Wo die Heimatglocken läuten - Hans Ernst - E-Book

Wo die Heimatglocken läuten E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Vinzenz wird einmal den Niederhof am Fuße des Kofels erben. Mit der hübschen Brigitte verbindet ihn seit Kindertagen eine herzliche Freundschaft. Als Brigitte sich mit Florian vom Oberhof verlobt, fühlt sich Vinzenz zurückgesetzt und missgönnt ihm das Mädchen. Er heckt einen Plan aus, und es gelingt ihm, Florian zum Wildern zu verleiten. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

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LESEPROBE ZU

© 2018 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titel der Originalausgabe: „Wo die Heimatglocken läuten“

Titelfoto: Löbl-Schreyer, Bad Tölz

Umschlaggestaltung: Ulrich Eichberger, Innsbruck

ISBN: 978-3-475-54803-1

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Worum es geht „Wo die Heimatglocken läuten“

Sie sind unzertrennliche Jugendfreunde, der Oberhofer-Florian, der Vinzenz vom Niederhof und die Gittli, die Älteste vom Anderlschuster. Das wird anders, als die Gittli und der Florian Verlobung halten. Vinzenz schmiedet Pläne, wie er dem Nebenbuhler schaden könnte. Es gelingt ihm, Florian zum Wildern zu verleiten. Eines Tages wird der junge Jagdherr erschossen. Und es ist Florian, den man mit der Büchse in der Hand vor dem Toten überrascht. Hat er auch den verhängnisvollen Schuss abgegeben?

1

Als auf dem Oberhof ein Stammhalter zur Welt kam, da ließ der Bauer in seiner Freude das Glöcklein läuten im Turm der Kapelle, und das Gesinde bekam Feiertag, obwohl es in dieser Vorfrühlingszeit viel Arbeit gab auf den Feldern. Sie wußten nicht, die Knechte und Mägde, weshalb man das Glöcklein läutete; aber da kam die Küchenmagd mit flatternden Röcken über die Wiesen gerannt: Der Bauer lasse sagen, ein Stammhalter sei da, und alles solle Feierabend machen für heut!

Also schulterten die Mägde Rechen und Gabeln, die Knechte spannten die Pferde aus, und alle kehrten sie zurück zum Oberhof. Dort stand der Bauer unter der Türe; ein schlank gewachsener Dreißiger, mit scharf geschnittenem Gesicht. Um seinen Mund war ein Lächeln, und in seinen grauen Augen leuchtete die Freude, die ihm widerfahren.

»Einen Buben haben wir«, sagte er. »Und das wir jetzt gefeiert!«

Und dann ging er ihnen voran in die schöne, getäfelte Stube. Dort stand Bier in großen Krügen auf dem Tisch, Brot und Rauchfleisch, wie das so der Brauch ist auf den Höfen. Der Oberhofer nahm einen der gewichtigen Krüge, hob ihn in die Höhe und sagte feierlich:

»Ihr wißt, daß ich Balthasar heiße; aber der Bub soll einen anderen Namen kriegen; er soll Florian getauft werden nach seinem Großvater.«

Sie tranken, jeder und jede stieß mit dem Bauern an, alle freuten sich, und es wurde sehr laut und lustig, bis der Bauer den Finger an den Mund legte und zur Ruhe mahnte; denn oben, über der Stube, da lag die Bäuerin mit dem Neugeborenen.

Ja, dort oben lag die Bäuerin Barbara Feichtner, blaß und still. Ihr großer dunkler Blick ging zu dem kleinen Fenster hinaus, schweifte über die blaue Kette der Berge hin, die sich schier zum Greifen nahe hinter dem Hofe über dem Wald erhoben, und neigte sich dann wieder lächelnd zu dem winzig kleinen Menschlein nieder, das neben ihr lag und um dessentwillen es drunten in der Stube so lustig zuging.

Sie verstand die Freude des Bauern. Fast drei Jahre hatte sie die stumme Frage in seinen Augen gelesen, und als im Vorjahr drüben auf dem Niederhof der kleine Vinzenz zur Welt kam, da ist ihr Mann, der Balthasar Feichtner, den ganzen Tag wie unsinnig in den Wäldern und in den Bergen umhergerannt. Was ihn forttrieb, das war nichts anderes als die grenzenlose Ungeduld eines Mannes, der endlich auch seinen Hoferben haben wollte. Dreihundert Jahre waren die Feichtner schon seßhaft auf dem Oberhof; die Kette der Ahnen durfte mit ihm nicht abreißen.

Nun hatte also Gott sein Rufen und das Bitten seines Weibes erhört. Ein Sohn war ihnen geboren worden an diesem schönen, hellen Vorfrühlingstag. Florian Feichtner wird er heißen, der kleine, winzig kleine Kerl, der droben in der Kammer im Arm seiner Mutter ruht.

Es mag wohl so sein, daß mit dem ersten Schrei eines Kindes die Mütter schon ihre Gedanken in die Zukunft richten; was wird aus diesem Kinde einmal werden? Und sie sehen in ihrer mütterlichen Liebe die Kinder als schöne und gute Menschen durch das Leben schreiten, und die Angst, daß ein Kind fehlschlagen könnte, ist in der Stunde der Mutterwerdung weit, weit fortgerückt.

Die Oberhofbäuerin wußte bereits den Weg ihres Sohnes klar vorgezeichnet. Er würde einmal diesen Hof übernehmen und Bauer sein. Daran ist nichts mehr zu ändern, selbst wenn der kleine Florian noch Brüder oder Schwestern bekommen sollte. Er ist der Erstgeborene und wird dereinst Oberhofbauer werden.

Natürlich haben sie auch drüben auf dem Niederhof das Glöcklein läuten hören. Und da dies ganz außer der Zeit geschah, so konnte nur angenommen werden, daß irgend jemand aus dem Oberhof vom Leben in den Tod abgerufen worden war. Es mag wohl ein Knecht oder eine unkundige Magd den Glockenstrang gezogen haben, denn es ist sonst üblich, daß man dreimal absetzt, wenn das Zügenglöcklein geläutet wird. So aber hat es am hellen Nachmittag eine ganze Weile ohne Unterlaß beinahe freudig erregt gebimmelt, und die Niederhoferin hatte ihren Mann gefragt:

»Was mag denn da drüben bloß passiert sein?«

Die beiden Höfe standen sich gegenüber wie zwei trutzige Burgen, waren nur durch einen tiefen Graben getrennt. Hätte eine Brücke über den Taleinschnitt geführt, so wäre man in wenigen Minuten von einem Hof zum anderen gegangen. So aber brauchte man schon eine gute halbe Stunde, um zueinander zu gelangen.

Bei klarem Wetter konnte man gut erkennen, was auf beiden Höfen geschafft wurde. Und so sah denn der Niederhofer auch die Leute des Nachbarn aus den Feldern heimkehren, er sah den Oberhofer unter der Türe stehen und spürte beinahe aus der Weite die freudige Erregtheit des anderen.

Man hielt zwar keine große Freundschaft miteinander, sondern nur die nachbarlichen Beziehungen, wie sie üblich sind zwischen zwei Bauern, die so hoch oben in der Einsamkeit wohnten. Nur die zwei zählten als Nachbarn; der Anderlschuster, der wohl auch zu dem Weiler Schattenhofen gehörte, konnte schon nicht mehr als rechter Nachbar bezeichnet werden. Sein Häuschen lag noch ein wenig höher; ja, es klebte fast am Berg dort wie ein Schwalbennest. Er hielt nur ein paar Kühe, der Anderlschuster, weil die paar mageren Äcker nicht mehr abwarfen. Den weiteren Unterhalt für seine Kinder verdiente er als Taglöhner im Staatswald.

Nachdem nun die Niederhoferin ein paarmal unter die Haustüre getreten war und den lustigen Trubel von drüben vernahm, drängte sie ihren Mann:

»Mußt doch einmal ’nüberschauen, Hartl, was los ist beim Nachbarn. Möcht es schier gern wissen.«

Also machte sich der Niederhofer auf den Weg. Er war ein kleiner, untersetzter Mann, den man für einen Vierziger halten konnte, obwohl er nur um ein paar Jahre älter als der Oberhofer war. In seiner Jugend hatte er flott gelebt und sehr gern über den Durst getrunken. Eigentlich litt es das nicht, denn auf dem Niederhof mit seinen kargen Böden war noch keiner zu Wohlstand gekommen, und darum wuchs in jedem Hoferben auf dem Niederhof immer auch ein Stück Mißgunst groß auf den Oberhofer, der es mit seinen besseren Böden leichter hatte.

