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Privatdetektiv Shane McBride ist ein Alphamännchen, ein richtiger Kerl, der keiner Gefahr aus dem Weg geht. Doch sein neuer Fall hat es in sich - nicht nur sein Auftraggeber, der junge Alessandro, gibt ihm Rätsel auf. Nein, in seiner Begleitung befindet sich auch noch ein Wolf! Und als er dann auf den geheimnisvollen Cruiz trifft, gerät sein Weltbild vollkommen ins Wanken - denn Cruiz hat mehr als eine Überraschung für ihn auf Lager.
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Seitenzahl: 345
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Sabine Koch
© dead soft verlag, Mettingen 2010
© Sabine Koch
http://www.deadsoft.de
Cover: M. Hanke
Bilder:
Wolf: Zoa – fotolia.com
Mann: dancerP & AF Hair – fotolia.com
Giraffe: Stephi – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-934442-71-9 (print)
ISBN 978-3-944737-08-9 (epub)
Für Chi-Chi
Samstagabend.
Ein Abend, um sich wieder einmal ins Gewühl zu stürzen. Ein ziemlich mieser, langwieriger Fall war abgeschlossen, die Bösen überführt, die Guten konnten beruhigt schlafen gehen. Und ich war um zwei Riesen reicher, plus Spesen! Grund genug, mir etwas Spaß im Lost Paradise zu gönnen. War seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen.
Es war nicht zu glauben, es hatte sich nichts verändert. Überhaupt nichts. Der Türsteher war noch der gleiche wie bei meinem letzten Besuch. Es war Sergej, bulliger Schrank in schwarzem Leder, er winkte mich durch, kaum dass er mich sah. Ich kannte ihn.
Nicht nur von hier, auch privat. Hatte ihm geholfen, als der überaus lästige Ex seiner Frau anfing zu nerven. Es kostete mich nur einige Nächte Observation, und ein oder zwei Anrufe, dann wurde der Ex leider verhaftet. Es hatte sich herausgestellt, dass der Typ während der Wochenenden mit seiner Tochter lieber illegalen Geschäften nachging, als mit ihr den Zoo zu besuchen. Nun hatte ich freien Eintritt. Nutzte ihn aber viel zu selten.
Hinter der schweren schwarzen Tür war schon ordentlich was los. Musik dröhnte, ein Gemisch aus Schweiß, Parfüm und Testosteron empfing mich, mir hob sich fast das Schädeldach. Ich schob mich durch heiße, knapp bekleidete Leiber, überließ mich dem Strom, es gab kein Durchkommen. Beim Tresen bog ich ab, hangelte mich zum Barmann und bestellte.
Whiskey, was sonst.
Der Barkeeper brachte mein Glas – und einen kleinen Zettel. Das ging ja fix. Ein Blick in die Runde, der Absender war schnell ausgemacht. Ich musterte ihn, nein danke. Ein energisches Kopfschütteln unterstrich meine Botschaft. So nötig hatte ich es dann doch nicht.
Von meinem Platz konnte ich die Tanzfläche sehen. Erhitzte, schwitzende Körper bewegten sich mehr oder weniger im Takt der ohrenbetäubenden Musik. Die Lichtorgeln zuckten, blau, gelb, rot, das ließ einige Anwesende kränklich aussehen. Einzelne grelle Spots zeigten auf besonders sehenswerte Nachtschattengewächse. Eines davon war Roberta, eine schwarze Göttin. Sie war die unbestrittene Discoqueen. Ihr silberner Fummel Größe XXL glitzerte und blinkte dermaßen, dass einem die Augen tränten.
Ich nahm einen ordentlichen Schluck und sah mich um. Die kleinen Metallkäfige, die auf schmalen Podesten standen, waren neu. Ich musste meinen Hals recken, um gut hineinsehen zu können. Aber es lohnte sich.
Sexy. Sehr sexy, fiel mir spontan ein.
Knackige, gut gebaute Jungs, nur mit einem kleinen Stück Stoff an strategisch wichtiger Stelle, bewegten sich sehr lasziv zur Musik. Ihre eingeölten Muskeln glänzten. Perfekte Körper boten eine perfekte Show. Hin und wieder wurde ein Geldschein zugesteckt.
Einer der Boys, ein wahres Engelsgesicht mit kurzen schwarzen Locken, schien der Abräumer zu sein. Eine große Traube hatte sich um seinen Käfig gebildet, gerade hakte er seine Daumen in dieses Stoff-Nichts, dann stand er da, wie Gott ihn geschaffen hatte. Und die Menge tobte, denn Gott hatte es wirklich gut mit ihm gemeint! Die Scheine flogen nur so zu seinen Füßen. Nach fünf Minuten war die Show vorbei, Engelchen schnappte die Kohle und verschwand, nicht ohne ausgiebig betätschelt zu werden.
Ich trank meinen Whiskey aus und verließ den sicheren Hafen, stürzte mich in die Menge. Im Gegensatz zu den meisten Kerlen, die sich präsentierten wie auf einem Fleischmarkt, war ich gerade züchtig bekleidet. Ich trug ein enges Shirt, es betonte meine durchaus sehenswerten Muskeln, und weiche, fast weiß gewaschene Jeans, sie stammte noch aus meiner Sturm- und Drangzeit, saß schön knackig, wo es gefordert war. Nach ein paar Yards überließ ich mich der Musik. Dank meiner Mom, die mich in diverse Tanzkurse geschleppt hatte, hatte ich so was wie Taktgefühl.
Mit einem Blick checkte ich die Lage. Ich suchte nichts Festes, nur ’ne schnelle Nummer. Mehr war nicht drin. Privatdetektiv ist ein Job ohne feste Arbeitszeiten. Gift für jede Beziehung. Also suchte ich mir Vergnügen, wenn mir danach war. Und heute war es mal wieder so weit.
Na Bitte.
Da kam doch schon was Passendes vorbeigetänzelt. Kurzer Blickkontakt, los ging’s! Ich beugte mich zu dem Kleinen herunter.
„Zeig mir deinen Ausweis“, brüllte ich ihm ins Ohr, ohne diese Sicherheitsmaßnahme lief nichts. Der Kleine stutzte, zuckte bedauernd die Achseln. Da schüttelte ich nur den Kopf. Keine Chance. Kein Sex mit jemandem, dessen Alter ich nicht kannte.
Ein paar Yards weiter fiel mir ein Kerl auf. Ich war schon groß gewachsen, doch er war noch etwas größer. Und nicht nur mir war er aufgefallen. Sämtliche Tunten in seinem Umkreis bekamen weiche Knie und glasige Augen. Roberta umkreiste ihn wie ein Satellit, versuchte alles, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Vergeblich.
