herbst neues aus. Das dauerte seine Zeit. Aber es fühlte sich gut und wichtig an, fünf Möhren auszugraben, sie zu waschen, zu kochen und dann zu genießen. Wir aßen saisonal, also das, was die Natur zur jeweiligen Jahreszeit hergab.
Der Handyton riss mich aus meinen Tagträumen. Ich zog das Iphone aus der Seitentasche des Rucksacks und schaute aufs Display. Eine Aachener Nummer erschien, wie ich an der Vorwahl sofort erkannte. Meine Freundin und Exchefin Esther.
»Nicht jetzt«, entschied ich und drückte den Anruf weg. Ich hatte Wichtiges vor. Der Berg rief. Ich zwang mich, aufzustehen, um meinen Weg fortzusetzen. Der Waldpfad, den ich ging, schien wie leergefegt und unberührt. Mein Atem ging flach und stoßweise, also wanderte ich ein wenig langsamer. Ich hatte gelernt, meine Kräfte einzuteilen. Schritt für Schritt stieg ich höher hinauf. Weit weg in der Ferne hörte ich den Motor einer Kettensäge und stellte mir vor, wie Matteo gerade einen umgestürzten Baum zersägte. Links und rechts neben dem schmalen Pfad wuchsen Farne und Moose, die in sattem Hellgrün leuchteten. Die Sonne suchte sich den Weg durch die Baumkronen und ein angenehm kühler Wind wehte vom Gipfel herunter. Obwohl ich nun schon einige Zeit hier lebte, war ich immer noch von dem ganz spezifischen Flair der Bergwelt fasziniert. Unglaublich, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Ich hatte nach Bens Unfall meiner Arbeit als Eventmanagerin im White Yes und der Großstadt den Rücken gekehrt, um mit meiner großen Liebe einen Neuanfang zu starten.
Heute hatte ich mir vorgenommen, meinen verstorbenen Mann Benjamin zu besuchen. Das war weniger spuke, als es klang. Es existierte dieses kleine Mädchen, das im Alter von sieben Jahren auf den Kilimandscharo geklettert war, um mit seinem toten Vater zu sprechen. Ich war eine erwachsene Frau und befand mich nicht in Afrika, sondern in Tirol, aber ich stieg höher und höher, weil auch ich mir einbildete, dem Himmel und somit meinem verstorbenen Mann näher zu sein. Mit Verrücktsein hatte das nichts zu tun. Mit Toten zu sprechen war überall auf der Welt völlig normal. Ich hatte ja so viel Liebe und Sehnsucht, aber auch Unsicherheit in mir und wollte meinen verstorbenen Mann weiter an meinem und Joys Leben teilhaben lassen. Ich hatte Wege aus der Trauer gesucht und gefunden. Laufen half mir aber auch das Sprechen war so ein Weg. Ich war mir sicher, auch sehr logisch orientierte Menschen würden dies tun. Ich wusste, dass Ben nicht mehr da war, spürte aber seine Gegenwart. Der Unfall war unweit von hier passiert. An der Seescharte. Ob es damit zusammenhing? Obwohl sich Benjamins Urnengrab in Aachen befand, fühlte ich seine Seele nur hier. In Aachen war ich stets mit einem tieftraurigen und einsamen Gefühl vom Friedwald nach Hause gegangen. Überhaupt beschäftigte mich das Thema Tod mehr als früher. Ich war nicht gläubig und wenn ich an die Unendlichkeit dachte, die mir weismachte, dass Benjamin für immer weg war, dann wurde mein Hals eng. Dieses für immer brachte mich um den Verstand. Mein Gehirn war nicht dafür konstruiert, sich Unendlichkeit vorzustellen. Kein Gehirn war das. Wir Menschen dachten begrenzt. Ich persönlich glaubte daran, dass Verstorbene nur in den Herzen der Hinterbliebenen weiterlebten. Und dass das Ausmaß damit zusammenhing, wieviel Liebe sie zu Lebzeiten gegeben hatten. Solange die Lebenden über die Toten sprachen, sich in Liebe und Fürsorge erinnerten, solange existierten sie weiter. Irgendwann war es dann endgültig vorbei, was mich traurig stimmte.
Der grelle Pfiff eines Murmeltieres lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Landschaft und ich blieb kurz stehen, um die Wiese mit den Augen abzusuchen. Nichts! Dennoch spürte ich, wie es mich fixierte.
