Wolfsgedanken II - Melanie Gömann - E-Book

Wolfsgedanken II E-Book

Melanie Gömann

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Beschreibung

Melanie Gömann schickt ihre Leserinnen und Leser wieder auf eine Reise in die Welt ihrer Kurzgeschichten. Dabei spielt sie gekonnt mit den unterschiedlichsten Emotionen der Menschen. Während die Autorin sie einerseits in die Abgründe der Gesellschaft zieht und nachdenklich zurücklässt, gelingt es ihr andererseits, ihren Leserinnen und Lesern den Glauben daran zu schenken, dass das Leben trotz aller Widrigkeiten lebens- und sogar liebenswert sein kann. Mit dem zweiten Band von Wolfsgedanken zeigt Melanie Gömann erneut, was ihr beim Schreiben so unendlich wichtig ist: Nämlich den Opfern eine Stimme und den Tätern ein Gesicht zu geben.

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Seitenzahl: 254

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Über die Autorin:

Melanie Gömann wohnt mit ihrer Familie in der Region Hannover. Sie ist Jahrgang 1972 und arbeitet als Speditionskauffrau.

Die Autorin schreibt überwiegend gesellschaftskritische Kurzgeschichten und engagiert sich für soziale Projekte. Im Oktober 2021 hat sie ihr Debüt Wolfsgedanken veröffentlicht, dem nun ein zweiter Kurzgeschichtenband gefolgt ist. Des Weiteren war sie an diversen Charity-Anthologien beteiligt, als Autorin und demnächst auch als Mitherausgeberin.

Weitere Informationen über die Autorin finden Sie auf der Homepage www.wolfsgedanken.de oder bei Instagram unter @wortgeschmeide.

Für Adelheid, Werner und Connor

Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont. Konrad Adenauer

Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden. Ludwig Feuerbach

Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann, alles ist austragen und dann gebären… Aus „Über die Geduld“ von Rainer Maria Rilke

Ich weiß doch selbst, ich bin nicht einfach. Nein, ganz im Gegenteil, durchgeknallt zweifach. Immer Chaos in mei'm Kopf, doch du machst es aus. Hab' kein Gefühl, doch bei dir krieg' ich Gänsehaut. Aus „1000 Sterne“ von 1986zig

Inhaltsverzeichnis

Die roten Schuhe

Die erste Hürde

Das Mädchen

Federleicht

Fegefeuer

Eiswasser

Die letzte Vorstellung

Der Schimmer

Der Wächter

Das Geheimnis

Strohfeuer

Maskenball

Die Zelle

Phönix aus der Asche

Sunshine

Kinderseele

Schlussstrich

Schmetterlingsflügel

Winterstille

Familienidylle

13 Tage Regen

Wertmarke

Ausweglos

Das tote Herz

Glücksgefühle

Sturmwolkenblau

Superheld

Pulverschnee

Vermisst

Der Ruf der Wildgänse

Bernsteinwind

Das Protokoll

Regenschau(d)er

Der letzte Geburtstag

Die Entscheidung

Der Überfall

Parasit

Self destruction

Trugbilder

Rainy day

Wolfsblut

Hunger

Nachwort

Die roten Schuhe

Ich saß am Fenster und beobachtete die Regentropfen. Mein Zimmer war klein, und ich musste es mir mit meiner Schwester Helene teilen. Als Kind von zehn Jahren verstand man vieles nicht. Unsere Eltern arbeiteten beide in einer Fabrik. Sonntags gab es Braten zum Mittag. Wir hatten viele Kleider und Spielsachen. Gleichwohl wohnten wir seit Jahren in einer winzigen Hinterhauswohnung. Ich dachte immer, wir wären reich.

Allerdings war ich ein kleines Mädchen, und ich hatte keine Ahnung von der Wirtschaft des Jahres 1937. Woher sollte ich wissen, dass sich Deutschland in einer Krise befand, über die man mit Kindern nicht sprach.

***

„Ursula, regnet es immer noch? Ich will endlich draußen spielen“, quengelte meine kleine Schwester.

Ich verdrehte genervt die Augen, obwohl sie recht hatte. Seit drei Tagen hatte ich nicht mehr mit meinen Freunden gespielt. Ava, Ludwig und Helga waren sehr wichtig für mich. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten. Was nützten einem die Ferien, wenn man sie im Kinderzimmer verbringen musste?

„Leider Helene! Heute wird das nichts mehr. Aber Mama hat versprochen, dass sie früher nach Hause kommt und Kekse mit uns backt.“ Meine Schwester lächelte, wenigstens sie glaubte daran.

***

Ein paar Tage später konnten wir endlich wieder an die frische Luft. Während wir noch auf Ava warteten, planten wir unseren Nachmittag.