Ähnlich gekleidet wie ich, sein Shirt war blau, meins grün. Ein gut gebauter Kerl, Typ Soldier Boy Schrägstrich einsamer Wolf. Kantiges Gesicht, militärisch kurzer Haarschnitt, oben stand’s hoch, an den Seiten war’s weg. Der Inhalt seiner Jeans ließ hoffen, ging ich davon aus, dass es keine Socke war, die da zur Schau gestellt wurde. Ich seufzte kurz und bedauernd, Alphamännchen war ich selber.
Er schob sich auf mich zu, musterte mich, wie ich ihn zuvor. Ich hob nur die Braue und tanzte. Er zog weiter, Roberta hinterher.
Es dauerte nicht lange und wieder war mir das Glück hold. Er war niedlich und mit Ausweis. Schon drängelte ich mich mit meinem Fang über die Tanzfläche nach hinten, Richtung Darkroom. Nettes Etablissement.
Wie der Name schon sagte, ein dunkler, abgeschiedener Bereich, in dem Mann sich austoben konnte. Jeder mit jedem, sozusagen. Mit meinem Herzchen an der Hand suchte ich eine stille Ecke. Es brannte überall gerade so viel Licht, dass niemand sich das Genick brechen konnte. Oder andere wichtige Körperteile.
Wir kamen an Typen vorbei, die sich in jedem Zustand sexueller Ekstase befanden. In Zweier- oder Dreiergruppen leckten, stießen, fickten sie sich, es gab kein Tabu, alles war erlaubt. Es überraschte mich immer wieder, zu welchen Verrenkungen der menschliche Körper fähig war. Hinter einer Gruppe stöhnender und sich windender Typen war noch Platz. Es blieb nicht aus, dass wir Zeuge einer kleinen Darbietung wurden.
Einer der Kerle kniete, lutschte dabei einem unter ihm liegenden Typen dessen Riesenschwanz wie eine Bratwurst, während der Hengst hinter ihm seinen knackigen Arsch bearbeitete und dauernd „Ja! Ja! Ja!“ stöhnte.
Mir war ziemlich heiß, meine Hose füllte sich, so eine Live-Show hinterließ Spuren. Herzchen ließ sich gerade nieder, um meinen Freund zu begrüßen, als der Typ von der Tanzfläche auftauchte. Er packte Herzchen im Genick und pflückte ihn vom Boden.
„Kleiner, geh wo anders spielen!“, knurrte er. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. Sie waren hellbraun, mit einem Schuss Honiggold. Sehr ungewöhnlich. Während Herzchen floh, stemmte ich lässig die Arme in die Hüften.
„Was willst du, Soldier Boy? Bietest du mir deine Dienste an?“
„Umgekehrt. Du deine.“ Seine Handbewegung Richtung Süden war unmissverständlich.
Ich lachte. „Träum weiter, Schätzchen“, sah mich um, wollte das Herzchen wieder einfangen.
Er war gut. Ich sah die Faust nicht kommen. Nur meinen guten Reflexen war es zu verdanken, dass ich auswich. Er erwischte mich an der Schulter, nicht am Kinn, ich fiel fast über die Darsteller des flotten Dreiers. Die Damen quietschten, der Hengst pöbelte, hielt aber schnell die Klappe, als ein böser Blick ihn traf.
Ich revanchierte mich mit einem gut platzierten Sidekick, der Soldier Boy ein Stück zurückwerfen sollte, aber … er steckte ihn weg. Ich hatte das Gefühl, vor eine Betonwand getreten zu haben. Bevor das Gerangel noch böse endete, packten seine großen Fäuste mein Shirt, er drängte mich an die Wand und drückte mich dagegen. Sein Gesicht kam meinem ganz nah.
„Geschlagen im ehrlichen Kampf. Also, hör auf, dich zu zieren“, flüsterte er heiser. „Ab ins Separee.“
Ja, ich gebe es zu. Es turnte mich an. Mächtig sogar.
Doch ich war Shane McBride, Ex-Cop und Privatdetektiv. Ein Mann, ein echter Kerl. Ich gab die Befehle. Meine Muskeln spannten sich schon, in Gedanken hatte ich meine Chancen durchgerechnet. Doch Soldier Boy ahnte, was ich vorhatte, packte meine Handgelenke, nagelte sie über meinem Kopf an der Wand fest und lächelt überheblich.
„Bist ’n ganz Harter, was?“, während er das sagte, kam er immer näher, unsere Oberkörper berührten sich, ich spürte, wie sich meine Nippel erhoben. Da packte er an mein Prachtstück. Mir blieb der Atem weg.
„Wäre doch Verschwendung, das nicht zu nutzen. Also, noch mal. Ab ins Separee!“ Seine Honigaugen versenkten sich hypnotisch in meinen, ich ergab mich.
„Na also, war doch gar nicht so schwer“, war sein Kommentar, als ich meine Muskeln entspannte. Mein Becken bewegte sich fast von alleine vorwärts. Seine Hände wanderten zu meinen Schultern, wanderten weiter abwärts, ich griff in seinen Hosenbund, öffnete flink die kleinen Knöpfe und ging auf die Suche. Als ich fündig wurde, zuckte ich kurz zusammen. Definitiv keine Socke, schoss es mit durch den Kopf.
Soldier Boy drehte sich, brachte sich in Position, sodass ich mich gen Süden aufmachen konnte. Ich tat es, ließ mich auf die Knie fallen. Seine große Hand grub sich grob in meine Schulter, die andere krallte sich in mein Haar. Ich fummelte noch ein wenig am Hosenbund herum und dann …
Dann ließ ich die Handschellen klicken, ich weiß schon, warum ich niemals ohne gehe. Blitzschnell schnappte eine um das Gelenk, die andere um eine der Haltestangen, die hier überall an den Wänden angebracht waren. Fesselspiele waren im Moment sehr aktuell. Als er merkte, was ich getan hatte, sah er für einen Moment ziemlich sauer aus. Würde er anfangen zu randalieren?
„So Schätzchen. Schluss mit lustig.“ Ich richtete mich wieder auf, zog meine Klamotten zurecht. „Nimm es nicht persönlich, aber ich sage, wo es langgeht, klar?“ Dabei tätschelte ich seine Wange. Honigauge war ein guter Verlierer, das musste man ihm lassen.
