Wolfsgedanken - Melanie Gömann - E-Book

Wolfsgedanken E-Book

Melanie Gömann

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Beschreibung

Die Kurzgeschichten von Melanie Gömann wirken auf den ersten Blick düster und unheilvoll. Doch stecken in ihnen kleine Botschaften, die Mut und Hoffnung mit sich bringen. Und am Ende bleibt die Erkenntnis, dass kein Schmerz und keine Träne umsonst war. Die Geschichten erzählen von Opfern, die einen Weg aus der Dunkelheit finden. Sie zeigen uns, wie aus Verlierern wieder Gewinner werden, weil sie die Vergangenheit hinter sich lassen. Und auch wenn einige der Storys tragisch enden, ist die Botschaft eindeutig: Es gibt noch Licht am Ende des Tunnels. Der Leser wird Trauer, Wut, Freude, Besorgnis und Gelassenheit empfinden. Und das ist das besondere Geschenk an die Autorin. Ihre Geschichten werden gelesen und gefühlt.

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Seitenzahl: 289

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Über die Autorin:

Melanie Gömann wohnt mit ihrer Familie in der Region Hannover. Sie ist Jahrgang 1972 und arbeitet als Speditionskauffrau.

Erste Erfolge feierte sie mit der Veröffentlichung einer Kurzgeschichte im E-Book zur Aktion Wirschreibenzuhause von Sebastian Fitzek.

Im nächsten Monat erscheint eine ihrer Stories im Charity-Buch der Aktion www.1bild2geschichten.de.

Für Adelheid, Werner und Connor

Nirgendwo habe ich mehr Ruhe gefunden als in Wäldern und in Büchern.

(Thomas von Kempen)

Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.

(Henry Ford)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Lichter der Großstadt

Der Eiswolf

Der Fleck

Die Angstjägerin

Der Bulle

Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry - Buchklas

Die Traurigkeit einer Baustelle

Das Versprechen

Der letzte Schultag

Der große Bruder

Der Rosengarten

Flucht aus der Vergangenheit

Der Lauf des Lebens

Für die Freiheit

Regentag

Die Zerbrechlichkeit der Seele

Ein Freund fürs Leben

Hexenmond

Der Traum

Im Freizeitpark

Schreckgespenst

Winterrausch

Die Mutprobe

Darkness

Der Anwalt

Anders sein…

Das Ende der Einsamkeit

Todesstille

Zurück ins Leben

Feuersprung

Hilfeschreie

Novemberrain

Karma is a Bitch!

Blaues Mondlicht

Lippenbekenntnisse

Das Verlies

Das Leben eines Obdachlosen

Zwei Ansichten

Vatermord

Als der Tod blasslila trug

Am Tag, als der Regen kam

Blinder Hass

Der letzte Tango

Blutjäger

Die rote Schachtel

Nachwort

Vorwort

Liebe Leser/ innen,

ich danke Ihnen für die Entscheidung, dieses Buch zu kaufen.

Erlauben Sie mir vorab ein paar Worte. Vielleicht gibt es jemanden unter Ihnen, der meine Art zu schreiben noch nicht kennt. Ich habe mich der Dunkelheit des Lebens verschrieben. Ich meine damit nicht fiktive Monster, sondern die schrecklichen Dinge, die jeden Tag mitten unter uns passieren.

Mobbing, Depressionen, Suizid, Prostitution und sexueller Missbrauch sind nur einige der Themen, die in meinen Geschichten eine Rolle spielen. Manchmal enden sie mit so etwas Ähnlichem wie einem Happy End. Doch oft genug führe ich dem Leser das jeweilige Thema brutal vor Augen.

Ich entschuldige mich dafür bei Ihnen, aber ich finde, dass man diese Problematiken nicht vergessen darf. Ich möchte den Leser aufrütteln, ihn bitten, einen Augenblick innezuhalten, um denen zu gedenken, die zu Opfern wurden.

Nicht jede Geschichte in diesem Buch braucht einen Sicherheitshinweis, aber seien Sie sich bewusst, dass Sie auf Schicksale treffen, die Ihnen zusetzen werden. Manche Geschichten wie zum Beispiel „Ein Freund fürs Leben“ und „Der große Bruder“ beruhen auf Geschehnissen, die im letzten Jahr in Deutschland wirklich passiert sind.

Einen besonderen Hinweis möchte ich zu der Geschichte „Die Zerbrechlichkeit der Seele“ geben. Sie ist sehr hart geschrieben, aber ohne die derbe Wortwahl wäre es mir niemals gelungen, dieser Geschichte Leben einzuhauchen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine emotionale Reise durch meine Gedanken.

Melanie Gömann

Oktober 2021

Lichter der Großstadt

Lana ging im Schutz der Dunkelheit über den Parkplatz. Sie war froh, dass der Parkwächter die defekte Glühbirne neben ihrem Stellplatz noch nicht ausgetauscht hatte. Niemand sollte ihre verweinten Augen sehen, wenn sie nach der Therapie nach Hause kam. Sie hasste falsches Mitleid, genauso wie neugierige Fragen.

Nach dem Umzug sollte alles anders werden. Lana hatte gehofft, die Anonymität der Großstadt würde sie wie ein Kaschmirmantel sanft umhüllen und beschützen. Doch ihr Optimismus wurde bereits zu Beginn jäh gedämpft. Sie spürte die Blicke der Nachbarn auf ihrem Körper. Hörte, wie sie nach dem aufgesetzten Gruß hinter ihrem Rücken tuschelten.

