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Für die eBook-Ausgabe neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung || Wolfgang Borchert (20. Mai 1921-20. November 1947) war zwölf Jahre alt, als die Nazis die Macht übernahmen, 18 Jahre, als der Zweite Weltkrieg begann, und 24, als er zum Schriftsteller wurde. Borchert erfand die Literatur im Nachkriegsdeutschland für sich und andere neu. Das macht sein Werk so besonders. | Das erschütternde Drama "Draußen vor der Tür" traf wie kein anderes literarisches Werk jener Zeit das verstörte Deutschland ins Mark: Mit einem schonungslosen Einblick darüber, wie ein junger Mensch unter den Folgen des Naziregimes zerdrückt wird - ohne Aussicht auf Besserung. So auch der Autor selbst: Er starb an den Folgen der Kriegsstrapazen im November 1947 - im Alter von nur 26 Jahren. | © Redaktion eClassica, 2018
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Seitenzahl: 94
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Innentitel
Vorbemerkung des Herausgebers
Draußen vor der Tür (Drama)
Vorspiel
Der Traum
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
Impressum
Fußnoten
Wolfgang Borchert (20. Mai 1921 – 20. November 1947) war zwölf Jahre alt, als die Nazis die Macht übernahmen, 18 Jahre, als der Zweite Weltkrieg begann, und 24, als er zum Schriftsteller wurde. Literarisch lag hinter ihm – symbolisch gesprochen – nichts. Nur Frontkämpfe, Kriegshorror, Verwundungen und Krankheiten. Und nach ihm kam ein Heinrich Böll, sein gesättigter literarischer Nachfahr, wenn man so will. Borchert musste die Literatur im frühen Nachkriegsdeutschland für sich (und andere) neu finden und erfinden. Das macht sein Werk so besonders.
Heraus aus der naiven Schreiberei der Pubertät – seit dem Alter von 15 Jahren hatte er Gedichte verfasst –, über verstörende und entlarvende Kurzgeschichten aus der Endzeit des Krieges, bis hin zum erschütternden Drama ›Draußen vor der Tür‹ – das wie kein anderes literarisches Werk das zerstörte und verstörte Deutschland ins Mark traf: Mit einem schonungslosen Einblick darüber, wie ein junger Mensch unter den Folgen des Naziregimes zerdrückt wurde – ohne Aussicht auf Besserung, auch nicht nach der Befreiung aus dem Sumpf. Denn Schuld, Selbstvorwürfe und Verstörung bleiben für immer.
So wurde auch der Autor Borchert zerdrückt, psychisch und physisch. Als kranker Mann, mit Gelbsucht, Krampfanfällen, Fieberschüben kam er aus dem Kriege heim, nur zwei knappe Jahre blieben ihm, um zu schreiben, oft bettlägrig und fiebernd. Er starb auf dem Weg zu einer Genesungs-Kur in die Schweiz am 20. November 1947 an Leberversagen – im Alter von nur 26 Jahren. Und nur einen Tag vor der Premiere seines Theaterstücks ›Draußen vor der Tür‹.
Das junge Magazin ›Der Spiegel‹, gerade gegründet, resümierte nach der Uraufführung: »Selten hat ein Theaterstück die Zuschauer so erschüttert.«
© Redaktion eClassica, 2018
Hans Quest gewidmet
Handelnde:
Beckmann, einer von denen
seine Frau, die ihn vergaß
deren Freund, der sie liebt
ein Mädchen, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam
ihr Mann, der tausend Nächte von ihr träumte
ein Oberst, der sehr lustig ist
seine Frau, die es friert in ihrer warmen Stube
die Tochter, gerade beim Abendbrot
deren schneidiger Mann
ein Kabarettdirektor, der mutig sein möchte, aber dann doch lieber feige ist
Frau Kramer, die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar
der alte Mann, an den keiner mehr glaubt
der Beerdigungsunternehmer mit dem Schluckauf
ein Straßenfeger, der gar keiner ist
der Andere, den jeder kennt
die ELBE.
Ein Mann kommt nach Deutschland.
Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld musste er mit seiner Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause.
Ein Mann kommt nach Deutschland.
Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muss sich während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Aber dann sieht er, dass es rechts und links neben ihm noch mehr Leute gibt, die alle dasselbe erleben. Und er denkt, dass es dann doch wohl die Wahrheit sein muss. Ja, und als er dann am Schluss mit leerem Magen und kalten Füßen wieder auf der Straße steht, merkt er, dass es eigentlich nur ein ganz alltäglicher Film war, ein ganz alltäglicher Film. Von einem Mann, der nach Deutschland kommt, einer von denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße.
Das ist ihr Deutschland.
(Der Wind stöhnt. Die Elbe schwappt gegen die Pontons. Es ist Abend. Der Beerdigungsunternehmer. Gegen den Abendhimmel die Silhouette eines Menschen.)
Der Beerdigungsunternehmer(rülpst mehrere Male und sagt dabei jedes Mal): Rums! Rums! Wie die – Rums! Wie die Fliegen! Wie die Fliegen, sag ich.
Aha, da steht einer. Da auf dem Ponton. Sieht aus, als ob er Uniform an hat. Ja, einen alten Soldatenmantel hat er an. Mütze hat er nicht auf. Seine Haare sind kurz wie eine Bürste. Er steht ziemlich dicht am Wasser. Beinahe zu dicht am Wasser steht er da. Das ist verdächtig. Die abends im Dunkeln am Wasser stehn, das sind entweder Liebespaare oder Dichter. Oder das ist einer von der großen grauen Zahl, die keine Lust mehr haben. Die den Laden hinwerfen und nicht mehr mitmachen. Scheint auch so einer zu sein von denen, der da auf dem Ponton. Steht gefährlich dicht am Wasser. Steht ziemlich allein da. Ein Liebespaar kann es nicht sein, das sind immer zwei. Ein Dichter ist es auch nicht. Dichter haben längere Haare. Aber dieser hier auf dem Ponton hat eine Bürste auf dem Kopf. Merkwürdiger Fall, der da auf dem Ponton, ganz merkwürdig. (Es gluckst einmal schwer und dunkel auf. Die Silhouette ist verschwunden.) Rums! Da! Weg ist er. Reingesprungen. Stand zu dicht am Wasser. Hat ihn wohl untergekriegt. Und jetzt ist er weg. Rums. Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter. Der Wind weht weiter. Die Elbe quasselt weiter. Die Straßenbahn klingelt weiter. Die Huren liegen weiter weiß und weich in den Fenstern. Herr Kramer dreht sich auf die andere Seite und schnarcht weiter. Und keine – keine Uhr bleibt stehen. Rums! Ein Mensch ist gestorben. Und? Nichts weiter. Nur ein paar kreisförmige Wellen beweisen, dass er mal da war. Aber auch die haben sich schnell wieder beruhigt. Und wenn die sich verlaufen haben, dann ist auch er vergessen, verlaufen, spurlos, als ob er nie gewesen wäre. Weiter nichts. Hallo, da weint einer. Merkwürdig. Ein alter Mann steht da und weint. Guten Abend.
Der alte Mann(nicht jämmerlich, sondern erschüttert): Kinder! Kinder! Meine Kinder!
Beerdigungsunternehmer: Warum weinst du denn, Alter?
Der alte Mann: Weil ich es nicht ändern kann, oh, weil ich es nicht ändern kann.
Beerdigungsunternehmer: Rums! Tschuldigung! Das ist allerdings schlecht. Aber deswegen braucht man doch nicht gleich loszulegen wie eine verlassene Braut. Rums! Tschuldigung!
Der alte Mann: Oh, meine Kinder! Es sind doch alles meine Kinder!
Beerdigungsunternehmer: Oho, wer bist du denn?
Der alte Mann: Der Gott, an den keiner mehr glaubt.
Beerdigungsunternehmer: Und warum weinst du? Rums! Tschuldigung!
Gott: Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern.
Beerdigungsunternehmer: Finster, finster, Alter. Sehr finster. Aber es glaubt eben keiner mehr an dich, das ist es.
Gott: Sehr finster. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster.
Beerdigungsunternehmer: Rums! Tschuldigung! Wie die Fliegen! Rums! Verflucht!
Gott: Warum rülpsen Sie denn fortwährend so ekelhaft? Das ist ja entsetzlich!
Beerdigungsunternehmer: Ja, ja, gräulich! Ganz gräulich! Berufskrankheit. Ich bin Beerdigungsunternehmer.