„Ein Cop? Ein einfaches ‚Nein’ hätte auch gereicht“, grummelte er.
Ich zog die Augenbraue hoch und grinste nur. Schade, dass er so ein verdammter Macho war.
„Privatdetektiv“, antwortete ich knapp. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“
Und dann ritt mich der Teufel. Ich packte sein Kinn, hielt es fest und pflanzte einen fetten, feuchten Kuss auf seinen Mund. Meine Zunge rammte sich zwischen seine festen Lippen, fand seine Zunge, und ehe ich es mir vorstellen konnte, verwickelten sie sich so miteinander, dass mir Hören und Sehen verging.
Nach gefühlten fünf Minuten musste ich die Gymnastik wegen akuten Luftmangels unterbrechen. Mein Sparringspartner hatte seine freie Hand in mein Shirt gekrallt, und auch meine unbeschäftigten Finger hatten sich einen Platz gesucht, klebten an einer extrem knackigen Pobacke fest. Zwischen unsere Körper hätte kein Haar gepasst, so hingen wir aufeinander. Ich rang nach Luft. Zu behaupten, ich wäre nicht überrascht, wäre eine dicke Lüge. Soldier Boy schaute übrigens genauso verdutzt aus der Wäsche.
Ich angelte nach dem kleinen Schlüsselchen in meiner Hosentasche, hakte die Handschellen wieder auf und verschwand wortlos. Im Lost Paradise war inzwischen die Hölle los, doch ich wollte nur noch nach Hause. Also kämpfte ich mich quer durch diesen Dschungel, wehrte Dutzende Einladungen ab, trat auf die Straße und atmete die kühle Nachtluft ein. Ich stieg gerade in meinen Wagen, als ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Prüfende Blicke in alle Richtungen, doch niemand war zu sehen.
*
Zehn Tage später
Der Barmann schaute mich nur kurz über seine randlose Brille an, als ich mich auf einem der Hocker niederließ. Er war dabei, die Kristallgläser mit einem Tuch auf Hochglanz zu polieren.
„Wie alt soll er sein?“
„Heute? Fünfzehn, mindestens.“
„Besondere Sorte?“
„Amerikaner.“
Er begrüßte meine Entscheidung, griff zwischen die vielen Flaschen, die in einem Regal hinter ihm standen, und zog eine davon hervor.
„Noah’ s Mill?“
Ich nicke nur. „Auf Eis, bitte.“ Ich trank gerne einen guten Whiskey, die Sorte und das Alter variierten, wollte mich nicht festlegen. Eddie Sullivan, von allen die ihn näher kannten nur ‚Sully’ genannt, pulte einige Eiswürfel aus dem kleinen Behälter und ließ den guten Schluck sanft darüber hinweg rinnen. Es knisterte leise. Dann stellte er das Glas vor mich auf den Mahagonitresen.
„Gute Wahl.“
Ich grunzte bloß und nahm das kühle Glas in die Hand. Die Eiswürfel klirrten leise, ich roch kurz daran, trank einen Schluck ... Und verzog angewidert das Gesicht.
Geschmackloser Whiskey. Etwas Schlimmeres konnte man diesem edlen Getränk nun wirklich nicht antun. Ich trank noch einen Schluck, obwohl, oder besser, weil ich eine Grippe hatte, wie schon lange keine mehr. Ein kleiner fieser Zwerg hämmerte auf meinem Hirn herum, meine Nase hatte die Farbe und Form einer prächtigen roten Seegurke und der Geschmackssinn hatte sich auch verabschiedet.
Ich sollte gar nicht hier sein. War eigentlich auf dem Weg in die Apotheke, Medizin holen. Doch als ich an der kleinen Bar vorbeikam, fragte ich mich, ob es stimmte, was behauptet wird. Nämlich, dass Alkohol bei Erkältung hilft. Also, warum nicht mit einem ordentlichen Whiskey die Bazillen aufscheuchen. Und ausrotten.
Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, der hinter dem Tresen an der Wand hing. Anscheinend sah ich genau so aus, wie ich mich fühlte. Mies.
Das hinderte eine dralle Blondine in einem schicken grünen Seidenfummel allerdings nicht, mich begehrlich anzulächeln. Ich ignorierte es und hob kurz meine linke Hand, an der ich einen schmalen Goldreif trug. Sorry, verheiratet, signalisierte ich ihr, und schaute wieder in meinen Whiskey.
Ich schob das Glas zur Seite. Dass mir der Whiskey nicht schmeckte, hatte es bloß ein einziges Mal gegeben. Damals, als ich meine Mutter beerdigt hatte. Er schmeckte mir nicht, aber ich trank ihn trotzdem.
Auch diesen hier trank ich. Dabei sah ich mich um. Es war noch nicht sehr voll. Da war Blondie, sie hatte ein neues Opfer gefunden, er trug einen teuren Anzug, einen teuren Haarschnitt, und sein ganzes Gebaren war das eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Sie kicherte dümmlich und himmelte ihn an. Ich gönnte es ihm.
Hinten am Tresen saß ein alter Mann, ihn kannte ich. Wann immer ich diese Bar betrat, saß er genau dort und trank zwei Gläser Bier, nicht mehr. Kein Schnaps, kein Cocktail. Sein Name war Abe, er war ungefähr siebzig. Seine Gesichtszüge waren zerknittert, die leuchtend blauen Augen schauten freundlich.
Er hob sein Glas, als er mich sah, und prostete mir zu. Ich erhob meinen Drink und grüßte zurück. Mein Blick fiel auf die kleinen Tischchen, die an der Wand entlang standen. Dort saß eine einzelne Person mit dem Rücken zum Tresen. Im Dämmerlicht der Bar konnte ich nicht viel erkennen. Es konnte ein Mann oder ein Mädchen sein, dunkles Haar fiel lockig bis in den Nacken herab, die Gestalt trug einen dunklen Rollkragenpulli.
Mir fielen die schmalen Schultern auf. Er oder sie schien nervös zu sein, unruhig spielten die Hände mit einem Gegenstand. Ich konnte das Klackern hören, wenn er die Tischplatte berührte. Irgendetwas an dieser Person erregte meine Aufmerksamkeit und ich machte mir so meine Gedanken, während ich an meinem Whiskey nippte. Wartete sie auf ihren Freund? Oder war er mit jemandem verabredet?
Wie auch immer, dieses Geschöpf dort schien mir aber noch längst nicht alt genug, um sich hier in einer Bar herumtreiben zu dürfen.
