Wo Licht und Schatten Eins sind - Alina Melzl - E-Book

Wo Licht und Schatten Eins sind E-Book

Alina Melzl

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Beschreibung

Meine Schwester und ich waren Eins. Nun liegt eine ganze Welt zwischen uns. Stell dir vor, das Fortbestehen der Erde steht vor dem entscheidenden Kipppunkt. Stellt dir vor, es gibt Menschen, die nicht zögern, für Geld, Macht und Rohstoffe dein Überleben zu riskieren. Und jetzt stell dir vor, dein Schicksal ist mit dem des Planeten verknüpft. Stirbt die Erde, stirbst auch du. Was würdest du tun? Ein packender Climate Fantasy Roman, der ein ganz besonderes geschwisterliches Band mit einer der größten Herausforderungen unserer Zeit verknüpft.

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Für Hannah.

Weil du meine Maureen bist.

Inhaltsverzeichnis

Alyssa

1 – Dienstag, 17. September

Maureen

2 – Dienstag, 17. September

Alyssa

3 – Dienstag, 17. September

Maureen

4 – Mittwoch, 18. September

Alyssa

5 – Mittwoch, 18. September

Maureen

6 – Donnerstag, 19. September

Alyssa

Maureen

7 – Donnerstag, 19. September

Maureen

Alyssa

8 – Donnerstag, 19. September

Maureen

Alyssa

9 – Donnerstag, 19. September

Alyssa

Maureen

10 – Donnerstag, 19. September

Maureen

11 – Donnerstag, 19. September

Alyssa

12 – Freitag, 20. September - Nacht

Maureen

13 – Freitag, 20. September, Nacht

Alyssa

14 – Freitag, 20. September

Maureen

15 – Freitag, 20. September

Maureen

16 – Freitag, 20. September

Alyssa

17 – Freitag, 20. September

Alyssa

18 – Samstag, 21. September

Maureen

19 – Samstag, 21. September

Alyssa

20 – Samstag, 21. September

Maureen

21 – Samstag, 21. September

Maureen

22 – Samstag, 21. September

Alyssa

23 – Samstag, 21. September

Maureen

24 – Samstag, 21. September

Maureen

Alyssa

Maureen

25 – Samstag, 21. September

Maureen

26 – Samstag, 21. September

Alyssa

27 – Samstag, 21. September

Maureen

28 – Montag, 23. September

Maureen

29 – Dienstag, 24. September – Nacht

Alyssa

Playlist von Alyssa und Maureen

Danksagung

Alyssa

At least, not alone, not anymore

Not since I found what I never went lookin' for

And now you're in my head

I must have lost my mind

FINNEAS

Ich atme ein. Ein warmer, von Erwartung angereicherter Hauch, der meine Nasenflügel streift.

Ich rieche Gummi. Schweiß. Anspannung.

Die Schwere einer vom Spätsommer geküssten Luft, die zu lang in einem viel zu kleinen Raum eingesperrt wurde. Sie legt sich auf meine Schultern und benebelt meine Sinne. Sie windet sich in Form dichter rauchiger Schwaden um meine Arme und Beine. Sie ist langsam, doch unersättlich.

Ein sanftes Rascheln zu meiner rechten bricht den Bann. Leise räuspere ich mich. Konzentration. Nicht ablenken lassen. Auf diesen Moment kommt es an. Auf diesen Moment arbeite ich seit Wochen hin. Er könnte mein Ticket zu allem sein, was ich jemals wollte.

Wer bist du?

Ich bin Alyssa.

Warum bist du hier?

Weil ich das Zeug dazu habe.

Nein. Warum bist du hier?

Weil ich gewinnen werde. Ich. Werde. Gewinnen.

Meine Interpretation von Tanyas Stimme in meinem Kopf gibt Ruhe. Ich muss sie zufriedengestellt haben. Da bin jetzt nur noch ich. Ich und meine schwerfälligen Gliedmaßen. Ich und das Klopfen in meiner Brust, so heftig, als wolle mein Herz den Rippenbogen zerschmettern und ausbrechen.

Ich und mein Wille, zu gewinnen.

Ich will zeigen, dass ich es wert bin, hier zu stehen. Dass all das Geld, all der Schweiß, all die verpassten Verabredungen und heimlich durchgemachten Nächte nicht umsonst waren.

Du könntest so viel mehr haben, sagen sie immer.

Warum tust du dir das an?, sagen sie immer.

Ich gebe nie eine Antwort. Wie könnten sie jemals verstehen, wie es ist, ich zu sein? Sie mit ihrem unaufgeregten Selbstbewusstsein und den festgelegten Bahnen, auf denen sie täglich schwimmen? So im Reinen mit sich selbst, so sicher mit ihrem Platz in dieser Welt.

Meine Suche nach dem, wer ich bin und was mich ausmacht, reicht hingegen so weit zurück, dass ich mich nicht daran erinnern kann, mich jemals angekommen gefühlt zu haben.

Solange ich denken kann, ist da etwas in mir. Ein schwarzes Loch, eine Leere, die gefüllt werden will. Ein Sog, der niemals mehr als Staubpartikel einfing. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, nicht richtig sein kann. Ich wusste nur nie, was ich dagegen tun soll.

Bis ich das Tanzen fand. Oder vielmehr das Tanzen mich. Es stopft zwar nicht das Loch, aber es lässt mich vergessen, dass es da ist. Wenn ich tanze – und nur dann – fühle ich mich fast normal. Weil da eben kein Raum für Gefühle ist.

Tanzen bedeutet, einem Instinkt zu folgen. Einem Rhythmus, der dich packt und, wenn du Glück hast, in dein Blut übergeht. Es bedeutet, in einen Fluss einzutauchen, der mal gemächlich, mal in wirbelnden Stromschnellen von deinem Körper Besitz ergreift. Es bedeutet Anstrengung und Disziplin, loslassen und gehalten werden.

Doch die Augenblicke, die zwischen mir und der Bühne liegen, Augenblicke wie der jetzige, sind reine Tortur. Was, wenn ich den Rhythmus nicht finden werde? Was, wenn der Sog zu drängend, die Leere zu allumfassend sein wird, als dass ich mich fallen lassen könnte? Was dann?

Was dann, was dann, was dann?

Weit entfernter Applaus dringt wie durch Watte an meine Ohren. Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen. Aber die Luft wird schwerer, bis sie auf mich zu wirbelt und Maureens Keuchen mich doch dazu bewegt, einen Blick zu riskieren.

Meine Zwillingsschwester steht vor mir. Rote Wangen, die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen, eine Hand auf die Brust gepresst. „Pass draußen auf, der Boden ist glatter als zuhause.“

„Okay.“

„Du schaffst das.“

„Ich weiß.“

Ich nehme ihre Hand, die sich bestärkend auf meine Schulter legt, kaum wahr. Es kann nur noch Sekunden dauern, bis mein Name ertönt. Sekunden, bis Augenpaar um Augenpaar auf mich gerichtet sein wird. Es bleibt keine Zeit, mich bei Maureen zu erkundigen, wie es lief. Ihrem Blick nach zu urteilen nicht zufriedenstellend.

Ich bin Alyssa, sage ich mir, um mich abzulenken. Und ich bin hier, weil ich gewinnen werde.

„Sie sehen nun Alyssa Henley von der Chelan Dance Company.“

Der Moderator kündigt mich an und ich straffe die Schultern. Atme aus.

Der erste Vorentscheid dieser Saison. Mein erstes Solo. Will ich in die nächste Runde vorrücken, muss ich mindestens unter die besten drei kommen. Tanyas Erwartungen liegen höher.