»Ich weiß, dass du da bist, du kleiner Racker!«, rief ich in die Richtung, aus der der Ton gekommen war. Alles blieb still.
Ein einzelner flacher Felsen dominierte den grünen Hang. Er sah einladend aus, aber ich beschloss, weiterzulaufen. Nachdem sich eine Routine eingestellt hatte, gab es nur noch mich, meinen Atem und die Energie der Natur. Eine Leichtigkeit machte sich in mir breit, sodass ich die nächsten Minuten völlig abschalten und alle Gedanken ausblenden konnte. Mein Ziel war ein besonderer Platz. Matteo hatte mir gezeigt, wie man in der Natur Kraftorte ausmachte.
»Es gibt hier viele Orte mit heilsamer Wirkung für Körper und Seele«, hatte er erklärt. »Du erkennst sie meistens an dem einladenden Gefühl, das sie in dir auslösen. Manche Berge, Seen oder Wälder heben sich ganz einzigartig von der Landschaft ab. Man empfindet, wenn man sie entdeckt, den Wunsch länger dort zu sein und sich niederzulassen. Ob du es glaubst oder nicht, solche Orte laden dich mit neuer Energie auf. Ein Wasserfall zum Beispiel. Dort stürzt das Wasser in hoher Geschwindigkeit einen Abhang herunter. Es entsteht Sprühnebel und dazu ein Energiefeld, welches sehr belebend ist.«
»Aha«, hatte ich verdutzt geantwortet und überlegt, ob ich auf einen spirituellen Spinner hereingefallen war. Doch Matteo hatte Recht behalten. Ich hatte in den letzten Monaten begriffen, dass die Natur eine unheimliche Power besaß und dass Bergler so viel naturverbundener lebten als die meisten Stadtmenschen. Matteo benötigte nie eine Uhr und sagte das Wetter exakt vorher. Keine Pflanze war ihm fremd und ein Blick auf den Waldboden genügte, um zu deuten, welches Tier sich dort als Letztes aufgehalten hatte. Ich lernte jeden Tag dazu und würde gewiss noch die eine oder andere verblüffende Lektion hinter mich bringen.
Ich sog die knisternd trockene Luft ein, roch das Zirbenaroma und meinte sogar einen Hauch Harz auf der Zunge zu spüren. Mit jedem Schritt kam ich meinem Ziel näher. Ich, die ehemals Aachener Flachländerin, war immer noch hier. Mitten in den Bergen Tirols.
Mein Atemgeräusch erfüllte die Landschaft, durch die ich wanderte. Es war verrückt oder ganz und gar jeck, wie meine Freundin Esther es auf Öcher Platt ausdrücken würde. Ich ging nicht mehr unsicher mit wackligen Knien und Beklommenheit im Bauch, wie damals. Gott, was hatte ich für eine Angst gehabt. Meine trainierten Beine arbeiteten inzwischen zuverlässig wie eine geölte Maschine und Höhe erschreckte mich nicht mehr.
Eine kräftige Sonne schickte ihre Strahlen durch den lichten Wald und dort, wo sie den Boden berührte, knisterten die heruntergefallenen Nadeln der Lärchen. Sie hatten einen dicken Teppich gebildet, der als Humus für die nächste und übernächste Generation Pflanzen diente. Ich kam schnell voran und horchte auf das entfernte Rauschen des Venter Wildbaches. Nur ein paar Schritte, dann hatte ich meinen ganz persönlichen Kraftort erreicht. Es war ein heilsamer Ort, der mich innerlich stabilisierte. Endlich trat ich aus dem Wald auf eine Lichtung, die zugleich die Baumgrenze markierte. Das Panorama, das sich mir bot, war überwältigend. Eine Reihe von nackten Spitzen eines Bergkamms ragten steil hinauf in den blauen Himmel. Eine einzelne Wolke hatte sich zwischen ihnen verfangen und staute sich auf dem Bergrücken unterhalb.
Vor mir erstreckte sich eine grasige Ebene mit einem Bergsee, dessen Wasser das Panorama spiegelte. Auch hier lagen vereinzelt Felsbrocken, als hätte sie ein wütender Riese absichtlich vom Gipfel hinuntergeschmissen. Einige ragten aus dem Wasser und bildeten kleine Inseln.
»Der See steht in Beziehung zum Gipfel«, flüsterte ich. »Die dynamische Kraft des Bergs gepaart mit dem ruhigen Kraftpunkt des Sees. Eindeutig ein Yin-Yang-Paar«, murmelte ich nicht ohne Stolz.