Die Blondine rief nach Sully, sie bestellte unter heftigem Gekicher eine Flasche Champagner. „Für meinen neuen Freund und mich, wir haben was zu feiern!“, rief sie laut durch die Bar.
Ich sah kurz hinüber, Sully holte das Gewünschte aus dem Eisschrank, der Korken flog mit einem Knall aus der Flasche, und Blondie lachte noch alberner.
Die Gestalt am Tisch zuckte bei dem unerwarteten Geräusch heftig zusammen, der Gegenstand flog ihr aus der Hand und rutschte zu Boden. Die Hände erstarrten kurz, dann beugte sich die Gestalt herunter und hob ihn wieder auf. Jetzt erhob sie sich und trat an den Tresen heran.
Ich schaute neugierig zu, wie sie in den Lichtkreis der Lampen trat. Nun konnte ich die Person von der Seite betrachten. Aber erkennen konnte ich immer noch nicht viel mehr, die lackschwarzen lockigen Haare hingen weit ins Gesicht hinein, verdeckten den größten Teil. Ich ließ meinen Blick weiter herab wandern. Die Brust war schmal, ebenso die Taille, und auch die langen Beine gaben keinen Aufschluss auf das Geschlecht.
Es konnte ein sehr zierliches junges Mädchen oder ein sehr schmächtiger junger Mann sein. Ich tippte aber auf einen Mann, als ich die Hände sah, die jetzt auf dem Tresen lagen.
„Bitte haben Sie ein Telefonbuch für mich?“ Die Stimme klang weich, aber jünger, als ich getippt hätte.
Sully, der wieder seine Gläser polierte, unterbrach, kramte unter der Bar und förderte ein altes zerfleddertes Telefonbuch zutage. „Hier, reicht das?“
Das Wesen nickte, drehte den Kopf kurz in meine Richtung und verschwand mit dem Buch wieder an den Tisch. Ich verfolgte es mit meinen Blicken. Meine Neugier war geweckt. Nicht nur, dass es recht kräftige Hände hatte, zu kräftig für ein Mädchen, die Knöchelchen der rechten Hand waren abgeschürft und blutig. Solche Verletzungen hatten Mädchen eher selten. Also ein Junge.
Wer war dieses Kerlchen? Er hatte sich erschrocken, als der Korken knallte, dachte er etwa, einen Schuss gehört zu haben? Seine Hand war verletzt, hatte er sich geschlagen? Mit wem? Warum? Meine detektivische Fantasie schlug Purzelbäume.
Sully kam zu mir. „Was ist, möchtest du noch einen?“
Ich schüttelte den Kopf, es wäre Verschwendung gewesen, in meinem Zustand noch so einen Tropfen zu trinken. Ich trank meinen Whiskey aus und reichte Sully einen Schein über den Tresen. „Wer ist der Typ dort? Kennst du ihn?“
Sully schaute über meine Schulter. „Den da? Nein, noch nie gesehen. Warum?“
„Nur so. Irgendetwas an ihm ist mir nicht geheuer. Es ist nur ein Gefühl.“ Ich rieb meinen schmerzenden Kopf. „Ist auch egal, ich muss los, Rosie wird mich schon vermissen. Bis bald.“
Ich stand auf, warf dem Jungen noch einen Blick zu und ging. Draußen war es inzwischen dämmerig geworden, und es regnete leicht.
Auf den nassen Straßen spiegelte sich das Licht der Stadt wieder. Straßenlaternen und Schaufenster warfen ihren hellen Schein in die Pfützen, er vermischte sich mit dem Neon der Reklametafeln zu einem bunten Kaleidoskop von Farben, um mich herum toste der Feierabendverkehr, mir war kalt und schwindelig.
Ich klappte den Kragen der Lederjacke hoch, um mich wenigstens etwas vor dem Nieselregen zu schützen und machte, dass ich ins Büro zurückkam.
Rosie, meine Sekretärin und unbezahlbare Perle, erwartete mich schon. Mit einem Glas Wasser und einem Medizinröhrchen in der Hand.
„Hier, so wie ich Sie kenne, waren Sie mit Sicherheit nicht in der Apotheke. Sie werden jetzt dieses Medikament nehmen und dann nach Hause fahren! Sofort!“
Ich versuchte erst gar nicht zu protestieren. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, Rosie auf keinen Fall zu widersprechen. Mannhaft schluckte ich also meine Medizin und spülte mit einem großen
Schluck Wasser nach. Dann tat ich das, was ich schon längst hätte tun sollen, ich fuhr nach Hause.
Stöhnend kam ich zu mir. Mein Schädel dröhnte, die Augen bekam ich gar nicht auf, und das Schrillen in meinem Kopf brachte mich fast um. Es dauerte einen Moment, bis ich das nervige Geräusch mit dem Telefon in Verbindung brachte. Ich setzte mich auf, das heißt, ich versuchte es, doch ein heftiger Schwindel ließ mich schnell wieder in die Kissen sinken. Das Schrillen hörte nicht auf, also angelte ich den Hörer im Liegen vom Nachtschränkchen.
„’llo?“, krächzte ich, meine Stimme gehorchte nicht.
Schweigen.
Ich räusperte mich, verdammt, ich hatte das Gefühl, ein Reibeisen verschluckt zu haben.
„Wer zur Hölle ist da?“
„McBride? Sind Sie der Privatdetektiv?“ Die Stimme flüsterte, ich konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Ich warf einen Blick auf den Radiowecker. Viertel vor drei.
„Was wollen Sie?“
„Ich brauche Ihre Hilfe, ich …“ Der Anrufer klang panisch, dann schwieg die Stimme, ich hörte nur leises Atmen, es klang unterdrückt, so als sollte es keiner hören.
Mein Adrenalinspiegel stieg. Ich knipste die kleine Lampe an, heftiger Schmerz durchfuhr mich.
„Sind Sie in Gefahr? Wo sind Sie?“, tapfer ignorierte ich die Zwergenhorde in meinem Schädel.
Ich schwang mich schon aus dem Bett, als die Stimme wieder flüsterte. „Bitte, Sie müssen mir helfen, ich bin in dem kleinen Coffeeshop in der Walnutstreet.“ Dann hörte ich nur noch das Klicken, als der Hörer eingehängt wurde.
Walnutstreet. Die kannte ich. Während ich noch überlegte, fuhr ich in ein Paar Jeans und einen warmen Pulli. Und überlegte. Kleiner Coffeeshop. Hm, das konnte nur der an der Ecke sein, Jane’s Coffee-Bar hieß er. Er hatte die ganze Nacht geöffnet, in der Nähe gab es einige Discos und Theater. Bei Nachtschwärmern recht beliebt.
