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Klaus Bruckner, der Erbe des Erlenhofes, denkt immer noch gerne an seine Kindheitsfreundin zurück, Prinzessin Waltraud von Rankenstein. Ungeachtet aller Standesunterschiede durfte er seinerzeit auf dem Schloss das Geigenspiel erlernen, und sie auf dem Klavier begleiten. Nach zwei Jahren Trennung trifft er endlich wieder auf seine einstige Spielkameradin.
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LESEPROBE zum E-Book© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
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eISBN 978-3-475-54553-5 (epub)
Hans Ernst
Wo die Alpenrosen blühn
Klaus Bruckner, der Erbe des Erlenhofes, denkt immer noch gerne an seine Kindheitsfreundin zurück, Prinzessin Waltraud von Rankenstein. Ungeachtet aller Standesunterschiede durfte er seinerzeit auf dem Schloss das Geigenspiel erlernen, und sie auf dem Klavier begleiten. Nach zwei Jahren Trennung trifft er endlich wieder auf seine einstige Spielkameradin.
Lautlose Stille im dunklen Hochwald. Nur leises Raunen und Wispern in den Zweigen. Wenn der Wind die Äste auseinanderbog, fluteten breite Sonnenbänder in den kühlen Schatten hinein, der zwischen den vielhundertjährigen Stämmen lag.
Kein Wölkchen am tiefblauen Maienhimmel, kein Laut im weiten Raum — die richtige Sonntagsruhe.
Nahe dem Waldrand schoss rauschend ein Bergwasser vorbei, im Volksmund der Kupferbach genannt.
Es war Ende Mai, und an den Bergen haftete kein Schnee mehr, der Hochwassergefahr hätte befürchten lassen. Diese war vorüber. Schon Mitte April hatten sich die Wildwasser über Felder und Wiesen ergossen. Drei Tage hatte dieses donnernde Tosen gedauert, dann war das Wasser in seine aufgewühlten, zerrissenen Ufer zurückgetreten.
An dem neugezimmerten Brückengeländer lehnte ein junger Bursche und sah sinnend in die dahinflutenden Wellen, aus denen ab und zu eine Forelle aufsprang und blitzschnell, als könnte sie das gleißende Sonnenlicht nicht vertragen, wieder untertauchte. Jetzt reckte der junge Bursche seine hohe kräftige Gestalt und sah, die Hand über die Augen haltend, über die Wiese auf den Weiler Bürg, der drüben wie ein kleines Paradies auf einer Höhe lag. Der Weiler Bürg zählte nur vier Höfe, die durch eine Straße voneinander getrennt waren, so dass der Erlenhof und der Lahnerhof dem Weber- und dem Leitnerhof gegenüberstanden wie zwei Burgen.
Von einem Hof ragte nur das rote Ziegeldach durch das Blättergewirr der ihn umsäumenden Erlen, während die anderen Gehöfte frei dastanden, umflutet von der Maiensonne.
Ein stolzes Leuchten ging über die Züge des Träumenden. »Heimat, liebe Heimat!«
Klaus Bruckner, der Sohn und künftige Erbe vom Erlenhof, atmete tief.
Er war ein hübscher Bursche, erst neunzehn Jahre, aber groß und schlank gewachsen, mit schönen edlen Gesichtszügen, die noch von reiner Jugend zeugten, aber doch in manchen Linien festen unbeugsamen Willen verrieten. Er war einer, der wenig redete, das Herz aber auf dem rechten Fleck hatte.
Schmuck sah er aus in seiner kleidsamen Hochlandstracht, der kurzen Lederhose mit einem breiten Ledergurt um den Leib. An seiner linken Schulter hing eine hellgraue Lodenjoppe mit grünem Aufschlag und großen Hirschhornknöpfen, und über der von dunklen Locken umrahmten Stirn saß der weitrandige dunkelgrüne Hut, auf dem sich vom Wind gefächelt ein buschiger Adlerflaum wiegte.
Den Kopf leicht zurückgebogen, die Daumen in die Hosenträger eingehakt, ließ er seine Augen weiterwandern — bis zum Fürstenschlössel, das sich aus den dunklen Tannenwipfeln heraushob.
Auf der Zinne flatterte eine Flagge, ein Zeichen, dass die hohen Herrschaften bereits ihren Sommeraufenthalt bezogen hatten.
Hohe Herrschaften — die Fürstenleute von Rankenstein? Für die Begriffe des Burschen waren sie es nicht. Er glaubte, es gäbe keine Kluft zwischen ihm und den Fürstlichen. Er sah in dem gütigen alten Herrn noch immer eine Art Vormund und in der feinen zarten Prinzessin Waltraud die Gespielin seiner Kinderzeit.
Dieses Zurückschauen war für Klaus etwas Betrübliches. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und die Stiefmutter, die auf den Hof kam, als er drei Jahre alt war, hatte es nie verstanden, das Herz des Kindes zu erobern. Als Klaus neun Jahre alt war, wurde der Erlenhofer von einem heimtückischen Leiden, das er aus dem Felde mitgebracht hatte, hinweggerafft. Von da an wurde der Knabe noch einsamer und verschlossener. Tagelang lag er unter den Tannen oder ging im dunklen Wald umher. Oder er saß am Kupferbach und spielte mit den Steinen, die das Hochwasser über die Ufer geschwemmt hatte; bis eines Tages das Prinzesslein vom Schloss, die damals sechsjährige Agnes Viktoria Waltraud, ihn bei seinem einsamen Spiel überraschte. Die beiden Kinder fanden Gefallen aneinander und wurden unzertrennliche Spielkameraden. Einige Tage später schleppte das Prinzesslein ihren Gefährten mit auf das Schloss. Auch der Fürst fand Gefallen an dem munteren, aufgeweckten Knaben. Als er dessen musikalisches Talent entdeckte, schenkte er ihm eine Geige, und allwöchentlich dreimal musste Klaus ins Schloss zur Musikstunde kommen, um das Prinzesslein beim Klavierspiel zu begleiten.
Als die Kinder älter wurden, beherrschten sie ihre Instrumente wie Künstler. Ab und zu fand sich auch der Doktorbub mit seinem Cello ein, und wenn das junge Trio an Sommerabenden seine Weisen hinausrauschen ließ, dann lauschten unten im Dorf die Bauern, die vor dem Haus auf den Hausbänken den Feierabend genossen, voll heiliger Ehrfurcht. Sie kannten solche Musik nicht, aber sie fühlten, dass das, was sie hörten, etwas Erhabenes, Großes war. Und müde, abgearbeitete Weiblein, die nur den Alltag mit seinen Mühen und Nöten kannten, falteten die welken Hände und lauschten andächtig auf das wundersame Klingen.
Nun war es zwei Jahre still gewesen. Die Herrschaften hatten den Sommer in Nizza verbracht, und der Doktorhans oblag in Heidelberg seinen Studien.
Jetzt aber wehte die Flagge wieder vom Fürstenschloss, und bald würde Klaus seiner Kindergespielin gegenüberstehen. Dass seine kleine Traudi nun schon über sechzehn war, wurde dem Erlenhofersohn nicht recht bewusst. Für ihn war sie noch immer sein kleines Traudele, wie er für sie der Burschl.
Wieder zog er das Brieflein, das er vor einigen Tagen aus Nizza erhalten hatte, aus der Joppentasche und las wohl schon zum zehnten Mal die lieben, trauten Worte:
Lieber Burschl!
Zwei Tage noch, und ich bin wieder auf meinem lieben Schloss Bürg, in meinen Bergen, und was die Hauptsache ist, bei Dir, mein lieber Burschl. Oder bist Du keiner mehr? Du warst damals vor zwei Jahren schon groß und stark. Nun bist Du halt jetzt mein lieber Junge. Hast Du Beethoven schon verlernt? Nicht?
Du — ich freue mich schon riesig darauf, wieder mit Dir spielen zu können. Aber gelt, das erste Wiedersehen wollen wir ganz unter uns feiern. Erwarte mich deshalb am Sonntagabend bis 6 Uhr am Kupferbach, auf demselben Platz, an dem ich Dich das erste Mal sah, als Du mit den Steinen spieltest. Grüße mir einstweilen meinen lieben Wald, und sei auch Du bis dahin tausendmal gegrüßt von der kleinen Traudi
Klaus merkte, wie ihm das Herz heftig schlug. Lange konnte es bis sechs Uhr nicht mehr sein.
Vom Dorf herauf, das der Schlossberg verdeckte, klangen gellende Juhschreie und fröhliches Trompetengeschmetter. Man feierte dort den Maitanz. Keine Macht der Welt hätte den jungen Erlenhofer in diese lustige Gesellschaft gebracht.
Sein einziger Gedanke war nur: Heute sehe ich mein Traudele!
Im Geist sah er das schöne Prinzesslein vor sich, erlebte wieder jenen Abend, als sie vor zwei Jahren auseinandergingen und sie mit ihrer glockenhellen Stimme Abschied nahm:
»Lebe wohl, Burschl, und vergiss mich nicht!«
Zwei Jahre waren wie im Fluge vergangen. Jede Karte, die aus dem herrlichen Süden kam, befestigte Klaus an der Wand seines Zimmerchens. Die Brieflein mit dem Kronensiegel hatte er fein säuberlich in eine silberne Kassette geschlossen, die einst seiner Mutter zum Aufbewahren ihres Schmuckes diente.