Ich zog meine Jacke aus, ließ mich am sandigen Ufer nieder und legte den Oberkörper zurück auf den Stoff. Mir war heiß und ich war durstig, so dass ich mich erneut aufsetzte und den Rest aus der Flasche trank.
»Hallo Beni, ich bin es mal wieder. Ich hoffe, du kannst mich hören. Ist es schön, dort, wo du jetzt bist?« Tränen verschleierten meinen Blick und vermischen sich mit dem Schweiß an meinen Schläfen. »Auf jeden Fall hast du keine Schmerzen mehr.«
Es war seltsam, meine Stimme zu vernehmen, doch ich hatte während der Zeit von Benjamins Koma gelernt, Monologe zu halten, und dabei jegliche Scham abgelegt. Deswegen sprach ich unbeirrt weiter. »Ich frage mich oft, was passiert wäre, wenn du nicht an diesem verfluchten Gerinnsel gestorben wärst. Hättest du mir die Wahrheit gesagt? Über dich und Magdalena? Für seine Liebe nimmt man einiges in Kauf, oder?« Ich hielt einen Moment inne. »Wann? Wann, frage ich mich die ganze Zeit, hättest du es gebeichtet? Oder hätten wir mit der Lüge nebeneinander weitergelebt?«
Diese Variante gefiel mir überhaupt nicht. Aber weniger wegen mir, sondern aufgrund der Tatsache, dass es Joy gab. War es nicht selbstverständlich, zu seinem Kind zu stehen? Gut, Ben hatte mich getäuscht, doch ich meinte ihn so gut gekannt zu haben, dass ich seine Loyalität seiner Tochter gegenüber nicht anzweifelte. Er war Pädagoge gewesen und hatte Kinder über alles geliebt. Warum also hatte er gezögert, sich zu Magdalena und Joy zu bekennen? Weshalb der furchtbare Streit, der schließlich tödlich geendet hatte? Dieses Rätsel galt es noch zu lösen.
Ein Insekt setzte sich auf meinen Arm, das ich erschrocken wegschlug. Mein Puls beschleunigte sich, aber ich versuchte, mich wieder zu beruhigen. Heute schaffte ich es nicht mehr, die innere Ruhe herzustellen. Irgendetwas hinderte mich daran. Ich fühlte mich beobachtet, weshalb ich mich in alle Richtungen umdrehte. Doch hier war niemand. Ich war ganz alleine.
»Mir geht es mies bei dem Gedanken daran, dass du Magdalena und Joy weiter verheimlicht hättest«, flüsterte ich etwas verhaltener. »Es wäre alles anders gekommen. Dein Tod und die Entscheidung, auf deinen Spuren zu wandern, haben mein Leben in völlig ungewohnte Bahnen gelenkt. Ich fasse es immer noch nicht, Ben, aber das Schicksal hat mir alles Glück beschert, von dem ich nicht einmal wusste, dass es existiert. Deine kleine Joy ist die beste Tochter, die man sich vorstellen kann. Ich liebe sie so sehr, obwohl sie nicht mein, sondern dein leibliches Kind ist.« Ich hielt einen Moment inne. »Aber darf ich glücklich sein?«
Ich schloss kurz die Augen und fuhr mir mit dem Handrücken über die Wange. »Habe ich das Recht dazu, nach allem, was passiert ist? Mein größter Wunsch ist es, dir noch einmal zu begegnen. Um die Fronten zu klären, weißt du? Wir hätten uns nach einer ehrlichen Aussprache vermutlich getrennt, das stimmt schon, aber unser Schlusskapitel fehlt. Der letzte Akt. Kapierst du, was ich meine?« Ich holte Luft. »Du hast deine Lügen mitgenommen in den Himmel und ich habe keine Chance, dir zu sagen, dass ich dir verzeihe. Dass ich dir danke! Für eure kleine Joy, für Matteo und mein Leben in den Bergen, auch wenn es ab und zu verzwickt ist.« Meine Stimme brach. »Mann, es tut noch so weh!«
Ein Weinkrampf ließ meinen Körper zucken. Es war, als ob die Tränen und mit ihnen die Trauer in den kleinen See flössen, in welchem sich die Felsnadeln der Dreitausender spiegelten. Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen, um meinen verkrampften Körper zu lockern. Mein Herz wurde nach einer Weile leichter und als ich mich aufrichtete, war mir, als ob Bens Gesicht mir aus dem See wohlwollend zulächelte. Während ich verunsichert den Blick hob und auf die Wolke richtete, winkte er mir daraus zu. Es war verrückt. Ich massierte meine Schläfe, um die Trugbilder loszuwerden, und drehte mich um, als genau in dieser Sekunde ein großer Schatten in den Wald huschte. Es hatte ausgesehen wie ein Mensch, der vorsätzlich in Deckung gegangen war. Ich konnte es jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Verwundert klopfte ich mir den Sand von der Jeans und bändigte meine Locken mit einem Haargummi. War da etwa jemand gewesen, der mich beobachtet hatte? Ich kniff erneut die Augen zusammen, um besser zu sehen. Da war doch irgendwer! Ich lauschte angestrengt. Ob ich mich täuschte? Nach wenigen Sekunden zuckte ich mit den Schultern und griff nach meinem Rucksack. Sicher hatte mir meine Fantasie einen Streich gespielt. Wahrscheinlich war ein Reh oder ein Wildschwein in den Schutz der Bäume geflüchtet.