***

Doch niemand sah ihre Narben. Lana trug immer Handschuhe und ein Halstuch. Auch der Rest ihres entstellten Körpers war stets bedeckt. Kein Blick konnte den Stoff durchdringen. Und dennoch war da dieses Gefühl, als könnte jeder sie sehen. Betrat sie einen Raum, fühlte sie sich hilflos ausgeliefert. Als wäre sie nackt, und alle starrten sie an.

Lana war sich sicher, dass die Menschen um sie herum so dachten. Es lag in ihrer Natur, alles anzustarren, was nicht ins genormte Bild passte. Schönheit reichte nicht aus. Wer im Leben etwas erreichen wollte, musste makellos sein. So, wie sie es früher einmal gewesen war.

Die Ironie an der ganzen Sache war, dass sie das selbst dachte. Wie oft starrte sie den Rollstuhlfahrer aus dem Erdgeschoß oder das kleine Mädchen mit dem Feuermal an, wenn sie ihnen zufällig im Treppenhaus begegnete. Lana fühlte sich erhaben ihnen gegenüber, weil man ihren Makel auf den ersten Blick nicht sehen konnte.

***

Über diese scheußlichen Gedanken redete sie in ihrer Therapiestunde nie. Und das vergiftete Lana innerlich immer mehr. Sie war unfähig, andere Menschen an sich heranzulassen und verlor vollständig das Interesse an ihrer Umgebung. Sie sah nicht, dass der Parkwächter sie jeden Abend anlächelte. Sie wusste nicht, dass der Rollstuhlfahrer ein erfolgreicher Sportler war und das Mädchen mit dem Feuermal die Klassenbeste.

***

Sie hatte inzwischen die Wohnungstür hinter sich verschlossen und schrie die vermummte Gestalt im Garderobenspiegel an:

„Langsam wirst du verrückt! Niemand sieht sie! Du bildest dir alles nur ein. Das Monster ist versteckt, und nur du kannst es sehen!“ Und mit diesen letzten Worten warf sie wütend eine Dose Schuhwachs in den Spiegel, der unter der Wucht zersplitterte.

Ein Glas Rotwein dämpfte ihre Wut, und sie nahm ein Fotoalbum in die Hand. Vor einem Jahr war sie noch begehrenswert gewesen. Sie hatte einen Verlobten und große Träume gehabt. Sie strich mit ihrer deformierten Hand über das letzte gemeinsame Foto mit Lars. Es entstand auf einer Party, vier Tage vor dem verhängnisvollen Unfall. Danach hatte sie sich nie wieder freiwillig fotografieren lassen.

Sie dachte an den Unglückstag, der ihr Leben veränderte. Es war ein ganz normaler Arbeitstag gewesen. Niemand ahnte, dass sie heute das letzte Mal gelächelt hatte. Eigentlich erinnerte sie sich auch gar nicht mehr an die Einzelheiten. Sie konnte noch die Sirenen hören und die Schmerzensschreie ihres Kollegen Kurt. Oder waren es ihre eigenen gewesen? Später im Krankenhaus hatte man ihr erzählt, dass es ein Chemieunfall gewesen war, der überall passieren konnte.

***

Kurt, der drei Wochen vor seiner Pensionierung stand, hatte es auf den ersten Blick noch wesentlich schlimmer erwischt. Er war durch die Säure erblindet. Aber er hatte deutlich weniger Verätzungen der Haut davongetragen als sie. Lanas rechter Arm war bis zum Ellenbogen entstellt. Dazu hatte sie Verletzungen am Hals und am Kopf erlitten. Sie war gerade mal 24 Jahre alt gewesen, als in der Klinik ihr langes braunes Haar abrasiert wurde. Von diesem Tag an war sie ein hässliches Monster, das noch Jahrzehnte bis zur Rente arbeiten musste.

Die körperlichen Folgen des Unfalls hatte Lana schnell verkraftet. Ihr Arbeitgeber hatte beide Opfer finanziell mehr als großzügig abgefunden. Aber auf die Rückkehr in das Leben hatte sie niemand vorbereitet. Sie sagte die Hochzeit ab, und schloss Lars aus ihrer Welt aus. Bevor er es tun konnte.

***

Lana verließ das Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, zwei Wochen nachdem sie aus der Reha zurückgekehrt war. Sie konnte das Getue der Menschen um sie herum nicht mehr ertragen. Jeder behandelte sie wie eine Behinderte. Die Blicke der Menschen und deren mitleidiges Gerede, gingen ihr auf die Nerven. Und als eine neugierige Nachbarin es beim Einkaufen mit den guten Wünschen mal wieder übertrieb, bekam sie einen Wutanfall.

Sie wurde eine Gefangene ihres Elternhauses. Die Mutter verhängte alle Spiegel, und kein Sonnenstrahl konnte sich einen Weg durch die geschlossenen Jalousien bahnen. Lana fühlte sich, als wäre sie lebendig begraben worden. Wenn sie überleben wollte, musste sie hier weg!

***

Sie kaufte sich von der Abfindung ihrer Firma eine Wohnung in der Stadt, und dort saß sie nun. Immer noch war sie ein in Erinnerungen schwelgendes kleines Mädchen, das sich vor der Welt versteckte. Sie arbeitete von zu Hause aus und ließ sich ihre Lebensmittel liefern. Zu ihren Therapiestunden ging sie immer erst spät abends, wenn die Dunkelheit mit ihrem Körper verschmolz und die Lichter der Großstadt nur ihre Schönheit betonten.

Denn das war sie auf den ersten Blick immer noch. Eine schöne Frau. Lanas Augen hatten niemals den Glanz verloren, und ihre Locken waren mit der Zeit nachgewachsen. Niemand ahnte, was sich unter ihrer Kleidung verbarg.