Ich schreite auf die Bühne. Mit jedem Schritt versuche ich, die Beschaffenheit des Bodens unter meinen Füßen ganz bewusst wahrzunehmen. Versuche, das Loch in meinem Brustkorb in den Hintergrund zu drängen. Das Vibrieren im randvoll gefüllten Saal übertönt das mit Ohren nicht erfassbare Rauschen des Soges in mir. Die Stille, die einkehrt, als ich mich in meine Startposition begebe, fungiert als schützender Mantel vor meinem eigenen Inneren.

Die Musik beginnt. Mit dem ersten Ton weicht die Anspannung von mir. Mit dem zweiten hebt sich mein Blick der Decke entgegen. Mit dem dritten strömt Leben in die Leere in meiner Brust. Und ich lasse los.

Ihr fragt, warum ich mir das antue? Eigentlich ist die Antwort ganz einfach.

Weil ich es muss.

1 – Dienstag, 17. September

Maureen

Freistunden. Normalerweise bin ich ihr größter Fan, doch heute … Leah fuchtelt mit den Händen aufgeregt in der Luft herum und ich sende ein stummes Stoßgebot Richtung Decke. Seit dem ersten Gong der Schulglocke kennt sie nur ein Thema: Alyssas und meinen Geburtstag und die unglaubliche Überraschung, die in der Pause auf uns wartet.

Marcus wiederum ist voll auf Leah fixiert – beziehungsweise darauf, ihr permanent den Mund zu verbieten, da sie sich ja sonst verplappern könnte. Das hat mich in den vergangenen Minuten bereits mehrmals dazu verleitet, ihm kräftig gegen das Schienbein zu treten. Ich persönlich würde es nämlich durchaus präferieren, dass meine beste Freundin endlich Licht ins Dunkel bringt.

Und dann sind da noch Sam und Alyssa. Alyssa ist mir keine Hilfe, da sie nicht einmal mitzubekommen scheint, was gesprochen wird. Ihr Blick ist bereits den ganzen Morgen über in die Ferne gerichtet. Als könne sie etwas sehen, das für unsere Augen unsichtbar bleibt. Ich würde sie darauf ansprechen – wüsste ich es nicht besser. Ich habe einen inzwischen 16 Jahre umfassenden Erfahrungsschatz in Sachen Umgang mit Alyssa angesammelt und auf Rang eins der unbedingt zu vermeidenden Handlungen steht: Alyssa auf ihre Gefühle ansprechen.

Seufzend wende ich meinen Blick stattdessen Sam zu. Er beobachtet Alyssa ebenfalls. Äußerst intensiv, wie ich gerade feststelle. Mit einem weiteren Tritt gegens Schienbein lenke ich Marcus Aufmerksamkeit auf diese seltsame Szenerie.

„Hey! Ich hab doch gerade gar nichts …!“

„Pssst!“, zische ich, und dann: „Siehst du das auch?“

„Alyssa und Sam? Ist kaum zu übersehen.“ Marcus flüstert jetzt ebenfalls.

„Warte mal, du klingst ja gar nicht überrascht. Wie lange geht das schon und warum bemerke ich das erst jetzt?!“

„Die allwissende Maureen ist ahnungslos, hätte nicht gedacht, dass ich das mal erlebe.“

„Marcus!“

„Schon gut. Sam hat mir nichts gesagt, aber ich glaube, er findet sie schon länger toll. Stille Wasser sind tief und so.“

Ich hebe überrascht die Augenbrauen. „Aber Alyssa will nichts von ihm, oder?“

„Das kannst du sicher besser einschätzen als ich“, grummelt er, woraufhin ich meine Schwester erneut eingehend betrachte.

„Sie verhält sich komisch.“

„Na dann hast du vielleicht deine Antwort.“

„Worauf hat sie ihre Antwort?“ Leider so gar nicht unauffällig schaltet Leah sich in unser Flüsterduell ein.

„Nicht hier“, geben Marcus und ich gleichzeitig zurück.

„Und nicht jetzt“, fügt der nach einem Blick auf die große Wanduhr hinzu. „Die Pause fängt gleich an.“

„Oh, heilige Sch***!“ Leah springt auf.

„Leah!“, „Nicht fluchen!“, und „Fünf Dollar in den Klassenfrosch“, geben Marcus, Sam und ich gleichzeitig in einer verschnupften Imitation unserer ehemaligen Klassenlehrerin Mrs. Clark zum Besten. Leah bringt es fertig, keine Miene zu verziehen. Stattdessen dreht sie sich auf dem Absatz um und drängt sich durch den dichter werdenden Schülerstrom. Richtung Pausenhof.

„Wa-?“, setze ich an, da fällt Marcus mir ins Wort.

„Du, Maureen, wie liefs eigentlich beim Tanzen gestern?“ Bemüht gleichgültig.

Ha, als wäre ich so leicht abzulenken! Entrüstet stemme ich die Hände in die Hüften, beschließe, seine Frage einfach zu ignorieren. „Wo will Leah hin?“

„Ähm … mal ehrlich, das war doch ein Vorentscheid, oder nicht?“

„Ähm, mal ehrlich, was heckt ihr da aus?“ Ich funkle sowohl Marcus als auch Sam entschlossen an.

„Alyssa, Tanzen?“, fragt Marcus leicht verzweifelt.

„Hm?“ Sie zuckt zusammen. Unglaublich, selbst Leahs unerwartetes Verschwinden muss an ihr vorbeigegangen sein.

„Du hast den Vorentscheid bestimmt gerockt, nicht wahr?“, schaltet Sam sich rasch ein.

„Ach so. Naja, war nicht schlecht.“ Sie zuckt mit den Schultern.

„Sie war spitzenmäßig“, übersetze ich für unsere Freunde.

„Und du?“

„Versuch nicht ständig abzulenken!“

Sam grinst. „Schon gut, ihr habt´s geschafft. Kommt mit, Leah wartet draußen.“

„Warum draußen?“ Alyssas Ahnungslosigkeit hat fast etwas Komödiantisches.

„Das werdet ihr in Kürze erfahren. Auf geht´s.“ Mit ausholender Geste beginnt Sam uns in Richtung Ausgang zu scheuchen, als wären wir eine Horde verschreckter Schafe.

Ich beiße die Zähne zusammen und lasse mich nur von Alyssas Hand, die sich beruhigend in meine legt, von einer weiteren Beschwerde abbringen.

In der herbstkühlen Luft angekommen, stelle ich zwei Dinge fest: Zum einen füllt sich der Hof langsam aber stetig mit Schülern aller Altersstufen, zum anderen ist es wesentlich leiser als ich beim Blick hinaus vermutet hätte. Ein aufgeregtes Murmeln und Kichern schwappt in Wellen über die Menge.

Allmählich arbeiten wir uns in Richtung Weitsprunggrube vor, in deren Nähe anscheinend der Ursprung des Menschenauflaufs zu finden ist – Alyssa unter gemurmelten Entschuldigung, ich mit entschlossen zusammengekniffenen Augen.

Tatsächlich gelangen wir dank meiner Ellbogenstoßfähigkeit bis in die dritte oder vierte Reihe. Und endlich erhasche ich einen weiteren kurzen Blick auf etwas, das wie ein kleines Podium aussieht. Bevor meine Fantasie in Aktion treten kann, ertönt Leahs Stimme samt eines unangenehmen Quietschens aus zwei riesigen Lautsprechern.

„Hey Leute, schön, dass ihr alle hier seid! Unsere Idee hat sich wohl …“, sie macht eine wirkungsvolle Pause, „ …ein bisschen rumgesprochen.“

Vereinzelte Lacher.

Ich bleibe stumm, kaue auf meiner Unterlippe herum.

„Also gut, eigentlich geht´s heute ja um zwei ganz besondere Menschen“, spricht Leah weiter.