Mir war ein wenig schwindelig und ich benötigte ein paar Schritte, um wieder in meinen Rhythmus zu gelangen. So stieg ich über Baumwurzeln und Felsen hinab in Richtung des Kirchdorf Vent, in welchem ich mit meiner kleinen Familie wohnte. Einzig das Summen der Insekten und das stetige Glockengeläut der Kühe begleiteten mich und auf dem Weg zurück begegnete mir keine Menschenseele, so dass ich immer überzeugter davon war, dass es sich um ein wildes Tier gehandelt haben musste.
Höhenmeter für Höhenmeter ging es die letzten Schritte talwärts und als der Fluss in meinen Ohren nur so rauschte, trat ich endlich aus dem Wald.
Vor mir lag meine neue Heimat: der grüne Talkessel mit seinem hinreißenden Bergsteigerdorf. Der ursprüngliche Ort kam mir jedes Mal aufs Neue vor wie das Ende der Welt – oder vielleicht auch wie der Anfang, denn die Straße für motorisierte Fahrzeuge endete hier und man kam nur zu Fuß beziehungsweise mit dem Mountainbike weiter.
Ich überlegte kurz heimzulaufen, um zu duschen, bevor ich Joy von den Großeltern abholte, besann mich jedoch eines Besseren und spazierte die letzten Meter zum urigen Bauernhof, wo mich ausgelassenes Kindergeschrei erwartete.
Hier war die Zeit stehengeblieben. Jahrhundertealte Bachsteine zierten die Außenmauern der Scheune. Die dunklen Bretterwände waren winddurchlässig, um Heu und Stroh zu belüften. Von Matteo wusste ich, dass sich der Hof seit 1900 in ununterbrochener Linie im Besitz seiner Familie befand, die seit Generationen Milchwirtschaft betrieb. Es dürfte nicht leicht für die Alten gewesen sein, dass Matteo den Hof nicht übernehmen wollte. Und dann war auch noch Magdalena gestorben.
»Mama? Mama, guck mal!« Meine Tochter ließ das junge Kätzchen, hinter welchem sie hergelaufen war, Reißaus nehmen und wackelte freudestrahlend auf mich zu. Als ich die roten, dreckverschmierten Bäckchen sah, die mit den blauen Augen um die Wette leuchteten, wusste ich, dass Matteo und ich alles richtig entschieden hatten. Joy war glücklich und keine Menschenseele merkte ihr an, was für ein furchtbares Schicksal auf ihr lastete. Ich drückte sie liebevoll an mich. Eine dunkle Ahnung, dass sich das eines Tages unter Umständen ändern könnte, überkam mich. Ich schob den Gedanken energisch beiseite und setze mein breitestes Lächeln auf.
»Hallo! Ich bin wieder da!«, rief ich in den Stall und hob freundlich die Hand zum Gruß.
Matteos Mutter Katharina nickte kurz zu mir hinüber und fegte mit ihrem groben Besen weiter das feuchte Stroh und den Mist aus dem Stallgang zu vielen kleinen Haufen. Es war Ende Mai und die Kühe weideten seit einigen Tagen auf der höher gelegenen Alm. Der Stall im Tal würde den kurzen Sommer über verwaist bleiben und konnte ausgiebig gereinigt werden.