Doch eine Person wusste es. Sie selbst! Und das war der Grund für ihre Tränen. Solange sie ihre Narben nicht akzeptierte, blieb sie das Monster.

Der Eiswolf

Sie saß am Fenster und beobachtete den Vollmond. Die Kälte zeichnete Eisblumen an die Fensterscheiben. Silbrig glänzende Schneeflocken tanzten durch die frostklare Nacht. Ida liebte den Winter. Er machte die Welt so friedlich und still. Die Menschen verzogen sich in den kalten Winternächten in ihre Häuser, anstatt noch spätabends in den Gärten zu sitzen.

Ida arbeitete fast das ganze Jahr über als freie Journalistin. Nahm jeden unangenehmen Auftrag an und bereiste exotische Länder. Sie war 36 Jahre alt und geschieden. Ihr Mann hatte sie während ihrer Auslandsaufenthalte mehrfach mit ihrer besten Freundin betrogen. Und eines Tages war Ida drei Tage früher nach Hause gekommen und hatte die beiden erwischt. Kinder hatten beide nie gewollt, obwohl sich Ida oft einsam gefühlt hatte. Der Rest war ein dunkles Kapitel im Buch ihres Lebens.

Von Ende Oktober bis Mitte März zog sich Ida jedes Jahr auf die kleine Nordseeinsel Pellworm zurück. Das windschiefe Haus war das einzige Überbleibsel der Ehe, die sie eingegangen war, aber nie wirklich gewollt hatte. Ihr Ex-Mann hatte damals laut gelacht, als sie nur die alte Hütte wollte. Er verbrannte sechs Monate später bei einem Unfall mit dem Auto, zusammen mit der Freundin, die sie gerne bespuckt hätte. Die Unfallursache wurde nie ermittelt. Ida wusste aber seit diesem Abend, was damit gemeint war, dass ein Feuer reinigende Wirkung hatte. Nach dieser Sache hatte sie nie wieder Schlafprobleme.

Sie war schon sechs Wochen auf Pellworm, und der Winter war ungewöhnlich rau fürs norddeutsche Flachland. Momentan war sogar der Fährverkehr eingestellt. Ida liebte den Humor der verschrobenen Nordlichter, auch wenn sie Jahre brauchte, um ihn zu verstehen. Sie war stolz, dass sie die Herzen der Bewohner inzwischen erobert hatte. Aber erst seit sie nicht mehr die Frau vom reichen Doktor war, die hier nicht hingehörte. Sie war eine echte Insulanerin, die zum Tee eingeladen wurde und mit der man gerne ein Schwätzchen hielt.

Idas größte Anerkennung blieb aber, dass sie sich in der Dorfkneipe ungefragt an den Männerstammtisch setzen durfte. Jeder Tourist wäre für diese Dreistigkeit haushoch rausgeflo-gen. Ida mochte das Geschwätz der alten Männer und den Geruch von Bier und Pfeifentabak. Sie vertrug auch mehr Alkohol als mancher Mann, was die alten Herren sichtlich beeindruckte. Ida hatte ihren Vater nie kennengelernt, und ihr Opa Hannes war derjenige, der sie das Leben gelehrt hatte. Genau wie Oma und Mutter war auch er seit vielen Jahren tot.

***

Die Stimmung in der Kneipe war derb humorvoll, als sich Ida an diesem Abend zu den Männern setzte. Sie wollte schnell etwas essen und ein paar Runden mit dem Stammtisch trinken. Da fiel ihr Blick auf einen Mann, den sie hier noch nie gesehen hatte. Sein äußeres Erscheinungsbild ordnete ihr Kleinhirn unbewusst als attraktiv ein. Ida konnte es nicht lassen, ihn anzustarren. Fiel er in einer Kneipe mit angetrunkenen Rentnern doch auf wie ein Einhorn auf einer Pferdekoppel. Ida aß ihren Fisch, kippte den angereichten Doppelkorn hinunter und setzte sich zu dem Fremden an den Tisch.

***

Ida erwachte am frühen Morgen auf ihrer Couch. Sie musste sich an der Lehne festhalten, weil ihr Kopf sie gerade zu einer Freifahrt Kettenkarussell einlud. Sie tastete umständlich nach dem Schalter der Stehlampe und stöhnte auf, als das grelle Licht auf ihr Gesicht traf. Was war hier passiert? Auf dem Couchtisch standen zwei Schnapsgläser und eine leere Wodkaflasche. Sie ahnte nichts Jugendfreies, als sie ihre Kleidung auf dem Boden verstreut sah. Sie schaute vorsichtshalber unter die Wolldecke, die sie wie ein Ballkleid gerafft am Körper trug.

Ida war nackt und versuchte die vergangene Nacht zu rekonstruieren. Sie hatte den Mann vom Nebentisch noch in der Kneipe wild geküsst und mit nach Hause genommen. Danach erinnerte sie sich nur noch an den Sex. Auf jeden Fall wusste Ida, dass alles mehr als freiwillig gewesen war. Die Kneipe würde sie aber eine Weile meiden, sonst könnten die Stammtischgespräche peinlich werden.

***

Auf einmal wurde Ida hellwach. Wo war der Typ hin? Vor ihrem geistigen Auge sah sie schon durchwühlte Schubladen und den Inhalt ihrer Handtasche auf dem Boden verteilt.