Mit der rechten Hand griff ich meine Grippetabletten, schmiss mir schnell eine ein, mit der anderen angelte ich meine Boots. Ich überlegte kurz, Waffe ja oder nein? Ich entschied mich für ja, ein Griff in meinen Nachtschrank, dann schnallte ich den Holster um und verstaute meinen 357-er Smith & Wesson. Es gab modernere Waffen als diese, aber wenn ich schon eine tragen musste, dann eine, der ich immer vertrauen konnte. Doch ich betete jedes Mal, dass ich sie nicht benutzen musste. Dieser Revolver hatte schon meinem Vater gehört und ihn beschützt. Mein Dad war früher auch ein Cop gewesen, sogar Captain, aber jetzt im Ruhestand.
Die Lederjacke geschnappt, ich beeilte mich, der Anrufer hatte Angst gehabt. Es war nicht ungewöhnlich, Klienten auf diesem Weg zu erhalten. Sie steckten in irgendwelchen Klemmen, aus denen sie allein nicht wieder herauskamen, die Cops hatten meist einen guten Grund, sie verhaften zu wollen, also blieb meist nur ein Privatdetektiv oder Anwalt. Und da Detektive in der Regel billiger waren, entschieden sich die meisten für einen von ihnen.
Inzwischen hatte ich die Tiefgarage erreicht, schwang mich in meinen alten Dodge Charger und warf den Motor an. Mit der altmodischen Hebelschaltung legte ich den Gang ein, ließ den V-8 Motor dröhnen und tuckerte langsam an die Oberfläche. Dann gab ich ordentlich Gas und brauste durch die Nacht.
Dieses Auto war der ultimative Wahnsinn. Mein Dad kaufte ihn sich 1972, nachdem er wirklich hart dafür geschuftet hatte. Er fuhr Doppelschichten als Motorrad-Cop, und als er das Geld dafür zusammenhatte, betrat er den gläsernen Palast des Autohändlers und legte stolz einen kleinen Koffer voll Bargeld auf den Tisch. Er nahm den Wagen gleich mit.
Ich erinnerte mich noch an fast jede Fahrt, die Dad mit mir unternommen hatte. Und an jeden Samstag, dann wurde das gute Stück herausgeholt und gewaschen. Von Hand natürlich. Ich durfte ihm dabei helfen, sobald ich alt genug war, einen Schwamm zu halten. Danach wurde der verchromte Kühlergrill poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Der Höhepunkt war, dass wir mit Mom eine Spritztour unternahmen und in einem Drugstore einen Schokomilchshake tranken.
Während ich noch so in Erinnerungen schwelgte, erreichte ich die Walnutstreet. Es war fünf nach drei. Ich parkte den Wagen direkt vor dem Coffeeshop, stieg aus und warf schnell einige prüfende Blicke in die Gegend. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine hastige Bewegung wahr, als ich mich umdrehte, verschwand eine dunkle Gestalt in der kleinen Gasse. Ich sah ihr noch einen Moment nach, dann betrat ich den Coffeeshop.
Der Shop war ein langer Schlauch, der sich weit nach hinten zu ziehen schien. Um den Tresen zu erreichen, musste man erst etliche Meter zurücklegen. Die Einrichtung war pseudomodern, in den Farben zurückhaltend, es gab braun in allen Nuancen und ein grün, welches mich an Erbsenpüree erinnerte. Ich schaute mich um. Der Laden war leer, nur der Barista stand einsam bei seinen ultramodernen Kaffeemaschinen. Als er mich sah, kam etwas Leben in ihn.
„Guten Abend, Sir. Was darf ich Ihnen zubereiten? Wie wäre es mit einem fettfreien Cappuccino? Oder eine koffeinfreie Latte macchiato?“
Ich musste mich schütteln. „Ich will einen richtigen Kaffee. Mit richtiger fettiger Sahne und Zucker. Dieses Modezeug steck dir an den Hut!“
Noch immer konnte ich niemanden sehen, der aussah, als stecke er in Schwierigkeiten. Mit dem Rücken zur Wand setzte ich mich an eines der kleinen Tischchen. Weit genug von der Tür entfernt, aber auch vom Tresen.
Der Kaffee kam, er roch wirklich gut. Ich hielt den Mann auf, als er sich schon wieder entfernen wollte. „Hören Sie, ich hatte mich hier mit jemandem verabredet. Haben Sie …“
Eine schmale Gestalt schob sich auf den Stuhl vor mich. „Ich bin hier.“
Ich schaute ziemlich überrascht. Den kannte ich doch. Das war doch … Klar, das war das Kerlchen aus Sullys Bar. Nur sah er jetzt noch etwas übler aus. Am Kinn schillerte ein hässlicher blauer Fleck, eine blutverkrustete Schramme zog sich vom Auge über die Wange, und in seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck. Er senkte den Blick.
„Auch ’n Kaffee?“ Ich wartete die Antwort gar nicht ab und machte dem Typ hinter dem Tresen ein Zeichen.
„Noch einen bitte.“ Dann wandte ich mich meinem Gast zu. Außer den sichtbaren Spuren schien ihm noch mehr wehzutun. Er bewegte sich vorsichtig, rieb sich den Magen und verzog das Gesicht. Ich gab die Sahne und einen Löffel Zucker in meinen Becher, rührte um und sagte erst einmal gar nichts, bis auch der Junge seinen Kaffee vor sich stehen hatte.
„So, nun erzählen Sie mal. Wer sind Sie, was wollen Sie und wer hat Sie so zugerichtet?“
Das Kerlchen zog die schmalen Schultern hoch und schaute nur auf die Tischplatte vor sich. Ich trank einen Schluck, mein Grippemittel schien zu wirken, ich konnte tatsächlich etwas Köstliches schmecken. Das war ein Kaffee!
„Sie sollten mir schon etwas erzählen, ich bin nicht mitten in der Nacht hier, um nur einen Kaffee zu trinken, okay?“
„Mein Name ist Al… Sie können Jerry zu mir sagen.“ Er weigerte sich, mir in die Augen zu sehen.
„Jerry und weiter?“
„Jerry … Smith.“
Ich schnaubte nur. Aber was soll’s. Wenn ein Klient seinen Namen nicht nennen wollte, konnte es eigentlich egal sein, es sei denn …
„Ich hoffe für Sie, dass Sie niemanden umgelegt haben. Mr. Jerry Smith, denn dann gehe ich. Sofort.“
Er zuckte zusammen, dann schaute er mir direkt ins Gesicht. Unsere Augen trafen sich und diesmal war ich es, der zusammenzuckte. Grasgrüne Augen schauten mich an, sie wirkten so unschuldig wie die eines Neugeborenen.