»Aufm Oberhof kälbert scho der Besenstiel«, spotteten die vom Niederhof.

»Möcht nur wissen, was sie heut wieder zu feiern haben«, grantelte der Niederhofer, als er jetzt auf den Oberhof zuging. Da trat auch schon der Feichtner aus der Türe und ging dem Niederhofer lachend entgegen.

»Komm nur ’rein, Nachbar, kannst gleich mitfeiern!«

Der andere wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Hab ’s Glöckerl läuten hören und –«

»Und ist doch niemand gestorben«, lachte der Oberhofer. »Nein, im Gegenteil, geworden ist jemand. Einen Buben hab ich, Nachbar! Einen Buben!«

»Einen Buben? Soso, einen Buben. Sonst läut man halt untertags bloß, wenn’s brennt oder wenn eins stirbt.«

»Aber wenn eins zur Welt kommt, so ist das net weniger wichtig, als wenn eins davongeht. Drum hab ich läuten lassen. Nimmt’s niemand übel, wenn’s in der Freud geschieht. Jedenfalls freut es mich, daß du nachschaust. Komm nur!«

Der Oberhofer nahm den anderen unterm Arm und zog ihn mit ins Haus. Und der Niederhofer feierte mit den anderen und zeigte sich als handfester Trinker. Als die Sonne im Sinken war, stimmte er das erste Lied an, und der Oberhofer fiel mit ein in der Seligkeit seiner Vaterfreude. Bis dem Oberhofer wieder einfiel, daß droben sein Weib, seine blonde Barbara, lag. Er ging hinauf in die Kammer, setzte sich an den Bettrand, nahm die Hand seines Weibes und schaute immerzu auf das kleine Menschlein, das die winzigen Fäustchen unterm Kinn geballt hatte, als hätte es jetzt schon, in den ersten paar Stunden seines Daseins, irgendeinen Zorn.

Indessen ging draußen die Sonne unter. Sie warf ihr Licht noch einmal für diesen Tag verschwenderisch und in leuchtender Schönheit in das Tal hinunter, daß das Kreuz auf dem Zwiebelturm zu Roggenhausen flimmerte und gleißte, als sei es aus purem Gold. Auch an den Fenstern der Bauernhöfe brach sich das Feuer der untergehenden Sonne für eine kurze Zeit, bis von den Moorgründen feine Nebel, gleich wehenden Schleiern, herüberkamen und das letzte Licht in Dämmerung verwandelten.

Blieb also das Abendrot noch eine Weile an den höher gelegenen Höfen haften, umschimmerte das Schloßgut Eggenheim und verabschiedete sich zum Schluß vom Weiler Schattenhofen, zuletzt von dem kleinen Haus des Anderlschuster.

Der Bergwald dahinter wurde schwärzer, und die Berge selbst nahmen wunderliche Formen an. Wie eine erstarrte Riesenwoge sahen sie sich an. Aus ihr reckte die Koffelspitze ihren Riesenfinger drohend in den Nachthimmel hinein.

Im Pfarrdorf Roggenhausen läutete man den Abendsegen. Da wandte sich die Wöchnerin in der stillen Kammer an den Mann an ihrer Seite: »Meinst nicht auch, Balthasar, es wäre an der Zeit, in der Stube Ruhe zu schaffen; es war der Freud genug heute.«

»Wirst es mir doch nicht übelgenommen haben, Barbara?«

Sie schüttelte leise lächelnd den blonden Kopf.

Da erhob sich der Oberhofer; er ging zuerst zur Kapelle hinüber, läutete den Avegruß und gab dann denen in der Stube zu wissen, daß die Lustbarkeit für heute ein Ende haben müsse.

Der Niederhofer leerte vorher noch seinen Krug und erhob sich dann schwerfällig:

»Und wann wird er getauft, der Prinz?«

»Am Samstag, Niederhofer! Tu mir die Ehr und komm zum Taufschmaus. Und gib Obacht, daß du net stolperst in der Finstern.«

Diese Warnung war nicht unnötig, denn der Niederhofer stand auf recht unsicheren Füßen und plumpste gleich unweit des Hofes zu Boden. Als er endlich den Hang glücklich hinuntergekommen war, blieb er auf der kleinen Brücke stehen, die über den wildschäumenden Bergbach führt, der die Grenze zwischen den beiden Höfen bildete. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Brückengeländer, schob den Hut weit aus der Stirn und blinzelte hinauf zum Oberhof.

»Schau nur den Narren an«, brummte er vor sich hin. »Muß er da extra läuten, der Protz. Als mein Vinzenz auf die Welt kommen ist, da hat’s keine Glocken braucht und keinen Feiertag. Der is einfach kommen und war da. Aber er natürlich, der Protzenbauer droben, der muß läuten wegen dem Bamsen!«

Der Niederhofer begann mit den Armen zu rudern und noch heftiger zu schimpfen auf die ganze Welt, besonders aber auf den Oberhofer droben. Es gewitterte bei ihm noch nach, als er zu Hause vor der Niederhoferin stand. Die aber beschwichtigte ihn und zeigte auf den Weidenkorb, in dem der kleine Vinzenz schlummerte.

»Wie du dich nur so giften kannst«, meinte sie. »Wir haben doch auch einen Buben, und unser Vinzenz ist uns so lieb wie dem Oberhofer sein Florian.«

Da hat sie nun recht, dachte der Niederhofer und es fiel ihm ein: Vor mehr als dreißig Jahren lag er selbst in diesem Weidenkörbchen, und als er es verließ, kam droben im Oberhof der Balthasar, der heutige Bauer, zur Welt. Sie gingen zusammen den weiten Weg zur Schule, verlebten eine frohe Jugend und heirateten fast zu gleicher Zeit. Und nun hat jeder seinen Stammhalter, und das Leben auf dem Weiler Schattenhofen konnte weitergehen in der gleichen Geschlechterfolge wie bisher.

Am nächsten Morgen kam die Baronin von Eggenheim auf den Oberhof gefahren. Sie hieß den Chauffeur warten und ging mit einem Paket ins Haus, um die Wöchnerin zu besuchen. Diese Aufmerksamkeit glaubte sie dem Oberhofer schuldig zu sein. Oft genug war er ihr, die früh verwitwet war, mit Rat und Tat beigestanden. Er beriet sie bei ihren Holzverkäufen, fuhr für sie einmal fort, um Pferde zu kaufen, und war auch sonst immer zur Hand, wenn sie ihn rufen ließ.

Die Baronin wurde von der Küchenmagd über die Stiege hinaufgeführt zur Bäuerin, setzte sich auf den Bettrand und packte die mitgebrachten Sachen aus. Dann nahm sie der jungen Mutter das Kind aus dem Arm und trug es selbst eine Weile durch die sonnenhelle Kammer. Sie würde wohl auch die Taufpatin machen, meinte sie. Das wäre nichts weiter als eine kleine Erkenntlichkeit für die vielen Dienstleistungen des Oberhofer.

Die Oberhoferin hielt fast bänglich den Atem an.

»So viel Ehr hätt ich mir gar net zu hoffen getraut«, sagte sie. »Aber für den Florian haben wir schon jemanden. Die Schwester von meinem Mann.«

Die Baronin legte ihr lächelnd das Kind zurück und meinte:

»Nun ja, dann vielleicht das nächste Mal. Er wird ja nicht der einzige bleiben, der Kleine da.«

»Ich hoff es net«, antwortete die Bäuerin.

Die Baronin setzte sich wieder auf den Bettrand.

»Sehen Sie, so habe ich auch gedacht. Aber dann kam das Unglück mit meinem Mann. So habe ich bloß den einzigen. Und ich wollte so gerne Kinder haben, damit Leben sei im Schloß und helles Lachen. Ich glaube, ein einziges Kind kann all die Liebe gar nicht ertragen, die in uns Müttern wohnt.«

So plauderten die beiden Frauen zusammen, als wären sie seit Jahren schon in Freundschaft miteinander verbunden. Zum Abschied strich die Baronin mit ihrer schlanken weißen Hand noch über das flaumige Kindergesicht.

»Na, dann mach dich nur gut, junger Mann. Wenn du groß bist, darfst du ’rüberkommen ins Schloß zu mir. Da gibt es viel zu sehen für dich.«

Als die Baronin wegfuhr, stand drüben auf dem Niederhof der Bauer unter der Türe.