»Wollen wir der Oma helfen?«, fragte ich an Joy gewandt und griff mir die Schubkarre, die ich prompt in den Stall schob. Joy, die inzwischen recht sicher auf ihren Beinchen vorwärtskam, war schon wieder mit den Katzenbabys beschäftigt. Sie hatte sich einen langen Stängel vom frischen Stroh genommen, nach dem ein Kätzchen spielerisch mit der Tatze schlug. Wir Frauen arbeiteten in langsamem Tempo nebeneinander her, während wir die Kleine nicht aus den Augen ließen. Der scharfe Geruch nach Urin und Mist juckte in meiner Nase. Das metallische Kratzen des Rechens auf Beton erschien mir lauter als sonst. Ich war froh, als der restliche Dung, nachdem ich noch einmal gründlich gefegt hatte, in der Schubkarre gelandet war. Nun konnte der Stall trocknen und das frische Stroh würde erst kurz vor Almabtrieb gestreut werden. Um die Stille zwischen uns zu überbrücken, versuchte ich ein Gespräch zu beginnen.
»Es wird den Rindern guttun, dort oben. Sie werden den lieben langen Tag Alpenkräuter futtern und träge in der Sonne faulenzen«, scherzte ich. Ich leerte den letzten kleinen Mistberg aus der Schubkarre auf den Miststock und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ein stilles Nicken.
»War Joy brav?« Ich suchte ihren Blick, um einen Funken Lebendigkeit zu auszumachen, ein Gefühl. Irgendwas. Doch hinter der grauen Iris schien nur Leere. Wie automatisiert vollführte sie ihre Tätigkeit. Ich spürte den Drang, ihr meine Hand auf den Rücken zu legen, rührte mich jedoch nicht von der Stelle. »Danke, dass du auf die Kleine aufgepasst hast, Katharina. Hier bei euch und den Tieren ist sie am liebsten. Wo ist denn Josef?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn irgendwo zu entdecken. Katharina deutete mit dem Kopf in Richtung Gemüsegarten.
»Ich schau rasch nach ihm und sage ihm Hallo«, murmelte ich, nachdem ich auch die Mistgabel an ihren Platz zurückgebracht hatte, und flüchtete fast aus dem Stall. Ihre Wortlosigkeit bedrückte mich zunehmend. Sie hatte ihre Tochter verloren und mit ihr wohl auch ein Stück Lebendigkeit. Seit ich hier lebte, hatte ich sie kein einziges Mal lächeln sehen. Ob sie vor dem Unfall eine fröhliche Frau gewesen war? Nachdem ich Josef nicht gefunden hatte und genauso verzagt wie ratlos in den Stall zurückgekehrt war, begriff ich endlich. Ihr Wink hatte nicht dem Gemüsegarten gegolten, sondern der Alm, die sich auf dem Berghang oberhalb des Hofes befand. Ich schüttelte innerlich den Kopf über mich.
»Josef ist auf der Alm, oder?«
»Ja«, kam es zurück. Es war zum Verrücktwerden. Wieder einmal mehr hatte ich bewiesen, dass ich eine naive Reingeschmeckte aus der Stadt war. Ich war eine von draußen, ohne jegliche Ahnung. Dabei hätte mir doch klar sein müssen, dass Josef dort war, wo seine Tiere weilten. Ich hatte die feierliche Vorfreude auf den Almauftrieb, die seit Wochen im Dorf zu spüren gewesen war, mitbekommen. Vermutlich war der Auftrieb für die Landwirte der schönste Anlass im Jahr. Es ging nach dem harten Winter endlich wieder hinauf zu den saftig-grünen Almen. Dort wartete eine Menge Arbeit, weswegen die Bauern meistens für einige Zeit auf die Almhütte zogen, wie Matteo mir erklärt hatte. Diese Zeremonie fand nicht überall zur selben Zeit statt. Die Schneeschmelze und die Höhe der Alm gaben den genauen Termin vor. Erst wenn es für die Rinder genügend zu fressen gab, wurden sie hochgetrieben.
»Dann bist du ja ganz alleine? Bleibt Josef lange oben?«, fragte ich Katharina, die Joy an der Hand nahm und sie zu mir führte. Das Mädchen zeigte sich kein bisschen widerwillig, sondern lief vertrauensvoll neben seiner Großmutter her.
»Er lernt die Saisonkräfte ein und kommt dann wieder herunter. Einen Tag wird er drobenbleiben müssen.»
»Sind es dieselben Saisonarbeiter wie letztes Jahr?«
Ein Nicken.