Ich erkenne aus den Augenwinkeln, wie Alyssa das Gesicht in den Händen vergräbt. Oh Gott, höre ich sie förmlich denken. So viel ungeliebte Aufmerksamkeit auf einmal. Mein Mitleid hält sich in Grenzen, denn ehrlichweise macht sich jetzt doch eine vorfreudige Nervosität in meiner Magengegend breit.

„Und deswegen – Leute, könnt ihr mal ein bisschen zur Seite rutschen? Wo sind denn Maureen und A- ahh, gefunden!“

Tatsächlich bildet sich ein Spalt in der Menge, sodass wir nun uneingeschränkten Blick auf das Podium haben, das in Wahrheit mehr an eine kleine Bühne erinnert. Darauf steht Leah stolz grinsend mit einem Mikrofon und winkt uns zu. Die Rolle der betrogenen besten Freundin aufrechtzuerhalten fällt mir jetzt ziemlich schwer.

„Die beiden hier haben nämlich heute Geburtstag …“ Leah unterbricht sich, um den vereinzelt geäußerten Glückwünschen Raum zu geben, spricht dann jedoch rasch weiter. „Und da man 16 bekanntlich nur einmal wird und der Freund der besten Freundin meiner Großcousine einen Bekannten hat, der … ach egal, lasst es mich leichter ausdrücken: Ich habe Connections, die euren Geburtstag auf jeden Fall unvergesslich machen werden.“

Die letzten Worte sind einzig an uns gerichtet und ich kneife die Augen zusammen. Der Freund des Großcousins einer Bekannten … warte, was?

Weiter komme ich nicht, denn nun tritt eine Person auf die Bühne, die bis zu diesem Augenblick mit dem Schatten hinter Leah verschmolzen ist. Mir klappt die Kinnlade runter.

„Ladies and Gentlemen“, verkündet Leah feierlich: „Extra für euch: Chrystal aka Chris f*** Winter!“

Jetzt ertönen ungläubige Rufe, stürmischer Applaus. Und dicht hinter meinem linken Ohr ein entrüstetes Aufschnappen. Ich wette, das war Mrs. Clark. Aber ihr Protest über Leahs so gar nicht klassenfroschkonforme Sprache geht in der Aufregung der Menge unter.

Und ja, ich kann es den Leuten nicht verdenken, denn das – das hätte ich niemals erwartet. Chrystal an unserer Schule!

Alyssas und mein gleichermaßen fassungsloser Blick kreuzen sich. Endlich hat der nachdenkliche Schleier in ihren Augen etwas anderem Platz gemacht, für den Moment zumindest. Wir sind beide große Fans von Chrystals Musik, vor allem seinem neuesten Album Mindcrusher. Deswegen kommt es mir nun vollkommen surreal vor, als er sein Mikrofon an der Halterung befestigt und ebenfalls das Wort ergreift.

„Hi. Hi, ich bin Chrystal.“

Er ist es. Leibhaftig. Der Künstler, der es vor zwei Jahren von einer lokalen Berühmtheit zum amerikanischen Star geschafft hat. Und er spielt allein für uns.

Mit einem Mal beschleicht mich das Gefühl, dass dies der beste Tag meines Lebens werden könnte. Bis er sich mit einem Schlag in den größten Albtraum verwandelt.

2 – Dienstag, 17. September

Alyssa

Beifall brandet auf, durchzogen von schrillen Pfiffen. Mir ist schwindelig.

„Ich freue mich, heute ein paar meiner Songs für euch spielen zu dürfen. Happy Birthday an Alyssa.“ Chris zwinkert mir zu. Ich muss mich haltsuchend an meiner Schwester abstützen. „Und natürlich auch an Maureen.“

Leah hat ihm wohl im Vorhinein erklärt, worin die kleinen optischen Differenzen zwischen uns bestehen – meine Haare sind etwas kürzer als Maureens, und dann gibt es da noch das Muttermal unterhalb meines linken Auges –, denn oftmals können uns nicht einmal Lehrer, die uns schon jahrelang kennen, voneinander unterscheiden. Wir haben beide eine eher stämmige Figur, feine Gesichtszüge mit einer leicht nach oben geneigten Nasenspitze und schwarze lockige Haare. Merkmale, die von unseren nicht (mehr) existenten Großeltern stammen müssen, denn weder Mums zierliche Gestalt noch Dads beeindruckende Körpergröße haben im Entferntesten etwas mit unserem Äußeren gemeinsam.

Einige Leute drehen uns die Köpfe zu und klatschen lauter. Hitze schießt durch meine Nervenenden, sorgt dafür, dass meine gesamte Haut unangenehm zu kribbeln beginnt. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

„Wir träumen, oder?“, schreit Maureen mir viel zu laut ins Ohr. Ich nicke halbherzig. Ihr Arm um meine Schulter drückt mich mit dem Gewicht von zwanzig Lastwägen Richtung Boden. Ich stemme mich dagegen, stehe aufrecht. Noch.

Die ersten Gitarrenklänge rollen in Wellen über den rasch verstummenden Pausenhof. Alle Köpfe, die uns noch zugewandt waren, drehen sich jetzt zur Bühne.

Ich würde mich gern auf Chris konzentrieren. Auf den Song, den er anspielt, ausgerechnet eines meiner absoluten Lieblingslieder. Aber ich kann nicht. Ich bin wie gelähmt, ein Rauschen in meinen Ohren.

Denn auf einmal wird das Loch in meiner Brust – das Loch, mit dem ich, soweit meine Erinnerungen zurückreichen, lebe und esse und atme – kleiner. Es verengt sich, angefüllt von … einer Präsenz. Unnatürlich. Heiß. Heißer als die Hölle, dröhnender als das schlimmste Fegefeuer.

In der Vergangenheit gab es durchaus Momente, in denen ich mir versucht habe vorzustellen, wie es wäre, wenn diese Leere endlich von mir weicht. Fest steht: nicht so. Denn niemals hätte ich mir derartige Schmerzen ausmalen können. Eine derartige Fremde in einem Körper, der sich noch nie weniger wie mein eigener angefühlt hat.

Die Hitze schließt sich um meine Organe. Mein Herz. Meinen Kopf. Und drückt zu.

Der Schmerz kommt in Wogen. Ein stechender, reißender, alles verzehrender Schmerz. Alles ist auf einmal nur noch auf diesen einen Punkt in mir selbst ausgerichtet, der sich ausbreitet, immer weiter ausbreitet – und brennt.

Dass ich zusammenbreche, merke ich gar nicht. Es geht so schnell, wird so schnell dunkel.

3 – Dienstag, 17. September

Maureen

Ich grinse vollkommen idiotisch und es könnte mir nicht egaler sein. Stünde Leah jetzt neben mir, könnte ich mich nicht beherrschen, ich müsste ihr einfach um den Hals fallen. Ich weiß zwar, dass sie den Moment nutzen würde, um mich über den nun nicht mehr zu leugnenden Nutzen von Überraschungen zu belehren, aber selbst das würde ich ihr ohne jede Beschwerde durchgehen lassen. Später muss ich unbedingt genauer erfahren, wie sie Chris auf unseren Pausenhof geholt hat und wie es sein kann, dass ich heute das erste Mal von diesen Connections höre.

Mit den anderen Schülern beginne ich automatisch, mich zum Takt seiner langsamen Melodie zu bewegen. Nur Alyssa neben mir bildet einen Ruhepol in dem Pulk, steht ganz still, fast erstarrt.

Ich glaube, sie ist noch viel überwältigter als ich. Ein Poster an ihrer Zimmerdecke sagt alles: Sie ist nicht nur ein kleines bisschen in Chris verschossen, sie bewundert ihn regelrecht. Und das heißt wirklich was, denn in der Regel zieren ihre Wände ausschließlich Tänzerinnen, denen sie nacheifert. Chrystal ist der einzige, der dort wortwörtlich aus der Reihe tanzt.

Ich lächle noch breiter, stoße meine Schwester übermütig an. „Hey, so schockiert?“

Sie antwortet nicht. Wow, so schockiert also.

Dass etwas nicht stimmt, merke ich erst, als sie gegen mich kippt. Unvermittelt, mit ihrem ganzen Gewicht.

Ich stolpere, falle fast, kann mich aber im letzten Moment fangen. Ganz kurz kommt mir in den Sinn, dass sie mir einen Streich spielen könnte, ihre Verblüffung ausdrücken möchte, doch dann …

Ihre Augen sind geschlossen. Ihr Körper schlaff. Langsam rutscht sie an mir herab, wie ein nasser Sack, betonschwer. Ich kann nichts tun. Bin eine Statue, während der Trubel um mich herum weitergeht, noch eine, zwei Sekunden, bis Chris uns mustert und erstarrt.

Abrupt endet der Song. Für einen Augenblick scheint er ähnlich überfordert zu sein. Dann reißt er sich die Gitarre von der Schulter, das Mikrofon fällt klappernd aus der Halterung.

Mit einem Schlag kommt Bewegung in die Menge. Wo gerade noch klangvolle Symphonien herrschten, schleichen sich Disharmonien ein. Und ich kann immer noch keinen Muskel rühren.

Alyssa liegt zu meinen Füßen, rührt sich nicht, sieht aus wie … Nein, ich kann, will diesen Gedanken nicht beenden. Das muss ein Albtraum sein, das passiert nicht wirklich.

Die Jugendlichen um uns herum weichen zurück, als Chris plötzlich neben Alyssa kniet. Ich habe keine Ahnung, wie er da überhaupt hingekommen ist. Woher Sam auf einmal auftaucht, der sich die Hände entsetzt vor den Mund geschlagen hat.

„Was ist mit ihr?!“

„Was ist los?“

„Ist sie bewusstlos?“

„What the …?!“

Wortfetzen, die an mein Ohr dringen, deren Sinn ich jedoch nicht begreife. Irgendwer gibt ein ersticktes Wimmern von sich und ich merke erst später, dass ich es selbst bin.

Währenddessen tasten Chris Finger nach Alyssas Puls. Liegen da und ich fixiere sie. Sekundenlang. Minutenlang. Stundenlang. So kommt es mir vor.

Ein heftiger Ruck an meinem Arm bringt mich zur Besinnung. Es ist Sam. Er sagt etwas, doch ich verstehe nur den letzten Teil: „… Rettungswagen gerufen!“

„W-was?“

Rettungswagen. Alyssa. Vor mir. Ich … „Oh mein Gott!“ Endlich verlassen Worte meinen Mund. Ein Keuchen, das sich den Weg vorbei am Kloß in meiner Kehle bahnt. „Was ist mit ihr?“

Ich lasse mich neben meine Schwester auf den Boden fallen, meine Knie schlagen hart auf dem Sportplatz auf und doch spüre ich keinen Schmerz.

Chris legt eine Hand auf meine Schulter. „Hey, keine Sorge! Sie atmet, okay? Wir kümmern uns schon um sie!“

Ich schüttle den Kopf, wieder und wieder. Packe Alyssas Handgelenk, nur um mich zu vergewissern, dass er recht hat. Erst fühle ich gar nichts, doch dann pulsiert da ihr Herzschlag unter meinen halb tauben Fingern.

„Der Notarzt wird bestimmt gleich hier sein. Vielleicht hat sie nur zu wenig getrunken.“ Jetzt ist auch Leah bei mir. Ihre Arme schlingen sich von hinten um mich und geben mir Halt.

Nein. Nein, das kann nicht sein. Alyssa ist noch nie ohnmächtig geworden. Sie hat heute Morgen ein ganzes Glas Wasser getrunken. Sie hat gegessen. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht.

„Ganz ruhig atmen, Maureen, ja? Ein und aus.“

Ich will mich aufbäumen, Leah anschreien, dass es hier nicht um mich geht. Aber dann ist ihre Stimme doch der Anker, an den ich mich klammere. „Ein und aus.“

Irgendwie gehorche ich. Folge ihrem Rhythmus, bis ich merke, dass sich mein Herzschlag tatsächlich beruhigt, dass meine Gedanken klarer werden. Irgendwann versiegen meine Tränen, mein stoßweiser Atem wird regelmäßiger und ich öffne die Augen, die ich zusammengekniffen haben muss.

Das Bild, das sich mir bietet, trägt allerdings nicht dazu bei, dass es mir besser geht. Alyssa liegt immer noch vollkommen regungslos vor mir, nun in stabiler Seitenlage. Immer wieder überprüft Chris, der erstaunlich ruhig und souverän wirkt, ihre Atmung.

„Wir müssen doch irgendwas tun“, flüstere ich, zu schwach, um lauter, um deutlicher zu werden.

„Das ist alles, was wir tun können“, erwidert Leah hinter mir und zieht mich noch enger an ihren warmen Körper.

Die Minuten verstreichen. Mein Blick wird immer unschärfer, weil er sich nicht von meiner reglosen Schwester loseisen kann. Endlich dringen schrille Sirenenklänge in mein Bewusstsein.

Was danach passiert, verschwimmt in meinem Kopf zu zusammenhanglosen Momentaufnahmen. Jemand öffnet den Sanitätern das Tor. Der Krankenwagen hält mitten auf dem Schulhof. Schüler tuscheln, doch verschwinden schnell, als Lehrer sie ins Gebäude zurückpfeifen. Zwei Sanitäter heben Alyssa auf eine Trage und irgendwie gelange ich auch hinten in den Rettungswagen. Einer der Männer leuchtet mit einer Lampe in meine Augen und überprüft meinen Blutdruck, als wäre ich hier das Problem. Dann ist er plötzlich weg und stattdessen eine junge Frau an meiner Seite, die sich neben mich kniet und beruhigend auf mich einredet. Für mich vergeht das alles wie in Trance. Eine Trance, die erst endet, als der Wagen anhält und Alyssa hinausgeschoben wird. Da gerät mein Blut plötzlich in Wallung und ich springe von dem Stuhl auf, auf den sie mich verfrachtet haben.

„Wohin bringt ihr sie?“

Die junge Sanitäterin von vorhin hält mich mit einem Arm zurück. „Alles in Ordnung, Maureen. Deine Schwester wird in den Schockraum gebracht, dort können die Ärzte sie untersuchen!“

Ich schlucke. Das klingt ernst. „Aber … was fehlt ihr denn?“ Die letzten Worte sind kaum mehr als ein Flüstern.

„Genau das werden sie hier herausfinden“, antwortet die Sanitäterin.

Ich fixiere einen Punkt direkt vor mir, ihr Namensschild. Claire Summers. An diesen Namen klammere ich mich, wiederhole ihn immer und immer wieder.

„Sollen wir zusammen hineingehen?“

Sie meint das Krankenhaus. Ich nicke stumm. Während sie mich langsam aber bestimmt zum Gebäude führt, erklärt sie mir, dass unsere Eltern bereits informiert wurden und auf dem Weg sind. Gut, das ist gut.

„Was ist mit Leah? Und Sam und Marcus? Wo sind sie?“

„Deine Freunde?“

Ich nicke wieder.

„Wir konnten leider nur dich mitnehmen, aber deine Mitschüler sind ebenfalls in den besten Händen. Du musst dir keine Sorgen machen.“

Darum geht es mir nicht. Ich brauche jetzt ein bekanntes Gesicht. Leah mit ihrer festen Stimme, die mir versichert, dass alles gut wird. Sogar Sam mit seiner Verzweiflung wäre mir lieber als diese Frau, die zwar ihr Bestes tut, aber doch so … unbeteiligt wirkt. Als erlebe sie solche Situationen jeden Tag.