»Natürlich, die Frau Baronin«, höhnte er, »gibt sich gleich selber die Ehr. Jetzt geht grad noch ab, daß die Böller krachen wie bei den hochgeborenen Prinzen.«

Zwei Tage später war er aber doch wieder drüben beim Taufschmaus, und da dieses Fest zugleich den Abschluß der Feierlichkeiten zur Menschwerdung des Florian Feichtner bildete, glitten die nächsten Tage wieder hinein in den üblichen Kreislauf bäuerlichen Geschehens. Aber später sagte der Niederhofer oft, so einen Mordsrausch habe er lange nicht mehr gehabt wie bei der Taufe des Florian Feichtner.

2

Die Wochen und Monate hatten es eilig, über die Berge zu ziehen. Des Oberhofer Florian war nun schon fast drei Jahre alt. Es hatten sich kein Bruder und keine Schwester mehr zu ihm gesellt, und der Arzt, bei dem die Oberhoferin einmal in der Stadt gewesen war, hatte gesagt, daß wohl kein weiterer Kindersegen zu erwarten sei. Beim Niederhofer jedoch hatte der Storch nochmals einen Buben gebracht. Aber das Kind war kränklich und konnte noch kaum ein Wort lallen, obwohl es schon zwei Jahre alt war.

Der Florian jedoch – hei, der wuchs heran, daß man seine helle Freude haben konnte. Wie ein junger Baum wuchs er heran, gesund und stark und fröhlich. Sein Haar war blond wie das seiner Mutter. Er hatte ihre schönen dunkelblauen Augen und ihren weichen Mund. Vom Vater indes schien er andere Eigenschaften geerbt zu haben. Die Haltung des Kopfes zum Beispiel und vielleicht auch den kleinen Zorngraben, der sich auf seiner jungen Stirn schon zeigte, wenn ihm etwas wider den Willen ging. Die Mutter bedrängte es zuweilen, wenn sie den kleinen Kerl so heftig aufbrausen sah; hier meldete sich ein väterliches Erbteil an. Wer würde Sieger bleiben, der gutmütige oder der zornmütige Florian?

Wieder war ein Sommer gnadenvoll über Berg und Tal geglitten, und der Herbst berührte alle Dinge schon mit sanfter Gebärde, da machte der kleine Florian seinen ersten Ausflug in die weite Welt, die für ihn gleich hinter dem Niederhof zu Ende sein mußte.

Er stahl sich aus dem Hof und sah sich um. Niemand war um die Wege. Über die Dächer her hörte man das Gegacker der Hühner, sonst war kein Laut in dem schönen Sonnentag. Und so begann er vorsichtig den Hang hinunterzuklettern. Wie nur die Mutter ihn davor immer warnen konnte! Es ging ja wunderbar, wenn man sich auf den Hosenboden setzte und hinunterrutschte.

Überraschend schnell war Florian bei dem Bergbach drunten angekommen. Da wunderte er sich, wie schnell das Wasser an ihm vorbeischoß.

Noch niemals war er so allein gewesen, der kleine Florian. Er kam sich ungeheuer wichtig vor in diesem Alleinsein. Er hockte auf einem Baumstumpf, schnitzelte an einem Holzstückchen herum, und die Wassergischt benetzte seine nackten Füße. Wenn er aufblickte, sah er den Koffel gegen einen Himmel von wunderbarer Bläue ragen. Im Osten, weit über dem Dorfe draußen, hingen große lockere Wolken, so flockig und weiß wie frisch gewaschene Lämmer.

Auf einmal war der Florian nicht mehr allein. Nein, es stand plötzlich ein schwarzhaariges Bürschchen vor ihm, das ebenfalls eine kurze Hose trug und barfüßig war. Er mußte da vorne über die kleine Brücke gekommen sein. Gleichviel, er stand mit einem Male vor Florian, und die beiden Knaben sahen sich musternd an. Der Angekommene war der Niederhofer-Vinzenz. Obwohl er um ein Jahr älter war als der Florian, war er doch auch nicht größer als dieser. Er setzte sich gleich neben den Florian auf den Baumstumpf, und wie sie da nun so nebeneinander saßen, wirkten sie gegeneinander wie Licht und Schatten. Der Oberhoferbub war hell; wie eine Flamme leuchtete sein Haar, das sauber gestrählt und gebürstet war. Der Niederhoferbub war dunkel und hatte etwas sonderbar Verschlagenes in seinen jungen Augen.

»Bist du von da droben?« fragte der Vinzenz nach einer Weile und deutete mit dem Daumen zum Oberhof hinauf.

Florian nickte und neigte sich wieder über seine Schnitzelarbeit. Der andere sah ihm eine Weile zu und sagte dann plötzlich:

»Gib mir dös Taschenmesserl. Möcht auch schnitzeln.«

Florian zog die Hand zurück.

»Du tät’st mir’s höchstens nimmer geben.«

Vinzenz wollte nun das Messer erst recht und mit Gewalt haben. Aber kaum hatte er den Oberhofbuben etwas unsanft gepackt, biß der zu und sprang dem Vinzenz wieselflink an den Hals, zerrte ihn an seinen schwarzen Locken, bis der andere alles Wehren aufgab. Dann schnitzelte er wieder ruhig weiter, als sei nichts gewesen.

Mit dieser Begebenheit hatte sich der junge Oberhofer für alle Zeit Respekt verschafft. Niemals wieder in den langen Jahren ihrer Jugend wagte der Vinzenz, dem Nachbarbuben irgendwie nahezutreten. Florians Wille stand vom ersten Tage ihrer Bekanntschaft über dem anderen.

Als Vinzenz endlich wieder Atem geschöpft hatte und seinen aufgerissenen Hemdkragen ordnete, tat dem Florian seine Heftigkeit von vorhin schon wieder leid:

»Magst dös Messerl haben jetzt? Da – ich schenk dir’s.«

Der andere war baff, welch große Macht dem kleinen blonden Kerl da schon gegeben war, daß er ohne weiteres ein Messer verschenken konnte. Er nahm es zögernd, weil er noch glaubte, der andere wolle ihn narren. Und dann schob er es schnell in seinen Hosensack. Er glaubte nun, dem anderen auch irgendeine Gefälligkeit tun zu müssen.

»Magst was sehn?« fragte er geheimnisvoll und deutete mit der Hand in die Richtung des Bergwaldes. »Da droben weiß ich einen Fuchsbau. Kommst mit?«

Warum sollte der Florian da nicht mitkommen? Es dünkte ihn sowieso, daß er noch sehr wenig gesehen hatte von der Welt. So stapfte er hinter dem anderen drein, tat es ihm gleich, indem er ebenfalls die Hände in die Hosentaschen schob und die Schritte etwas länger nahm. Sie gingen den Bach entlang, immer aufwärts, wohl eine gute halbe Stunde, und sahen dann die zwei Höfe unter sich liegen. Einmal blieb Vinzenz stehen und fragte:

»Wie heißt du denn?«

»Florian heiß ich.«

»Ich heiß Vinzenz und bin vom Niederhof. Kommst einmal zu mir?«

»Da komm ich gleich morgen«, versicherte Florian und fragte dann: »Sind wir schon gleich beim Fuchsbau?«

»Allweil noch ein Stückl müssen wir gehn.«

Auf ihrer Wanderung sahen sie ein kleines, gebeugtes Weiblein auf einer Bergwiese Futter mähen, die Anderlschusterin. Der Vinzenz kannte sie, weil er schon öfters hierhergekommen war. Er kannte auch das kleine Mädchen, das am Rande der Wiese die letzten Blumen des Jahres sammelte.

Dem Florian jedoch war dieses Mädchen fremd, und er wunderte sich ein wenig, daß es Mädchen geben konnte, die so kastanienbraune Locken haben können wie die kleine Brigitte der Anderlschusterin. Die beiden Buben traten herzu, und weil dem Mädchen der blonde Bub vom Oberhof ebenfalls fremd war, sah sie ihn verwundert an, und der Florian tat ebenso. Es wurde ein Spiel der Augen, das damit endete, daß Brigitte dem Florian das kleine Händchen mit den Blumen hinstreckte und fragte:

»Magst meine Blümerln?«

Florian nahm sie, und da sagte der Vinzenz grob:

»Laß ihr doch dös Glump! Was willst denn mit dem Kraut? Komm!«

Er nahm den Kameraden barsch am Arm und zog ihn mit fort.

»Warum warst denn so grob mit dem Dirndl?« wollte Florian wissen.

»Ah, was willst denn mit der? Haben doch bloß ein kleines Häusl gegen unsere Höf. Mein Vater sagt allweil, es ist bloß ein Schneckenhäusl, und der Anderlschuster ist ein Fretter.«

Florian blieb stehen und schaute zurück. Da saß das kleine Mädchen noch. Ihre Mutter mähte Gras für die zwei Kühe, und bei jedem Hieb, den sie tat, hörte man einen Stein aufklingen, so steinig war hier oben der Grund.

»Die ist noch viel zu jung für uns«, begann der Vinzenz wieder. »Brigitt heißt sie. Die kann noch net einmal Teifi sagen. Kannst du Teifi sagen?«

Florian sagte es tapfer nach, denn er wollte nicht dümmer sein als der Vinzenz.

Plötzlich war nichts mehr um die beiden Knaben als die hohen, uralten Tannen und das große Schweigen des Waldes.

»Jetzt kommen wir bald hin«, sagte Vinzenz, und Florian war froh, denn es schien nicht recht geheuer in dieser großen Stille. Aber dann war er doch etwas enttäuscht von dem Fuchsbau, denn er sah nichts als ein paar Löcher, aber keinen jungen Fuchs, auf den er sich doch so sehr gefreut hatte.

Irgendwo klang der gedämpfte Tritt eines Wildes, ein paar Äste knackten, und auch sonst kamen verschiedene Geräusche aus der Tiefe des Waldes. Die Bergwasser rauschten, und ein heimlicher Wind harfte durch die Äste der Bäume. Der Florian war das erstemal in dem großen Wald, und jeder Laut, den er hörte, steigerte sich bei ihm zu todnaher Wichtigkeit. Er zupfte den anderen am Ärmel. Dem war auch nicht mehr ganz geheuer, und beide atmeten auf, als sie wieder draußen auf der Wiese standen. Vor dem Auseinandergehen forderte Florian sein Messer zurück, aber Vinzenz wollte es um alles in der Welt nicht mehr hergeben.

»Sagst halt, du hast es verloren«, riet er, worauf ihn der Florian ganz verwundert ansah.

»Ich kann doch net lügen«, erwiderte er unsicher. »Wenn man lügen dürft, dann hätt mir’s meine Mutter net verboten«, sagte er.

Vinzenz lachte darauf ganz hell und übermütig.

»Die meine hat mir’s auch verboten, aber soll ich vielleicht sagen, daß ich die Eier austrunken hab im Nest, wenn sie mich darum fragt? Krieget höchstens Prügel dann.«

»Eier saufst du aus?« fragte Florian und konnte sich’s nicht vorstellen, wie das gehen könnte. Aber der andere klärte ihn auch hierin auf.

»Brauchst bloß mit einem Nagel ein Loch ’neinstechen und zutzeln.«

»Was du schon alles weißt«, staunte Florian.

»Oh, ich weiß noch viel mehr«, prahlte Vinzenz und warf sich in Positur. Wahrscheinlich hätte der kleine Florian in dieser Stunde noch viel mehr erfahren, was bis dahin seinem Kinderherzen noch fremd war. Da aber die Nebelfrauen ihre Tücher auszubreiten begannen und sie niedersenkten über Berg und Tal und damit Ruhe und Ablauf eines Tages kündeten, drängte es Florian heimzukommen. So lief er denn schnell den Hang hinunter und war herzlich froh, als er den väterlichen Hof erreichte.

Das Gesinde vom Oberhof saß schon beim Abendessen, der Bauer unter ihnen, als Florian die Stube betrat. Da man den Kleinen schon vor einer Stunde vermißt hatte, fragte der Vater streng:

»Weißt du net, wann es Zeit ist, heimzukommen?«

Florian erschrak ein wenig vor der Härte dieser Frage. Er wendete sich schnell um und trippelte zur Mutter in die Küche. Oh, die Mutter war doch viel besser. Sie schalt nicht, sondern nahm den kleinen Kerl auf den Schoß und sagte:

»Wo hat sich denn mein Bub heut umeinandergetrieben?«

Florian überhaspelte sich beinahe, so wichtig hatte er es, der Mutter von allem zu erzählen. Von dem neugewonnen Kameraden erzählte er und von dem kleinen Mädchen, das so kastanienbraune Locken hatte und so lustige Sommersprossen um das Näschen, und das noch so dumm war, daß es noch gar nicht »Teifi« sagen konnte.

»Dös is auch gar net nötig«, erklärte ihm die Mutter. Und der Bauer, der inzwischen eingetreten war, fragte: »Kannst es denn du schon sagen?«

Florian schmetterte es heraus, worauf der Vater dann wissen wollte, wo er das gelernt habe.

»Ei, vom Vinzenz doch«, erzählte Florian wichtig. »Oh, der kann noch viel mehr. Der kann Eier aussaufen, und lügen darf man auch, sagt er.«

Der Oberhofer und seine Frau wechselten einen raschen Blick. Der Bauer nahm dann den Buben vom Schoß der Mutter und legte ihm schwer die Hand auf seinen blonden Scheitel.

»Paß auf, Florian, was ich dir jetzt sag. Ich hab nix dagegen und die Mutter ganz gewiß auch nix, wenn du einen Kamaraden hast, mit dem du spielen kannst. Aber merk dir, solche Sachen, wie du grad erzählt hast, brauchst net lernen von ihm. Und wenn dir die Mutter sagt, lügen darf man net, dann hat es schon seine Richtigkeit. Laß dich ja net erwischen. Und jetzt was anderes. Du hast vorhin gesagt, der Anderlschuster ist bloß ein Fretter. Ich will das net wieder hören von dir. Jeder kann net einen großen Bauernhof haben. Als Mensch ist er deshalb genausoviel wert. Und der Anderlschuster ist ein fleißiger und braver Mensch, der sich redlich abschindet für seine Leut. So – dös merk dir jetzt recht gut.«

Noch niemals hatte der Vater so ernsthaft mit dem Knaben gesprochen. Florian fühlte trotz seines kindlichen Gemütes die Wichtigkeit dieser Rede, und wenn er auch noch nicht alles erfassen konnte, eines nahm er sich vor, nämlich dem Vinzenz nichts mehr zu glauben, wenigstens nicht mehr alles.

Am nächsten Tag schon trafen sie sich wieder. Das heißt: Vinzenz kam schon am Vormittag auf den Oberhof, lugte frech hinter jede Türe, bis er den Florian in der Küche traf. Die Oberhoferin schenkte dem Nachbarsbuben einen Apfel und mahnte:

»Lauft nur net gar zu weit vom Hof weg.«

Florian hatte schon sein Ziel. Er steckte sich noch einen Apfel in die Hosentasche, einen recht schönen, rotbackigen, und dann schritt er dem Vinzenz voran zum Hof hinaus.

»Wo rennst denn eigentlich hin?« fragte Vinzenz.

Florian fand es überflüssig, darauf eine Antwort zu geben. War er nicht gestern auch dem Vinzenz gefolgt, ohne zu fragen? Also hielt er direkt auf das Häusl des Anderlschuster zu.

»Möchst gar zu dem rothaarigen Fratzen aufi?« wollte Vinzenz wissen.

Da drehte sich der Florian um. Seine Augen blitzten.

»Kannst ja Zurückbleiben, ich brauch dich net.«

Vinzenz folgte ihm aber trotzdem, weil er wissen wollte, was der Florian in dem Fretterhäusl nun wollte.

Nun, Florian wollte weiter nichts, als das kleine Mädchen Wiedersehen. Aber da war zunächst nur die Mutter des Mädchens, die auf der Bergwiese droben das kümmerliche Gras mähte. Von dem Mädchen war nichts zu sehen. So pirschten sich die beiden Buben an das Haus heran.

Das Haus des Anderlschuster war klein und halb in den Berg gebaut. Es gab keine Stiege im Innern dieses Hauses. Man kam zu den oberen Räumen von außen. Eine kleine Treppe mit wackeligem Geländer führte an der Rückseite hinauf in das obere Stockwerk, das allerdings nur aus drei kleinen Kammern bestand.

Sehr still war es um das Haus. Ein mächtiger Kater saß auf der Türschwelle und schob den Buckel auf, sowie die beiden sich näherten.

Florian ging auf die Haustüre zu. Der Kater knurrte, nahm aber dann doch Reißaus. Gleich linker Hand war eine Türe, durch die trat Florian ein, und der Vinzenz folgte ihm wieder. Sie standen in der Küche, und da saß neben dem Ofen die kleine Brigitte, hielt in der einen Hand eine Puppe, die nur mehr einen Arm hatte, und mit der anderen Hand bewegte sie die Wiege hin und her, in der noch ein ganz kleines Menschenkind lag und friedlich schlummerte.

Brigitte, kurzweg Gittli genannt, schaute halb verwundert, halb ängstlich auf die beiden Knaben, denn es war noch nicht vorgekommen, daß jemand so unverhofft in die Küche eingedrungen wäre, wenn sie so ganz allein daheim war.