"Du dumme Kuh!" sagte sie im Laufen zu sich selbst. Nackt rannte sie die schmale Treppe zum Schlafzimmer hoch. Welche Ironie, dass sie gestern nicht so weit gekommen waren. Ida musste sich zwischendurch am Geländer festhalten. Nie wieder Alkohol, schwor sie sich selbst mit stummen Worten. Endlich erreichte sie das obere Stockwerk und griff sich erst mal einen Jogginganzug. Ihre Handtasche stand unberührt auf der Kommode, auch die Kameras im Arbeitszimmer waren vollständig. Das Chaos auf Tisch und Bett entsprach ganz ihrer eigenen Form von Ordnung. Von einem Mann war nirgends etwas zu sehen.

Eine Stunde später hatte Ida geduscht und die Spuren der Nacht beseitigt. Sie saß in der Küche und trank einen Kaffee. Mehr bekam sie nicht runter, ohne sich zu übergeben. Sie brauchte frische Luft und öffnete die weiten Flügeltüren im Wohnzimmer. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und ihr Grundstück unweit des Meeres lag unter einer dichten Schneedecke. An der rechts gelegenen Steilküste peitschte der Wintersturm das Wasser zu hohen Wellen auf. Die an den Klippen genauso schnell wieder brachen, wie sie sich aufgetürmt hatten. Ida liebte es, wenn das Meer unruhig war und seine unbändige Kraft präsentierte. Sie verstand nicht, warum die Menschen die Schönheit der Nordsee nur bei Sonnenschein und blauem Himmel bemerkten.

Ida beschloss, eine Runde zu laufen, um den Kopf freizubekommen. Sie wollte gerade die Flügeltüren verschließen, als sie die Spuren im frischen Schnee bemerkte. Es waren keine Fußspuren, sondern riesige Pfotenabdrücke, die vom offenen Teil ihres Gartens bis direkt an ihre Terrassentür führten. Ida schüttelte heftig den Kopf, was urplötzlich das Schwindelgefühl zurückbrachte. Welcher Hund wäre so schlau, in seinen eigenen Abdrücken rückwärts zurückzulaufen? Ida war anscheinend noch betrunken und machte sich irritiert auf den Weg zu ihrer üblichen Laufrunde.

***

Als sie später den Rückweg durch das Dorf nahm, um ein paar Sachen einzukaufen, sah sie den Menschenauflauf vor der Polizeiwache. Die Leute standen aufgeregt um etwas herum, das wie ein menschlicher Körper aussah. Ida trat näher, und ihr Atem stockte. Auf dem Boden lag die durchnässte Leiche des Mannes, mit dem sie in der Nacht zuvor intensiv gefeiert hatte.

Plötzlich bildete sich eine Gasse in der Menschenmenge vor ihr, und die Insulaner starrten sie argwöhnisch an.

"Ida würden Sie mich bitte in mein Büro begleiten? Ich habe ein paar dringende Fragen an Sie." sprach Polizeimeister Hansen sie von hinten an. Ida empfand es als kein gutes Zeichen, dass er sie vor den anderen siezte.

Fünf Minuten später saß Ida gegenüber von PM Ole Hansen, mit einer Tasse Tee in der Hand, und fing an zu erzählen. Von dem Treffen in der Kneipe, dem Weg nach Hause und dem Sex bis hin zu ihrem schmerzerfüllten Aufwachen. Während der gesamten Aussage schaute Ida aus Scham nur auf die kleine, dampfende Tasse vor sich. Sie vermied es Ole, den sie jetzt seit zehn Jahren kannte, in die Augen zu sehen. Er nahm die Aussage digital auf und machte sich zusätzlich handschriftliche Notizen. Als Ida fertig war, räusperte er sich und sagte zu ihr:

"Du hast den Mann also zuletzt auf deiner Couch gesehen und kannst dich nicht an die Uhrzeit erinnern?" Ida ging nicht weiter auf die Frage ein und sagte nur:

"Was ist passiert? Wo habt ihr ihn gefunden?"

Sie erstarrte, als sie erfuhr, dass die Leiche an der Steilküste unweit ihres Hauses gelegen hatte. Für weitere Untersuchungen müsste man auf den Hubschrauber vom Festland warten. Bislang ging man aber nicht von Fremdverschulden aus. Allerdings hatten mehrere Bewohner übereinstimmend ausgesagt, dass Ida mit dem Opfer in vertraulicher Weise die Dorfkneipe verlassen hatte.

Ida stand auf und sagte nur:

"Sofern ich nicht verhaftet bin, gehe ich jetzt nach Hause. Du weißt, wo du mich findest." Sie musste hier raus. So sehr hatte Idas Magen seit dem Aufwachen nicht mehr rebelliert, und kaum war sie aus dem Dorf raus, übergab sie sich hinter einem Busch.

***

48 Stunden waren seit dem Leichenfund vergangen. Tage, in denen Ida nachts immer wieder schweißgebadet aufwachte, weil sie sich Gedanken machte, ob die Insulaner sie für eine Mörderin hielten. Sie war gestern im Dorf gewesen, weil ihre Vorräte zur Neige gegangen waren. Die Leute waren freundlich wie immer, aber sie konnte die argwöhnischen Blicke wie Nadelstiche in ihrem Rücken spüren.