Da — kam nicht aus dem Waldesdunkel ein Geräusch? Angestrengt blickte Klaus auf die hellen Serpentinen des Reitweges, der sich zwischen den Tannen emporschlängelte. Ja, es klang wie Pferdegetrappel. Plötzlich tauchte eine junge Reiterin auf. Nun blieb der Goldfuchs stehen, die Reiterin sprang behände aus dem Sattel und streichelte den Hals des Tieres.
Die Reiterin war eine feine zarte Gestalt, halb Kind, halb Weib. Zwei goldene Sicheln kupferdunklen Haares legten sich schimmernd um die Schläfen und verschwanden unter dem Florentinerhut. Den biegsamen Körper umschloss ein elegantes Reitkleid. Zwei dunkelblaue Augen suchten das Gelände ab.
Es war Prinzessin Agnes Viktoria Waltraud von Rankenstein. Nervös spielte sie mit dem Buschen Alpenrosen, die an ihrem Gürtel hingen.
Klaus stand zitternd vor Aufregung hinter dem Weidenbusch, hinter den er sich geduckt hatte, und starrte auf das Mädchen, das von der Sonne umflutet dastand.
Das war kein Kind mehr, kein kleines Traudele, sondern ein Wesen, das sich bewusst war, alles Kindliche abgelegt zu haben.
Klaus bog den Busch langsam auseinander, er stand drei Schritte von der Wartenden entfernt. Er sah, wie ihre Augen aufleuchteten, und dann hörte er seinen Namen jubelnd über die roten Lippen sprudeln: »Klaus!« Die Prinzessin machte einen Schritt auf den Verdutzten zu.
»Klaus!«
»Traudi!«
Sie hielten sich an den Händen, sahen sich in die Augen. In dieser Minute fühlten beide zutiefst in ihren jungen Seelen, dass die Kinderzeit um war.
Nach langem Schweigen sprach Klaus endlich: »Grüß Gott in der Heimat, Traudi!«
Und leise kam es von ihren Lippen: »Grüß dich Gott, Bu — Klaus! Wie groß und stark du geworden bist!«
Er lachte. »Und du? Du bist auch nimmer das Traudele von damals, wenigstens von außen nicht.«
Er legte scheu den Arm um ihre Schulter. Sie schmiegte sich wohlig an ihn wie in früheren Tagen, wenn sie in den dunklen Wald gingen und sie sich zu fürchten begann.
»Hast du dich gar nicht nach mir gesehnt, Klaus?«
»Nach dem Traudele, aber nicht nach der Prinzessin«, kam es gepresst von seinen Lippen.
Mit weit geöffneten Augen sah sie ihn an. »Prinzessin« — dieses Wort hatte Klaus noch nie gebraucht.
Tränen begannen ihr aufzusteigen.
»Traudi! Um Gottes willen, was hast du?«
»Nichts, Klaus.« Sie sah an ihm vorbei. »Ich vermute nur, dass wir uns fremd geworden sind. Eines sage mir, Klaus: Wer ist es, der dich mich vergessen ließ?«
»Aber Traudi! Du weißt ja nicht, wie lange ich schon auf den Tag gewartet hab und die Stunden gezählt, bis du wieder da bist! Und gar nicht hab ich es erwarten können, dass ich nach so langer Zeit wieder in deine lieben guten Augen sehen kann. Weißt, eben bin ich halt ein bisschen erschrocken, weil du so groß und schön geworden bist und so vornehm, dass ich im ersten Augenblick gemeint hab, es wär gar nicht möglich, dass dir der einfache Bauernbub noch was sein könnte.«
»Kein solches Wort mehr, Klaus! Du solltest mich besser kennen als jeder andere. Du hast mir viel Sonne in meine einsame Kinderzeit gebracht, und das, glaubst du, könnte ich je vergessen? Hätte ich dich dann um dieses Wiedersehen gebeten, gerade hier auf diesem Platz? Glaube mir, Klaus, man hat nichts unversucht gelassen, mich an eine andere Umgebung zu gewöhnen. Aber niemand hat es fertiggebracht, mir die Erinnerung an dich — an mein schönes Kinderglück zu rauben.«
»Aber Traudi, liebes Kind, so weine doch nicht! Schau, es ist ja noch alles, wie es war. Jetzt weiß ich es, du bist noch immer mein liebes, gutes Trauderl.«
Halb lachend, halb weinend fragte Waltraud: »Warum sagst du mir dann kein anderes Grüßgott?«
»Aber ich habe es doch schon gesagt.«
»Nein, nicht so, anders. So, wie wir damals Abschied nahmen —« Da schlang Klaus seine Arme Um sie. Als sie sich wieder voneinander lösten, waren sie beide glühend rot geworden. Was war das nur? Sie hatten sich doch sonst auch nicht anders benommen und geküsst wie früher als Kinder. Und doch dieses rätselhafte Brennen im Blut, dieses dumme Gefühl des Errötens?
Und wieder klang es in ihren jungen Seelen: »Die Kinderzeit ist um!«
Verlegen bückte sich Waltraud nach dem Hut, der zu Boden gefallen war. Dabei löste sich der Knoten in ihrem Nacken, und wie eine Flut von Gold fiel das lange Haar über ihre Schultern. Lächelnd blickte sie zu ihm auf.
»Sieh, Klaus, ich habe mein Wort gehalten und mir das Haar nicht abschneiden lassen.«
Er nahm ihre Hände und sprach leise auf sie ein.
Da begann unweit von ihnen eine schrille Stimme zu singen:
»Die Lieb ist was Narrisch's,
und doch ist's so schön!
Wenn zwei sich gernhaben,
das kann man gleich sehn.
Nur eins sollt's nicht geben:
so niedrig — so groß!
Drum, Leutln, seid's gscheit heut —
's gibt Herzeleid doch bloß!«
Die zwei jungen Menschen blickten nach der Richtung, aus der der Gesang kam, und sahen, wie eine gebeugte Frauengestalt sich aus dem Grase erhob und dem Walde zustrebte.
»Wurzelmarie! Was soll das heißen?«, rief Klaus ihr nach.
Statt aller Antwort begann die Greisin zu lachen und verschwand zwischen den Bäumen.
»Wer ist diese alte Frau?«, fragte Waltraud, die sich ein wenig fürchtete.
»Die Wurzelmarie nennt man sie. Sie wird wohl einen anderen Namen haben, den niemand außer ihr weiß. Man sagt, es wär bei ihr nicht ganz richtig im Oberstüberl. Aber auf die Leut darf man nichts geben. Die reden viel, wenn der Tag lang ist. Ich glaub, sie ist gescheiter als viele, die gescheit sein wollen.«
»Der alten Frau geht es wohl schlecht?«
»Man weiß nix von ihr. Droben, wo der Wald am dunkelsten ist, steht ihre Hütte. Sie sammelt Wurzeln, die eine ganz besondere Heilkraft haben sollen.« Waltraud versank in tiefes Nachsinnen. Dann sagte sie: »Du, Klaus, mich interessiert die Frau. Könntest du mich nicht einmal zu ihrer Hütte bringen? Wohnt sie ganz allein da droben?«
»Nein, ihr Enkelkind wohnt bei ihr. Kannst du dich nimmer an das kleine zerlumpte Mädel erinnern, das uns damals vor neun Jahren den Weg gezeigt hat, als wir zwei uns in den Bergen verstiegen haben?«
Wieder sann Waltraud eine Weile nach, bis sie sich an jenen Abend erinnern konnte. »Sagtest du nicht, dass im Dorf niemand das Mädchen leiden mag? Ist das immer noch so?«
Klaus nickte. »Es wird auch immer so bleiben, mein ich, obwohl ich selber nicht weiß, warum. Sie tut keinem Menschen was zuleid, und doch gehen sie ihr und ihrer Großmutter aus dem Weg, als ob sie Aussätzige wären. Es ist grad, als wenn ein Mensch, der weniger hat als die andern, an Geltung und Achtung verliert. Ich meine doch, Armut schändet nicht. So hat mein Vater selig immer gesagt.«
»So denk ich auch, Klaus. Wir sind alle nur Menschen. Ob einer sein Leben lang im seidenen Rock oder im Lumpenkittel geht, bleibt sich am Jüngsten Tag doch gleich. Dort wird nur der Innenmensch gewertet. Und ich bin überzeugt, dass häufig unter dem groben Leinenkittel eine viel schönere Seele wohnt als bei den sogenannten besseren Leuten. Und dass man die Wurzelfrau und ihre Enkelin so von aller Gesellschaft verstößt, finde ich hässlich. Wie muss ihnen dort oben in ihrer Einsamkeit zumute sein? Niemand wird zu ihnen kommen und ein gutes, tröstendes Wort sagen. Aber ich tue es! Ich fürchte mich nicht. Gleich morgen steig ich zur Hütte hinauf.«
»Das darfst du aber niemand sagen, Traudi«, warf Klaus ein. »Übrigens geh ich mit dir. Weißt, man sagt, die Alte könnte hexen.«
Belustigt lachte Traudi auf. »Das glaubst doch selber nicht, Klaus! Was die törichten Menschen behaupten, sind alte Märchen, Aberglaube vergangener Zeiten.«
Klaus strich ihr über das Haar. Ihm war so eigen zumute, so sonderbar wie noch nie. In seinem Innern lebte etwas so Großes, so Herrliches, und dann schmerzte es wieder wie ein Messerstich.
»Du bist so gut, Traudi«, flüsterte er.
Die Sonne sank, und schweigend sahen sie beide in das Abendrot.
»Klaus, glaubst du wirklich, was die Leute von der alten Frau sagen? Ich nicht. Und mit ihrem Singen muss es seine Bewandtnis haben. Ich empfinde es. Sie wollte damit etwas Bestimmtes ausdrücken, als sie sang: So niedrig — so groß!«
»Ja, ja, ich weiß, was du sagen willst —«, stieß er hervor. »Ich hab's gemerkt vom ersten Augenblick an, als ich dich heut wiedersah. Vor neun Jahren, als du in mein Leben tratest, war es anders. Da haben wir zwei die Kluft nicht gesehen, die uns voneinander trennt. Warum hast du auch damals kommen müssen? Ich hätte allein auch mit meinen Steinen spielen können, und alles Herzleid wäre mir erspart geblieben. Das Beste ist wohl, wir gehen uns aus dem Weg, denn:
So niedrig, so groß —
's gibt Herzeleid doch bloß!«
Er trat zur Brücke hin. »Leb wohl, Traudi. Gute Nacht!«
Mit einem erstickten Schrei flog sie auf ihn zu. Tränen in den Augen, sank sie vor ihm nieder und schrie zu ihm auf:
»Klaus, tu mir doch nicht so weh! Seit meiner Kindheit hast du mir noch keine Stunde meines Lebens verbittert — im Gegenteil. Kannst du denn so grausam sein und mir mit solchen Worten gewaltsam mein schönes Kinderglück zerstören? Sag, dass es dir damit nicht ernst ist! Es kann ja nicht sein. An dir ist doch alles gut und wahr, Leib und Seele an dir ist ein blühender Frühling —«
Da verstummte sie jäh, über ihre eigenen Worte erschreckend.
Und als Klaus sie zu sich emporzog, sank sie haltlos weinend an seine Brust. Ruhig ließ er sie gewähren.
»Sei vernünftig, Traudi! Schau, die Kinderzeit ist um!«
Mit feuchten Augen sah sie zu ihm auf. »Ja, Klaus, die Kinderzeit ist um. Ich fühlte es wohl, wenn ich auch fern von dir war. Wie feine Schleier legte es sich um das Glück meiner Kindheit. Aber die lange Zeit im Süden hat eine unbeschreibliche Sehnsucht in mir erwachen lassen, die mein ganzes Sein ausfüllte, Tag für Tag. Und in den Nächten träumte ich ein süßes, wunderschönes Märchen vom Glück. Rastlos schrie meine Seele in die lauen Lüfte: ›Glück, warum rufst du nicht, dass ich dich finde?‹«
Zitternd hielt Waltraud einen Moment inne. »Ich träumte wie alle Mädchen, wenn sie in mein Alter kommen. Aber nicht von einem Prinzen oder einem Königsschloss, sondern von dir, Klaus, von dir, dem Waldbuben. Immer klang mir das Lied, das du mir vor zwei Jahren zum Abschied gesungen hattest, in den Ohren:
Mein Glück ist ein Hütterl
im schönen Tirol.
Und im Traum sah ich so ein Hütterl mit kleinen blitzblanken Scheiben, an denen das Gold der steigenden Sonne funkelte. Hoch oben in den Bergen stand es, hoch über allen Menschen. Als es Abend wurde, stand ich wartend mit einem Buschen Almenrausch unter der Tür und sah zu dir empor, wo du an steilen Wänden auf schwindelndem Pfad einherstiegst, als gingest du auf ebenen Wegen. Groß und schlank standest du im Feuerschein der sinkenden Sonne. Und wie Glockenton kam dein Jodler durch die Lüfte. Du hobst die Arme und schleudertest etwas zu mir herunter. Wie Blütenschnee fielen Edelweißsterne auf mich herab, große glänzende Blümlein, lind und samtweich.« Im Flüsterton hatte Waltraud die letzten Worte gesprochen. Sie atmete tief. »O Klaus, wie schön war dieses Träumen! Ich habe dich so lieb, mehr als mich selbst und mein Leben, ja, mehr als alles in der Welt. Mir ist jede Etikette verhasst. Unglücklich fühle ich mich in dem höfischen Zwang, der leider auch auf Schloss Bürg herrscht. Nur dich habe ich lieb.«
Da schwanden alle Bedenken. Nichts wusste Klaus mehr von der Kluft, die zwischen der Prinzessin und ihm bestand. Es gab einen Menschen, der ihn lieb hatte und den er wiederliebte mit der ganzen Kraft seiner Jugend. Innig und zart drückte er die Geliebte an seine Brust.
Dann standen sie stumm mit gefalteten Händen und beteten — durch den Abend klangen die Aveglocken.
»Ich muss jetzt heim, Klaus«, sagte Waltraud, als der letzte Ton verhallt war.
Sich wie Kinder an den Händen führend, schritten sie den schmalen Wiesenpfad dem Schlossberg zu. Gemächlich trabte der Goldfuchs hinter ihnen her. Es dunkelte bereits, als sie die Höhe zum Schloss hinaufstiegen.
Langsam, mit verhaltenen Schritten gingen sie an der Schlossmauer entlang, bis sie das schmiedeeiserne Tor erreicht hatten. Waltraud öffnete es und ließ das Pferd hinein, das wiehernd dem Stalle zustrebte.
Groß und silbern schob sich der Mond über die Zinnen herauf, alles in weitem Umkreis mit seinem Licht verklärend. Ein leises Rauschen ging durch die alten Parkbäume. Vom Dorf herauf vernahm man den Lärm der Tanzmusik.
Der Augenblick des Abschieds war gekommen. Waltraud legte die Arme um Klaus und küsste ihn. »Gute Nacht, Klaus!«
Dann schloss sich das Tor hinter ihr, und Klaus vernahm nur noch leise Schritte, die dem erleuchteten Portal zueilten.
Immer lauter und lärmender drangen die Stimmen vom Dorf herauf. Das Fest schien dort seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Einen Augenblick blieb Klaus stehen und lauschte, ging dann aber weiter. Nur jetzt nicht unter die Menschen, nach dieser Stunde! Sie würden ihm sein Glück aus den Augen ablesen und ihm missgünstig sein. Nein, ganz allein wollte er mit seinem Glück, seinem Denken und Fühlen bleiben.
Still und dunkel lag der Hof unter dem leise flüsternden Blätterdach der hohen Erlen, als Klaus ihn betrat. Die Leute schienen alle zum Maitanz gegangen zu sein, aber auch die Erlenhoferin. Die Haustür war versperrt, und der Schlüssel lag zwischen den Geranienstöcken am Fenstersims.
Klaus wunderte sich, denn die Stiefmutter pflegte sonst derartigen Vergnügungen fernzubleiben, obwohl sie noch nicht alt war. Anfang Vierzig, ein fesches gesundes Weib, auf das verschiedene Bauernsöhne ein Auge warfen. Und mancher hätte sich nur zu gern in den schönen, prächtigen Hof hineingesetzt, wenn nicht —
Nach dem Testament seines Vaters war Klaus nach Vollendung seines einundzwanzigsten Lebensjahres rechtmäßiger und alleiniger Besitzer des Erlenhofes. Die heimlichen Bewerber sahen in ihm ein Hindernis, das sich nicht auf die Seite räumen ließ. Und um die Witwe allein lohnte es sich doch nicht, wenn sie auch einen schönen Austrag erhielt.
Den Kopf an die Hauswand gelehnt, saß Klaus auf der Hausbank und starrte unverwandt zum Fürstenschloss, in dem noch vier Fenster beleuchtet waren.
*
Das lange Ausbleiben der Prinzessin schien im Schloss bereits übel vermerkt worden zu sein, denn als Waltraud die Stufen der Freitreppe emporschritt, stand Miss Harton, die Erzieherin und Lehrerin, schon wartend im Flur mit emporgezogenen Brauen und der üblichen Unmutsfalte auf der Stirn.
»Hoheit scheinen die Pünktlichkeit vergessen zu haben. Es geht bereits auf neun Uhr.«
»Sogar schon acht Minuten darüber, liebes Fräulein, nach meiner Uhr«, sagte Waltraud erheitert.
Miss Harton, eine zur Korpulenz neigende Engländerin, machte eine ihr eigene Schnörkelbewegung mit dem glatt frisierten Kopf. »Hoheit, ich verbitte mir —« Mitten im Satz brach sie ab, hob die Nase noch um einen Zoll höher und ging Waltraud würdevoll mit geblähten Nüstern voraus.
Waltraud konnte kaum das Lachen unterdrücken, als sie hinter der Erzieherin herschritt.