»Die Mutter tut Gras mähn«, sagte sie, als möchte sie damit ihr Alleinsein entschuldigen.

»Dös macht nix, wir brauchen deine Mutter net«, erklärte Florian. »Ruck ein bissel und laß mich zu dir hersitzen.«

Vinzenz hatte indessen schon den alten Stutzen entdeckt, der zwischen ein paar Grandlpfeifen an der Wand hing. Schon stand er auf der Bank, holte ihn herunter und begann ihn zu untersuchen. Florian aber hatte bisher noch nichts getan, als in die Augen des Mädchens geschaut, und dann zerrte er plötzlich seinen Apfel heraus und legte ihn dem Mädchen in den Schoß.

Vinzenz hängte das Gewehr wieder an den Platz und kam nun auch zur Ofenbank, setzte sich an die andere Seite des Mädchens, und als sie einmal wegschaute, griff er blitzschnell nach dem Apfel. Doch da hatte ihn Florian schon im Genick gefaßt.

»Gibst ihn her!«

Vinzenz spürte den Stärkeren und gab nach.

Jetzt brachte das Gittli einen alten Baukasten zum Vorschein. Florian türmte die Steine zu einem großen Berg aufeinander.

»Das ist der Koffel«, prahlte er, »und wenn ich einmal groß bin, steig ich hinauf.«

Vinzenz lachte laut heraus, denn er hatte schon gehört, daß auf den Koffel noch keiner hinaufgekommen war. Das Gittli aber schaute mit glänzenden Augen auf den Florian und fragte begeistert:

»Darf ich mit?«

So bildete sich im Lauf der Zeit aus den dreien ein Kleeblatt, das unzertrennlich schien. Man tummelte sich auf dem Oberhof, tummelte sich auf dem Niederhof, kam auch zuweilen zum Anderlschusterhaus. Am schönsten jedoch war es immer im Wald. Immer gab es hier etwas zu ergründen, zu erforschen, worin der Vinzenz wieder Meister war. Er kannte jeden Ruf der Raubvögel, kannte jede Wildspur, und oft folgten sie stundenlang solch einer Spur. Wenn man dann müde war, setzte man sich an ein Plätzchen in der Sonne und machte Zukunftspläne. Gittli hatte dazu allerdings nichts zu sagen. Es war, als gäbe es für sie keine Zukunft, nur immer dieses wunschlose, schöne Kinderland. Und das Gittli wußte wundersame Geschichten zu erzählen von Norggen und Heinzelmännchen, von Königssöhnen und schönen Prinzessinnen. Die Kräutersammlerin Baldauf kehrte oft im Anderlschusterhaus ein, und dieses alte Weiblein war unerschöpflich in solchen Geschichten und Sagen, die sich in dem Köpfchen des Gittli zu purer Wirklichkeit verdichteten.

Der Florian, der ebenso wie das Gittli großen Gefallen an diesen Geschichten fand, hörte immer mit großer Andacht zu, während Vinzenz übermütig lächelnd erklärte: »Das gibt’s ja gar net.«

Einmal jedoch kam wirklich eine bildschöne Norggenfrau den Saumweg durch den Wald geritten. Sie kam auf einem herrlichen Falben geritten und gewahrte die Kinder zuerst gar nicht. Aber dann zog sie das Zaumzeug straff und hielt mit einem Ruck.

Das Gittli hielt bang den Atem an, sie versteckte sich hinter dem Florian und war voller Angst, was nun kommen würde. Für sie gab es keinen Zweifel mehr, daß es eine der Norggenfrauen war, ob nun eine von den guten oder den bösen, das blieb erst abzuwarten.

Die Norggenfrau indessen beugte sich ein wenig vor im Sattel, sah den Florian an und sagte dann:

»Bist du nicht der Oberhofer-Florian?«

Florian stand mit gespreizten Beinen und sah zu der Reiterin auf.

»Ja, der Oberhoferbub bin ich.«

Lächelnd betrachtete ihn die schöne Frau. Dann beugte sie sich noch weiter nieder, strich mit ihrer Hand über seinen blonden Scheitel und über seine Wange.

»Bist ein strammes Bürschlein geworden«, lobte sie. »Grüß mir deinen Vater und deine Mutter recht schön.«

Darauf nickte sie auch dem Gittli freundlich zu, streifte den Vinzenz noch mit einem kurzen Blick und ritt davon.

»Das war eine von den Guten«, flüsterte Gittli.

»Schmarrn!« schrie Vinzenz. »Die Baronin war’s.«

Ja, die Baronin war es. Der Vinzenz war voll Zorn, daß sie ihm nicht über die Wange gestrichen hatte. Immer und immer wieder nur der andere! Alle gaffen sie den an, und alle loben sie den.

Wütend rannte er von dannen und ließ die anderen allein mit dem festen Vorsatz, nicht mehr mit ihnen zu gehen.

Am folgenden Tag jedoch kam er schon wieder. Es war allein eben auch nichts, zumal die Großen ihn auch nicht besonders gern hatten.

Plötzlich aber war das gemeinsame Wandern und Spielen zu Ende. In einer Nacht war heftiger Westwind aufgekommen. Das johlte und sang und fauchte um die einsamen Höfe da droben, es ging mit jähem Sprung vom sanften Moll zum harten Dur, und als es dann leise verbrauste, begann es zu schneien; ganz weich und lind, aber ohne Unterlaß fielen die Flocken aus einem blaugrauen Himmel. Der Schneefall dauerte drei volle Tage und noch eine Nacht. Damit hatte der Winter seinen Einzug gehalten.

Weiße Wellen waren um den Oberhof gewachsen, und im Niederhof drunten war es nicht viel anders. Vom Anderlschusterhaus sah man gleich gar nichts mehr. Nur an dem rauchenden Schornstein erkannte der Florian, daß noch Leben war da drüben in dem kleinen Haus. Aber sosehr er sich sehnte nach seiner kleinen Spielgefährtin, es war gar nicht daran zu denken, nur hundert Schritte vom Hof wegzukommen, denn der Schnee war stellenweise gut mannstief.

Ja, die ganze Welt hatte sich verwandelt. Am meisten die Berge. Beengend klein sah die Bergwelt sich nun an. Uber ihr wölbte sich ein blasser, verschwiegener Himmel, in den der Koffel seine Spitze fest hineinbohrte.

Florian war die ersten Tage ein wenig verdrossen. Es wäre jetzt erst schön geworden, denn eines Tages, als sie drunten im Wasser spielten, kam ein blasser, hochaufgeschossener Knabe zu ihnen, der helle Beinkleider trug und auch sonst ein sehr feiner Knabe war. Er ließ sich jedoch herab und spielte mit ihnen, wußte viel Neues, womit man sich die Zeit vertreiben konnte, und versprach ihnen, daß er sie am nächsten oder an einem der nächsten Tage mit aufs Schloß nehmen würde, dort hätte er ganze Kisten voll Spielzeug.

Es war der Baronin von Eggenheim einziger Sohn Helmut, der auf ein paar Wochen in den Ferien heimgekommen war. Er war in der Stadt in einem Internat und kam nur alle heiligen Zeiten nach Hause.

Nun war aber dieser viele Schnee gefallen, und es wurde vorerst nichts mit dem Besuch auf dem Schloß. Es kamen Tage voll klingenden Frostes und tödlicher Langeweile für den Florian. Wie hatten es die anderen doch viel besser! Das Gittli hatte ein Schwesterlein, der Vinzenz einen Bruder. Und wenn dieser Bruder, wie man hörte, auch ein Narr sein sollte, man konnte sich doch die Zeit ein wenig vertreiben damit. Er jedoch war ganz allein und konnte weiter nichts tun, als täglich wünschen, daß der Winter bald vorübergehen möge.

3

Er dauerte ziemlich lange, dieser Winter, und es war schon fast Ostern, als die drei Schattenhofener Kinder den Weg unter die Füße nahmen zum Schloß Eggenheim.

Nun standen sie bei dem großen, kunstvoll geschmiedeten Tor, das in der Mitte das Wappen des Hauses trug. Es war verschlossen. Vinzenz rüttelte daran. Es gab nicht nach.

»Was tun wir jetzt?« fragte das Gittli. Es war ihr gar nicht mehr recht wohl beim Anblick des großen weißen Hauses, das zwischen den Kastanienbäumen hindurchschimmerte. »Kehren wir wieder um«, verlangte sie.

Florian schüttelte den Kopf.