»Das ist gut.« Ich nahm Joy hoch, die herzhaft gähnte. Katharinas Blick verwob sich mit meinem. Die Last, die auf ihren Schultern drückte, war deutlich zu bemerken.
»Katharina«, begann ich vorsichtig. »Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?« Meine freie Hand bewegte sich in ihre Richtung, was sie kaum merklich erstarren ließ. Ich fühlte den groben Stoff ihres Leinenhemds, darunter die knochige Schulter. Einen Moment glaubte ich, Trauer hinter ihren Pupillen zu erkennen. Doch sie ließ sich nicht gehen, sondern schaute mich ein paar Sekunden lang wissend an, drehte sich um und schlurfte stumm davon.
»Vielleicht ist Katharinas abweisendes Verhalten ja auch persönlich gegen mich gerichtet.« Ich schob mir eine Gabel von Matteos Pilzrisotto in den Mund.
»Wie kommst du denn auf die dumme Idee?«
»Ich mein ja nur …Hmmm! Lecker!« Ich verdrehte die Augen als Zeichen höchsten Genusses. Sein zufriedenes Lächeln zeigte mir, dass ihm mein Lob wichtig war.
»Ich habe neben den getrockneten Steinpilzen ein wenig Zitronensaft und abgeriebene Zitronenschale dazugegeben.«
Wir hatten die Pilze gemeinsam im letzten Herbst gesucht. Matteo hatte mir abseits der Wege, die Stellen im Wald gezeigt, wo sie bevorzugt wachsen. Meistens fand man sie unter Nadelbäumen auf kargen, nährstoffarmen Böden. Wir suchten nach den giftigen, roten Fliegenpilzen, die so märchenhaft aussahen. Denn wo Fliegenpilze wuchsen, fand man auch die herrlich schmeckenden Steinpilze. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich jubelnd von einem Pilz zum nächsten gesprungen war, denn sie wuchsen meistens in Gruppen. Auf dem Markt kostete ein Kilo der braunen Röhrlinge um die 50 Euro und ich war so stolz gewesen, als wir mit vollen Körben aus dem Wald zurückgekehrt waren. Das Tolle war, dass Steinpilze keine wirklich giftigen Doppelgänger besaßen. Der Bittergallenröhrling sah ihm ähnlich, schmeckte aber derart bitter, dass man ihn freiwillig niemals runterschlucken würde.
»Merke dir gut die Stellen«, hatte Matteo gesagt. »Und nie rausreißen. Schneide immer den Stiel ab, dann kommt er nächsten Herbst wieder.«
»Ist klasse geworden! Hätte von mir sein können«, schmatzte ich und griff nach dem großen Löffel, um mir einen Nachschlag zu genehmigen. »Kann ich dich was fragen? Katharina schaut mich manchmal ganz seltsam an. Richtig unheimlich ist das. Als ob sie etwas Wichtiges sagen möchte, es sich dann aber anders überlegt. Das macht mir langsam Angst.«
»So ein Schmarrn! Katharina hat absolut nichts gegen dich. Ich denke, meine Mutter hat Magdalenas Tod noch nicht verarbeitet«, grübelte er laut.
»Wie soll sie auch? Dich und Josef beschäftigt ihr Schicksal doch ebenfalls täglich. Deine Schwester war klug, hübsch, blutjung und äußerst lebendig und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ihr etwas zustößt. Keiner hatte Zeit, sich von ihr zu verabschieden. Sie war von jetzt auf nachher einfach weg«, antwortete ich unter zwei Bissen. Matteos Pupillen begannen zu glänzen.
»Oh nein, Schatz! Das wollte ich nicht!«
»Ist schon gut. Du hast sicher Recht. Keiner von uns hat ihren Tod wirklich begriffen. Aber jeder geht anders damit um. Ich wandere regelmäßig zur Absturzstelle an der Seescharte. Mein Vater versucht krampfhaft, das Positive im Leben zu sehen und Katharina verdrängt eben, was sie innerlich versteinern lässt und was sicher keine Lösung ist. Da hast du wohl recht.«
»Ich kann das nicht mitansehen. Wir müssen ihr doch irgendwie helfen«, murmelte ich, bevor sich Matteos warme Hand auf meinen Arm legte. Unsere Blicke verknüpften sich.