Die Miss öffnete eine Tür, und Waltraud einlassend, sagte sie: »Durchlaucht wartet bereits.«
Hut und Reitpeitsche auf einen Stuhl legend, trat Waltraud in das Arbeitszimmer des Fürsten von Rankenstein.
Bei ihrem Eintritt blickte ihr ein gütiges, von grauem Vollbart umrahmtes Gesicht entgegen. Dann ging der Fürst auf seine Tochter zu und küsste sie auf die Stirn. »Spät kommst du heim, liebes Kind.«
Waltraud war ein wenig rot geworden, dann sprudelte sie lebhaft hervor: »Ach, weißt du, Papa, ich war im Wald. Es ist so schön gewesen, und —«
Lächelnd zog sie der Fürst an einer Locke. »Mein Kind, schön ist sehr vieles im Leben, aber nicht immer vernünftig.«
Waltraud sah den Vater groß an. Sie verstand den tiefen Ernst seiner Worte nicht. Der Fürst führte sie zu einem Stuhl, zog für sich einen anderen heran und erfasste ihre Hände.
»Sieh einmal, liebes Kind, du warst heute allein im Wald. Wenn du künftig ausreiten willst, soll dich ein Diener oder der Stallmeister begleiten. Es ist heutzutage für ein junges Mädchen nicht ratsam, allein im Wald zu sein. Ich habe mich sehr gesorgt um dich.«
»Aber Papa, das hättest du nicht gebraucht. Klaus war doch bei mir.«
»Wer war bei dir?«
»Klaus —« Die Stimme Waltrauds zitterte, als sie den Namen aussprach, und vergebens wehrte sie sich gegen das aufsteigende Rot.
Der Fürst lachte. »So, Klaus Bruckner. Nun, da konnte dir freilich nichts passieren. Er muss übrigens ein strammer Bursche geworden sein.«
»Ja, Papa, Klaus ist groß und stark geworden. Aber sonst ist er immer noch der Gleiche.«
»Da könntet ihr ja wieder einmal miteinander musizieren. Hast du ihn nicht eingeladen?«
»Nein, ich wollte erst dich fragen. Wenn es dir recht ist, könnte er vielleicht morgen Abend kommen?«
»Aber natürlich, Kind. Ich freue mich aufrichtig und lasse ihm morgen im Laufe des Tages durch Felix Bescheid geben, wenn ich nicht selbst zufällig am Erlenhof vorbeikomme.«
Waltraud hätte vor Freude aufjubeln mögen. In dieser Freude schlang sie beide Arme um den Hals ihres Vaters und presste ihre Wange an die seine.
Klaus saß noch immer auf der Hausbank. Plötzlich sprang er auf und streckte sich. Was war doch heute für ein frohes Gefühl in ihm! O Liebe, einzig herrliche Jugendliebe! O Gott, wie schön ist doch die Welt!
Eben schlug die Uhr zehn. Auf Schloss Bürg waren alle Lichter erloschen. Ob Traude wohl schon schlief?
Klaus wollte noch nicht zu Bett gehen und schritt durch den Obstgarten auf die Straße hinaus. In den gegenüberliegenden Höfen war es ebenfalls dunkel. Ruhe und Frieden überall. Nur die Brunnen plätscherten, und ab und zu hörte man das Klirren von Ketten aus einem der Ställe.
Wie aus reinem Silber getrieben, leuchteten die Steinwände des Karwendelgebirges im Mondschein.
Langsam wanderte Klaus durch die Erlenallee dahin. Stärker vernahm er den Lärm aus dem Dorf.
Schon wollte er umkehren, als er eine Gestalt gewahrte, die ihm entgegenkam. Es war eine große, schlanke Gestalt in einem hellen modernen Sommeranzug.
Der Fremde grüßte. Klaus hob erstaunt den Kopf und gab den Gruß zurück. Der Fremde war auf dem Fußweg stehengeblieben und wendete den Kopf. Im gleichen Moment tat Klaus dasselbe. Der andere kam auf ihn zu. Klaus sah ihn scharf an, dann rief er erfreut: »Doktorhansl, du? Herr im Himmel, bist du's wirklich?«
»Ja, Klaus, ich bin's.«
Klaus schlang seine Arme um den Freund. »Wo kommst denn du her? Bleibst länger da?«
»Vierzehn Tag gönn' ich mir jetzt Ruh. Aber dann heißt es wieder fest arbeiten. Es wird ein hartes Stück Arbeit werden, mir eine Existenz als Rechtsanwalt zu gründen. Du weißt doch, mein Vater starb vor drei Jahren, und die Mutter lebt in München. Für die muss ich ja auch sorgen. Meine gute Mutter hat ihre letzten Ersparnisse für meine Studien geopfert. Ich werde es schon schaffen, wenn es auch im Anfang schwer sein wird.«
»Ach, geh, der Beruf, den du dir gewählt hast, ist nicht der schlechteste. In einer Zeit, wo fast alles prozessiert, bleibt die Kundschaft nicht aus. Halt dich nur an die Bauern, die sind froh, wenn sie einen haben, der sie versteht und unter ihnen aufgewachsen ist.«
Der junge Jurist presste die Hände des Freundes. »Deine Worte geben mir Mut. Ich danke dir, Klaus!«
»Für was denn?«
»Für Worte, aus denen ich herausgehört hab, dass du noch immer der Klaus bist, den ich gernhaben musste. Aber komm, jetzt wollen wir das Wiedersehen feiern.«
»Nobel hast dich 'rausgewachsen, Hansl«, sagte Klaus im Weitergehen. »Ausschauen tust wie ein Graf.«
»Ja, wie ein Graf von Habenichts!«, lachte Hans.
»Aber geh, erzähl mir, wie es dir immer ergangen ist!«
Alles wollte er wissen, was sich in der Zeit seiner Abwesenheit ereignet hatte, und ob die Herrschaften wieder im Schloss wären.
»Ja, freilich«, die Stimme des jungen Erlenhofers bekam einen frohen Klang. »Ich sag dir, beinahe hätt ich sie nimmer erkannt, das Trauderl, so fein und schön ist sie geworden. Wie ein Blümerl schaut sie aus, das grad aus der Knospe gesprungen ist.«
Klaus konnte sich nicht genug ereifern, um das Prinzesslein zu preisen. Dann fragte er den Freund lachend:
»Wie steht's denn bei dir? Hat die Lieb dein Herz schon gekitzelt? Gewiss hast dir schon ein Fräulein 'rausgesucht, das zu dir passt.«
Der andere schwieg eine Weile. Dann erwiderte er: »Nein, mein Leben hat mich genug gedrückt. Ich habe arbeiten, schuften und lernen müssen von früh bis in die späte Nacht. Für solche Gedanken hatte ich wirklich keine Zeit übrig. Aber bei dir, scheint es mir, hat es schon eingeschlagen!«
»Und gezündet hat es auch gleich. Wie das brennt, Hansl, das kann ich dir gar nicht sagen. Seit heut Abend ist mir grad, als wär die Welt nochmal so schön. Dir will ich's sagen, du bist der Einzige, der es wissen darf.« Ganz nahe legte Klaus den Mund an des Freundes Ohr und flüsterte ihm das Geheimnis seines jungen Glückes zu.
Hans Westermann blieb erstaunt stehen. Ein tiefer Ernst lag auf seinen Zügen, und fest schlossen sich seine Hände um die braunen Fäuste des Freundes. Mit einem Blick der Sorge sah er in das schöne Gesicht, das durch die eigenartige Mischung von Männlichkeit und unverdorbener Jugend so gewinnend wirkte. Er fühlte, dass er in dieser Stunde dem Freunde vieles hätte sagen müssen. Er brachte aber kein Wort heraus. Erst im Weitergehen stieß er hervor:
»Ich dank dir für dein Vertrauen. Aber so gern ich dir Glück wünschen möchte, ich kann es doch nicht.«
»Ach, geh, grad von dir hätt ich mir so ein Wort erhofft.«
»Du weißt, Klaus, ich wünsche dir nur Gutes. Und wenn du in deiner Liebe glücklich wirst, so kann es dir niemand mehr gönnen als ich.«
Unterdessen hatten sie das Dorf erreicht. Aus dem Gasthaus klang Lärm und Stampfen.
Bald standen die Freunde im hellerleuchteten Flur und stiegen die schmale Wendeltreppe zum Tanzboden empor. Am Geländer lehnten schäkernde Mädchen mit ihren Burschen. Stumm nickend erwiderte Klaus den grüßenden Zuruf einiger Burschen.
Da klang ihm ein Gelächter entgegen. Klaus hob den Kopf. Mit keiner Wimper zuckte er. Ruhig schritt er am Schweiger Dori, dem Sohn des Bürgermeisters, vorbei, der es ihm noch nicht vergessen hatte, dass Klaus ihn bei der letzten Tanzmusik nach einem Wortwechsel unsanft vor die Tür gesetzt hatte. Dori suchte nämlich bei jeder Gelegenheit Streit. Als Sohn des Bürgermeisters glaubte er, sich alles erlauben zu dürfen. Bei Klaus aber war er an die unrichtige Adresse gekommen.