„Ich habe nichts getan.“
„Wer hat Sie so zugerichtet?“
„Zwei … Typen … Einer nannte den anderen Mr. Miller, oder so ähnlich. Ich kenne die beiden nicht, aber ich glaube, Miller war der Boss.“
Mr. Miller? Mr. Smith und Mr. Miller. Fiel denn niemandem etwas Besseres ein?
„Was wollten die von Ihnen?“
„Das weiß ich nicht. Die tauchten bei … mir auf und verlangten, dass ich mitkäme. Als ich das ablehnte, wurden sie sehr ungehalten, und ich bezog Prügel. Es gelang mir … zu entkommen.“
„Auf wen warteten Sie in der kleinen Bar?“
„In der Bar? Auf … niemanden.“
Ich verdrehte nur die Augen. „Kommen Sie. Sie waren so nervös wie eine Maus zwischen ein paar schlafenden Katzen. Also?“
Grünauge schwieg. Er malte kleine Kreise auf die Tischplatte und drehte seinen Kaffeebecher hin und her.
Plötzlich ging die Eingangstür auf, und ein Schwung Nachtschwärmer trudelte ein. Sie verteilten sich unter Geplapper und Gekicher auf die Tischchen. Der Junge erschrak, ich warf einen Blick auf die Uhr, zwanzig nach drei, und gähnte.
„Warum haben Sie mich angerufen?“
„Ich will, dass Sie mich vor Mr. Miller beschützen. Er drohte, wiederzukommen, und er hat mir sehr drastisch erklärt, was er mit mir macht, wenn w… ich weiter nach …“ Er brach ab.
„Wenn Sie weiter nach … was oder nach wem? Fragen? Suchen?“
Wieder erhielt ich keine Antwort. Ich beugte mich über das Tischchen hinüber und begann, auf ihn einzureden.
„Hören Sie, so läuft das nicht! Wenn ich für Sie arbeiten soll, müssen Sie mir meine Frage schon beantworten. Und zwar alle. Wenn nicht, gute Nacht! Also, los.“
Jerry schaute sich vorsichtig um, doch niemand nahm Notiz von uns. „Na schön, die Wahrheit. Ich suche meine Mutter, sie ist seit … einiger Zeit verschwunden. Ein … Freund behauptet zu wissen, wo sie ist, und wir verabredeten uns in der Bar. Doch er kam nicht.“
Hm, stattdessen kam wohl ‚Mr. Miller’.
„Na bitte, es geht doch! Woher haben Sie meine Nummer?“
„Die Nummer habe ich aus dem Telefonbuch.“
Ich wusste, er log. Meine Nummer stand nicht im Telefonbuch. Merkwürdig für einen Privatdetektiv, aber ich hatte meine Gründe dafür. Erst einmal ließ ich Jerry diese Lüge durchgehen.
„Nach Hause sollten Sie erst einmal nicht gehen, wo können Sie sonst unterkommen?“
„Nirgends. Ich bin noch nicht lange in der Stadt, ich kenne hier kaum jemanden.“
Ich überlegte. Ich wusste, irgendwann würde ich es bereuen, doch im Moment schien es mir der einzig richtige Weg.
„Okay, dann kommen Sie mit zu mir, wenigstens für diese Nacht. Oder das, was davon noch übrig ist. Morgen sehen wir weiter.“
„Hat Ihre Frau denn nichts dagegen, wenn Sie mitten in der Nacht jemand Fremdes mitbringen?“
„Meine Frau?“
Jerry deutete auf meine linke Hand. „Das ist doch ein Ehering, oder?“
Oh, der Ehering. Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht verheiratet. Dieser Ring hält mir die Frauen vom Hals.“
Jerry war verwirrt, das konnte ich sehen. „Es ist sehr lästig, wenn man dauernd von irgendwelchen Frauen angesprochen wird.“ Ich war nicht eitel, aber es stimmte. Frauen fühlten sich von mir angezogen, wie Motten vom Licht. Leider … konnte ich mit ihnen rein gar nichts anfangen. Während die Damen mich mit ihren Blicken verschlangen und überlegten, wie sie mich am unauffälligsten in ihre Falle locken konnten, wäre ich manches Mal lieber mit dem einen oder anderen ihrer attraktiven Begleiter verschwunden.
Jerry zog die Schultern hoch und begann, herumzudrucksen. „Ich, also da ist …“
„Was? Ist noch was?“
„Ja, also, ich habe draußen jemanden warten. Meinen Begleiter, sozusagen, er muss auch mit.“
„Ein Begleiter?“
Jerry nickte. „Ohne ihn kann ich nicht gehen. Er passt auf mich auf.“ Er rieb sich den Magen. „Meistens, jedenfalls.“
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Zwei Fremde in meiner Wohnung? Lebensmüde war ich eigentlich nicht. Mit dem Kleinen hier konnte ich zur Not fertig werden, aber ein Leibwächter?
„Bevor ich Sie beide mitnehme, will ich den anderen sehen.“
„Okay, aber ich kann Ihnen versichern, er ist harmlos.“
„Das zu beurteilen, überlassen Sie besser mir.“ Wenn mir die Nase dieses Kerls nicht gefiel, würde ich beide in einem Hotel unterbringen. Ich trank den Kaffee aus, klemmte einen Schein unter den Becher und stand auf. Jerry folgte. Draußen in der kühlen Nachtluft erschauerte ich kurz und drehte mich dann zu meinem neuen Klienten um.
„Wo ist denn Ihr Begleiter?“
Der Junge drehte sich zur Gasse um und pfiff leise. Zuerst geschah gar nichts, er pfiff noch einmal. Dann hörte ich ein leises Geräusch, ein Knurren, ein kurzes Bellen, und der Begleiter kam ans Licht.
Ich erstarrte und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Das war der Begleiter? Ernsthaft, da stand ein riesiger Hund vor uns. Und wenn ich sagte, riesig, dann meinte ich, er ging mir fast bis zur Hüfte. Bei meiner Größe von fast einsneunzig ist fast hüfthoch ganz schön hoch.
Bernsteinfarbene Augen blickten mich an, unterzogen mich einer genauen Musterung, die feuchte Nase schnüffelte, dann setzte die Bestie sich vor seinen Herrn. Jerry legte seine Hand auf den riesigen Kopf und streichelte ihn.
„Das ist Vulto. Haben Sie Angst?“, fragte er herausfordernd.
„Angst nicht direkt. Eher Respekt. Was ist das für eine Rasse?“ Wie ein normaler Hund sah er nicht aus. Eher wie ein ...
Ich zuckte zusammen. „Das ist gar kein Hund, richtig? Das ist ein Wolf!“, entfuhr es mir. Das hatte gerade noch gefehlt. Ein wildes Tier mitten in einer Großstadt. Ich sah die Schlagzeilen in der Zeitung schon vor mir.
Wilder Monster-Wolf fällt unschuldige Passanten an!
Privatdetektiv unter den ersten Opfern!
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dieses Monster in meiner Nähe zu wissen.
„Ich hoffe, Sie haben Ihr Schoßtierchen unter Kontrolle.“
„Keine Angst, er gehorcht mir aufs Wort.“
„Wenn nicht, werde ich nicht zögern, ihn zu erschießen, klar?“
Täuschte ich mich, oder schaute der Wolf bei diesen Worten etwas verkniffen? Ich schüttelte mein Unbehagen ab, trat zum Wagen und öffnete die Tür.
„Der Kleine sitzt hinten. Wehe, er zerkratzt mir die Polster.“ Da verstand ich keinen Spaß. Mein Wagen war mir heilig. Ich schaute dem Wolf direkt in die Augen. „Ein Kratzer, und du endest als Bettvorleger!“
Wieder hatte ich das Gefühl, das Tier zog unwillig seine Lefzen hoch. Verstand er mich? Ich schüttelte leicht den Kopf. Verdammte Grippe.
Während wir durch die Nacht fuhren, sah ich hin und wieder zu meinem neuen Klienten hinüber. Er schaute die meiste Zeit aus dem Fenster, doch viel zu sehen gab es nicht, die ersten waren auf dem Weg zur Arbeit, hasteten verschlafen zur U-Bahn, die letzten bummelten endlich nach Hause. Er schien müde und erschöpft zu sein, sein Kopf lehnte an der Scheibe. Was war seine Geschichte? Er war noch viel zu jung, um alleine in der Welt herum zulaufen, den Wolf zählte ich mal nicht mit. Doch so wie es aussah, würde ich seine Story heute nicht mehr zu hören bekommen. Der Kleine schlief ja schon fast.
*
Ich öffnete die Tür zu meinem kleinen Gästezimmer. Es kam nicht oft vor, dass jemand hier pennte. Mein Dad ganz selten, Klienten ab und zu. Andere Kerle nie. Wolf – das war eine Premiere.
„Hier. Da könnt ihr beide erst einmal bleiben. Morgen früh erwarte ich einen ausführlichen Bericht, klar?“ Aus dem Schrank zog ich Bettzeug heraus und warf es auf die schmale Liege. „Der Kleine schläft auf der Erde. Muss er noch mal Gassi?“
Jerry konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. „Nein. Ich denke, Vulto hat alles, was er braucht.“
Ich nickte zufrieden. „Dann gute Nacht.“ Mir fiel noch etwas ein. „Noch was, Jungs. Ich schlafe mit meiner Waffe. Und mein Schlaf ist sehr leicht. Es sollte also niemand auf dumme Gedanken kommen, verstanden?“
Damit verschwand ich und überließ meine Gäste sich selber. Ein schneller Blick auf die Uhr, ein paar Stunden konnte ich wohl noch schlafen.
Alessandro ließ sich auf das schmale Bett sinken. Wieder betastete er sein Gesicht und stöhnte. „Da haben wir aber noch einmal Glück gehabt. Ich dachte wirklich, dieser Bastard bringt mich um. Wenn du nicht gewesen wärst, oh Mann!“
Vulto schmiegte sich dichter an ihn und sah zu ihm auf. So etwas wie ein schlechtes Gewissen leuchtete aus den bernsteinfarbenen Augen.
Es tut mir leid, dass ich es nicht verhindern konnte. Ich kam zu spät, das hätte mir nicht passieren dürfen.
„Ich weiß, du würdest mich niemals im Stich lassen. Was erzähle ich dem Typ denn nun? Er will morgen früh eine Geschichte hören. Eine plausible! Der ist nicht auf den Kopf gefallen.“
Der Wolf hockte sich vor den Jungen und begann, sich die Pfoten zu lecken.
Wie wäre es damit: Deine Mutter verschwand, und sie haben dir gesagt, sie sei gestorben, irgendwo im Ausland. Du bist bei deinem Vater aufgewachsen, das ist fast nicht gelogen. Und nun … Nun ist jemand aufgetaucht, der behauptet, sie sei nicht tot. Es gibt schließlich kein Grab, um es zu beweisen. Du glaubst eigentlich nicht, dass sie noch lebt, denn sie hat sich niemals bei dir gemeldet, an keinem Geburtstag und nicht zu Weihnachten. Drück dabei ordentlich auf die Tränendrüse.
„Wenn er fragt, was ich nun von ihm will, was sage ich dann?“
Du … willst den Beweis, dass sie nicht mehr lebt. Erzähl ihm, dass du es wissen musst, so schnell wie möglich, da es auch um dein Erbe geht. Und das ist nicht gelogen. Bis Vollmond sind es weniger als drei Wochen.
Alessandro legte seinen Arm um den Hals des Wolfes und vergrub sein Gesicht im dichten weichen Fell. „Ich weiß. Und der Gedanke daran macht mir echt Angst. Was, wenn wir sie nicht finden?
Mal den Teufel nicht an die Wand! Ein Bettvorleger in der Familie reicht.
Er seufzte. „Okay. Ich denke, diese Geschichte kauft er mir ab.“ Dann holte er den kleinen Gegenstand, mit dem er in der Bar herumgespielt hatte, aus der Tasche.
Es war ein goldenes Medaillon, verbeult und zerkratzt. Er öffnete es vorsichtig. Eine schwarze Locke lag darin und ein Foto, von ihm, als er noch ein Säugling war.
„Ein einziges Mal habe ich dieses Medaillon gesehen. Auf einem alten Foto, bei Vaters Sachen. Und die Frau, die es trug, war nicht die, mit der er verheiratet ist. Als ich ihn danach fragte, bekam ich zum ersten Mal Schläge von ihm, so wütend war er. Ich fragte nie wieder, und vergaß das Ganze. Bis du mir das Medaillon brachtest.“ Mit einem Aufseufzen klappte er das Schmuckstück wieder zu. „Wir sollten jetzt schlafen. Passt du auf, dass niemand hier auftaucht? Ich will nicht, das Morrok ihm etwas antut. Er … könnte uns hierher gefolgt sein.“
Vulto erhob sich und trottete zur Tür.
Mach mir die Tür auf, damit ich mich überall in der Wohnung umsehen kann.
„Geh ja nicht in sein Schlafzimmer, der bringt es fertig und schießt wirklich auf dich.“
Der Wolf hob die Lefzen und bewegte kurz die Ohren, es sah aus, als lächelte er. Ich passe auf.
Er durchstöberte die gesamte Wohnung, jedes einzelne Zimmer. Er wollte sich ein Bild von diesem Detektiv machen. Schließlich musste er wissen, wem er den Jungen da anvertraute. Die Wohnung hatte bis jetzt keine Überraschung verborgen, es gab ein winziges Bad mit einer winzigen Wanne hinter einem Duschvorhang, eine volleingerichtete Küche mit limonengrünen Schränken und hellgelben Arbeitsflächen, mit einem fast leeren riesigen Kühlschrank. Ein paar Biere befanden sich darin, und einige Pappschachteln mit undefinierbarem Inhalt. In der Ecke stand ein schon reichlich mitgenommener Tisch mit drei Stühlen. Es gab noch das kleine Gästezimmer und nun befand er sich im Wohnzimmer.
Hier stand eines dieser ultramodernen Sofas. Mehr Spielwiese als Sitzmöbel. Die Farbe war knallorange. Überdimensionale Kissen sollten diesem Ungetüm wohl einen Hauch von Gemütlichkeit vermitteln. An der einen Wand stand eine genauso neumoderne Schrankwand, winzige Fächer, in die nichts hineinpasste. Das Einzige, das in seinen Augen Gnade fand, war der riesige Plasmabildschirm, der einen ordentlichen Platz an der Wand gegenüber der Lümmelwiese hatte. Oh, und eine High-tech-super-surround-Anlage, inklusive tausend CDs und DVDs. Über den Daumen gepeilt.
In einer Ecke, hinter einer staubigen Zimmerpalme, hatte sich ein kleiner Schreibtisch versteckt. Unter ihm ein alter PC, auf ihm ein paar dünne Ordner. Mandantenordner?
Einer der Ordner war aufgeschlagen, oben in der Ecke war ein kleines Foto angeheftet. Es zeigte ein kleines, lachendes Mädchen. Ungeniert las er, was darunter stand. ‚Terry, drei Jahre, vom Vater nach Wochenendbesuch nicht wieder zurückgebracht.’
Dann folgte eine Beschreibung des Kindes, seines Vaters und des Wagens und Hinweise auf verschiedene Aufenthaltsorte. So wie es aussah, war der Vater schon eine Weile mit dem Kind unterwegs. Dann folgte fast unleserliches Gekritzel. ‚Fragen bei örtlicher Polizei, ob Aufenthalt bestätigt werden kann und ob Unterstützung bei eventueller Rückführung.’
Überrascht sah er auf. Der Detektiv holte entführte Kinder zurück? Er las weiter. Da! Eine aktuelle Adresse? Und ein Termin. Er rechnete nach. Morgen, nein heute, wollte dieser McBride das Kind zurückholen. Mutig.
Trotz der ausdrücklichen Warnung betrat der Wolf leise das Schlafzimmer McBrides. Die Tür stand halb offen, das war schon fast eine Einladung.
Hier drin war es nicht ganz dunkel, durch das nicht ganz zugezogene Fenster kam von irgendwo draußen Licht. In der Tür blieb er stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Boden lagen etliche zusammengeballte Taschentücher. Sie teilten sich den Platz mit einem Paar Jeans, den Boots und dem Pullover, den McBride vorhin noch getragen hatte. Er witterte kurz, es roch nach Mann, roch echt, nicht künstlich.
Vulto wusste, der Detektiv würde ihn nicht bemerken, also schlich er weiter vorwärts. Es war seine Spezialität, sich völlig geräuschlos zu bewegen.
Er verharrte und spitzte die Ohren. Leise, gleichmäßige Atemgeräusche verrieten, dass hier jemand süß schlummerte.
Der Wolf pirschte sich weiter zum Bett heran und betrachtete den Schlafenden. Auf dem zerknautschten Kopfkissen lag ein kantiges männliches Gesicht, helle Bartstoppeln zierten das kräftige Kinn. Darüber blonde Haare, sie hatten einen Friseurbesuch unbedingt nötig. So zerzaust, als wäre jemand mit allen Fingern durchgefahren. Der Typ sah gar nicht übel aus. Dass der Detektiv groß und ziemlich gut gebaut war, hatte er schon mitbekommen. Und…
Ein unheilvolles Knacken riss ihn jäh aus seiner Betrachtung. Das Knacken eines Hahnes, der gespannt wurde. Eine dunkle Mündung, die genau auf seine Stirn zielte. Graue, unerbittliche Augen, die sich in seine bohrten.
„Großmutter, warum machst du so große Augen? Erwischt, Fiffi? Hatte ich nicht gesagt, ich schlafe mit meiner Kanone?“ Oh Mann, schon wieder heiser. Meine Stimme klang wie die von Joe Cocker. Rauchig. Irgendwie … sexy.
Ich setzte mich auf und ließ den Wolf in die Mündung meines 357-er schauen. Dann sicherte ich die Waffe wieder und knipste die kleine Nachttischlampe an. „Und hatte ich nicht auch gesagt, dass ich einen leichten Schlaf habe? Hörst du denn nicht zu?“ Der vorwurfsvolle Blick, den ich diesem Köter um die Ohren schlug, hätte meine Mom echt stolz gemacht. Es war derselbe Blick, mit dem sie mir immer zu verstehen gab, dass mein Benehmen mal wieder voll daneben war. Sie schimpfte nie mit mir, aber dieser Blick …
Fiffi knurrte kurz, auf ihn schien mein Vorwurf keinerlei Wirkung zu haben, und ließ sich auf den Boden fallen. Dann legte er die Schnauze auf die Pfote und schloss die Augen.
Ich schüttelte den Kopf. Es musste am Schatten liegen, denn der Wolf sah irgendwie … beleidigt aus. Klar. Er war eingeschnappt, weil ich ihn erwischt hatte. Natürlich Shane, dachte ich, ein beleidigter Wolf.
Das Tappen nackter Füße auf dem Dielenboden ließ mich aufschauen. Rotkäppchen eilte zur Rettung.