»Es ist nicht deine Aufgabe, jedes Wesen, dem es schlecht geht, zu retten. Du hast ebenso einen lieben Menschen verloren. Auch du musst verarbeiten. Und dass du Joy als Pflegetochter aufgenommen hast, ist unsagbar selbstlos«, tröstete er mich. »Du hast genug gegeben.«
»Quatsch! Sie gibt mir so viel zurück«, sagte ich und erinnerte mich an mein Selbstgespräch von heute Vormittag.
»Sie ist die leibliche Tochter meines verstorbenen Mannes. Sie hat ein Recht auf eine liebevolle Mama. Und die bin ich ihr sowas von gerne.«
»Apropos Tochter«, Matteo schob den leeren Teller beiseite und griff nach meiner Hand. »Das Jugendamt hat sich kurzfristig angekündigt. Du musst dein ok geben, ob der Termin für dich passt. Ich habe aber schon angedeutet, dass du Zeit hast.«
»Das heißt?«
»Das heißt, du brauchst nur anzurufen, falls du verhindert bist. Wenn du dich nicht meldest, kommen sie«, erklärte Matteo, während sich in meinem Magen ein ungutes Gefühl ausbreitete.
»Och, muss das sein?«, stöhnte ich lustlos. »Waren die nicht erst vor wenigen Wochen hier?«
Ich verstand, dass das Jugendamt zum Wohle der Kinder handelte und Kontrollen sein mussten. Sie mussten nicht nur sein, sie waren existenziell wichtig. Trotzdem fühlte ich mich jedes Mal unwohl und beobachtet, wenn sie da waren. Ich wollte alles richtig machen und setzte mich selber unter Druck. Joy spürte das und verlor ihre Unbeschwertheit, was wiederum mich noch nervöser machte. Ich seufzte.
»Der letzte Besuch war im Dezember letzten Jahres, um genau zu sein«, erwiderte Matteo. »Ist doch in Ordnung, wenn sie sich kümmern.«
»Ja. Trotzdem nervig. Ich schau gleich mal in den Kalender. Wann sagtest du, kommen sie genau?«
Matteo rückte seinen Stuhl an meine Seite und legte mir seinen Arm um die Schulter.
»Leg das Ding weg! Eilt doch nicht«, flüsterte er und versuchte tatsächlich, an meinem Ohrläppchen zu knabbern.
»Komm mir nicht zu nahe! Ich stinke immer noch nach Kuhstall«, warnte ich kichernd im Flüsterton. Nachdem Matteo uns mit dem leckeren Essen überrascht hatte, hatte ich nur schnell Joy gebadet, die durch die aufregenden Stunden bei Oma und das warme Wasser schläfrig geworden war. Sie lag selig schlummernd im Kinderzimmer.
»Ich stamme vom Bauernhof, da ekele ich mich doch nicht vor dem Geruch von Kuhmist«, lachte er spitzbübisch. »Und ich hätte da eine Idee.« Matteos Stimme klang plötzlich rau. Ich ahnte, worauf er anspielte, lächelte ihn verführerisch an und zog ihn in Richtung Dusche. Wenig später umspielte das heiße Wasser unsere Körper. Ich schloss die Augen, hielt mein Gesicht sekundenlang in den Strahl und verrieb anschließend das Kräuter-Duschgel erst auf meiner verschwitzten Haut, danach seifte ich Matteos Körper ein, der wohlig stöhnte. Er drehte mich langsam um, so dass ich seine Männlichkeit an meinem Steiß spürte. Meine Brustwarzen wölbten sich und ich hielt einige Sekunden die Luft an.
»Ich liebe dich!« Die Sanftheit seiner Stimme streichelte mein Herz und eine körperliche Sehnsucht ergriff mich, die sich in Sekundenschnelle wie eine alles verschlingende Feuersbrunst in meinem Leib ausbreitete. Mein Blut pulsierte an Stellen, die nur eines signalisierten: Lust.
Als Matteo, nachdem er kurz aus der Dusche gestiegen war, nackt nähertrat, mich vorsichtig in ein Handtuch wickelte, explodierte das Verlangen in mir. Das Handtuch fiel zu Boden. Ich spürte seine Männlichkeit erneut auf meiner Haut. Der stattliche Bergler überragte mich ein ganzes Stück und sah so höllisch gut aus. Seine langen Wimpern klebten sternförmig zusammen, was mich zusätzlich zum Schmelzen brachte.
»Soll ich vorher noch einmal nach Joy sehen?«, fragte ich mehr aus Verlegenheit. Es war nicht das erste Mal und doch war unsere Sexualität so aufregend wie am Beginn der Beziehung.