Am nächsten Morgen stand Ida im Bad und schaute sich im Spiegel an. Sie sah verbraucht aus, sämtliche Frische und Jugend waren seit dem Leichenfund aus ihrem Gesicht gewichen. So schlecht hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie ihren Mann beim Fremdgehen erwischt hatte. Sie hatte damals sehr ruhig reagiert, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, und ihre Tränen runtergeschluckt. Im Hotelzimmer, das sie eilig buchte, ließ sie ihrer Trauer freien Lauf. Sie heulte, trank die Minibar leer und verließ das Zimmer drei Tage nicht. Erst dann wechselte die Trauerphase in Wut, und sie konnte wieder agieren. Am vereinbarten Tag, als sie allein ihre Sachen aus dem ehemaligen gemeinsamen Haus abholte, sollte ihr Ex-Mann herausfinden, was Rache ist. Sie zog seine Zahnbürste durch die Toilette und kippte seine teuren Weine in die Spüle. Sie zertrümmerte in wilder Rage den riesigen Spiegel im Eingangsbereich und verbrannte seine guten Anzüge in der Badewanne.

***

Ida sah wieder in den Spiegel. Sie wusste genau, zu was sie fähig war, wenn man ihr wehtat. Vielleicht hatte es in der Nacht mit dem Fremden eine Situation gegeben, die irgendeine Aggression in ihr ausgelöst hatte. Die vielen Reportagen in Kriegsgebieten waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Sie hatte Tod und Teufel direkt in die hässlichen Fratzen geblickt und sich nie die Zeit genommen, die kranken Bilder zu verarbeiten. Vielleicht war sie zu Dingen fähig, die sie nicht ahnte?

Ida verwarf die trüben Gedanken. Schwachsinn, sie war nicht so, sonst würde sie sich daran erinnern. Sie war eine lebenslustige Frau, die sich nur Abenteuern und Alkohol hingab, um ihre Einsamkeit zu vergessen. Ida zog sich eine Jacke an und setzte sich auf ihre Terrasse. Sie musste trotz der Minusgrade das Meer rauschen hören. Der Himmel war frostblau, und die untergehende Sonne erleuchte den Horizont in verschiedenen Violetttönen. Wer brauchte Nordlichter, wenn er so etwas haben konnte?

Und plötzlich sah sie ihn. Er stand wenige Meter vor ihr und schaute zu ihr herüber. Ein riesiger Wolf mit weißem Fell. Das Tier schaute sie traurig aus pechschwarzen Augen an, und Ida erwiderte den Blick. Für Sekunden hatte sie den Eindruck, dass er zu ihr sprechen würde. In einer Sprache, die nur die einsamen Seelen verstehen. Das Telefon klingelte, und Ida war wieder allein.

Ole Hansen war am Apparat. Er teilte Ida mit, dass nicht gegen sie ermittelt würde. Der Gerichtsmediziner hatte beim Toten einen hohen Alkoholgehalt im Blut festgestellt. Er ging nach Abschluss seiner Untersuchungen davon aus, dass dieser auf den vereisten Wegen ins Rutschen kam und die Klippen heruntergestürzt war.

Sie bedankte sich für den Anruf und ging zurück in den Garten. Dort saß wieder ihr weißer Schatten und heulte den inzwischen am Himmel stehenden Mond an. Ida rief ihm leise zu:

"Na mein Freund. Die Wahrheit kennen wohl nur wir beiden".

Der Fleck

Maggie schloss keuchend ihre Wohnungstür auf. Die Einkaufstüte, die ihr eben runtergefallen war, hatte sie jetzt umständlich unter den Arm geklemmt. Die restlichen Taschen standen noch ein Stockwerk tiefer. Sie spürte, wie ihr T-Shirt feucht wurde. Irgendetwas lief in der Papiertüte gerade aus und ihre Hüfte herunter.

Als wäre der Tag nicht schon schlimm genug gewesen. Sie verdrehte die Augen und überlegte, was sie in diese Tüte gestopft hatte. Der Freitag war zweifelsohne ihr liebster Arbeitstag, aber auch der stressigste. Der Arbeitsanfall war genauso hoch wie an den anderen Tagen, aber ihr blieb weniger Zeit, um fertigzuwerden.

In drei Stunden war sie schon mit ihren Freundinnen verabredet. Ein Ding der Unmöglichkeit, dachte Maggie, als sie ihre gedankliche To-do-Liste abhakte. Sie grinste. Am besten sollte sie irgendetwas aus dem Bereich Haushalt auf einen anderen Tag verschieben.

Sie stellte die angerissene Einkaufstasche ab und dann sah sie das Malheur auf ihrer rechten Körperhälfte. Von allen Sachen, die sie übereilt hineingestopft hatte, musste ausgerechnet das Glas mit der roten Beete zerbrechen. Das war wieder typisch. Bei zehn Töpfen aus Gold am Ende des Regenbogens erwischte Maggie grundsätzlich den einen mit Kuhmist.

Sie musste inzwischen über ihr Missgeschick lachen. Sie wäre heute der perfekte Statist beim Tatort, der dunkelrote Fleck erstreckte sich von den Rippen bis an den Oberschenkel. Sie warf ihre Kleidung in die Waschmaschine und sprang unter die Dusche. Sie sollte morgen ihre Mutter fragen, wie sie die Flecken aus ihrem Lieblingsshirt bekam.

Als sie sich im Schlafzimmer das weiße Sommerkleid anzog, fielen ihr die anderen Einkaufstaschen wieder ein. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass ihre Wohnungstür die ganze Zeit offen gestanden hatte. Sie verstaute die restlichen Einkäufe und machte sich auf den Weg zu ihrem Mädelsabend.

Maggie genoss den Abend mit ihren besten Freundinnen und kam erst im Morgengrauen wieder nach Hause. Es hatte geregnet, und sie zitterte in ihrem dünnen Kleidchen, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Sie hatte einige Cocktails getrunken. Vielleicht waren sie der Grund, dass sie den Schatten hinter sich nicht bemerkte.

Aber sie spürte, wie er das Küchenmesser mit voller Wucht in ihre rechte Seite rammte. Ihr Schrei verstummte, als er ihr den Mund zuhielt. Er hatte sie seit Wochen beobachtet. Sie sah immer fröhlich aus. Und heute stand ihre Wohnungstür so lange offen, dass er unbemerkt eintreten konnte. Er hatte sie beobachtet, als sie das weiße Kleid anzog und sich schon auf ihre Rückkehr gefreut.

Maggie sah im Licht der aufgehenden Sonne, wie sich ihr Kleid rot färbte. Sie dachte noch, dass es diesmal kein Rote-Beete-Saft war.

Die Angstjägerin

Ich wusste nie genau, wann die Angst kam. Sie hielt sich nicht an Öffnungszeiten oder Feiertage. Irgendwann spürte ich sie einfach. Und weil sie eine kleine Sadistin war, schlich sie sich grundsätzlich dann an mich heran, wenn ich sie nicht gebrauchen konnte.

Es gab viele Formen der Angst. Das Gefühl, sich vor einer Spinne oder einem Horrorfilm zu fürchten, war mir fremd. Meine Angst attackierte das, was ich mir mühsam aufgebaut hatte, mein Selbstwertgefühl. Wenn ich morgens in den Spiegel sah, lächelte mich wieder eine starke Persönlichkeit an. Der beschwerliche Weg durch meine Therapie hatte mich aufgebaut und gestärkt. Doch sie versuchte weiterhin, meinen Schutzwall zu erklimmen.

Sie war eine lästige Bestie, diese Angst. Sie wusste, dass ich stark genug war, Drachen zu töten. Deswegen kam sie in einem Gewand, das ich nicht sehen konnte. Sie schlich sich in mein Herz und verteilte ihre dunkle Macht über meine Blutbahnen. Sie infiltrierte mich mit dem Bewusstsein, zu versagen. Sie fraß all meinen Mut und meine Entschlossenheit. Und dann hatte sie mich genau dort, wo sie wollte, am Boden.

***

Das größte Problem, wenn man einem Feind gegenübersteht, ist ihn einzuschätzen. Ist das nicht möglich, ist man schutzlos ausgeliefert. Darum war mein höchstes Ziel, meine Angst zu ergründen. Bei dem, was ich durchgemacht hatte, war ängstlich zu sein, eigentlich Normalität. Bildlich gesprochen hatte das Böse mich aufgeschlitzt und dem Tode geweiht liegenlassen. Nur hatte die Dunkelheit mich damals gar nicht besiegt. Ich war längere Zeit in psychologischer Behandlung, und alle Wunden hatten sich in unsichtbare Narben verwandelt.

Was ich überlebt hatte, machte mich stark und scheinbar unzerstörbar. Woher kam also die Angst? Ich stand gefestigt im Leben und überwand alle Hürden mit Leichtigkeit. Ich hatte keine Phobien und bis dahin keine Panikattacken. Ich ging stolz vor die Tür und lebte. Mich unter Menschen zu mischen, erzeugte keine Erstickungsgefühle. Aber dennoch spürte ich genau, dass die Angst da war. Sie machte keine Unterschiede, ob ich allein oder in Gesellschaft war. Aus heiterem Himmel schnürte sie mir die Kehle zu.

***

Diese Emotionen waren schwer zu beschreiben. Meistens fühlte ich mich wie ein Wesen in zu enger Haut. Als hätte mich etwas eingewickelt und versuchte, mich zu zerquetschen. Ich wusste nicht, wie sich eine Rinderroulade fühlte, aber wahrscheinlich erging es ihr ähnlich. Die Reaktion auf diese Attacken war stets vorhersehbar. Egal, was ich gerade tat, ich musste es beenden. Die Ausrede, auf Toilette zu müssen, benutzte ich häufig.

Das Problem war nur, dass eine einfache Flucht nie ausreichte. Ich musste die Gebäude verlassen, um wieder atmen zu können. Und selbst dann gab die Angst keine Ruhe. Ein paarmal verließ ich wortlos mein Büro und lief in irgendeine Richtung, solange bis das Druckgefühl merklich nachließ. Ich muss auch zugeben, dass ich mich auf offener Straße erbrach. Die Blicke waren mir egal, solange ich damit die Angstattacke abmilderte. Wer in einen solchen Schub gerät, schert sich nicht um die Befindlichkeiten unbeteiligter Personen. Da war ich nicht anders. Mich sprach auch selten jemand an, die Menschen stierten durch mich hindurch. Was mich nicht störte, ich wollte ihr Mitleid nicht.

***

Schlimm waren auch die Wutausbrüche. Wenn die Angst dich so fest umklammert, dass das Ticken einer Wanduhr die Wucht von Hammerschlägen besitzt, kann dich die kleinste, unbedeutende Frage durchdrehen lassen. In der Vorphase einer Angstattacke verspürte ich oft entsetzliche Kopfschmerzen, die mich reizten und zu Ungerechtigkeiten verführten.

Wenn ich allein war, triggerte mich die Angst besonders. Hier waren keine neugierigen Augenpaare auf mich gerichtet, und die Gefahr, Dummheiten zu machen, stieg immens an. Das Thema Suizid hatte ich lange hinter mir gelassen, als ich entschied, dass ich das Leben doch zu sehr liebte. Auch die Tabletten, die mir mein Psychologe regelmäßig für den Notfall verschrieb, ließ ich unberührt. Ich konnte mir keinen Dämmerzustand erlauben, mein Gegner war äußerst stark und widerspenstig.

***

Immerhin kannte ich inzwischen die Quelle meiner Angst. Sie wohnte in mir und wartete nur darauf, eliminiert zu werden. Mein Innerstes musste bekämpft werden, um mich zu heilen. Klingt blödsinnig, aber ich hatte die Angst zu verantworten. Ich wollte immer alles auf einmal. Job, Familie und Umfeld in einen perfekten Einklang bringen. Alles unter Kontrolle zu haben, erforderte übertriebene Selbstdisziplin. Jede Kursabweichung brachte Panik mit sich, Lösungen mussten um jeden Preis gefunden werden. Und dann war da noch das kleine Wörtchen, was mich fast umbrachte. NEIN zu sagen, war mir unmöglich. Das galt ganz besonders für den Job. Ich konnte mir nie angewöhnen, fünf Minuten vor Feierabend den Stift fallenzulassen. So wie es jeder andere in der Firma tat. Ich war morgens die Erste und abends die Letzte. Wenn kurz vor Feierabend ein Problem winkte, löste ich es. Einfach nur, weil ich es konnte. Ich brauchte zu lange, bis ich bemerkte, dass mir das niemand dankte. Die überfällige Kündigung reichte ich zwei Jahre zu spät ein. Zu einem Zeitpunkt, als mich mein Arzt zwang, aufzuhören.

***

Als ich mich entschied, die Angst zu bekämpfen, war mir bewusst, dass ich eine Waffengleichheit erreichen musste. Deshalb fiel Komasaufen, um sich zu betäuben, ebenfalls aus. Ich wollte nicht gegen die Angst verlieren. Obwohl sie sich bestimmt wünschte, dass ich aufgab und man mich eines Tages von einem Bürgersteig kratzte.

Ich legte mich offen mit ihr an. Brachte sie mich zum Schwitzen, duschte ich kalt. Kam sie mit ihrer Zerquetschungs-Taktik, rannte ich in die Natur, setzte mich unter einen Baum und schloss die Augen. Wenn sich die Panik mit einem übersteigerten Herzschlag näherte, war es indes schwieriger, sich zu wehren. Mein Kopf war einfach zu voll mit negativen Gedanken und übertriebener Sorgen. Allerdings besaß ich die Waffe der Erkenntnis. All diese Klötze an meinem Bein gehörten gar nicht mir.

Ich hatte mir die Unsicherheiten und Bedrohungen anderer Leute aufgehalst. Sie waren wie durch eine imaginäre Nabelschnur mit mir verwachsen, und es gab nur den einen Weg, sie loszuwerden. Ich nahm das unsichtbare Beil der Erkenntnis und hackte die Verbindung durch. Das erwartete Chaos blieb aus. Jedem einmal mitgeteilt, dass man keine Nerven mehr für ihre Unwichtigkeiten hatte, und es wurde still. Man glaubt gar nicht, wie konzentriert Freundschaften und Zuwendungen werden, wenn man den unnötigen Ballast abschneidet.

***

Es ging nicht darum, sich zu verstecken und unnahbar zu sein. Nein, diese Art der Säuberung von negativen Gedanken führte allein dazu, dass mein eigenes Ich und meine Sorgen in den Fokus rückten. Mich ständig aufzureiben, zerstörte mich. Ich begann mein Spiegelbild morgens als Erstes zu fragen: „Was kann ich für dich tun?“

Die Einsicht, dass ich für mich das Kostbarste auf dieser Welt war, imponierte meiner Angst. Die neu erworbene Stille ließ mich zuhören, wenn mein Körper mit mir sprach. Alle seine Warnsignale hatte ich in der Vergangenheit nicht wahrgenommen. Vielleicht hörte ich deswegen auf meinen Arzt und suchte mir ein neues berufliches Umfeld. Depressionen und Angstattacken, die sich in teuflische Umarmung mit einem Burn-out begeben, können tödlich enden.

Wenn du in Angst lebst, bist du nicht selten an dem Punkt, wo du dich freiwillig entscheiden willst, aus dem Leben zu scheiden. Es ist für dich in diesem Augenblick der richtige Weg. Obwohl du ganz genauso weißt, dass es kompletter Schwachsinn ist. Du besiegst die Angst nicht, du rennst vor ihr davon. Und dann hinterlässt man auf dieser Welt einen riesengroßen Scherbenhaufen, den Familie und Freunde wegräumen müssen. Ich gehöre zu den Gewinnern einer solchen Situation, und ich kenne die Schwierigkeit einer solchen Entscheidung. Ich würde jedem raten, den Scheiß sein zu lassen und die richtige Wahl für das Leben zu treffen.

Wenn du deinen Körper jedoch absichtlich zugrunde richtest und die Angst dich dazu noch auffrisst, kann es urplötzlich vorbei sein. Der Tod wird so unerwartet und brutal nach dir greifen, dass du alles bereust. Aber dann wird es zu spät sein. Darum ist es immer der wichtigste Schritt im Kampf gegen die Angst, die Alarmzeichen des Körpers nicht zu ignorieren. Ich weiß, wie leicht es ist, einfach nur zuzuhören.

***

Als ich wieder lernte, meinen Körper zu achten und zu verehren, war die Angst in mir zur Gejagten geworden. Mit schmerzfreiem Kopf und einem kräftigen Herzen konnte meine persönliche Streitmacht nicht nur Siege einfahren, sondern ganze Schlachten gewinnen. Mut zu zeigen, bedeutete Hilfe anzunehmen. Ich ging wieder zur Therapie, nicht mehr so ausführlich, aber ich redete. Jedes Mal ein bisschen mehr. Ich lernte mich zu akzeptieren, zu lieben und zu verstehen. Ich hatte eigene Bedürfnisse, und die mussten ab und zu an erster Stelle stehen. Ich blieb hilfsbereit, aber nicht um jeden Preis. Die Selbstheilung hatte begonnen und die Angst fand keine Verstecke mehr. Sie musste jeden Angriff auf mich sofort ausfechten, und mein Selbstwertgefühl wuchs mit jedem Sieg wieder. Angst, die sich nirgendwo einnisten konnte, war leichter zu bekämpfen.

Irgendwann war der Krieg gewonnen und die Angst in mir ausgerottet. Sicher gab es danach neue Situationen, die Furcht entstehen ließen. Aber im Gegensatz zu früher habe ich mich ihr fortan immer gestellt und bin niemals wieder davongelaufen. Manchmal wird mir meine Haut heute noch zu eng. In diesem Jahr war es auch einmal passiert, dass mein Körper massiv rebellierte. Aber hierfür fand ich eine Lösung.

Aufgeben sollte für niemanden eine Option sein. Wenn du es allein nicht schaffst, deine Angst zu besiegen, ist sie irgendwo da draußen. Die helfende Hand, die reden und zuhören kann. Und wer es zulässt, wird auch wie ich zu den Gewinnern gehören. Ich wünsche allen, die kennen, was ich fühlte, die entscheidende Kraft, um zu bestehen. Das kann die Selbstheilung genauso wie die helfende Hand sein. Niemand ist allein.

Der Bulle

Schon als kleiner Junge wollte ich Polizist werden. Gerechtigkeit walten lassen und das Böse bekämpfen. Und dieses Ziel habe ich akribisch verfolgt. Ich machte Abitur, damit ich eine höhere Beamtenlaufbahn einschlagen konnte. Jeden Sprung auf meiner steilen Karriereleiter hatte ich durchdacht und jede sinnvolle Fortbildung mitgenommen.

Auch in der Praxis war ich immer ein harter Kerl gewesen, der seelenruhig den schlimmsten Abschaum der Straße hinter Gitter brachte, ohne jemals einen negativen Eintrag in der Personalakte zu erhalten.

Vor mir, Lukas Wegener, zitterte die Unterwelt vom kleinsten Schergen bis zum obersten Boss.

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Doch nun stand ich vor dem Gebäude des Bundeskriminalamts und wusste nicht, ob ich mich richtig entschieden hatte. Dieser Schritt war ein besonderer auf meinem Weg nach oben. Ich tat es nicht wegen des besseren Gehalts oder um Ruhm zu ernten. Ich wollte mir diese brutalen Schweine holen, die Kinder missbrauchten. Nur aus diesem einzigen Grund hatte ich mich bei der Sondereinheit des BKA beworben.

Ich zündete mir eine Zigarette an, noch zehn Minuten bis Dienstbeginn, und dachte an meine Familie. Ich hatte in den Wochen vor meiner endgültigen Entscheidung lange mit meiner Frau Carola geredet, obwohl ich längst wusste, was sie empfand. Sie hatte mich als Polizisten kennen und lieben gelernt, aber sie hasste diesen Job. Ich drückte den Rest der Zigarette in den Aschenbecher, atmete tief durch und klingelte beim Pförtner.

Ich machte mich auf den Weg in die Katakomben des Gebäudes, wo die Sondereinheit ihre Räumlichkeiten hatte. Hier unten, versteckt in den fensterlosen Kellern, würden meine neuen Kollegen und ich alles tun, um die Täter zu fassen. Während ich an die Tür von Raum E018 klopfte, holte ich noch einmal tief Luft, um zumindest äußerlich gefasst und bereit zu wirken.

Ich ging hinein und vier Augenpaare musterten mich für einen kurzen Augenblick. Den Beamten zu meiner Linken, EPKH Torsten Mölling, kannte ich bereits aus meinen Vorstellungsgesprächen. Er war erster Polizeihauptkommissar und mein direkter Vorgesetzter. Mölling stellte mir mit sachlichem Gesichtsausdruck die Kollegen vor. Die anderen nickten mir teilnahmslos zu und widmeten sich wieder ihren Akten. Wahrscheinlich hatten sie schon zu viele Beamte gesehen, die ähnlich wie ich auftraten, aber doch scheiterten. Nun war meine Entscheidung endgültig, und jede Geste des Zurückweichens würde mir als Schwäche ausgelegt werden.

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Mölling hatte bereits im Bewerbungsgespräch keinen Hehl daraus gemacht, dass er in dieser Abteilung niemanden mit Samthandschuhen anfassen würde. Er setzte mir direkt den Computerfreak Marc Friesen an die Seite, der mir die Tücken des Darknets erklären sollte. Marc streckte mir die Hand entgegen und sagte:

„Nimm uns die Emotionslosigkeit nicht übel. Die Fluktuation in dieser Abteilung kannst du mit dem U-Bahn-Verkehr in Tokio vergleichen. Halte lange genug durch, und du wirst uns auch schätzen lernen.“ Ich nickte nur wortlos.

Nach zahlreichen Sicherheitshinweisen und technischen Instruktionen saß ich in der hintersten Ecke an dem mir zugewiesenen Computer und sah mich um. Dies war ein Aktenarchiv gewesen. An den Wänden waren noch die Spuren von angeschraubten Schwerlastregalen zu erkennen. Das kalte Neonlicht verlieh dem Raum eine gespenstische Sterilität, die das perfekte Tor für die grausame Welt bot, in die ich jetzt eintauchen musste.

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