»Jetzt sind wir schon da. Umkehren tun wir net.«

Im selben Augenblick entdeckte er die Klingel im Gemäuer. Herzhaft drückte er auf den Knopf, und das Gittli glättete aufgeregt ihr Schürzchen, als sie den hellen Klingelton vernahm.

Bei der Freitreppe öffnete sich die breite Doppeltür. Eine schwarze Gestalt erschien und bewegte sich langsam auf dem Parkweg zum Gittertor her.

Es war der Diener Emil, der nun hinter den wuchtigen Gitterstäben stand, in einem feierlichen dunklen Anzug mit vielen blitzenden Knöpfen. Mit hoheitsvoller Miene musterte er die kleine Gesellschaft, machte dann eine eigenartige Schnörkelbewegung mit dem glattfrisierten Kopf und fragte:

»Was wollt ihr?« Ganz rostig klang seine Stimme.

Das Gittli drückte sich hinter den Florian und faßte verstohlen nach seiner Hand. Sie begann sich zu fürchten vor diesem langen schwarzen Menschen.

»Ins Schloß wollen wir«, erklärte Vinzenz kurz.

Der Schwarze betrachtete ihn halb neugierig, halb belustigt:

»Und wem gehört ihr denn, hm?«

»Ich bin vom Oberhofer«, antwortete Florian.

Der Vinzenz sagte nichts. Das Gittli aber machte ein Knickschen und gab ganz artig zu wissen, daß sie dem Anderlschuster gehöre. Florian fügte dann noch hinzu:

»Der Helmut war gestern bei uns und hat gesagt, daß wir heute kommen dürfen.«

Da lächelte der Gestrenge, öffnete das Gittertor und ließ sie ein. Die drei Kinder trippelten hinter ihm her und wunderten sich, daß sich Helmut immer noch nicht sehen ließ.

Sie kamen in die Vorhalle. Dort ließ Emil sie stehen.

Kühl war es in der Halle und so still wie in einer Kirche. In bläuliche Dämmerung war der Raum gehüllt. An den Wänden hingen Bilder in schweren Goldrahmen, die von den beiden Buben neugierig betrachtet wurden. Das Gittli aber steckte den Daumen in den Mund und verharrte ganz ängstlich.

»Wartet hier«, befahl er. »Ich will erst einmal nachfragen, wo euer Gastgeber steckt.«

Leise, kaum hörbar, ging eine Türe. Ein leises Knacksen, und die Halle lag in blendender Helle. Unter einer Türe stand die Baronin und schaute lächelnd auf die kleinen Gäste.

Gittli flüsterte erschrocken: »Das ist die gute Norggenfrau.« Und sie drückte sich wieder schutzsuchend neben Florian.

Die Baronin gab jedem der Kinder die Hand und sagte:

»Euer Gastgeber ist mir ein feiner Kavalier. Lädt euch ein, und er selbst vergißt darauf. Doch horcht –?«

Im selben Moment hörte man draußen Hufgetrappel. Es war Helmut, der mit dem Reitknecht zurückgekommen war. Die Baronin führte die Kinder hinaus. Helmut war bereits aus dem Sattel gesprungen und wischte sich lachend das Haar aus der Stirn.

»Auf halbem Wege ist mir eingefallen, daß ihr heute kommen wollt. Und da sind wir dann gleich umgekehrt.«

Er war nicht mehr der feine blasse Knabe, der sich im Herbst den dreien verschüchtert genaht hatte. Nein, der Winter hat ihn beinahe um einen Kopf wachsen lassen. Seine Wangen waren frisch und rot, und unter den straffen Beinkleidern reckte und streckte sich ein junger Körper in fröhlichem Übermut.

Er ritt einen braunen Ponyhengst, der die höchste Bewunderung der beiden anderen Knaben fand. Florian sagte:

»So einen muß mir mein Vater auch kaufen.«

»Mir der meine auch«, sagte Vinzenz.

Und das Gittli stand daneben mit glückseligem Lächeln. Sie hatte nun alle Furcht verloren und betrachtete die Norggenfrau nicht mehr heimlich und verstohlen, sondern mit großen glücklichen Augen.

»So, nun kümmere dich aber um deine Gäste«, wandte sich die Baronin an ihren Sohn.

Helmut sprang die Treppe hinauf, und die anderen folgten ihm.

Hei, was gab es in diesem großen Haus alles zu sehen! Eine solche Pracht und Herrlichkeit! Alle Stiegen und Böden waren mit schweren Teppichen belegt. An den Wänden hingen mächtige Kronleuchter, und jedes Zimmer war hell und groß und anders eingerichtet.

Helmut führte sie durch alle Räume, selbst hinauf in das Turmgemach, von dem aus man das Land weit überschauen konnte. Er streckte den Arm aus und deutete dorthin, wo der Rauch in der Ferne sich mit dem Himmel vermählte.

»Dort in der weiten Ferne ist die große Stadt«, erklärte er. »Wart ihr schon einmal dort? Nicht? Wenn ihr größer seid, müßt ihr einmal dorthin kommen. Jetzt seid ihr noch zu klein dazu.«

Ja, er läßt sie nun schon den Erwachsenen spüren, und das Gittli vermutet, daß er heute gar nicht mit ihnen spielen will. Das war aber doch nicht so, denn nach einer Weile waren sie alle in dem großen Spielzimmer, das Helmut als ganz allein ihm gehörend bezeichnete, und konnten sich wiederum nicht genug wundern, daß ein einziger Bub eine solche Fülle von Spielsachen haben könnte.

Da war alles, vom Schaukelpferd bis zu einem richtigen Kasperltheater. Das war für Gittli das richtige. Die Buben aber machten sich über die große Kiste her, in der wohl an die fünfhundert Bleisoldaten in Ruhe lagen. Jetzt aber wurden sie zur Schlacht geordnet, und es ging hitzig her in dieser Stunde.

Später brachte dann ein Mädchen in weißem Schürzchen und Häubchen Kaffee und Kuchen, und Helmut bewirtete seine kleinen Gäste in vollendeter Art.

Da kam auch die Baronin und setzte sich zu ihnen.

»Na, schmeckt es euch?« fragte sie und strich dabei dem Gittli über das Haar.

»So was Gutes hab ich noch net ’gessen«, versicherte Gittli.

»Dann iß nur fest, wenn es dir schmeckt. Du kannst dir auch etwas mit nach Hause nehmen. Von wem bist du denn?«

»Vom Anderlschuster.«

»Und du?« wandte sie sich an Vinzenz.

Vinzenz hatte schon das sechste Stück Kuchen und langte, bevor er Antwort gab, noch nach dem siebenten.

»Vom Niederhofer bin ich«, bampfte er heraus.

»Und du, das weiß ich schon, du bist vom Oberhofer«, sagte die Baronin zum Florian. Zu ihren kleinen Gästen gewandt, fuhr sie fort: »Was wollt ihr einmal werden, wenn ihr groß seid?«

Vinzenz war mit der Antwort flink zur Hand:

»Wenn ich groß bin, dann tu ich ackern und krieg dann von meinem Vater mal den Hof.«

»Hm, sehr schön! Und du, Florian?«

Florian besann sich eine Weile. Dann hob er rasch den Kopf. Eine feste Entschlossenheit lag auf seinem jungen Gesicht.

»Ich steig auf den Koffel ’nauf, wenn ich groß bin.«

Die Baronin schaute ihm lächelnd in die Augen. Dann nickte sie:

»Du wärst der erste. Aber es wäre schade um dich. Der Berg läßt keinen zu sich. Du wirst das einsehen, wenn du erst groß bist. – Und du, kleines Mädchen? Was wirst du einmal tun?«

Als hätte Gittli schon längst auf diese Frage gewartet und als gäbe es darauf keine andere Antwort, sagte sie mit kindlicher Entschlossenheit:

»Ich heirat den Florian.«

Der Florian bekam einen roten Kopf, obwohl er noch keinen tieferen Sinn in diesen Worten zu erkennen vermochte. Aber der Vinzenz lächelte so spöttisch, daß den anderen Zorn packte gegen das Gittli, weil sie so ein Geheimnis vor aller Öffentlichkeit preisgab.

Zum Schluß fragte die Baronin auch ihren Sohn, was er einmal zu tun gedenke.

»Ich? Hei, jagen will ich und reiten und das Leben genießen.«

So breiteten diese vier Kinder ihre Wünsche aus vor der erfahrenen Frau. Sie wußte, daß zwischen Wünschen und Wirklichkeit eine Welt von Leid und Enttäuschung gebettet sein kann. Und darum lächelte sie nun über die jungen Menschen um sich herum.