Die beiden Freunde traten in den Saal. Dichte Staubwolken hüllten die Tanzenden ein. Gelangweilt sah Klaus in das Gewirr.
Da stutzte er. Er hatte seine Stiefmutter erspäht, die sich im Arm eines ihm fremden Mannes, der die Uniform eines Grenzjägers trug, nach den Klängen eines Ländlers wiegte.
Klaus warf einen Blick in das Gesicht des Fremden. Ein herbes, interessantes Gesicht mit aufgezwirbeltem Schnurrbart sah ihm entgegen. Man hätte es schön nennen können, wenn nicht die Augen einen Ausdruck gehabt hätten, der zu sagen schien: »Alles, was ich sehe, möchte ich besitzen.«
Der Tanz war zu Ende, und die Paare nahmen ihre Plätze ein. Jetzt erst hatte man die Freunde bemerkt. Von allen Seiten erklangen Grußworte. Und am großen Bauerntisch hinter der Schenke hoben sich die Arme mit den Krügen. Beide konnten nicht anders, sie mussten den Bauern Bescheid trinken. Die Sitte forderte es. Viele Augen wandten sich zu dem Bauerntisch, und die Gesichter der mit Töchtern gesegneten Väter begannen zu glänzen, als sich Klaus zu ihnen setzte. Auch dem Doktorhansl waren sie alle freundlich zugetan.
Ausgestoßen, von jedermann übersehen und verachtet, stand in der hintersten Saalecke neben dem Fenster das Enkelkind der Wurzelmarie. Niemand kümmerte sich um sie, keiner holte sie zum Tanz. Und Regina hätte doch so gern auch getanzt, mit anderen gescherzt und gelacht. Für ihr Leben gern hätte sie ein Mieder mit silbernem Geschnür und blinkenden Münzen ihr eigen genannt. Aber die Großmutter wollte davon nichts wissen und pflegte auf alle Bitten zu sagen: »Dei Mutter wollt auch immer schön sein. Den letzten Pfennig hab ich ihr angehängt, bis das Unglück fertig war. Wär sie so blieben, wie sie gewesen ist, wärst du auch nicht auf der Welt.«
Vielleicht wär es besser!, dachte das Mädel in dieser Minute. Was hatte sie nur den Menschen getan, dass man sie verachtete? Es tat ihr doch so bitterlich weh. Wie ein weidwundes Reh kauerte sie im Fensterwinkel und sah traurig auf die lachenden Menschen, die sie nicht beachteten. Oder doch?
Eine Weile schon starrten die Augen Hans Westermanns in ihr Gesicht. Wie in einem Buch schien er darin zu lesen. Und als wieder zum Tanz angetreten wurde und das arme Mädchen noch immer verlassen im Winkel stand, wandte er sich an Klaus: »Wer ist das Mädchen dort drüben?«
Durch das Gewühl der Tanzenden kamen die beiden Freunde heran und blieben vor ihr stehen. Groß und treuherzig sah Regerl dem jungen Erlenhofer in die Augen. Klaus wollte sie ansprechen, als dicht hinter ihm ein widerliches Lachen ertönte.
Den Kopf nach dem Lacher wendend, sah er, dass es kein anderer als der Schweiger Dori war. Herausfordernd stand er hinter Klaus und fragte zynisch, auf Regerl deutend: »Holst dir vielleicht die da zum Tanz?«
»Geht's dich vielleicht was an, Schweigerbub?«
Unwillkürlich wich dieser vor dem drohenden Blick einen Schritt zurück. Klaus aber hatte sich schon wieder in der Gewalt und sagte ruhig: »Für dich wär die Schand auch nicht zu groß, wenn du einmal mit ihr tanzen tätst!«
»Ah na, a bissl muss man sich sein Respekt schon bewahrn«, höhnte Dori. »Für mich schickt sich das nicht.«
Klaus entgegnete nichts darauf. Man war bereits auf sie aufmerksam geworden. Neugierige umstanden die Gruppe. Da trat Klaus zu Regerl, zog ihr die Hände von den nassen Augen und sagte: »Komm! Wenn alle sich mit dir schämen, ich tanz mit dir.«
Das war das Signal für den Schweiger Dori und seine Kumpane. Wie auf Kommando brachen sie in ein schallendes Gelächter aus.
Klaus achtete gar nicht darauf, sondern schritt ruhig mit dem Mädchen zur Musik und reichte ein Geldstück hinauf. Das gab unter den Dörflern ein Staunen und Verwundern. Viele schüttelten missbilligend den Kopf, manche aber fanden sein Tun verständlich, am meisten wohl Hans Westermann.
Klaus schlang die Arme um Regerl, und so leicht wie eine Feder ließ sich das Mädchen beim Klang eines Walzers von ihm führen. Rings an den Wänden stand Paar an Paar. Klaus war einer der besten Tänzer des Tales; es war immer ein Genuss, ihn tanzen zu sehen.
Das glühende Gesicht des Mädchens leuchtete vor Freude, doch um den Mund zuckte es verräterisch, als sie Klaus nach dem Tanz die Hand reichte. »Vergelt's dir Gott, Klaus. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll!«
»Für was denn?«, wehrte Klaus ab. »Wär's ich net gewesen, wär's halt ein anderer. Gelt, Hans, du hättest auch mit ihr getanzt?«
»Ich komm jetzt dran«, erwiderte dieser.
Regerl schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nimmer länger da im Wege sein. Aber dir, Klaus, danke ich nochmals von Herzen. Du bist der Erste, der sich um mich armes verlassenes Waiserl kümmert hat. Vielleicht kann ich dir's einmal vergelten.«
Ehe noch Klaus etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen aus dem Tanzsaal.
Im gleichen Augenblick stürmte die Erlenhoferin mit einem entrüsteten »Da hört sich doch alles auf!« davon, unter der Tür noch einen verächtlichen Blick auf den Stiefsohn werfend.
Die Musik begann wieder zu spielen, und die beiden Freunde nahmen Platz.
»Schade, dass das Mädchen fort ist«, meinte Hans bedauernd. »Ich hätte gern mit ihr getanzt. Erzähle mir doch, warum keiner der Burschen sie zum Tanz führt. Ich beobachtete sie schon seit längerer Zeit.«
Klaus zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Die Menschen sind manchmal schwer zu begreifen. Vielleicht, weil die Wurzelmarie ihre Großmutter ist.«
Im selben Moment nahm der Dori an ihrem Tisch Platz. Mit einem höhnischen »Ich stör doch net?« schob er sich um die Kante herum und rückte den Hut schief aufs Ohr.
Die Freunde nahmen von seiner Zudringlichkeit keine Notiz, bis Dori mit lauter Stimme zu singen begann:
»Die Alte ist narrisch,
die Junge net g'scheit.
Am Erlenhofer-Buam
hat's scheint's doch a Freud!«
Gelächter ringsum. Es war unverkennbar, wem das Spottlied gelten sollte. Das Lachen verstärkte sich, als Dori weitersang:
»Die junge Hex und ihr Bua,
die passen zusamm.
Mein Segen dazua —«
Da schlug Klaus mit der Faust auf den Tisch, dass es dröhnte. »Noch ein Wort, und du fliegst!«
Man vernahm ein spöttisches Lachen, das von Doris Freunden kam.
»Öha, tu dich ein bissl halten!« Kreischend klang die Stimme Doris über den Tisch. »Meinst, weil du mit der noblen Sippschaft vom Schloss so gut stehst, muss sich unsereins alles gefallen lassen?«
Klaus zuckte zusammen, die Adern an seiner Schläfe schwollen an.
Die Umstehenden lachten. Nur einer nicht — der Dori. Dieser griff verstohlen nach der Hosentasche und lockerte das Messer in der Scheide.
Klaus schleuderte seinen Hut zur Seite und sprang mit einem erstickten Schrei auf Dori los, der fluchend dem Angreifer den linken Arm entgegenstemmte, während in seiner Rechten das Messer blitzte. Schon aber hatte Klaus die Hand, die das Messer hielt, erhascht, packte dann den Burschen und schmetterte ihn zu Boden, dass er liegenblieb und das Messer in den Saal hineinflog.
»So, stechen willst?«, keuchte er und packte seinen Gegner erneut. »Wart, ich zeig dir, wo der Schreiner das Loch gemacht hat!«
Mit einem Ruck hob er ihn in die Höhe, sprang mit seiner Last zur Tür, die Treppen hinunter und hinaus ins Freie.
Dori schlug mit Händen und Füßen um sich, kratzte und biss. Aber dieser zähen, von Wut und Zorn entfesselten Kraft gegenüber gab es kein Entrinnen. Mit eisernem Griff hob Klaus den Burschen über seinen Kopf und schleuderte ihn über den Gartenzaun, dass er auf die Straße plumpste, sich dort überschlug und über Steine und Staub in den Straßengraben kollerte.
Stöhnend erhob sich Dori. »Wart nur, du Hundling! Das brock ich dir noch ein!«
Unter dem Gelächter der auf die Straße geeilten Gäste verschwand er hinter den Haselnussstauden.