Die Türen des Krankenhauses öffnen sich leise und ohne unser Zutun. Ich trete neben Claire Summers hindurch, sofort nach Alyssa Ausschau haltend. Zunächst erfolglos. Während sich meine Gedanken immer schneller drehen, redet Claire mit der Dame am Empfang. Ich bekomme nur Wortfetzen mit, aber schließlich bugsiert sie mich einige Meter weiter in einen großen, sterilen Raum.

Dort liegt meine Schwester, inzwischen auf ein Bett verfrachtet. Und … Erleichterung flutet mich, denn ich erkenne augenblicklich, dass sie wach ist. Eine Ärztin und eine Krankenschwester sind an ihrer Seite, aber die ignoriere ich vollkommen, während mich meine Beine auf Alyssa zu tragen. Schnell.

„Ally“, murmle ich.

Sie dreht den Kopf und fixiert mich. Irgendetwas ist da in ihrem Blick, das mich innehalten lässt. Er ist verschleiert, irgendwie ganz weit entfernt. Und dann stöhnt sie und ich zucke förmlich zurück.

Plötzlich ist es, als könne ich fühlen, was sie fühlt. Der Schmerz in ihr ist so greifbar, dass ich die Augen schließen und ihn von mir stoßen muss. So allumfassend, dass ich mich unwillkürlich wundere, warum niemand sonst reagiert.

„Was ist los mit ihr?“, frage ich panisch, drehe mich zu Claire um.

Die schüttelt mit einer mitfühlenden Miene den Kopf, macht jedoch keine Anstalten, mir zu antworten. Stattdessen richtet sie ihr Wort an die Ärztin. „Wir sind dann wieder unterwegs. Meine Kollegen werden Sie schon informiert haben, nehme ich an?“

„Ja, wir sind unterrichtet“, erwidert diese knapp, ihre Augen bleiben an mir hängen. „Und du bist die Zwillingsschwester, nicht wahr?“

Ich bringe keinen Ton heraus. Als ich nach einigen Sekunden immer noch nichts gesagt habe, gibt sie anscheinend auf.

Ich gehe die letzten Schritte auf das Bett zu, bis ich direkt neben Alyssas Kopf zum Stillstand komme. „Wie geht’s dir? Was tut dir weh?“, flüstere ich.

„Ich … ich weiß nicht.“ Ihre Stimme zittert und sie kann mich nicht länger als ein paar Augenblicke ansehen. Ihr Blick gleitet zur Zimmerdecke, unruhiges Blinzeln. Der Brustkorb hebt sich heftig. „Alles … alles tut weh. Maureen, irgendwas ist da in mir. Bitte, hilf mir!“

Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich habe Alyssa noch nie so verzweifelt erlebt und habe auf einmal furchtbare Angst.

„Wie war das?“ Die Ärztin, endlich. „Da ist etwas in dir, Alyssa? Kannst du mir erklären, was du damit meinst?“

Angespannt beobachte ich meine Schwester, warte auf eine Reaktion. Aber die kommt nicht. Sie starrt nur weiterhin die Decke an, als wäre sie gar nicht mehr richtig anwesend.

„Alyssa?“ Egal, wie oft die Ärztin ihren Namen wiederholt, sie bekommt keine Antwort mehr.

„Okay.“ Mit sachlichem Ton wendet sich die Frau schließlich der Krankenschwester zu. „Wir geben ihr erst einmal ein leichtes Schmerzmittel und hängen sie an die Überwachung. Ich wüsste außerdem gern, wann die Eltern eintreffen. Können Sie das für mich herausfinden?“

„Was heißt das? Lassen wir sie jetzt einfach so liegen?!“ Ich finde meine Stimme wieder.

Ein kurzer Seitenblick zu mir. „Wie heißt du?“

„Maureen.“

„Maureen, wir tun unser Bestes, um deiner Schwester zu helfen.“ Sie tritt zu mir an die andere Seite des Bettes und ich kann ihr Namensschild lesen. Dr. Norton. „Im Moment ist es das Wichtigste, zu überprüfen, ob sie stabil bleibt. Genau das haben wir gerade in die Wege geleitet.“

„Und mehr können Sie nicht machen?!“ Ich weiß, dass ich angriffslustiger reagiere, als ich sollte, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen.

Da ist nur ein einziger Gedanke in meinem Kopf. Alyssa ist zusammengebrochen und niemand sagt mir, warum.

Ganz kurz sieht es so aus, als wolle Dr. Norton zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, doch dann entspannen sich ihre Gesichtszüge wieder. Sie streicht sich eine ihrer kurzen blonden Strähnen hinters Ohr und beugt sich zu mir hinunter, als wäre ich ein kleines Kind.

„Ich verstehe, dass du dich um deine Schwester sorgst. Aber glaub mir, sie ist bei uns in den besten Händen. Und falls dich das beruhigen kann …“ Sie legt eine kurze Pause ein. „Viele junge Mädchen haben Kreislaufprobleme.“

Kreislaufprobleme? Ungläubig öffne ich den Mund. Das waren doch keine … Aber … Ich bin so perplex, dass ich keine Erwiderung finde.

Dr. Norton scheint das als Erfolg ihrer Beruhigungsversuche aufzufassen und richtet sich wieder zu ihrer vollen Größe auf. „Warte bitte hier, bis deine Eltern eintreffen. Dann sehen wir weiter.“

Mom und Dad sind nur wenige Minuten später da. Ich bin so erleichtert, sie zu sehen, dass ich dieses Mal wirklich in Tränen ausbreche. Während Dad mich tröstend im Arm hält, steht Mum neben Dr. Norton am Fußende von Alyssas Bett und unterhält sich leise mit ihr.

Vorsichtig löse ich mich aus Dads Umarmung und trete näher heran. Ich möchte hören, was da geredet wird.

„… Vitalwerte vollkommen in Ordnung. Auch sonst konnten wir keine Verletzungen feststellen. Deswegen ist es für uns auch noch etwas unerklärlich, warum Ihre Tochter kaum ansprechbar ist.“

„Sie hat Schmerzen!“, werfe ich ein. Ich kann mich nicht zurückhalten.

Kurzer Seitenblick zu mir, dann wendet sich Dr. Norton wieder Mum zu. „Ja, tatsächlich scheint ihr irgendetwas weh zu tun.“

Mum reibt sich die Stirn, sichtlich bemüht um Fassung. „Die müssen aber doch einen Auslöser haben. Konnten Sie wirklich nichts finden?“

Dr. Norton schüttelt den Kopf. „Bislang zumindest noch nicht. Wir haben sie fürs MRT angemeldet, um sämtliche für uns so nicht sichtbare Ursachen abklären zu können.“

„Zum Beispiel?“, hakt Mum nach und ich merke deutlich, dass ihre Fassade langsam zu bröckeln beginnt. Sie klingt ängstlich. Irgendwie macht mich das noch fertiger.

Dr. Norton spricht sachlich, als sie erwidert: „Zum Beispiel, um Tumore oder organische Schäden ausschließen zu können.“

Ich zucke zurück und gleichzeitig ergreift Dad das erste Mal das Wort.