Es dunkelte schon, als Emil mit der Kutsche vorfuhr, um die kleinen Gäste nach Hause zu bringen

4

Es kam die Zeit, da die drei Schattenhofener Kinder der Schule entwuchsen. Es war oft ein weiter Weg gewesen im Winter bei Schnee und Eis, und die zwei Buben mußten das Gittli oftmals ein Stück tragen, wenn es in dem hohen Schnee nicht mehr weiterkonnte. Ja, sie hatten gute und treue Kameradschaft gehalten, die drei. Nun traten sie aus dem Kinderland ins Leben, ein jedes in seinen eigenen Aufgabenkreis.

Florian ersetzte daheim schon vollwertig eine Kraft. Er schickte sich in jede Arbeit in Haus und Feld und war des Vaters rechte Hand. Ganz anders Vinzenz; auch er schlug seinem Vater nach, saß des Sonntags fleißig im Wirtshaus und rannte bald auch hinter den Schürzen her.

Der Florian maß indessen seine jungen Kräfte an den Bergen der Heimat. Ziel und Krone seiner heißesten Wünsche war der Koffel. Er sprach aber zu niemandem mehr davon, denn sein Vater hatte ihn oftmals einen Narren gescholten, der Gott versuchen wolle, und in seiner Mutter Augen hatte er oftmals die helle Angst gelesen, wenn die Rede auf den Unbezwungenen kam.

Da kam das Kirchweihfest, das die zwei Jugendfreunde wieder einmal mit Gittli auf dem Oberhof zusammenführte. Dort wurde getanzt und gesungen, und in später Stunde zogen die jungen Leute zum Niederhof hinüber, wo der Kehraus gefeiert werden sollte. Den Schluß bildeten der Florian, das Gittli und der Vinzenz. Das Mädchen ging zwischen den beiden Burschen und lachte fröhlich über die unerschöpflichen Späße des Vinzenz.

Auf der Bachbrücke hielten sie an. Dem Vinzenz war es plötzlich eingefallen, daß man sich bei dieser Brücke zum ersten Male im Leben begegnet sei.

»Ja«, sagte Florian. »Das weiß ich noch wie heut. Am selben Tag hab ich ja auch das Gittli zum erstenmal gesehn.«

Sie blieben stehen, lehnten sich auf das Geländer und waren plötzlich zurückgehoben in die Jahre ihrer Kindheit.

Weißt du das noch? fragten sie einander. Und das noch? Und jenes noch? Und das Gittli erinnerte sich plötzlich an den Besuch im Schloß.

Vinzenz machte eine abwehrende Handbewegung.

»Der kennt unsereins ja nimmer«, sagte er. »Ist ein feiner Herr geworden, der Helmut.«

Ja, er ist ein feiner und flotter Herr geworden, der junge Helmut von Eggenheim. Zuweilen sah man ihn durch die Gegend rasen in seinem knallroten Auto. Oder er wanderte mit der Büchse auf dem Rücken in den Wald und tippte dann nachlässig an den Hutrand, wenn ihm jemand begegnete. Er konnte oder wollte sich nicht mehr erinnern an die Spielgefährten von damals und hielt Abstand. Zuweilen sickerte etwas davon durch, daß er seiner Mutter viel Sorgen mache. Aber wer wußte das so genau?

Der Baronin stand es nicht auf der Stirn geschrieben, daß sie ein geheimes Leid trug um den erwachsenen Sohn. Ja, sie trug ein Leid um ihn; sie wußte um die innere Haltlosigkeit ihres Sohnes, der die strenge Hand desVaters nie zu spüren bekommen hatte und mütterlichen Ermahnungen unzugänglich blieb. Vielleicht daß ihn einmal eine große, starke Liebe auf den rechten Weg zu bringen vermochte? So hoffte und betete das Mutterherz…

Die drei Jugendgespielen auf der Brücke hatten indessen ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen. Das Gittli zum Beispiel wünschte sich etwas ganz leise und heimlich, als jetzt mit flammendem Strahl eine Sternschnuppe über den Himmel hinfuhr und dann in der Tiefe des Waldes verlosch: »Daß ich es ihm einmal sagen dürfte, wie lieb ich ihn hab!« Der Florian schien immer noch nichts zu ahnen von der stillen Liebe, die sie für ihn im Herzen trug. Freilich, reden konnte sie nicht davon, und wenn sie einen Blick seiner Augen auffing, so meinte sie vergehen zu müssen vor seltsamem Glücksgefühl…

Auf dem Niederhof ging es schon hoch her, als die drei ankamen. Florian nahm gleich das Gittli bei der Hand und ließ sich mit ihr hineintragen in den Strudel der Fröhlichkeit und der Kirchweihstimmung. Nach dem Gittli war es eine andere und dann eine dritte und vierte, mit der er durch die Stube walzte. Eine jede fühlte sich stolz und selig im Arm des jungen Oberhofer.

Einmal, als er sich verschnaufend auf die Ofenbank setzte, hatte er gleich auf jeder Seite eine neben sich. Die eine fächelte ihm mit ihrem Taschentuch Kühlung zu, und die andere rückte immer vertraulicher an ihn heran. Wo hatte er heute nur seine Augen, der Florian?

Drüben am Kanapee saß jetzt der Vinzenz mit dem Gittli, und der wisperte ihr allerlei ins Ohr, daß sie ein paarmal leise auflachte wie ein Vogel im Traum. Es mußte etwas sehr Spaßhaftes sein, was ihr der Vinzenz erzählte, etwas, das sie sehr interessierte; denn sie achtete nicht darauf, wie der Florian sie mit einem Male scharf aus gesenkten Brauen heraus betrachtete.

In dieser Stunde kam es dem Florian zum ersten Male zum Bewußtsein, daß das Gittli gar kein Kind mehr war, sondern ein junges, voll erblühtes Mädchen. Und je länger er sie betrachtete, desto mehr überkam es ihn wie ein Wunder, daß ihm dies bisher noch nicht aufgefallen war.

War überhaupt eine hier, die sich mit seinem Gittli messen konnte? Die schweren Zöpfe baumelten nicht mehr über den Rücken, sondern waren um die hohe Stirn geschlungen wie ein schwerer Kronreif. In dem schmalen, von der Sonne braungebrannten Gesicht mit dem feingeschwungenen Mund standen zwei große dunkle Augen, die jetzt blitzten vor Lebenslust. Der schlanke Hals verschwand in dem weißen, bestickten Fürtuch, das zierlich gerafft um die Schultern hing und mit den zwei Enden in das schwarzsamtene Mieder gesteckt war. Unter dem rotgestreiften Rock guckten ein Paar weiße Strümpfe hervor, die in derben Halbschuhen mit Messingschnallen steckten.

Wenn sie sprach, so bewegte sie ganz langsam und nachdenklich die Brauen dabei. Aber wenn sie lachte, dann zeigten sich zwei Grübchen in ihren Wangen.

Plötzlich bemerkte Florian, wie eine rote Lohe über ihr schmales Gesicht huschte. Mit einer unwilligen Gebärde schob sie die Hand des Vinzenz fort von ihrem Arm.

Als sie dann aufblickte, trafen sich ihre Augen mit denen des Florian. Voller Verwirrung senkte sie den Blick. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Voll und fest richtete sie jetzt ihre Augen auf Florian.

In dieser Minute geschah es, daß ein fremdes und doch so wundersames Gefühl in zwei Herzen einzog und von ihnen Besitz nahm.

Da litt es Florian nicht länger auf der Bank; er ging stracks auf das Gittli zu und holte sie von der Seite des Vinzenz.

Sofort stand sie auf und legte den Arm in seinen Arm. Sie suchte ein paarmal seinen Blick, aber er schaute über sie hinweg und schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Da rief sie ihn leise beim Namen. Florian schaute sie an, tief und lange, als wollte er bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Und da er sich ein wenig zu ihr hinneigte, wurden ihre Lippen erwartungsheiß. Aber ganz ruhig und klar ging sein Blick über ihr Gesicht. Nur der Griff um ihr Handgelenk wurde fester, beinahe schmerzhaft für das Mädchen.

Sie sahen beide nicht, daß Vinzenz sie mit dunklem Blick verfolgte. Er war plötzlich hellwach und witterte etwas. Aber da sollte sich der Oberhofer einmal täuschen! Diesmal sollte ihm der andere nicht zuvorkommen!

Aber das konnte er doch nicht hindern, daß die beiden unaufhörlich zusammen tanzten. Dafür langte der Vinzenz öfter nach dem Bierkrug, als ihm guttat, und lachte zuweilen auf.