Doris Kumpane wollten nun über Klaus herfallen, aber die zwei Knechte vom Erlenhof, Hans und noch einige Burschen von Bürg bearbeiteten sie so mit den Fäusten, dass auch diese es vorzogen, den Weg über die Wiese zu nehmen.
Klaus stand tief atmend eine Weile da und wischte mit dem Joppenärmel den Schweiß vom Gesicht. Es ekelte ihn vor den letzten Minuten. Nein, so weit hätte es nicht kommen dürfen! Was sollte Traudi von ihm denken!
Langsam schritt er wieder dem Saal zu, um seinen Hut zu holen. Hans kam ihm mit diesem entgegen. »Komm, Klaus, ich will dich heimbegleiten.«
Stumm schritten sie eine Weile nebeneinander.
»Nimm dich vor dem Dori in Acht, Klaus!«
»Meinst, dass er nicht genug hat?«
»Der Bursche ist heimtückisch und feig. Bestimmt sinnt er schon jetzt auf Rache.«
Klaus tat, als ob er dies nicht allzu ernst nähme. Dabei aber spähten seine Augen scharf in das Dunkel, denn er kannte den Dori nur zu gut.
Die Freunde schritten rasch aus. Dabei überholten sie ein zärtlich umschlungenes Paar, das bei ihrem Näherkommen von der Straße wegging und im Gebüsch stehenblieb. Die kräftige Mannsgestalt hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Oberknecht vom Erlenhof. Klaus ärgerte sich. Warum ging ihm der Friedl aus dem Weg? Der anständige und arbeitsame Bursche konnte doch keinen Liebeshandel haben, dessen er sich zu schämen brauchte. —
Sie hatten den Hof erreicht. »Bleibst bei mir über Nacht, Hans?«, fragte Klaus.
»Wenn es keine Umstände macht und deiner Mutter recht ist, gern.«
»Komm nur!« Mit diesen Worten schob er ihn zur Haustür. Da stutzte er plötzlich. Unter der Tür stand die Erlenhoferin und noch einer, der sich kaum bewegte.
»No, no, aus dem Weg könnt man doch gehn, mein ich«, sagte Klaus gereizt.
»Du wirst vorbeikönnen, du Raufbold«, entgegnete die Bäuerin.
Klaus schob den Freund in den Flur, ohne eine Antwort zu geben. Auf der Treppe drehte er sich um. »Der Hans schlaft heute bei uns in der guten Kammer. Du hast doch nix dagegen?«
»Das geht nicht gut, ich hab dem Herrn da schon die Kammer versprochen.«
»Wem?«
»No — dem Grenzjäger halt.«
»So —«, lachte Klaus belustigt auf. »Der Herr Grenzjäger ist das? Den legst halt die Nacht derweil in Taubenschlag hinauf.«
»Du —«, entfuhr es zornig der Bäuerin.
Klaus aber schob den Freund die Stiege empor und öffnete die Kammertür.
Hans war es sehr unangenehm, dass er die Ursache zu einer Missstimmung zwischen Mutter und Sohn war.
Oben in der Kammer sagte Klaus nachdenklich: »Ich weiß nicht, der Mensch kommt mir so bekannt vor. Den hab ich schon einmal gesehen und kann mich nicht erinnern —«
»Du meinst den Grenzjäger?«
»Ja, der muss erst in die Gegend gekommen sein. Aber ich mein, ich kenn ihn von früher her.«
»Wenn es dir zur Beruhigung dient, will ich im Laufe der nächsten Tage über ihn Erkundigungen einziehen.«
»Ja, tu's, Hansl«, sagte Klaus und drückte dem Freunde mit einem »Gute Nacht« die Hand.
Lange noch lag Klaus wach in seinem Bett und grübelte nach, wer der Grenzjäger sein könnte.
Leichte Nebel lagen noch über der Wiese, als Klaus mit dem zweiten Knecht zum Futtermähen hinausging.
Weit ausholend ließ Klaus die Sense durch das tauperlende Gras pfeifen. Nach einer Weile wandte er sich an den Knecht: »Du, Michl, wo geht denn der Friedl immer hin?«
»Ob er an Schatz hat, meinst?«
Klaus lachte: »Wie du gleich alles kapierst, Michl! Was hat er denn für eine, dass er gar so heimlich tut?«
Ein Grinsen ging dem Knecht übers Gesicht. »Ein bildsauberes Weiberleut, sag ich dir. Das wär mein Geschmack auch. Aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Klaus begann zu raten. »Is vom Lehnerhof eine? Net? Oder dem Leitner sei Sali?«
Zu allen Fragen schüttelte Michl den Kopf.
»Herrgott«, schrie Klaus, »du weißt es doch, lass dir nicht jedes Wort 'rausbetteln!«
Verlegen kratzte sich der Knecht hinterm Ohr. »Ich weiß schon lang. Aber man sagt so was halt nicht gern. Ich hab's dem Friedl versprochen. Hast denn selber wirklich noch nix gemerkt?«
Klaus begriff nicht gleich, aber dann begann es in ihm aufzudämmern. »Du meinst doch nicht unsere Vevi?« Der Knecht nickte.
»Eine ungute Geschicht das! Wenn es der Pfarrer erfährt, muss eins fort vom Hof. Und grad jetzt vor der Heuernte und vorm Almauftrieb, wo ich eins so notwendig brauch wie das andere!«
»Der Friedl will am Sonntag kündigen.«
»Du bist nicht gescheit. Wo nehm ich jetzt gleich so einen guten Knecht her?«
»Ein Knecht ist noch leichter zu kriegen als eine Magd«, warf Michl ein.
Grimmig ließ Klaus die Sense durchs Gras sausen. »Ich dank dir schön für dein Rat, Michl. Aber auf so einen Knecht, wie man sie jetzt von der Vermittlung bekommt, verzieht ich lieber. Die sollen mit ihrem Achtstundentag bleiben, wo sie sind. Der Bauer muss von früh bis spät dranhängen, wenn er durchkommen will.«
Michl nickte zustimmend und mähte weiter.
Die Nebel hoben sich und zerteilten sich im frischen Morgenwind.
Das schmächtige Bürschlein, das den Wagen mit den Pferden gebracht hatte, fragte beim Aufladen: »Du, Klaus, wann geht's jetzt wieder auf d'Alm?«
»Nächste Woch, Franzl.« Klaus fuhr dem Buben über den Scheitel. »Freilich darfst wieder mit.«
An dem zwölfjährigen Franzl hing Klaus ganz besonders. Er hatte ihn im Winter, als er einmal in München war, frierend und hungernd gefunden. Kurz entschlossen hatte er ihn ins nächste Gasthaus mitgenommen und ihm ein warmes Essen bringen lassen.
Hier erfuhr er die ganze Leidensgeschichte vom Franzl, der eines von neun Kindern einer armen Familie war. Die Mutter kränklich, der Vater arbeitslos und zudem ein Säufer, der das Unterstützungsgeld restlos in Branntwein umsetzte. Die arme Frau hatte ihm unter Tränen gedankt, als er ihr versprach, den Jungen mit sich zu nehmen und sie ferner etwas unterstützen zu wollen. Und so kam Franzl auf den Erlenhof und dankte seinem Wohltäter durch Gehorsam und Fleiß.
Langsam schaukelte der Wagen auf der holprigen Straße dahin. Franzl und Michl saßen auf dem Gras, während Klaus in Gedanken versunken einen kleinen Umweg durch den Wald machte. Als das Gefährt verschwunden war, blieb er stehen und sah trunkenen Auges hinüber zum Fürstenschlössl, das sich wie weißer Marmor aus dem dunklen Grün der alten Fichten hob.
Ein Lächeln huschte über seine Züge, und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchflutete ihn.
Horch — war da nicht eben ein Fuß an einen Stein gestoßen? Klaus fuhr herum und spähte angestrengt zum Steig empor. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand.
Dort oben bewegte sich eine graue Gestalt, gegen die er unbewusst ein sonderbares Misstrauen hegte. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er sich vor diesem Manne hüten solle. Es war der Oberjäger Lukas Brenner vom Grenzjägerposten II, der mit raschen Schritten bergauf stieg. —
Als Klaus den Hof betrat, wurde er unfreiwilliger Zeuge eines Gespräches, das ziemlich laut aus dem geöffneten Fenster drang.