»Schschsch!« Matteo legte mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. Allein diese sanfte Geste bereitete mir wackelige Knie. Was daraufhin folgte, geschah mehr in Trance denn bei vollem Verstand. Mein entblößter Körper an seinen gepresst. Sein maskuliner Duft. Er schmeckte so natürlich nach Mann und Wald. Ich stöhnte unter seinen Berührungen, die zärtlich und trotzdem bestimmt waren. Minuten später lagen wir im Bett. Auf seiner Brust perlte Schweiß. Er keuchte vor Erregung. Seine dunklen Pupillen glänzten vor Sehnsucht, als er mich betrachtete. Ich spürte: Er liebte und begehrte mich. So wie ich ihn. Tropfen schimmerten auf seiner gebräunten Haut. Ich hatte, obwohl ich verheiratet gewesen war, noch nie auf diese Art und Weise geliebt. Tief in meinem Inneren wurde mir klar, dass Matteo der erste und letzte Mann sein würde, der diese Gefühle in mir auszulösen vermochte. Ich durfte ihn nie mehr verlieren.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte ich. Es fühlte sich gerade perfekt an und es wäre zu herrlich gewesen, diesen Moment in die Länge zu ziehen, am besten für immer liegenzubleiben, doch Joys forderndes Stimmchen scholl zu uns herüber. Mühsam schälte ich mich aus dem Bett, gab Matteo einen letzten Kuss und zog mir wohlig seufzend meine Kleidung über.
Der nächste Tag verlief ruhig bis harmonisch und ich hatte sogar die Zeit gefunden, zu meiner kleinen Hütte, oberhalb des Waldes zu laufen. Matteo hatte sie mir geschenkt und ich zählte insgeheim die Jahre rückwärts, bis Joy den Kindergarten besuchte, dann würde ich mir meinen Traum erfüllen und die kleine Alm für Wandertouristen bewirtschaften. Ich würde ausgefallene Gerichte anbieten und sammelte Rezepte in einem Notizblock. Wenn ich die Zutaten notierte, spürte ich, dass ich die Eventmanagerin noch nicht zur Gänze abgelegt hatte. Doch diese Kreativität überforderte mich nicht. Sie erschien mir gesund und sie erfüllte mich mit Vorfreude.
Bis zur Eröffnung hatte ich, wie gesagt, noch ein wenig Zeit und so stieg ich dann und wann hoch, um nach dem Rechten zu sehen. Es war wie immer alles in bester Ordnung, außer dass es sich eine Siebenschläferfamilie im Dachstuhl gemütlich gemacht hatte, aber das empfand ich als wenig störend. Noch waren keine Lebensmittel vorrätig und wenn es soweit wäre, würde sich eine tierfreundliche Lösung finden.
Nun saßen Joy und ich zusammen beim Abendbrot, und während die Kleine mehr matschte als aß und bestens gelaunt den Reis mit Tomatensoße auf dem halben Tisch verteilte, gesellte sich Matteo zu uns.
»Am Wochenende ist übrigens Hoagascht«, sagte er. »Ich möchte beim Aufbau helfen. Da ist endlich mal wieder was los im Dorf!«, freute er sich. Ich musste so verdutzt aus der Wäsche geschaut haben, dass Matteo schallend losprustete und selbst Joy zu lachen begann.
»Ogasch!«, wiederholte sie und kicherte. »Ogasch!«
»Was zum Geier ist Hoagascht?«, fragte ich und wartete angespannt auf die Antwort.
»Alles, was Spaß macht«, erklärte Matteo. »Leckeres Essen aus der Region, nette Menschen, Tanz, traditionelle Musik …«
»Und jede Menge Alkohol«, vollendete ich und hob missmutig meine Brauen.
»Das gehört dazu. Wir eröffnen den Almsommer. Ich stelle heute Abend mit den Jungs die Tische und Bänke auf. Wir bauen eine Tanzbühne auf dem großen Parkplatz vor dem Ort und ein Zelt gibt es auch. Das wird juxig, du wirst sehen. Sogar das ganze Ötztal kommt auf ein Bier zu uns hoch.«
»Juxig also, aha! Ich kenne niemanden und habe gar nicht die geringste Lust auf Feierlichkeiten. Gehen Katharina und Josef auch dorthin?« Ich merkte, wie spießig ich mich anhörte. Vor was hatte ich Angst?
»Es gibt keine Menschenseele, die nicht hingeht«, erklärte Matteo ernst.