„Aber das halten Sie doch nicht für wahrscheinlich, oder?“

„Wie gesagt: Im Moment kann ich nichts ausschließen, aber Sie sollten sich keine zu großen Sorgen machen.“

Ich merke gar nicht, dass ich immer weiter zurückgewichen bin, bis meine Hand plötzlich Alyssas streift. Mit gefurchter Stirn ergreife ich sie ganz fest und bin überrascht, als sie leicht zurückdrückt. Geht es ihr besser? Ein Blick auf ihre Miene begräbt meine vagen Hoffnungen allerdings ganz schnell. Ich kann sehen, dass sie wach ist. Doch wirklich mitzubekommen, was um sie herum geschieht, scheint sie nicht.

„Sind denn Vorerkrankungen in der Familie bekannt?“

Ich höre den Erwachsenen nur noch mit halbem Ohr zu. Trotzdem bemerke ich, wie sich nach dieser Frage ein drückendes Schweigen im Raum ausbreitet. Und dann Mums Antwort, zu leise, um sie zu verstehen.

Wäre ich nicht so gestresst und besorgt, wäre mir vielleicht der merkwürdige Ton in ihrer Stimme aufgefallen. Dads unsichere Blicke, die Alyssa und mich streifen. Doch in diesem Moment bin ich viel zu sehr auf meine Schwester fokussiert. Auf ihre warme Haut an meiner und dieses Ziehen ganz tief in meinem Hinterkopf, das bei unserer Berührung auf einmal stärker wird. Ich blinzle, aber es verschwindet nicht. Fest grabe ich meine Finger in ihre Handfläche. Was auch immer los ist, es ist nichts Schlimmes!, beschwöre ich sie in meinen Gedanken. Das darf einfach nicht sein.

Es ist fast fünf Uhr, als ich mit Dad das Krankenhaus verlasse. Nicht freiwillig, aber er hat darauf bestanden, dass ich nach Hause gehe, mich ausruhe, etwas esse. Insgeheim weiß er sicherlich, wie unrealistisch diese Erwartungen sind. Allein beim Gedanken an Essen wird mir schlecht.

Kein Befund beim MRT, Alyssas Zusammenbruch bleibt weiterhin ungeklärt. Was, wie Dr. Norton es ausgedrückt hat, „vorerst etwas Gutes ist“.

Schon möglich, aber … die Ungewissheit macht mir, macht uns allen zu schaffen. Vor allem, da Alyssas Zustand sich nicht wirklich gebessert hat. Inzwischen ist sie zwar wieder ansprechbar, aber immer noch klagt sie über Schmerzen. Und während ich das Gefühl habe, dass keiner der Ärzte sie wirklich versteht, weiß ich mit einer Gewissheit, die fast unheimlich ist, was in ihr vorgeht.

Wir hatten schon immer ein sehr enges Band, doch das hier ist … anders. Es geht viel tiefer, fühlt sich fast so an, als übertrüge Alyssa ihre Gefühle auf mich. Ich spüre, was sie spürt, doch offensichtlich schwächer, unterbewusst. Es ist die ganze Zeit da, aber wenn ich mich nicht darauf konzentriere, vergesse ich es kurzzeitig. Unheimlich.

Ich schüttle den Kopf. Kann es sein, dass ich mir das alles einbilde? Nein. Obwohl es sich verrückt anhört, obwohl es verrückt ist … Ich weiß, was ich fühle und ich weiß, dass es echt ist.

4 – Mittwoch, 18. September

Alyssa

Der gestrige Tag war eine Katastrophe. Der Trubel, die Schmerzen, die Sorge meiner Familie, Maureens Sorge, wieder die Schmerzen und der Aufenthalt in diesem viel zu grellen, viel zu sterilen Zimmer.

Als ich heute die Augen aufschlug, hat sich leider nicht viel geändert. Die Schmerzen waren immer noch da, jedoch jetzt auf niedrigschwelligem Niveau.

Schlimmer ist mein Eindruck, dass mir die Leute hier nicht glauben. Spätestens seit mich Dr. Norton gestern Abend – als ich endlich wieder etwas klarer denken konnte – gefragt hat, wo genau es wehtut und ich einfach nicht antworten, den Schmerz nicht lokalisieren konnte, ging das los. Diese Blicke, von denen sie wohl glauben, ich bemerke sie nicht. Aber ich sehe ihre Zweifel. Und obendrein habe ich den geflüsterten Wortwechsel zwischen zwei Krankenschwestern aufgeschnappt. Ich habe gehört, wie eine der beiden mich als Simulantin bezeichnet hat.

Und nun habe ich plötzlich Angst, dass alle so denken könnten. Dass mich niemand ernst nimmt. Nur weil sie bis jetzt noch keine Ursache für … für das alles gefunden haben, heißt das doch nicht, dass es keine gibt, oder?

Zum ersten Mal in meinem Leben beginne ich zu bereuen, nie jemandem von der Leere in meiner Brust erzählt zu haben. Vielleicht fielen die Reaktionen anders aus, wenn jemand davon gewusst hätte. Vielleicht hätte man verhindern können, was gestern geschehen ist. Aber – dieses Loch, es war immer schon ein so beständiger, unveränderlicher Teil von mir, dass ich … ich weiß auch nicht. Dass mir die Möglichkeit, es könnte sich auf eine derartige Weise schließen, nicht in den Sinn kam. Ich gehe ein weiteres Mal in mich, suche nach dem bekannten Lauern dieses großen Nichts, nur um erneut zurückzuzucken, als ich etwas anderes finde. Eine Präsenz, die heiße Wellen durch meine Nerven schickt. Sie hat sich so nahtlos eingenistet, wo vorhin Leere war, dass ich mich entgegen jeglicher Logik frage, ob sie vielleicht genau dort hingehört.

Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass die Sonne erst aufgegangen ist. Das bedeutet, dass ich hier warten muss, allein. Dass Mum frühestens in einigen Stunden wiederkommen wird.

Verzweifelt schließe ich die Augen. Hätte ich doch länger geschlafen. Meine Angst und das stetige Brennen in mir etwas länger in wohltuender Dunkelheit vergraben. Aber nun bin ich wach und der Schmerz wird jegliche Hoffnung auf Wiedereinschlafen zunichtemachen. Mein ganzer Körper schwelt. Von innen heraus, knapp unter meiner Haut. Ich kann es nur nicht beschreiben, ohne als vollkommen verrückt abgestempelt zu werden.

Immer wieder reibe ich über meine Unterarme, den Bauch, die Oberschenkel, gedankenverloren. Nichts ändert sich. Ich spüre die Berührungen, aber sie sind irgendwie zweitrangig. Gestern wollte eine Schwester wissen, wie hoch ich meine Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn einordnen würde. Ich musste lange überlegen, eben weil sie so schwer greifbar sind und habe schließlich mit einer fünf geantwortet.

Denn ja, sie sind auszuhalten, jetzt zumindest. Nichts im Vergleich zu dem, was ich vor und unmittelbar nach meiner Ohnmacht verspürt habe. Aber dadurch, dass es ständig auf gleichbleibendem Niveau weh tut, bin ich hypersensibel.

Ächzend richte ich mich auf. Ich brauche eine Weile, bis ich herausgefunden habe, wie ich auch das Kopfende meines Bettes hochklappen kann. Und nun sitze ich hier. Es ist kaum Zeit vergangen, seit ich aufgewacht bin. Das schätze ich zumindest, denn eine Uhr gibt es hier nicht. Mein Handy hat keinen Akku. Ich finde keine Möglichkeit, mich abzulenken. Mich in meine Tanzchoreographien hineinzudenken gebe ich schnell auf. Entweder schweife ich ab oder aber mir passiert in meiner Vorstellung ein Fehler nach dem anderen. Es ist, als wäre ich in einer Dauerschleife gefangen, aus der es kein Entkommen gibt.

Der Morgen schreitet langsam voran und mit jeder sich ins Unendliche ziehenden Minute wird die Nervosität in mir größer. Wird zu einem dicken Angstklumpen, der meine Kehle blockiert und nicht mehr verschwinden will. Was ist nur los mit mir? Je angestrengter ich versuche, die Präsenz und das fremdartige Brennen in meinem Körper zu ignorieren, desto stärker wird mir beides bewusst. Und wenn die Ärzte etwas übersehen haben? Meine Panik kommt schleichend, doch unaufhaltsam. Mit jedem flachen Atemzug werden meine Gedanken düsterer und meine Fingerknöchel der zu Fäusten geballten Hände weißer.

In einem Moment, in dem ich mir sicher bin, kurz vor einer Panikattacke zu stehen, erlöst mich das Geräusch der sich öffnenden Tür. Ist das etwa schon …? Nein, statt Mums rötlichen Haaren blitzt mir ein dunkelblonder Schopf entgegen. Sam? Tatsächlich, da steht er. Schnell ziehe ich meine Decke etwas höher, weil mir das Krankenhaushemd plötzlich peinlich ist, gleichzeitig stammle ich:

„Was machst du denn hier?“

„Hey, ich …“ Mein bester Freund schiebt sich hastig ganz ins Zimmer und vergräbt die Hände in seinen Hosentaschen. „Ich wollte dich besuchen. Ich wollte wissen, wie´s dir geht.“

Ungewöhnlich verunsichert schaut er zu Boden. Ich kann noch nicht ganz realisieren, dass er hier ist, aber spüre, wie sich eine zögerliche Dankbarkeit in mir ausbreitet.

„Aber … ist gerade nicht Schule?“

„Ähm.“ Er räuspert sich und tritt rasch näher heran, bevor er sich mit einem Blick nach hinten versichert, dass ihm niemand gefolgt ist. „Naja, genau genommen schon.“

„Heißt das, du schwänzt?“, frage ich ungläubig.

Endlich sieht er mich direkt an. „Kann sein?“

Wow. Wer Sam kennt, weiß, wie ernst er die Schule nimmt, so cool er das die meiste Zeit auch zu überspielen versucht. Für ihn hängt viel an einem Abschluss, mehr als für uns. Er hat das Gefühl, sich stets neu beweisen zu müssen. Das weiß ich, weil wir schon häufiger darüber gesprochen haben. Er möchte auf keinen Fall so enden wie seine Eltern. Seine Eltern, die ihr Leben wohl so wenig im Griff hatten, dass sie ihn als zwei Wochen altes Baby in einer Kinderklappe vor eben diesem Krankenhaus abgelegt haben.

„Du spinnst doch“, murmle ich also, füge aber ein „Danke“ hinzu. Vermutlich ist ihm gar nicht bewusst, wie dringend ich seinen Besuch gerade brauche. „Und wie bist du hergekommen?“

Sams Hände sind immer noch verlegen in seinen Hosentaschen vergraben. „Mit dem Rad. Gleich vom Heim aus, war also gar nicht so weit.“

Wir reden um den heißen Brei herum. Ich, weil ich mich für einen einzigen Moment heute nicht mit mir auseinandersetzen möchte und Sam, weil er es – so wie ich ihn kenne – hasst, auf den Schwächen eines anderen Menschen herumzureiten. Er fühlt sich so offensichtlich unwohl, dass ich mich auf einmal für meinen Zustand schäme.

„Ähm …“ Er räuspert sich. „Ich weiß nicht, wie lang ich bleiben kann. Wenn Nicole einen Anruf vom Rektor bekommt, sollte ich los.“

Ich nicke schnell. „Natürlich. Ich will nicht, dass du wegen mir Ärger bekommst.“

„Quatsch.“ Plötzlich strafft Sam seine Schultern und weicht meinem Blick endlich nicht mehr aus. „Wie geht es dir, Alyssa? Warum ist das gestern passiert?“

Ich schlucke hörbar. „Ich weiß nicht.“

Eine schwache Antwort. Doch der Gedanke, er könnte mich nach meiner Enthüllung mit demselben Zweifel bedenken wie Dr. Norton, lässt keine andere zu.

„Du … heißt das, die haben noch keinen Grund für deine Ohnmacht gefunden?“ Seine Stirn legt sich in steile Falten. Jetzt bin ich es, die seinem Blick ausweicht.

„Nein.“

Ein paar Sekunden vergehen.

„Bist du deswegen noch hier? Weil man nicht weiß, was die Ursache war?“

Naja … Anscheinend hat Maureen den anderen keine Details über meinen Zusammenbruch verraten. Noch nicht. Ich kneife die Lippen zusammen. Je länger ich darüber nachdenke, wie genau ich meine Lage beschreiben soll, desto sicherer bin ich, dass es verrückt klingt. Ich würde mich tatsächlich wie eine Simulantin anhören.

Und selbst, wenn Sam mir glauben würde: Ich will ihn nicht beunruhigen.

„Also … ja, so ungefähr.“

„Oh Mann.“ Sam kaut unschlüssig auf seiner Unterlippe herum. „Das ist doch scheiße.“

Ja, das kann er laut sagen.

Vorsichtig und mit einem vergewissernden Seitenblick, dass es mir recht ist, lässt er sich mir gegenüber auf das Bettende sinken. Kurz suchen wir beide nach Worten, dann grinst er schief.

„Wusstest du, dass ich auch schon mal im Krankenhaus war?“

„Ehrlich? Nein, davon hast du noch nie erzählt!“

Er wird ein bisschen rot.

„Ja, weil es mir peinlich ist. Also nicht das Krankenhaus an sich, aber der Grund.“

Ich kneife die Augen zusammen.

„Was hast du denn angestellt?“

„Ach, vergiss es, ist nicht so wichtig.“

Obwohl er seinen Worten ein bemüht leichtfertiges Abwinken folgen lässt, erkenne ich, wie sehr er es jetzt schon bereut, das Thema angeschnitten zu haben. Ich kann leider nicht umhin, immer neugieriger zu werden.

„Jetzt komm schon! So schlimm kann es ja nun wirklich nicht sein.“

„Ha!“ Er seufzt, bevor er endlich die Schultern strafft. „Versprich mir, mich nicht auszulachen. Und wehe, du erzählst den anderen davon!“

„Okay, versprochen. Kein Wort zu niemandem.“ Ungeduldig rutsche ich etwas näher.

„Du musst es wirklich ernst meinen“, murmelt er. Ich verdrehe die Augen.

„Ich schwöre dir, ich meine das total ernst. Außerdem bin ich gestern vor meinem größten Idol zusammengebrochen und habe mich total blamiert, dagegen kommt deine Geschichte sicher nicht an.“

„Du hast dich doch nicht blamiert, Ally! Das war einfach nur schre-“ Hastig und zu meiner großen Erleichterung unterbricht Sam sich. „Wie auch immer. Meine Geschichte ist hundertmal peinlicher. So peinlich, dass ich manchmal noch Albträume davon bekomme.“

Er knetet seine Finger und fixiert ganz bewusst einen Punkt irgendwo hinter meiner Schulter, um mich nicht direkt ansehen zu müssen. „Ich sage das jetzt nur, damit du dich besser fühlst, ja?“

„Ist gut!“ Jetzt lache ich tatsächlich ein bisschen und er stößt es ganz schnell hervor.

Im ersten Moment glaube ich, mich verhört zu haben. „Du hast was?!“ Beim zweiten Mal spricht er zwar kein bisschen deutlicher, aber zumindest bin ich mir jetzt sicher, ihn richtig verstanden zu haben.

„Ich habe mir meinen Du-weißt-schon eingeklemmt. Im Reißverschluss.“

Kurze Schockstille. Dann pruste ich los, unsicher und ungläubig gleichermaßen.

„Sag das noch mal!“

„Auf gar keinen Fall!“

„Aber wie?“ Unzählige Fragen tauchen in meinem Kopf auf. „Und warum?“

„Keine Einzelheiten, ja?“, knurrt er.

„Entschuldige.“ Ich lache immer noch. Er funkelt mich verärgert an und das macht es leider kein bisschen besser.

„Es tut mir wirklich leid! Aber – ehrlich, ich würde zu gern wissen, wie das Krankenhauspersonal reagiert hat!“

„Stoisch.“

Ich pruste noch lauter und meine, auch von Sams Seite ein kleines Kichern zu hören.

„Wirklich. Ich glaube, die haben sich hart zusammengenommen, um mich nicht auszulachen. Nicht so wie du!“ Vorwurfsvoll beäugt er mich.

„Komm schon. Erzähl mir nicht, du hättest dich nicht auch über dich lustig gemacht!“

Ein paar Sekunden hält Sam seinen bösen Blick noch aufrecht, dann gibt er endlich nach. „Okay, ist gut. Vermutlich hätte ich mich nicht einmal behandelt. Ich meine, so blöd kann sich eigentlich keiner anstellen.“

Darauf weiß ich nichts mehr zu erwidern und mein Schmunzeln erlischt langsam. Sam bemerkt meinen plötzlichen Stimmungsumschwung, geht jedoch nicht sofort darauf ein. Stattdessen räuspert er sich, während seine Finger nervöse Kreise auf der Bettdecke ziehen.

Meine Dankbarkeit bildet einen kühlenden Pol inmitten der lodernden Feuerbrunst, zu der mein Brustkorb geworden ist. Dankbarkeit für seine Umsicht, für den Versuch, mich auf andere Gedanken zu bringen … und auch für den Mut, den es ihn gekostet haben muss, so ehrlich zu sein. Ja, Sam ist meistens locker und lustig, aber seinen wahren Kern zeigt er uns nur selten. Gerade eben hat er es getan. Er hat sich nicht verstellt, war nicht bemüht lässig oder witzig. Gerade eben war er der echte Sam. Das rechne ich ihm hoch an, vor allem, weil es so selten vorkommt und ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Teil von sich im Verborgenen zu halten.

Beim Rest unserer Clique ist das anders. Von Maureen weiß ich absolut alles, na klar, und Leah ist eine solche Quasselstrippe, dass ich über jedes Detail ihres Lebens immer bestens informiert bin. Marcus ist zwar, ähnlich wie ich, eher zurückhaltend, aber zugleich einer der ehrlichsten Menschen, denen ich bislang begegnet bin. Meistens ist sogar er es, der tiefgründige Gespräche anleiert, um dann stundenlang mit uns über seine alkoholkranke Mutter oder den Weltfrieden zu sinnieren. Er trägt das Herz buchstäblich auf der Zunge.

Tja, und dann gibt es da eben Sam. Sam, der immer die coolsten Sprüche parat hat, sich jedoch verschließt, sobald es um Persönliches geht. Er lässt kaum jemanden ganz an sich heran, daran habe ich mich eigentlich gewöhnt.

Womöglich lässt sich seine Offenheit damit begründen, dass wir in diesem Moment nur zu zweit sind. Vielleicht mit meiner verletzlichen Lage, die ihn irgendwie dazu ermutigt, selbst ein Stückchen mehr von sich preiszugeben.

„Bist du okay? Kann ich … kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragt er schließlich und rückt etwas näher an mich heran.

In seinen Augen erkenne ich schlagartig eine tiefgehende Wahrhaftigkeit, die mich in ihren Bann zieht, aber merkwürdigerweise auch zurückschrecken lässt. Die Stimmung im Raum ist abermals umgeschlagen, so plötzlich, dass ich es nicht wirklich begreifen kann. Sams Hand befindet sich so nah an meiner, dass sich unsere Finger fast berühren. Sacht drücken sie die Matratze ein, während er sich vorbeugt. Langsam, in Zeitlupe, doch für mich geht das alles viel zu schnell.

Auf einmal ist er so dicht bei mir, dass ich seinen Atem hören kann. Ein unwohler Schauer fährt mir den Rücken hinunter. Versucht er … kann es sein, dass er …? Streift Sams Blick gerade tatsächlich meine Lippen?

Ich fühle mich erstarrt, von der Skurrilität der Situation handlungsunfähig gemacht. Jetzt befindet sich Sams Gesicht so dicht vor meinem, dass ich seinen Atem sogar auf meiner Haut spüren kann.

Und endlich übernehmen meine Impulse die Oberhand. Ich drehe den Kopf zur Seite. Hastig, erschrocken. Räuspere mich, einmal, zweimal. Ich wage es nicht, ihn anzusehen.

„Ich … ähm, ich glaube, du solltest jetzt gehen.“

Sein Schweigen kommt mir schrecklich laut vor. Dann ein Schlucken, die Matratze, die sich unter mir bewegt, als er sich erhebt. Ohne ein Wort geht er und erst kurz vor der Tür höre ich, wie er noch einmal inne hält.

„Gute Besserung, Alyssa.“

Ich kann ihm nicht in die Augen blicken. Bin selbst zu gelähmt, um ein schwaches ‚Danke‘ zu erwidern.

Die Tür schließt sich mit einem dumpfen Laut und dann bin ich wieder allein. Allein mit meinen Schmerzen, Sorgen, Gedanken und plötzlich unzähligen Fragezeichen mehr.

5 – Mittwoch, 18. September

Maureen

Noch nie war ich auf dem Weg von der Schule nach Hause so schnell wie heute. Das mag zum einen daran liegen, dass ich die zahlreichen Blicke, die beständig auf mir lagen, keine Sekunde länger ertragen konnte – ebenso wenig das Tuscheln, das schlagartig verstummte, sobald ich einen Raum betrat. Noch deutlicher hätte jedenfalls nicht werden können, dass absolut jeder über Alyssas Zusammenbruch Bescheid weiß. Zum anderen warte ich seit Stunden ungeduldig darauf, sie endlich im Krankenhaus besuchen zu können.

„Mum, Dad, ich bin da! Können wir jetzt zu Alyssa fahren?“, rufe ich in das stille Haus hinein, kaum dass die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist.

Keine Antwort. Ungeduldig streife ich meine Schuhe ab, pfeffere den Rucksack in eine Ecke und betrete den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer lasse ich nach einem kurzen Blick durch die darin eingebaute Glasscheibe schnell hinter mir und steuere stattdessen die Küche an. Auch deren Tür ist geschlossen, ungewöhnlich. Doch als ich näher komme, vernehme ich Dads leise Stimme. Haben die beiden mich nicht gehört? Sie haben mir versprochen, nach der Schule sofort zum Krankenhaus aufzubrechen.

Ich möchte gerade in den Raum platzen und meine Eltern daran erinnern, da erhasche ich einen Blick auf Mum, die am Esstisch sitzt, ihr Gesicht durch den Glasanteil der Tür halb sichtbar. Ich stocke. Es ist angespannt, tiefe Falten zeichnen sich auf ihrer Stirn ab und unwillkürlich schießt mir ein einziger Gedanke durch den Kopf.

Sie wissen es. Sie wissen, was Alyssa hat. Ich schlucke, bin unfähig, den letzten Schritt zu tun und zu fragen. Was ist passiert? Was haben sie herausgefunden? Ist es was Schlimmes?

Stattdessen stehe ich hier wie festgefroren, die Seite an den Holzrahmen der Küchentür gepresst und beobachte durch die Scheibe, wie sich Mums gesamter Körper zusammenzieht und sie den Kopf in den Händen vergräbt.

Ich habe sie noch nie so gesehen. So verzweifelt, so hilflos. Oh mein Gott. Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott. Zu einem anderen Gedanken bin ich nicht imstande.