»Keine Stunde bleibt der Friedl noch auf dem Hof, da hilft alles nichts!«
»Der Friedl kann doch bleiben, Bäuerin, lieber geh ich. Die Almarbeit kann ich im Sommer doch nimmer recht machen.«
»Ich brauch dich aber. Wo soll ich so geschwind eine Sennerin herkriegen?«
»Gib uns halt ein Zimmer und lass uns heiraten. Wir wollen dir's gewiss vergelten, Bäuerin.«
»Nein, hab ich gesagt, ich will net. Erstens hab ich kein Zimmer, und zweitens hat man nur Ärger und Schererei. Es bleibt dabei: Der Friedl geht, und du bleibst und gehst auf die Alm. Wir kommen sonst ins Gerede.«
»Der Klaus wird aber den Friedl net fortlassen.«
»Der Klaus, hm — der — Am Erlenhof geschieht, was ich haben will. Ein anderer hat nichts zu reden, auch der Klaus nicht.«
»Meinst?«
Die beiden Frauen fuhren herum und sahen nach der Tür, wo hochaufgerichtet Klaus stand. Seine Augen blitzten. »Meinst, dass ich gar nichts dreinzureden hätte?« Den Hut in die Ecke werfend, trat er an seine Stiefmutter heran, die er fast um Kopfeslänge überragte und die sich unter seinem zwingenden Blick zur Seite wandte. »Der Friedl bleibt und die Vevi auch.«
»Wir kommen ins Leutgered!«
»Lass doch die Leut Leut sein. Wenn die beiden heiraten, wird's gleich aus sein mit dem Geschwätz —« Klaus wandte sich an die Magd, die verlegen an ihrer Schürze zupfend dastand. »Wie denkst du über meinen Vorschlag, Vevi?«
»Es wär ja unser Herzenswunsch. Aber am Erlenhof ist halt kein Platz für uns.«
»Wer sagt denn das? Die große Kammer steht leer.«
»Die brauch ich für mich!«, warf die Erlenhoferin giftig ein.
Klaus tat, als hätte er das nicht gehört. »Da könnt ihr es euch gemütlich einrichten. Du bleibst den Sommer herunten von der Alm, Vevi. Ich werd mich gleich heute um eine andere Sennerin umschauen.«
»Wenn du so viel Geld hast? Ich net!«, entgegnete die Erlenhoferin wütend.
Höhnend kam es von Klaus' Lippen: »Musst halt net so oft in die Stadt fahrn, dann kommt's leicht wieder 'rein!«
Das saß. Wie eine Natter fuhr die Bäuerin auf. »Geht's dich was an? Muss ich mich von dir bevormunden lassen? Noch bin ich Herrin am Hof und kann tun und lassen, was mir passt. Verstanden?«
Klaus blieb ruhig. Noch konnte er nicht reden, erst musste er Gewissheit haben. »Du hast recht, mich geht's nichts an. Aber du sollst anderen auch ein bissl Freud gönnen. Was macht's aus, wenn man die zwei Leutl, die sich seit Jahren wahrlich rechtschaffen geplagt haben, eine Existenz gründen lässt? Unser Schaden ist es bestimmt net.«
Das sah schließlich die Erlenhoferin auch ein. Aber zu einem ihrer geheimen Pläne passte die Geschichte nicht. Sie kannte jedoch Klaus gut genug, um zu wissen, dass er sich von einem einmal gefassten Vorsatz nicht mehr abbringen ließ. Sie musste sich also wohl oder übel in das Unvermeidliche fügen.
Klaus verließ die Stube, um Friedl aufzusuchen. Der kam gerade im Feiertagsstaat aus dem Stall, wo er sich von dem Gesinde verabschiedet hatte.
Als Klaus ihm seinen Vorschlag unterbreitete, verzog er keine Miene, schlug aber kräftig in die dargebotene Hand ein. »Das vergess ich dir nicht, Klaus! Wir zwei, die Vevi und ich, werden es dir durch Fleiß und Treue lohnen.«
»Schon gut«, wehrte Klaus ab. »Ich weiß ja, was wir an euch zwei haben. Und heut am Feierabend gehst gleich zum Pfarrer, dass er euch am Sonntag zum ersten Mal verkünden kann. Ich wünsch euch alles Gute.«
Aufmunternd schlug er dem Knecht auf die Schulter und trat zum Brunnen, um sich zu waschen. —
Nach dem Frühstück, als den Leuten die Arbeit für den Tag angewiesen war, nahm Klaus seine Feiertagsjoppe und den grünen Hut. Im selben Augenblick trat die Erlenhoferin, eine frische Schürze umbindend, aus der Kammer. Verwundert blickte sie auf ihren Sohn. »Wo willst denn hin?«
»Zur Wurzelmarie 'nauf.«
»Was willst denn von der alten Hex?«
»Von der Alten will ich nichts«, lachte Klaus. »Aber ihr Enkelkind will ich fragen, ob sie im Sommer unsere Alm net übernehmen möchte.« »Bist du narrisch? Willst vielleicht das ganze Vieh verhexen lassen?«
»Red doch kein so dummes Zeug! Die Wurzelmarie hat noch niemand was Unrechtes getan. Das ist bloß euer dummer Aberglaube. Ich muss sie überhaupt erst fragen, ob sie ihr Enkelkind in Dienst gibt. Die Alte hat einen harten Kopf und hat wie jeder andere Mensch auch ihren Stolz.«
»Bettelstolz! Aber so viel ich gestern gemerkt hab, liegt dir die Sippschaft schon am Herzen. Eine noble Freundschaft, das muss ich sagen. Wir werden also doch ins Leutgered kommen.«
»Die Leut? Die kümmern mich nicht. Vor mir selber hab ich mein Tun zu verantworten.« Dicht trat er vor die Stiefmutter hin. »Schau lieber drauf, dass du nicht zu arg ins Gerede kommst!« Er griff nach seinem Hut und stürmte ins Freie.
Die Bäuerin ballte die Fäuste. Oh, wie sie den Stiefsohn hasste! In ihren Augen glomm ein düsteres Feuer. Einen heißen Kampf würde das geben, ein Ringen, aus dem sie als Siegerin hervorgehen musste! Noch war sie jung und schön. Sie glaubte ein Recht auf Leben und Glück zu haben. War sie einmal Mitte der Vierzig, dann war es zu spät. Entschlossen und schnell musste sie deshalb handeln, noch ehe Klaus die Macht hatte, ihr hindernd in den Weg zu treten. —
Als Klaus die Straße betrat, sah er Felix, den Diener vom Schloss, auf den Hof zukommen. Klaus winkte ihm. »Hast du was für mich, Felix?«
Der wohlgerundete, gemütliche Mann stand jetzt schnaufend vor ihm und zog aus dem Ärmelaufschlag der Livree ein Brieflein. »Eine schöne Empfehlung von Seiner Durchlaucht. Ich soll dir diesen Brief übergeben.«
Klaus' Finger zitterten, als er den Umschlag aufriss. Er überflog die wenigen Zeilen, mit denen der Fürst ihn sowie seinen Freund Hans Westermann für den Abend zu einer Musikstunde auf das Schloss einlud. Erfreut reichte er dem Diener, der schon fast zwanzig Jahre seinen Dienst versah, die Hand. »Sag dem Fürsten, dass ich zur festgesetzten Stunde auf dem Schloss bin.«
»Du, Klaus, einen Gruß soll ich noch bestellen vom Prinzesschen!«
»So? Hat sie das gesagt?«
»Ja, und noch was. Du sollst heut gegen sechs Uhr auf sie warten; du weißt schon, wo.«
Klaus spürte, wie ihm das Blut verräterisch in die Wangen stieg. Wie konnte Traudi so unvorsichtig sein und das Geheimnis preisgeben! Wenn Felix plauderte, pfiffen es bald alle Spatzen von den Dächern, dass er, der Bauernjunge, sich zu abendlicher Stunde mit der Prinzessin ein Stelldichein gab.
Felix schien den Gedankengang des anderen erraten zu haben. Beruhigend legte er Klaus die Hand auf die Schulter. »Musst dich net vor mir genieren, Klaus. Ich plausch nix aus. Und wenn du mal was zum Ausrichte hast, kannst mir's ruhig anvertrauen und dich auf mich verlassen.«
Klaus atmete auf. »Ich dank dir, Felix. Das vergess ich dir net in meinem ganzen Leben.« — Dann schritt Klaus rüstig dem Walde zu. Wie schön war der Wald mit seinen ockergelben Blütenknospen und den blutrot sprossenden Fruchtzapfen der Tannen!
Gierig sog Klaus den herben Duft in seine Lungen, und es wurde immer leichter und freier in seiner Seele. Das Rauschen des Kupferbaches klang wie das frische Lied des Lebens. Und dazu tönte leise eine zärtliche Weise vom Schloss herüber. Die Prinzessin saß am Klavier.
Klaus nahm den Hut ab und lauschte in stiller Andacht dem Liedchen, das wie das Lachen der heiteren Jugend in den Mailüften schwebte.
»Wie schön!«, flüsterte er, merkte aber zugleich, dass eine gewisse Schwermut ihn zu erfassen drohte. In seine Brust war plötzlich Unruhe eingezogen. Dunkles Bangen bedrückte ihn, dass es ihm fast den Atem nahm. Mit Gewalt versuchte er die quälenden Gedanken abzuschütteln, aber immer wieder stürmten sie auf ihn ein. Als ein Reh über den Weg sprang, das ihn ablenkte, kam allmählich wieder Ruhe über ihn. —
Als er um die Mittagsstunde die Hütte der Wurzelmarie erreichte, saß die Alte Kräuter sortierend vor der Tür.
Misstrauisch, fast feindselig musterte sie den Ankömmling. »Ein seltener B'such. Ich hab's mir schon denkt, dass du einmal 'raufkommst.«
Klaus nahm ihr gegenüber auf einem Baumstumpf Platz. »Weit wohnst heroben, Marie.«
»Brauchst ja net 'raufzugehen, wenn's dir zu weit ist.«
»Ich wollt einmal mit dir reden.«
»Bin gar nicht neugierig drauf.«
»Ist dir denn gar nicht darum«, meinte Klaus ärgerlich, dass du mit den Leuten zusammenkommst?«
Höhnisch sah ihn die Alte an. »Mir ist gar net um die Leute, mir ist es lieber, wenn ich niemand seh. Bloß auf einen wart ich. Eher kann ich net sterben, bis ich mit dem abgerechnet hab!« Ihre Stimme zitterte. Immer wart ich noch drauf, dass ich dem ein Wörtl sag.« Den Kopf zurücklegend krampfte sie die dürren Fäuste an die Brust. »Ich könnte es 'nausschreien in die Welt, aber ein Riegel liegt mir vor der Seele. Ich muss noch zuschauen; mir scheint, es wird etwas wieder lebendig, was vor zwanzig Jahren einmal gewesen ist. Ich will meine Augen offenhalten und will das Büberl vor dem Feuer hüten, mit dem es spielt.«
»Wurzlin, was du da sagst, versteh ich nicht.« Unwillig war Klaus aufgestanden und vor die Greisin hingetreten. »Ich kam, um vernünftig mit dir zu reden.« Und ohne Umschweife erzählte er ihr den Grund seiner Anwesenheit.
Die Alte sah lange schweigend zum Himmel empor. Dann sagte sie fest: »Die Regina bleibt bei mir!«
»Warum? Ist dir der Lohn zu wenig? Ich leg noch ein paar Euro drauf.« Klaus bot seine ganze Überredungskunst auf. Allmählich schien ihr Widerstand nachzulassen.
Da tauchte Regina zwischen den Stämmen auf. Schwer beladen war sie mit Kräutern und Wurzeln. Als sie Klaus erblickte, erschrak sie so, dass ihr der Korb aus den Händen glitt. Glühende Röte übergoss ihr Gesicht, die sich noch merklich vertiefte, als Klaus ihr die Hand reichen wollte.
»Gelt, da schaust, dass ich so unverhofft vor dir stehe«, lachte er.
Regerl stammelte einige hilflose Worte und bückte sich, um die herausgefallenen Wurzeln wieder in den Korb zu legen. Klaus half ihr, wobei sich ihre Hände mehrmals berührten. Und plötzlich hielt er sie fest und fragte: »Sag einmal, Regerl, möchtest mir net einmal einen Gefallen tun?«
Das Mädchen guckte scheu zu ihm auf. »Alles, was du willst, tu ich für dich!«
»Na, also, ich hab's ja gewusst. Schau, Regerl, ich bräuchte eine Sennerin für unsere Alm. Sag, willst mir die Sorg abnehmen?«
Freudig schlug Regerl die Hände zusammen. »Wenn du wüsstest, wie gern ich das tu! Das heißt, wenn es die Großmutter erlaubt.«
»Ich hab schon geredet mit ihr. So halb und halb hat sie zugesagt.«
»Zum Essen gehen!«, erklang die Stimme der alten Marie von der Hütte her.
Es war ein sehr kärgliches Mahl, das die beiden Frauen verzehrten. Klaus, der keinen sonderlichen Hunger hatte, bot ihnen sein mitgebrachtes Rauchfleisch an.
Die Wurzelmarie nahm es zwar nicht an, aber sie wurde gegen Klaus versöhnlicher gestimmt, so dass sie dann nichts mehr dagegen hatte, als Klaus mit Regerl aufbrach, um die Alm einer Besichtigung zu unterziehen. —
Während des einstündigen Weges erfuhr Klaus die Lebensgeschichte des Mädchens und ihrer Großmutter. Ein über das andere Mal schüttelte er den Kopf. So hatte er sich die Armut nicht vorgestellt. Einsam sein war ihm schon bekannt, aber Armut nicht. Regerl hatte beides bis zur Neige auskosten müssen. Hass und Misstrauen hatten ihr die Menschen von Kindheit an entgegengebracht. Keinen Funken Liebe hatte das elternlose Kind erlebt, nie hatte sie den Kuss der Mutter, nie die gütige Hand des Vaters auf ihrem Haupt gefühlt. Beide ruhten schon längst in der kühlen Erde.
Und fragte sie dann die Großmutter: »Wer war meine Mutter?«, so ward ihr zur Antwort: »Eine, die in schwacher Stunde ihr Herz nicht festgehalten hat.« Galt die Frage dem Vater, so brach die Alte in ein wunderliches Lachen aus. »Eher beiß ich mir die Zunge ab, als dass ich da ein Wörtl sag. Du bist eben ein Kind, das eine närrische Nacht ins Leben gesetzt hat.« —
Schweigend gingen die beiden jungen Menschen dann nebeneinander her. Vergebens grübelte Klaus nach, wo er ein Gesicht gesehen hatte, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem seiner Begleiterin zeigte. Sein Gedächtnis ließ ihn diesmal im Stich.
Der Wald lichtete sich, und eine weite blühende Fläche tauchte vor ihnen auf. Klaus deutete auf die Hütte, deren Fensterläden geschlossen waren. »So, nun wären wir am Ziel.«
Prüfend musterte er den Zaun, der einer Ausbesserung bedurfte. Tief aufatmend betrachtete er dann die Umgebung. Den Blick ins Tal versperrte der Wald. Im Hintergrund hoben sich die Berge vom klaren Blau des Himmels ab. Die ganze Alm war eine abgeschlossene stille Welt für sich.
»Gefällt's dir da heroben? Gelt, da ist es schön?«, fragte Klaus das Mädchen, während er mit dem Fuß das Gatter aufstieß und ihr voran auf die Hütte zuschritt.
»Schön ist es, das muss ich sagen«, lispelte Regerl.
Er sah ihr in die Augen, die groß und fragend in die seinen blickten. Rasch wandte er sich ab, um die Tür aufzusperren.
Die Sennhütte des Erlenhofes war eine der schönsten »Kaser« weit und breit und nach ländlichen Begriffen schon fast ein Haus zu nennen. Ein breiter, mit Holzbalken ausgeschlagener Gang führte durch die ganze Hütte. Links lag der große Stall, der sein eigenes Tor ins Freie hatte. Zur Rechten gelangte man in die geräumige Sennstube, an die sich gegen die Felswand zu zwei kleine Kammern schlossen. Eine davon diente zur Aufbewahrung der Almerträge, während die andere als Schlafraum für die Sennerin eingerichtet war.
Klaus öffnete jede Tür und gab dem Mädchen Anweisung, wie man sich's am besten und bequemsten einrichten konnte.
Im vergangenen Herbst war frühzeitig reichlich Schnee gefallen, so dass sich der Almabtrieb fast fluchtartig vollzog. Kein Wunder, dass in der Hütte noch alles in Unordnung war. Ungewaschene Milchtücher hingen über der Banklehne, Reiser und Späne lagen auf den Dielen, und auf dem großen Herd, der mit seinem kupfernen Kessel beinahe die ganze Wand einnahm, lag zwischen halbverkohlten Holzscheiten noch die Asche des letzten Feuers.
Während Klaus unmutig umherschaute, hatte Regerl schon eine Schürze vom Haken genommen und umgebunden.
»Gar so pressiert's doch nicht«, sagte er. »Sollst dich zuerst ein bissl ausrasten. Die Hütte können auch die Knecht saubermachen. Die müssen sowieso 'rauf und den Zaun ausbessern.«
»Ich kann's halt net leiden, wenn alles umeinanderliegt. Man könnt glauben, der wilde Jäger hätte da gehaust«, sagte Regerl und stieß die Fensterläden auf, so dass das Sonnenlicht hereinkam.
Klaus war hinter sie getreten und fuhr ihr leise über das blonde volle Haar. »Du bist halt die Richtige, wie sie der Herrgott nicht alle Tag auf die Welt schickt«, sagte er weich. »Ich kann die Leut nicht verstehn, dass sie dir und deiner Großmutter so viel Unrecht tun.«
Dankbar sah sie zu ihm auf. »Du bist der Erste, der ein bissl lieb und gut ist zu mir. Unser Herrgott wird's dir vergelten.« Und ehe Klaus sie hindern konnte, hatte sie seine Rechte erfasst und an ihre zuckenden Lippen gedrückt.
Erschrocken zog er die Hand zurück. »Aber Mädl, was tust denn?« Wortlos trat sie von ihm fort und lehnte verängstigt ihre Stirn an die Fensterscheibe.
Ein drückendes Schweigen war eingetreten, das Klaus endlich unterbrach: »Ich hab noch einen Weg zu machen. Schließ die Hütte wieder ab und leg den Schlüssel in die Dachrinne, wenn du fertig bist.« An der Tür sagte er noch: »Nächste Woch ist der Auftrieb. Ich lass dir noch Bescheid sagen. Behüt dich Gott.«
Kaum war er draußen, als Regerl in ein herzzerbrechendes Weinen ausbrach. »Ich hab ihn doch so viel lieb!«, schluchzte sie. »Herrgott im Himmel, hilf mir, dass ich über die unselige Leidenschaft wegkomm!«
Bebend am ganzen Körper trat sie zur Tür und sah ihm nach, bis seine Gestalt zwischen den Bäumen verschwand.
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