Es sollte niemand merken. Und es merkte auch niemand, daß Florian und Gittli die Stube verließen. Draußen standen sie dann ein wenig wartend im warmen Gewölbe der Nacht. Aber als sie um den Wagenschuppen bogen, wo der Weg ins Freie führte, trat ihnen plötzlich Vinzenz entgegen. Er vertrat ihnen den Weg und lachte häßlich.

»Schau, schau, das junge Paar begibt sich nach Hause! Ist’s erlaubt, daß ich mich anschließ? Aber ich weiß schon, wo zwei sind, ist ein Drittes zuviel.«

»Da hast du einmal die Wahrheit gesagt«, fiel ihm Florian dazwischen. »Und jetzt gib den Weg frei! Oder siehst net, daß du uns im Weg stehst?«

»Daß ich euch im Weg steh«, höhnte der andere, »seh ich freilich. Vielleicht hab ich mehr gesehn, als euch zwei lieb ist.«

Florian spürte, wie ihn Zorn anfallen wollte. Aber er beherrschte sich und schob den anderen mit dem Ellbogen aus dem Weg.

»Ruck ein bissel, Vinzenz«, sagte er ruhig. »Wir möchten heimgehn. Und du schlaf deinen Rausch aus! Du weißt ja nimmer, was du redest. Komm, Gittli!«

Vinzenz duckte sich ein wenig, wie wenn er sich auf den Florian stürzen wollte. Aber dann glitt er lautlos zurück und verschwand um die Ecke.

Die beiden schritten in die Nacht hinein. Sie sprachen nichts, auch nicht von Vinzenz und seinem sonderlichen Gebaren. Ihre Hände ruhten ineinander, und obwohl alles neu war in dieser Nacht, alles sonderbar hell, glaubten sie, es sei immer schon so gewesen, daß sie Hand in Hand geschritten wären. Das war, als wollten sie sagen: Solange wir uns so bei den Händen halten, kann nichts Schweres über uns kommen.

Gittli bemühte sich, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Ein feiner Wind strich vom Wald herüber und ließ die Härchen auf ihrer Stirn sich bewegen. Ihr Körper drängte sich leicht gegen ihn. Aber dort, wo der Weg nun an den Zaun der Jährlingsweide stieß, dort war es, als erwachten sie beide aus der seligen Blindheit. Florian blieb stehen, löste seine Hand aus der ihren und hob sie, um ihren Scheitel zu streicheln.

»Was ist mit uns zwei?« fragte er.

Wahrhaftig eine sehr unnütze Frage. Wie hätte das Mädchen sie beantworten sollen, da sie noch niemals mit einem Mann zur Nachtzeit an einem Jährlingsweidenzaun gestanden war. Aber da wiederholte er seine Frage:

»Weißt net, was das ist mit uns beiden?«

Gittli hob die Schultern.

»Weiß es net«, flüsterte sie zurück mit einem Lächeln in den Augen, das sich ansah, als blühten Blumen darin. Sie dachte an die vielen Stunden in ihrem Leben, in denen kein anderes Wünschen war, als einmal mit Florian so Hand in Hand zu schreiten. Ganz gleich, wohin. Sie hat sich oft und oft gewünscht, nur einmal die Arme um seinen Hals legen zu dürfen und ihn zu küssen. Einmal nur – um dann wieder zurückzukehren in ihre bescheidene Welt, in das Land ihrer verschwiegenen Träume. Denn das sagte ihr rechnender Verstand: Ich kann doch niemals ganz die Seine werden. Dazu bin ich viel zu gering.

Florian machte eine Bewegung, als wollte er den Weg fortsetzen, indem er den einen Fuß auf das Steiglein setzte, das über den Bretterzaun hinwegführte. Aber dann legte er plötzlich beide Hände auf ihre Schultern, die sich der Berührung sanft entgegenstreckten. Seine Stimme war dunkel.

»Hat der Vinzenz ein Recht auf dich, Gittli?«

»Keiner hat ein Recht auf mich! Am allerletzten der Vinzenz.«

»Hast dich aber recht gut verstanden mit ihm, vorhin auf dem Niederhof.«

»Du weißt doch, daß er nichts als Dummheiten im Kopf hat. Ich hab mich geschämt vor dir.«

»Schon gut, Gittli. Weißt, auf einmal hab ich dich anschaun müssen da droben in der Stuben vom Niederhof. Da war mir grad, als säh ich dich zum erstenmal.«

Lächelnd legte sie den Kopf ein wenig zurück.

»Kennst mich aber doch schon als kleines Kind. Es wird an die sechzehn Jahr her sein, daß wir uns zum erstenmal gesehn haben.«

»Ja, als Kind hab ich dich kennt, allweil schon als Kind. Heut aber, Gittli, heut hab ich das erstemal gesehn, daß du kein Kind mehr bist und –«

»Und?« forschte das Mädchen.

»Weiß es ja selber net, was mit mir ist. Ach, Gittli – ich glaub, ich hab dich lieb –«

Gittli schloß die Augen, als müßte sie diese Worte ganz tief in sich aufnehmen. Sagen konnte sie nichts darauf. Ein Glücksgefühl ohnegleichen war in ihr. Und da Florians Hände sie immer noch umfaßt hielten und sein Mund ganz schmal wurde vor Unbeholfenheit und Verlegenheit, warf Gittli ihre Arme einfach um seinen Hals.

»Du – du – ach, Florian – du lieber Florian!«

Sie küßte ihn, und alle Herrlichkeit der Welt offenbarte sich ihm in diesem Kusse, den er zurückgab mit der tiefen Gläubigkeit des ersten Liebens.

Es geschah dies in der Stunde nach Mitternacht.

Florian stand mit hohem Atem. Sein Herz pochte in raschen Schlägen. Traumhaft verschwommen kam vom Niederhof der Lärm der Kirchweih. Aus der Tiefe hörte man das Wasser brausen, und drüben auf der anderen Seite sah man ein Licht brennen.

So standen die beiden jungen Menschen an der stillen Jährlingsweide und überließen sich dem Gezärtel ihrer Hände und Lippen. Plötzlich hielt Florian ihr Gesicht etwas von sich ab. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Strenge an.

»Hast du« – er räusperte sich, als wäre ihm etwas in den Hals gekommen –, »sag es ganz ehrlich, Gittli. Hast du schon einmal einen andern geküßt?«

Sie schüttelte den Kopf und drückte ihr Gesicht gegen seinen Hals.

»Hätt doch gar net können, Florian; denn seit ich denk, hab ich noch keinen anderen liebgehabt. Und ich werde wohl auch sonst keinen mehr so liebhaben.«

Ihm war dieses Geständnis wie eine Offenbarung. Und dieses Wissen und das Geliebtwerden nahm alle Verlegenheit von ihm, und das Reden wurde ihm plötzlich leichter.

»Vielleicht war es doch an der Zeit, daß ich dir das erste Busserl aufdruckt hab«, sagte er. »Wer weiß, ob dich net schon in der nächsten Woch ein anderer weggeholt hätt.«

»Da brauchst wirklich net in Sorg sein«, erwiderte Gittli. »Es hätt mich in der nächsten Woch und auch in den nächsten Jahren keiner weggeholt, weil ich doch keinen hätt mögen können. Du weißt ja das gar net, Florian, wie das ist, wenn man einen Menschen schon als Kind ins Herz geschlossen hat. Das läßt sich net ’rausreißen so mir nichts, dir nichts.«

Da wird er nun doch ein wenig still. So nah ist ihm das Glück schon immer gewesen, und er ist immer daran vorbeigegangen.

Immer wieder mußte er sie küssen. Wie schnell er es gelernt hatte! Sie kamen überein, mehr auf Gittlis Wunsch, daß sie ihre Liebe zunächst geheimhalten wollten, solange es ging. Die Schwierigkeiten, das fühlten die beiden jungen Leute, würden erst beginnen an dem Tag, wo es bekannt würde, daß in den Oberhof eine einziehen sollte, die nichts einbrachte, als was sie am Leibe hatte.

Florian war schon mitten im schönsten Pläneschmieden. Das Gittli aber, das nüchterner rechnete, hatte derweil das Köpfchen gegen seine Brust gelehnt, und er konnte nicht sehen, wie sich ihr Gesicht umschattete. Würden diese herrlichen Träume jemals Wirklichkeit werden? Florian redete halt jetzt in seinem jungen, drängenden Glücksgefühl und sah die Welt und den Himmel offen. Später würde er wohl selbst einsehen, daß er in seinen Kreisen zu freien habe, eine Bauerntochter versteht sich, die brav zubringt.

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