„Habt ihr noch Geld? Lasst uns doch zusammenwerfen, und dann gehen wir zum Eiscafé. Es ist unerträglich heiß heute.“

„Helga, wenn wir Geld brauchen, müssen wir nur Ava fragen. Mein Vater sagt, die Juden sind durch die Arbeiterklasse reich geworden.“

Ich sah entsetzt zu Ludwig hinüber. Solche Äußerungen hatte ich von ihm noch nie gehört. Er war ein dicker Junge, den die meisten Kinder hänselten. Doch wir Mädchen hatten ihn freundlich in unsere Gruppe aufgenommen.

„Was redest du da? Ich dachte, wir sind Freunde und respektieren einander? Und Ava gehört genauso dazu. Es ist schon schlimm genug, dass es hier Verbote für jüdische Menschen gibt. Da müssen wir Kinder zusammenhalten.“

„Reg dich nicht auf Ursula. So habe ich das nicht gemeint. Aber die Erwachsenen reden darüber, dass alle Juden böse und verlogen sind. Mein Vater wäre nicht begeistert, dass ich eine Jüdin als meine Freundin bezeichne. Ich frage mich sowieso, warum ihre Familie noch in unserer Straße wohnt. Sehr viele Juden sind weggezogen. Und auch an dem Laden ihres Vaters kleben schon Verbotsschilder.“

„Ja, ich weiß, Ludwig. Unsere Eltern reden genauso. Und ins Schwimmbad dürfen Juden auch nicht mehr. Aber ich glaube, die sind reich, weil sie hart arbeiten. Manche sind vielleicht böse, aber Ava war immer unsere Freundin.“

***

Wir hatten gar nicht bemerkt, dass Ava hinter uns stand. Ich wusste nicht, wie viel sie gehört hatte, aber sie sah besorgt aus.

„Ludwig, mein Vater ist kein böser Mensch. Wie oft hat er dir kostenlos die Sohlen geflickt? Wenn du nicht mehr mit mir befreundet sein willst, dann sag es. Und entschuldigt, dass ich zu spät bin. Heute Nacht wurden die Scheiben unseres Ladens eingeschlagen. Irgendwer möchte, dass wir hier verschwinden. Ich glaube, meine Eltern haben Angst. Ich soll auch nicht allein rausgehen. Doch ich wollte euch meine neuen Schuhe zeigen und habe mich weggeschlichen. Mein Papa hat sogar meinen Anfangsbuchstaben in die Sohle gebrannt.“ Bei diesen Worten lächelte Ava und stellte ihren linken Fuß auf einen Stein, damit wir das neueste Werk ihres Vaters bewundern konnten.

Ich hatte das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Seit ich denken konnte, hatte ich mir rote Schuhe gewünscht. Doch meiner Mutter fehlte die Zeit für lange Einkaufsbummel, und so hatte ich niemals welche bekommen. Und jetzt stand meine Freundin vor mir und forderte Würdigung für etwas, was ich selbst gerne gehabt hätte.

Avas Vater war Schuster und ein echter Künstler. An diesem Tag stand sie mit besonderen Sandalen vor uns. Sie waren aus leuchtend rotem Leder, und an den Riemchen waren rosafarbene Schmetterlinge befestigt. Solche Schuhe konnte man nicht im Laden kaufen. Sie glänzten in der Sonne, und ich fühlte, wie Neid in mir aufstieg. Wie gerne hätte ich sie selbst getragen.

„Ava, du riskierst eine Strafe, nur um mit deinen Schuhen anzugeben? Du hast Glück, dass dein Vater so einen Beruf hat. Wir können solche Schuhe nicht tragen. Natürlich sind sie schön, aber auch sehr unpraktisch. Überall gibt es noch Schlammpfützen, und deine Strümpfe sind schon ganz dreckig. Außerdem sind diese Schuhe viel zu groß für dich. Da hat sich dein Vater gewaltig mit der Größe vertan. Am besten gehst du wieder nach Hause und ziehst dir Gummistiefel an.“

Ich weiß nicht, woher diese schmutzigen Worte kamen. War es das Gefühl der Eifersucht, das aus mir sprach, oder hatte ich mich von Ludwigs Gerede anstecken lassen? Ich wollte meiner Freundin sagen, dass ich mich freute, dass sie endlich hier war und dass ihre Schuhe wunderschön waren. Aber ich konnte nur Bosheiten aussprechen.

Ava stand einen Moment lang mit Tränen in den Augen vor mir. Ich wünschte, sie würde mich anschreien, aber sie sagte kein Wort mehr und ging. Ich sah ihr traurig hinterher und dann zu den anderen, die beide nur betreten zu Boden schauten. Ich begriff nicht, was eben geschehen war.

***

Wir sahen Ava an diesem Tag nicht wieder und auch danach nicht mehr. Am ersten Schultag erklärte uns die Lehrerin, dass manche Schüler jetzt woanders unterrichtet wurden. Sie meinte offenbar die jüdischen Kinder, denn neben Ava fehlte auch Simon. Ich vermisste meine Freundin und bereute erneut die schlimmen Worte.

Nach der Schule ging ich am Geschäft des Schusters vorbei. Doch die Fenster und Türen waren verbarrikadiert. Alles deutete darauf hin, dass Ava und ihre Familie für immer gegangen waren. Mir wurde bewusst, wie ungerecht ich gehandelt hatte. Ich fühlte mich mies, und ich hatte auch Angst, dass die Wahrheit viel schlimmer sein würde. Auch wir Kinder wussten inzwischen über die Enteignung und Verhaftung von Juden Bescheid. Ich ahnte damals nicht, dass diese Ungerechtigkeiten nur der Anfang waren.

***

Mit der Zeit verblassten meine Gedanken an Ava. Nicht, weil sie mir nichts mehr bedeutete, sondern weil wir uns mit anderen Dingen beschäftigen mussten. Der Krieg war ausgebrochen, und unser Vater verteidigte in der Ferne sein Land. Unsere Mutter musste den Lebensunterhalt sichern und uns gleichzeitig beschützen. Dies gelang ihr, weil sie uns Mädchen zu Verwandten aufs Land schickte.

Von nun an sahen wir unsere Mutter nur noch selten. Besonders Helene litt unter der Trennung von unseren Eltern. Das Unwissen nagte an ihr. Sie aß kaum noch und sprach sehr wenig. Eines Tages lag sie tot in ihrem Bett und in mir zerbrach etwas.

Ich fühlte mich wie das einsamste Kind der Welt. Ich war inzwischen 13 Jahre alt und hatte keine Familie und keine Freunde mehr. Ich half bei den Hofarbeiten, um mich abzulenken. Ich tat es zudem meiner verstorbenen Schwester gleich und schwieg meistens. Nach dem langen Arbeitstag setzte ich mich unter den alten Birnenbaum und dachte an die schönen Momente meiner Kindheit. Ich sah, wie wir durch die Regenpfützen tanzten, Fangen spielten oder Bilder malten. Ich hörte, wie Ava und Ludwig lachten, als Helga einen Witz erzählte.

***

Ich wünschte mir, dass ich die Zeit zurückdrehen könnte. Dann hätte ich niemals Bosheiten zu meinen Freunden gesagt oder wäre von meiner kleinen Schwester genervt gewesen. Meine Eltern würden am Tage arbeiten und uns abends in den Arm nehmen. Doch ich war allein und trug nur diese Unsicherheit in mir, ob sie alle noch am Leben waren.

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Träumen. Ich stand auf und sah sie auf mich zulaufen. Als ich begriff, dass diese Begegnung real war, hatte sie mich schon erreicht und drückte mich fest an sich. Sie war verschwitzt und staubig. Doch noch nie hatte sie besser gerochen, und die Wärme ihres Körpers tröstete mich.

Am nächsten Tag saßen wir gemeinsam an Helenes Grab. Meine Mutter hatte nie die Chance gehabt, sich von ihrer Tochter zu verabschieden. Doch jetzt war sie hier, und wir konnten einander beistehen. Wir waren in den nächsten Stunden unzertrennlich. Erst am Abend gesellten wir uns zu den Verwandten und genossen die Wärme des Kartoffelfeuers.

***

„Meine kleine Ursula, ich habe noch ein Geschenk für dich. Was hast du dir immer gewünscht?“ Mit diesen Worten zog sie ein Geschenk hervor, das mit braunem Packpapier umwickelt war.

Als ich die Verpackung aufriss, lachte ich laut. Es gab nur eine Sache, die ich mir immer gewünscht und nie bekommen hatte. Doch als ich die Schuhe in den Händen hielt, fing ich an zu weinen. Ich erkannte sie sofort. Das glänzende rote Leder und die rosafarbenen Schmetterlinge an den Riemchen. Ich drehte den linken Schuh um und blickte fassungslos auf das A unter der Sohle.

„Ursula, deine Freudentränen sind herzerwärmend. Ich war bei einer Versteigerung von Hausrat und habe einen ganzen Wochenlohn in diese Schuhe investiert. Sie sind leider gebraucht, aber ich habe sie ordentlich mit Schweinefett geputzt.“

Ich sah meiner Mutter ins Gesicht und weinte immer noch. Ich wusste, wem diese Sandalen gehörten und auch was es bedeutete, dass sie verkauft wurden. Ich stand auf und drückte sie fest an meinen Körper.

„Mama, es tut mir leid“, sagte ich und warf die roten Schuhe in die lodernden Flammen.

Die erste Hürde

„Frau Meister, es tut uns sehr leid. Wir müssen das Arbeitsverhältnis mit Ihnen leider kündigen. Wir waren mit Ihrer Leistung in den letzten Jahren zufrieden. Ihre Ideen waren immer sehr kreativ und haben uns viele Aufträge beschert. Der Unternehmensvorstand wünscht sich jedoch, nennen wir es mal …frischen Wind. Die weiteren Modalitäten erfahren Sie dann von der Rechtsabteilung.“

Fiona hatte gegen Ende nur noch mit einem Ohr zugehört. Die Begründung hieß im Endeffekt nichts anderes, als dass sie mit ihren 43 Jahren schlichtweg zu alt für die Werbebranche war. Ohnehin war das Durchschnittsalter der Mitarbeiter in der Firma merklich gesunken. Wobei man insbesondere den Kolleginnen dies auf den ersten Blick nicht ansah. Der Mitarbeiter der Zukunft war eine Mischung aus Showtalent und künstlicher Schönheit.

Fiona ging nach der Besprechung nicht zum Mittagessen in die Kantine. Sie wollte lieber hungern, als sich unangenehmen Fragen zu stellen. Sie war die stellvertretende Kreativdirektorin, und jeder ihrer Untergebenen wollte ihren Arbeitsplatz. Sie kramte in der Schreibtischschublade und fand noch einen Schokoriegel. Mit einem frischen Kaffee war er momentan der beste Seelentröster.

***

Sie war enttäuscht von ihrem Chef, mit dem sie immer effektiv zusammengearbeitet hatte. Doch dass dieses Vertrauen nichts wert war, hatte sie heute gemerkt. Er hatte sie nicht einmal vorgewarnt. Fiona übersprang die Tränenphase und ging direkt zur Wut über. Seit zehn Jahren hatte sie sich für ihren Job aufgerieben und auch keine Überstunden gescheut. Auf ihrer Erfolgsliste standen einige lukrative Werbekampagnen.

Sie seufzte laut. Zugegebenermaßen war es in den letzten Monaten nicht optimal gelaufen. Einige ihrer jüngeren Kollegen hatten ihr mit waghalsigen Vorschlägen die besten Kampagnen weggeschnappt. Doch durfte man auch nicht vergessen, dass sie jeden noch so kleinen Auftrag immer mit Kundenlob abgeschlossen hatte.

Fiona sah ihren Terminplan durch. In genau sieben Wochen wäre, nach Abzug des Resturlaubs, ihr letzter Arbeitstag. Bis dahin hatte sie noch zwei Projekte zu betreuen. Sie ahnte bereits, dass man ihr keine neuen Aufgaben anvertrauen würde. Es half nichts, sie musste sich mit der Entlassung abfinden. Allerdings würde dies nicht kampflos geschehen. Sie verabredete sich für den Abend mit einem Freund, der Fachanwalt für Arbeitsrecht war.

***

„Sehr gut, dass du deinen Vertrag gleich mitgebracht hast. Gemäß Kündigungsklausel steht dir pro Arbeitsjahr ein voller Bruttolohn als Abfindung zu. Das sind 40.000 Euro. Ein ordentliches Sümmchen für einen Neuanfang. Und vielleicht sollten wir auch noch ein bisschen verhandeln und ein akzeptables Gesamtpaket herausschlagen.“

„Björn, du hast Vorstellungen! Neuanfang, dass ich nicht lache. Ich bin keine zwanzig mehr und auch niemand, der lange rumsitzen kann. Und auf dieses Gerenne zum Arbeitsamt habe ich überhaupt keine Lust.“

„Das musst du doch gar nicht. Du hast jetzt noch über zwei Monate Zeit, bis deine letzte Gehaltszahlung fällig ist. Dazu kommt noch die Abfindung. Da dürfte es für eine Expertin wie dich kein Problem sein, eine neue Arbeitsstelle zu finden.“

Fiona wechselte bewusst das Thema. Sie wollte sich heute Abend nicht weiter mit ihrer Kündigung auseinandersetzen. Nach dem Essen mit Björn war sie noch mit ihren Freundinnen verabredet, und die würden sie ablenken.

„Hast du mal darüber nachgedacht, dass Arbeiten nicht das Einzige im Leben sein darf, Björn? Als wir noch zur Schule gingen, hatten wir alle Pläne und Träume. Doch keiner aus unserer Clique hat jemals eine Weltreise gemacht oder einfach nur so in den Tag hinein gelebt. Manchmal glaube ich, dass all dieser Luxus und das Geld nicht glücklich machen.“

„Ich dachte, eine Midlife-Crisis kriegen nur Männer. Fiona, geh wieder aus! Deine letzte Beziehung ist ewig her, und du siehst immer noch fantastisch aus. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du auf dein Cabrio und deine Designerkleidung verzichten willst. Ein schlecht bezahlter Traumjob bringt dich zum Lächeln, aber er bezahlt nicht deinen Luxus.“

***

Ein paar Wochen später hatte Fiona ihren letzten Arbeitstag hinter sich gebracht. Die Verabschiedung war, gemäß der getroffenen Abfindungsvereinbarung, entsprechend kühl. Ihr Arbeitgeber war zum Ende hin nicht sehr begeistert, dass Fionas Anwalt 50.000 Euro forderte. Sie zahlten, weil sie es eilig hatten, sie loszuwerden.

Sie hatte einige aussichtsreiche Vorstellungsgespräche gehabt, doch bisher keine Zusage erhalten. Wahrscheinlich redete ihr alter Chef nach ihrem Abgang nicht sehr positiv über sie. Fiona war sich auch gar nicht mehr sicher, ob ihr zukünftiger Lebensweg zurück in die Werbebranche führen sollte. Sie hatte viel über das Gespräch mit Björn nachgedacht. War sie wirklich oberflächlich geworden?

In ihrer Jugend war Fiona ein rettender Engel gewesen. Sie kümmerte sich um Tiere und kranke Kinder. Ein Schwanzwedeln oder ein zaghaftes Lächeln waren damals der einzige Lohn, den sie brauchte. Sie hatte immer darüber nachgedacht, eine Ausbildung anzufangen, die dem Gemeinwohl diente. Sie wollte eine Zeit lang gutes Geld verdienen und das meiste davon sparen. Und spätestens mit dreißig Jahren wollte sie eine Teilzeitstelle annehmen und überwiegend ehrenamtlich arbeiten.

Doch die Theorie ließ sich selten mit der Praxis vereinbaren. Irgendwann kam die Lust auf Luxus und Freiheit. Fiona wollte die hohen Gehälter mit ihren Annehmlichkeiten nicht mehr missen. Aus der Lebenskünstlerin wurde ein Workaholic, der vom Land in die Großstadt zog.

***

Das war nun zehn Jahre her, und Fiona war unzufriedener als jemals zuvor. Wie sehr vermisste sie die menschlichen Aspekte in ihrem Leben. Sie bewohnte eine schicke Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus der oberen Gesellschaftsschicht. Und sie hatte keine Ahnung, wie ihre direkten Nachbarn mit Vornamen hießen. Bei all ihrer Unabhängigkeit vermisste sie zusehends die verflochtenen Bänder einer Dorfgemeinschaft.

In einen Laden zu gehen und mit Namen begrüßt zu werden. Das Lächeln eines alten Menschen, dem man den Einkauf die Treppen hinaufträgt. Das fröhliche Gekicher der Kinder, die sie damals betreut hatte. All diese Dinge erschienen ihr plötzlich wie wahrer Luxus. Sie hatte schon die Möglichkeit verstreichen lassen, eigene Kinder zu haben, als sie den Mann, der sie heiraten wollte, verließ. War es möglich, die Lebensuhr zurückzudrehen? Konnte eine über Vierzigjährige von vorne anfangen? Sie ging mit diesen Fragen im Kopf früh zu Bett. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief sie entspannt ein und erwachte erst gegen Mittag.

Fiona war kein Mensch, der irgendeiner höheren Macht vertraute. Sie war weder besonders gläubig noch spielte der Begriff Schicksal in ihrem Leben eine Rolle. Doch an diesem Tag hatte sie eine Eingebung. Jahrelang war sie in die falsche Richtung gelaufen. Die Karriereleiter hinaufzuklettern war letzten Endes eine Einbahnstraße. Das Ansehen ihres Jobs und der Luxus waren nur Trugbilder auf dem Weg zum Glücklichsein.

Jetzt, da sie aussortiert worden war, hatte sie nichts mehr. Die Kündigung nahm ihr nicht nur die Bequemlichkeiten des Lebens, sondern auch die menschlichen Kontakte. Im Grunde genommen waren die Menschen, die sie Freunde nannte, nur ihre Arbeitskollegen gewesen. Kein einziger hatte sich bei ihr gemeldet, obwohl viele es am letzten Arbeitstag versprochen hatten.

***

Heute beschloss Fiona, einen Schlussstrich unter diesen Lebensabschnitt zu ziehen. Denn eins konnte ihr niemand nehmen: ihre Würde. Sie hatte Rücklagen auf dem Konto und eine Menge Ideen im Kopf, als sie ins Auto stieg. Sie fuhr in ihre alte Heimat, um im Schoße der Vergangenheit neu anzufangen.

Sie beauftragte ein Maklerbüro mit dem Verkauf ihrer schicken Stadtwohnung. Gleichzeitig sah sie sich Angebote für Häuser auf dem Land an. Sie setzte sich in ein Café und dachte an ihren Traum. Es war noch ein weiter Weg, bis sie einen Gnadenhof für Tiere eröffnen könnte. Geld hatte sie genug. Aber sie brauchte auch Mut und Kraft, um ihr Ziel zur erreichen. Doch die erste Hürde hatte sie erfolgreich genommen und zurück zu sich selbst gefunden.

Das Mädchen

Ich hasse die Schule. Sie trichtern uns all dieses unsinnige Zeug ein, das wir später nicht einmal ansatzweise gebrauchen können. Und dafür werden wir stundenlang in dieses Gebäude gesperrt. Zeit, die wir gemeinsam verbringen könnten. Lachend oder schweigend würden wir nebeneinanderliegen, während die Sonnenstrahlen unsere Haut wärmen.

„Tim, träumst du? Deinen Noten zuliebe, solltest du das zu Hause machen.“

Die strenge Stimme seines Mathelehrers riss ihn aus seinen Gedanken. Einige Mitschüler lachten, und Tim lief rot an. Er fühlte sich ertappt und bloßgestellt. Er nahm sich vor, besser aufzupassen, doch nach wenigen Minuten dachte er wieder an sie. Josy, dieses wunderhübsche Mädchen, das seit acht Wochen seine Freundin war.

Er liebte ihre kastanienbraunen Locken und das bezaubernde Lächeln. Ihr Anblick ließ ihn jede Sorge und Tristesse vergessen. Am liebsten würde Tim jede Sekunde mit ihr verbringen. Doch er musste vernünftig sein und sich zwingen, in die Schule zu gehen. Ihre Eltern waren streng und mochten keine Menschen, die in den Tag hineinlebten.

Ich erinnere mich noch ganz genau an unsere erste Begegnung. Du hast deine Tasche fallen lassen, und dein Lipgloss rollte mir direkt vor die Füße. Ich hätte nie geglaubt, dass es die Liebe auf den ersten Blick gibt. Vor ein paar Monaten waren mir Mädchen noch egal. Doch du, Josy, hast mein Herz erobert.

***

„Ich habe heute im Matheunterricht an dich gedacht. Natürlich hat der Müller mich erwischt. Und ich wurde wieder einmal vor der ganzen Klasse blamiert. Ich wünschte, wir hätten die Schule schon hinter uns. Und nächste Woche fängt das Praktikum an, dann sehen wir uns noch weniger.“

Während Tim sprach, streichelte er seiner Freundin sanft über den linken Arm. Sie trafen sich momentan täglich am Badesee. Hier konnten sie ihre Zweisamkeit genießen, die ihnen in den Elternhäusern verwehrt blieb. Josys Vater verbot ihr Jungenbesuche, während Tim sich zu sehr für sein karges Zuhause und seine betrunkene Mutter schämte.

„Ich wäre gerne auf derselben Schule wie du. Doch ich befürchte, dass ich dann noch abgelenkter wäre.“

Josy lachte. Sie genoss seine Nähe. Tim war der erste Junge, den sie geküsst hatte. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, wenn er sie berührte. Sie gestand ihm tiefe Gefühle. Doch ob es wirklich Liebe war, wusste sie mit ihren vierzehn Jahren noch nicht. Tim war süß, doch schwärmte sie auch für einen Jungen aus ihrer Nachbarschaft. Ihr Freund benutzte oft Wörter wie ewig und für immer. Doch fühlte sich Josy noch zu jung, um sich langfristig zu entscheiden. Sie genoss die Kurzweil des Sommers, doch hatte sie nicht vor, schon ihre Hochzeit zu planen.

***

Josy hat mir heute gesagt, wie verliebt sie in mich ist. Wir sind so jung wie einst Romeo und Julia. Doch ich kann sie spüren, diese ewige Liebe. Wir beide gehören zusammen. Meine Großeltern waren damals erst fünfzehn und blieben dann über sechzig Jahre verheiratet.

Tim lag auf seinem Bett. Er hatte sich heute eine Tiefkühlpizza gemacht, weil seine Mutter den Tag verschlief. Kurz vor Ladenschluss war er noch einkaufen gegangen. Er brauchte dringend Verpflegung für den langen Praktikumstag. Bevor er Josy kennenlernte, hatte er sich über die Zusage des Computerunternehmens noch gefreut. Jetzt ärgerte es ihn, dass er wegen der langen Anfahrt in die Stadt den ganzen Tag unterwegs sein würde. Doch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf das Wochenende zu freuen, wenn er Josy wiedersah.

***

Tim jubelte innerlich, als er in den Bus stieg. In der Firma hatte es heute einen Stromausfall gegeben, und er konnte an diesem Freitag drei Stunden früher gehen. Sein T-Shirt klebte auf der Haut, und er roch nach Schweiß. Eigentlich sollte er erst nach Hause fahren und sich umziehen. Doch die Sehnsucht nach Josy war stärker. Er nahm sich vor, direkt zum See zu fahren, um sie zu überraschen.

Ach Josy, wäre ich endlich bei dir. Ich muss dir so viel erzählen. Der Chef hat mich heute gelobt und meinte, ich sollte im nächsten Jahr eine Bewerbung einreichen. Ich freue mich so sehr. Deine Eltern würden mich akzeptieren, wenn ich eine Ausbildungsstelle bekäme. Noch sechs Stationen und ich kann aufhören, nur in meinen Gedanken mit dir zu sprechen.

***

Tim war direkt über den Hügel gerannt und hatte nicht den Weg durch den Wald genommen. Er wollte so schnell wie möglich seine Freundin in die Arme schließen. Seit Tagen hatte er sie nicht mehr gesehen, und geschrieben hatte sie ihm auch nicht besonders häufig. Josy wollte sicher nur Rücksicht auf mich nehmen, dachte er.

Er hatte ihren Lieblingsplatz am Steg bereits erreicht, als er abrupt stehen blieb. Er hörte Josys unvergleichliches Lachen bereits von Weitem. Doch was er sah, ließ seine Miene gefrieren. Seine Freundin lag in den Armen eines Jungen. Er kam Tim bekannt vor. Er hatte ihn einmal in ihrer Nebenstraße gesehen. Dort, wo er immer auf Josy wartete, damit ihre Eltern ihn nicht bemerkten.

Tim konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Sein Mädchen küsste einen anderen und zerbrach damit sein Herz in tausend Stücke. Die Freude, sie wiederzusehen, war vollends aus seinem Körper gewichen. Er ballte die Fäuste, als die Wut in ihm aufstieg.

***

Er war den Weg nach Hause gelaufen. Die Sommerhitze spürte er gar nicht mehr. Sein Innerstes glich einem Kühlhaus. Irgendwer hatte ihn unterwegs angesprochen, doch Tim konnte nicht reagieren. Er ging auch wortlos an seiner Mutter vorbei, die ausnahmsweise wach und nüchtern war.

Tim nahm Josys Foto in die Hand und ließ seiner Traurigkeit freien Lauf. Drei Nachrichten hatte er seiner Freundin geschrieben, und sie hatte liebevoll wie immer geantwortet. Er hatte beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Er wollte sie zur Rede stellen, wenn die Zeit gekommen war. Morgen hatten sie eine Radtour geplant, und er musste sich ein besonderes Ziel ausdenken. Heute wollte er sich ganz allein seiner Trauer und Wut hingeben.

Warum hat sie das getan? Wir waren gerade einmal fünf Tage getrennt, und sie küsst gleich einen anderen Jungen? Wer weiß, wie lange das schon so geht? Vielleicht ist Josy immer zweigleisig gefahren. Was ist, wenn ihre Eltern gar nicht so streng sind, und sie sich mit dem anderen zu Hause getroffen hat? Sie hat gesagt, sie ist in mich verliebt.

Tim hatte gar nicht gemerkt, dass er das Foto in seiner Hand zerknüllt hatte. Sein Puls raste, und er ballte wieder die Fäuste. Er nahm die Hundefigur aus Porzellan, die ihm seine Oma geschenkt hatte, und schleuderte sie gegen die Wand.

„Spinnst du, Junge? Was treibst du da? Sei gefälligst leise, ich will jetzt Fernsehen gucken.“

Er bemerkte den steigenden Alkoholpegel in der Stimme seiner Mutter und suchte sich eine ruhigere Art, die Aggression loszuwerden. Unter seinem Bett hatte er einen Schuhkarton mit Andenken an Josy verstaut. Er nahm die Fotos, Kinokarten und Liebesbriefe heraus und zerriss alles in winzige Teile.

Ich verstehe dich nicht. Du hast immer gesagt, ich bin gut genug für dich. Was bist du nur für eine Schlampe, dass du mich betrügst? Habe ich nicht alles für dich getan? Sogar in der Schule habe ich mich angestrengt. Was stimmt nicht mit dir, Josy? Ich hasse dich, du Miststück!

***

Tim hatte sich bemüht, ruhig zu bleiben, als er Josy am Samstag anrief. Während er verlogene Worte benutzte, stieg Hass in ihm auf.

„Meine Süße, ich freue mich auf dich. Ich habe mir ein schönes Ziel ausgesucht. Kennst du die Ruine am Waldrand? Dort feiern die älteren Jugendlichen oft Partys. Aber am Nachmittag werden wir dort ganz allein sein. Bring bitte eine Decke und etwas zu Essen mit, dann machen wir es uns gemütlich.“

Josy beendete das Telefonat mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Tim klang heute so fröhlich, und sie hatte schlechte Nachrichten für ihn. Sie hatte sich für Marius, den Nachbarsjungen, entschieden. Es war cool, mit einem älteren Schüler zu gehen. Tim war ein ruhiger Freund, immer lieb und zuvorkommend. Er würde traurig sein. Doch war er auch vernünftig und würde es verstehen. Tim und sie, das war nur ein Sommerflirt gewesen.

***

Tim schulterte seine Tasche und nahm Josy an die Hand. Er führte sie den schmalen Pfad zu dem verlassenen Gebäude hinauf. Sie lachte bei jedem Schritt, und sein Magen verkrampfte sich. Jetzt, wo das Mädchen in seiner Nähe war, schien alles wie früher zu sein. Er lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

Josy ist so glücklich in meiner Nähe. Sie hat bestimmt gemerkt, dass sie mich liebt. Vielleicht will sie heute mit mir schlafen? Das Küchenmesser habe ich wohl umsonst eingesteckt. Sie will mich, dessen bin ich mir sicher.

Der Junge genoss die Nähe seiner Freundin. Er merkte in seiner Verliebtheit nicht, dass sie sich seinen Berührungen sanft entzog. Sie erzählte ihm lächelnd, was sie in den letzten Tagen alles gemacht hatte. Den anderen Jungen erwähnte Josy nicht. Sie wollte, dass die Stimmung ausgelassen war, bevor sie ihm die Wahrheit sagte.

***

Eine Stunde später erkannte Josy Tim nicht wieder. Sie hatte ihm gerade erzählt, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte. Doch statt der Tränen, die sie von dem sensiblen Jungen erwartet hatte, hatte Tim sie zu Boden geschleudert. Nun stand er schwer atmend und mit hochrotem Kopf vor ihr. Sie starrte ihn ängstlich an und versuchte, ein Gespräch zu beginnen.

„Tim, beruhige dich! So schlimm ist das nicht. Auch du wirst dich wieder verlieben. Es gibt so viele hübsche Mädchen an deiner Schule, und wir beide sind noch so jung. Wir fangen gerade erst an, die Liebe und unsere Körper zu entdecken. Du hast doch nicht geglaubt, dass wir ewig zusammen sind, oder? Wir können aber Freunde bleiben.“

Mit diesen Worten streckte Josy ihm ihre Hand entgegen. Sie erkannte, dass Tim sehr wütend war, und sie war sich sicher, dass diese Geste ihn beschwichtigen würde. Er war doch immer so ein lieber Junge gewesen. Tim nahm ihre Hand nicht. Er schaute sie nur an und spürte die Kälte in seinem Körper. Er kniete sich neben sie und strich Josy über die kastanienbraunen Locken. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Er schien sich tatsächlich zu beruhigen.

„Es tut mir leid, Tim. Aber ich denke, dass du mich irgendwann verstehst. Und wir werden uns dann wieder regelmäßig sehen.“ Der letzte Satz klang wie eine Ausrede, doch Josy fiel nichts anderes ein. Tims Gesichtsausdruck war immer noch angespannt.

***

Ich weiß, dass sie lügt. Ich werde sie nie wieder sehen. Und in ein paar Tagen wird sie hinter meinem Rücken über mich lachen. Das muss ich verhindern. Josy ist mein Mädchen.

Tim beugte sich weiter zu ihr hinunter und griff mit der rechten Hand nach dem Stein, der unscheinbar am Boden lag. Er war nicht mehr er selbst, als er immer wieder auf sie einschlug. Egal, was er einmal für Josy empfunden hatte, seinen Körper kontrollierte längst die Wut.

Er wusste nicht, wie oft er zugeschlagen hatte. Das Mädchen, das er so sehr liebte, lag mit zertrümmertem Schädel und entstelltem Gesicht vor ihm. Er konnte sich nicht erinnern, ob sie geschrien oder sich gewehrt hatte. Er ließ den blutverschmierten Stein zu Boden sinken, als der Zorn aus seinem Körper entwich. Tim weinte, als ihm klar wurde, was er getan hatte. Seine Josy war tot, und er war schuld daran.

Was habe ich getan? Woher kam nur diese Wut? Sie darf nicht tot sein. Josy, wach auf, ich liebe dich doch. Was soll ich nur ohne dich machen?

Mit dieser letzten Frage im Kopf griff Tim nach dem Messer in seiner Tasche und rammte es sich mit aller Kraft in den Bauch.

Er hatte Angst zu sterben. Doch noch mehr fürchtete er sich vor dem Alleinsein. Nur bei seinem Mädchen war er jemals glücklich gewesen.

Federleicht

Gaby saß nach dem langen Tag auf der Veranda und atmete den Duft der Apfelbäume ein. Der Geruch war süßlich, die ersten Früchte vermoderten auf dem Boden. Der Garten war verwildert. Den ganzen Sommer hatte sich niemand um die Pflanzen gekümmert. Ihr Vater war lange krank gewesen, und heute war er zu Grabe getragen worden.

***