Gott: Der Tod? – Du hast es gut! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen! Keiner lästern. Ja, du hast es gut. Du bist der neue Gott. An dir kommt keiner vorbei. Du bist der neue Gott, Tod, aber du bist fett geworden. Dich hab ich doch ganz anders in Erinnerung. Viel magerer, dürrer, knochiger, du bist aber rund und fett und gut gelaunt. Der alte Tod sah immer so verhungert aus.
Tod: Na ja, ich hab in diesem Jahrhundert ein bisschen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut. Ein Krieg gibt dem andern die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit.
Gott: Aber das Rülpsen? Warum dieses grässliche Rülpsen?
Tod: Überfressen. Glatt überfressen. Das ist alles. Heutzutage kommt man aus dem Rülpsen gar nicht heraus. Rums! Tschuldigung!
Gott: Kinder, Kinder. Und ich kann es nicht ändern! Kinder, meine Kinder! (geht ab)
Tod: Na, dann gute Nacht, Alter. Geh schlafen. Pass auf, dass du nicht auch noch ins Wasser fällst. Da ist vorhin erst einer reingestiegen. Pass gut auf, Alter. Es ist finster, ganz finster. Rums! Geh nach Haus, Alter. Du änderst es doch nicht. Wein nicht über den, der hier eben plumps gemacht hat. Der mit dem Soldatenmantel und der Bürsten-frisur. Du weinst dich zugrunde! Die heute abends am Wasser stehen, das sind nicht mehr Liebespaare und Dichter. Der hier, der war nur einer von denen, die nicht mehr wollen oder nicht mehr mögen. Die einfach nicht mehr können, die steigen dann abends irgendwo still ins Wasser. Plumps. Vorbei. Lass ihn, heul nicht, Alter. Du heulst dich zugrunde. Das war nur einer von denen, die nicht mehr können, einer von der großen grauen Zahl... einer ... nur...
(In der Elbe. Eintöniges Klatschen kleiner Wellen. Die Elbe. Beckmann.)
Beckmann: Wo bin ich? Mein Gott, wo bin ich denn hier? Elbe: Bei mir.
Beckmann: Bei dir? Und – wer bist du?
Elbe: Wer soll ich denn sein, du Küken, wenn du in St. Pauli von den Landungsbrücken ins Wasser springst?
Beckmann: Die Elbe?
Elbe: Ja, die. Die Elbe.
Beckmann(erstaunt): Du bist die Elbe!
Elbe: Ah, da reißt du deine Kinderaugen auf, wie? Du hast wohl gedacht, ich wäre ein romantisches junges Mädchen mit blassgrünem Teint? Typ Ophelia mit Wasserrosen im aufgelösten Haar? Du hast am Ende gedacht, du könntest in meinen süßduftenden Lilienarmen die Ewigkeit verbringen. Nee, mein Sohn, das war ein Irrtum von dir. Ich bin weder romantisch noch süßduftend. Ein anständiger Fluss stinkt. Jawohl. Nach Öl und Fisch. Was willst du hier?
Beckmann: Pennen. Da oben halte ich das nicht mehr aus. Das mache ich nicht mehr mit. Pennen will ich. Tot sein. Mein ganzes Leben lang tot sein. Und pennen. Endlich in Ruhe pennen. Zehntausend Nächte pennen.
Elbe: Du willst auskneifen, du Grünschnabel, was? Du glaubst, du kannst das nicht mehr aushalten, hm? Da oben, wie? Du bildest dir ein, du hast schon genug mitgemacht, du kleiner Stift. Wie alt bist du denn, du verzagter Anfänger?
Beckmann: Fünfundzwanzig. Und jetzt will ich pennen.
Elbe: Sieh mal, fünfundzwanzig. Und den Rest verpennen. Fünfundzwanzig und bei Nacht und Nebel ins Wasser steigen, weil man nicht mehr kann. Was kannst du denn nicht mehr, du Greis?
Beckmann: Alles, alles kann ich nicht mehr da oben. Ich kann nicht mehr hungern. Ich kann nicht mehr humpeln und vor meinem Bett stehen und wieder aus dem Haus raushumpeln, weil das Bett besetzt ist. Das Bein, das Bett, das Brot – ich kann das nicht mehr, verstehst du!
Elbe: