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Inselromantik auf Usedom und die Suche nach einem verlorenen Schatz Elin ist vom Leben gefrustet: Ihre berufliche Karriere will einfach nicht in Gang kommen und außerdem hat sie schrecklichen Liebeskummer. Aus diesem Grund flüchtet sie auf den alten Gulfhof mit der Hoffnung auf Erholung und trifft dort auf den eigenbrötlerischen Tede Tönjes. Der wurde von seinen Geschwistern beauftragt, auf Usedom ein wichtiges Flaschenschiff zu finden, wofür er sich zunächst verweigert. Doch die temperamentvolle Elin bringt ihn schließlich dazu, sich mit ihr zusammen auf die Suche zu machen. Das gemeinsame Abenteuer und die aufkeimenden Gefühle füreinander beflügeln die beiden, bis ein entscheidender Hinweis sie dann in das malerische Wolgast führt. Dort müssen sie auf den Spuren der Vergangenheit Entscheidungen für ihre Zukunft treffen.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2025
Patricia Koelle
Glückshafen-Reihe
Roman
Für Elin könnte es gerade nicht schlechter laufen. Nach ihrem Studium im Bereich Tourismus will ihre berufliche Karriere einfach nicht in Gang kommen und zudem hat sie Liebeskummer. Daher beschließt sie, dass sie einen Tapetenwechsel braucht und sucht den historischen Gulfhof an der ostfriesischen Küste auf. Zur gleichen Zeit versuchen dort die Geschwister von Tede Tönjes, den eigenbrötlerischen Bruder aus seinem Schneckenhaus zu locken und ihn auf die Suche nach einem weiteren Flaschenschiff auf Usedom zu schicken. Doch Tede weigert sich hartnäckig. Erst das Aufeinandertreffen mit der temperamentvollen Elin ändert schließlich seine Meinung und beide machen sich auf die Reise, die sie schließlich in das malerische Wolgast führt. Das gemeinsame Abenteuer lässt auch die Gefühle füreinander aufleben und beide müssen sich entscheiden, wie ihre Zukunft aussehen soll.
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Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie, die Inselgärten-Reihe sowie die Sehnsuchtswald-Reihe. ›Wolkenschiffe tragen dich‹ ist der zweite Band ihrer Glückshafen-Reihe.
[Widmung]
Elin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Tede
6. Kapitel
7. Kapitel
Elin
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Tede
11. Kapitel
Elin
12. Kapitel
13. Kapitel
Tede
14. Kapitel
15. Kapitel
Elin
16. Kapitel
17. Kapitel
Tede
18. Kapitel
Elin
19. Kapitel
20. Kapitel
Tede
21. Kapitel
22. Kapitel
Elin
23. Kapitel
24. Kapitel
Tede
25. Kapitel
26. Kapitel
Elin
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Epilog
Danksagung
Für die Wolken, die uns den Regen bringen und damit das Leben und die Regenbögen.
Für die Menschen, die ihre Träume und Hoffnungen immer wieder hoch und weit fliegen lassen.
Filapperhoff, Ostbense, Ostfriesland
2022
Vom konzentrierten Zeichnen war sie steif geworden. Elin legte den Zimmermannsbleistift beiseite, stand auf und reckte die Arme zum Himmel. Der war heute meistens hellblau, nachdem gestern ein Aprilschauer auf den anderen gefolgt war.
Endlich Frühling! Seit Januar war sie nun schon hier auf dem alten Gulfhof an der ostfriesischen Küste, und der Seewind hatte ihr so ziemlich jedes Winterwetter um die Ohren gejagt, das man sich vorstellen konnte. Selbst die sturmerprobten Möwen schienen erleichtert zu sein, so wilde Kapriolen vollführten sie aus purer Ausgelassenheit im hohen Blau.
»Na, mien Deern, das ist wohl eher, wie du es gewohnt bist? So’n schön biestiges Schietwetter wie wir habt ihr in Brandenburg sicher nicht.« Sibo kam um die Hausecke und betrachtete ihr halb fertiges Werk. Elin erwiderte sein Lächeln. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, wie tief er den Hof, das Land und genau dieses Schietwetter liebte. Auf das war er so stolz, als hätte er es persönlich in der Wolkenküche zusammengerührt. Verständlich, schließlich hatte er seine gesamten siebzig Lebensjahre genau hier verbracht.
»Ach was. So ein Landei bin ich auch nicht«, protestierte sie. »Was hältst du von meinem Schild?«
Er stellte sich neben sie und betrachtete kritisch das rustikale Holzbrett, das wahrscheinlich einst eine Tischplatte gewesen war. Elin fand die Alterspatina, die dem Holz anhaftete, genau richtig für ihren Zweck. Sie hatte es in einer Ecke der Remise gefunden und gegen den Baumstumpf gelehnt, auf dem zerzauste Hornveilchen in einer Zinkwanne blühten. Ein paar Farbtöpfe mit Resten darin und ein struppiger Pinsel waren in einem Schrank ebenfalls aufgetaucht.
Die Buchstaben mit dem Bleistift vorzuzeichnen war schwieriger gewesen als gedacht. Sie war künstlerisch nicht sehr begabt. Aber ein Schild musste endlich her! Auf dem rauen Holz war ein halber Radiergummi schnell verbraucht, bis sie einigermaßen zufrieden war. Jetzt konnte der Schriftzug ausgemalt werden.
Zum Filapperhoff am Deich
Café, Gästezimmer und Seemannsgarn
Herzlich willkommen!
»Und du meinst, das wird etwas nützen?« Sibo war deutlich skeptisch.
»Das ist überfällig!«, versicherte Elin. »Das kleine Teil, das ihr da vor Jahren mal angenagelt habt, wo man abbiegen muss, sieht im Vorbeifahren kein Mensch!«
»Ich dachte, inzwischen haben alle so ein Navigationsdingens?«
»Was hilft das, wenn sie gar nicht wissen, dass es den Hof gibt? Um etwas zu finden, muss man es erst einmal suchen. Besser, man wird mit der Nase darauf gestoßen.«
»Aber nicht in Neonpink!« Sibo konfiszierte kopfschüttelnd die Dose, die neben der blauen und der weißen bereitstand.
Insgeheim musste Elin ihm zustimmen. Das passte wirklich nicht zum Stil des Hofes. Aber man hätte es wenigstens nicht übersehen können.
»Im Keller ist noch etwas Rot für den Pfeil unter der Schrift«, sagte Feeke, die aus dem Garten gekommen war und nun ebenfalls das Schild betrachtete. »Elin hat recht, Sibo. So ein Schild ist dringend nötig. Von dieser Saison hängt ja alles ab!«
Rot war ein guter Vorschlag. »Danke, Feeke. Ich geh gleich runter, die Farbe holen.«
Auf Feekes Gesicht lag nach der heutigen Gartenarbeit ein erster Anflug von Sonnenbräune, stellte Elin fest. Sibos Schwester hatte lange nicht mehr so gesund gewirkt. Sie war zwar erst zweiundsechzig, doch die letzten sorgenvollen Jahre hatte man ihr im Winter angesehen. Im Herbst hatten Feeke und Sibo noch kurz davorgestanden, den Hof zu verlieren, auf dem sie aufgewachsen waren. Er war unwirtschaftlich geworden, weil er zu einsam lag, um noch ausreichend Gäste anzuziehen.
Inzwischen gab es Hoffnung, denn es waren unvorhergesehene Dinge passiert, an denen ihre Freundin Pixie einigen Anteil gehabt hatte. Nur dadurch war Elin an diesen Zufluchtsort geraten, der ihr so guttat.
Ewig würde sie nicht bleiben können. Aber den Gedanken schob sie vorerst beiseite. Schließlich konnte sie sich hier nützlich machen, und das war genau das, was ihr so schmerzlich gefehlt hatte, ehe sie hier gelandet war.
Manchmal war sie sogar ein wenig neidisch auf Feeke und Sibo, die immer gewusst hatten, wo sie hingehörten und was es zu tun gab, und die, wenn alles klappte, doch noch den Rest ihres Lebens hier verbringen konnten. Elin aber war sechsundzwanzig und voller Energie, nicht siebzig. Sie hatte Pläne. Wenn sie nur gewusst hätte, wie die aussahen! Stattdessen waren sie so verschwommen, konturlos und fern wie die Federwolken am Himmel über ihr, die Elin so mochte.
Sibo schob die Hand in die ausgebeulte Tasche seiner Weste, die er über seinem weiten, handgestrickten Seemannspullover trug. »Ich wollte was fragen. Wie gefällt euch diese Farbe? Die Wolle ist gestern gekommen.«
Elin und Feeke betrachteten interessiert das Knäuel, das er ihnen vor die Nase hielt.
Nachdem er seine Arbeit auf dem Fischkutter aus Altersgründen hatte aufgeben müssen, hatte Sibo ein altes Spinnrad in Betrieb genommen und angefangen, die Wolle einer Bekannten zu spinnen. Die wusste nicht, wohin mit der Wolle ihrer Schafe, war sehr erleichtert über Sibos Angebot und lieferte sie ihm vorgefärbt. Sibo hatte das Ganze als Jux begonnen, doch es machte ihm so viel Freude, dass er dabeiblieb und noch einiges mehr daraus geworden war. Er verkaufte mittlerweile nicht nur die Wolle, sondern auch die Pullover, die seine Lebensgefährtin Tessje daraus strickte.
»Das ist ja dieselbe Farbe wie Elins Haare! Nur nicht so glänzend«, staunte Feeke.
Elin hielt eine ihrer langen kupferroten Locken daran. »Tatsächlich.«
Elin, das war die skandinavische Form von »Helena« und bedeutete »die Strahlende, Leuchtende«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, sobald sie alt genug war. »Du bist schon mit kupferroten Haaren geboren worden, die leuchteten, als die Sonne ins Krankenhauszimmer fiel. Da wussten Papa und ich sofort, wie du heißen musst. Helena kam uns zu ernst vor, aber Elin, das war perfekt.« Woher sie die Haarfarbe hatte, blieb ein Rätsel, das hatte es in ihrer Familie nie gegeben, soweit man wusste. Ihr großer Bruder Keno hatte einen dunklen, glatten Schopf. Nachdem man Elin in der ersten Klasse ausgelacht hatte, beschloss sie aus Trotz, die Flucht nach vorne anzutreten und ihre Haare wachsen zu lassen. Seitdem trug sie sie hüftlang und bekam häufig Komplimente dafür. Manchmal zog man sie allerdings trotzdem damit auf, weil ihr Temperament dem gängigen Klischee entsprach und angeblich dazu passte. Sie war oft zu lebhaft, direkt, undiplomatisch und ungeduldig. Das hatte sie kurz vor Weihnachten ihre Beziehung gekostet. Zum Glück war sie geübt darin, unliebsame Gedanken resolut beiseitezuschieben.
»Wenn sie dir gefällt, könnte Tessje dir etwas daraus stricken«, bot Sibo an. »Ich dachte, das würde dir gut stehen. Als ich die Farbe gesehen habe, wurde ich die Idee nicht mehr los.«
»Eine hervorragende Idee, Sibo!« Feeke nickte beifällig. »Elin hat uns die letzten Monate so geholfen, ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wie wir uns bedanken können.«
»So viel habe ich doch gar nicht gemacht. Außerdem wohne und esse ich hier«, protestierte Elin.
»Du hast den Zimmern mit wenigen Mitteln eine ganz eigene und besondere Atmosphäre gegeben. Die ersten Gästestimmen zeigen, wie gut das ankommt. So was hätten wir niemals hinbekommen, und es ist unbezahlbar«, beharrte Feeke. »Bei den Urlaubern bleibt das im Gedächtnis und kann den Unterschied ausmachen, ob sie wiederkommen oder nicht, vor allem in der Nebensaison, wenn sie sich öfter drinnen aufhalten müssen.«
»Das alles hat mir doch große Freude gemacht, Feeke.«
Über die Rezensionen auf den einschlägigen Plattformen, die das erwähnt hatten, hatte Elin sich allerdings mehr gefreut, als sie zugeben wollte. Die kalten Monate hatte sie damit verbracht, sich in der Gegend in Antiquitäten- und Trödelgeschäften, Kunsthandwerksläden und Werkstätten umzusehen. Sie hatte Bilder, Bücher, Beistelltische, alte Gerätschaften, Spiegel, kleine Teppiche und besondere Haken ebenso wie originelle Zahnputzbecher, Blumentöpfe, Kissen, Kerzenhalter und Keramikschalen heruntergehandelt, mit Bedacht kombiniert und in den Zimmern untergebracht, zu denen sie passten. Von nichts zu viel und vor allem nichts Geschmackloses. Da Filapper ein plattdeutsches Wort für Schmetterling war, tauchte das Schmetterlingsthema immer wieder auf. Es waren nur kleine, unaufdringliche Akzente, die dennoch jedem Zimmer, die auch nach Schmetterlingen benannt waren, eine Persönlichkeit verliehen – und Heimeligkeit. Elin hatte ein feines Gefühl für Farben. Deshalb wusste sie jetzt auch genau, was sie sich aus dieser Wolle wünschte. »Eine Frühlingsjacke würde mich sehr freuen«, nahm sie Sibos Angebot an. Es war zu unwiderstehlich. »Keinen Pullover. Eine lange, weite Strickjacke, unbedingt in dieser Hauptfarbe, aber insgesamt bunt.«
»Na, dann komm mal gleich mit, die Farben aussuchen«, meinte Sibo und steuerte auf die Tür zu, über der Seemannsgarn stand. Dort befand sich seine Spinnstube mit dem kleinen Laden, den er sich im ehemaligen Karnhaus des Hofs eingerichtet hatte. Darin war in alten Zeiten Milch verarbeitet worden, darum war es ein abgetrennter Raum.
Das Spinnrad stand in der Mitte, an sämtlichen Wänden befanden sich Regale voller bunter Knäuel. Obwohl der Onlinehandel allmählich anlief, verkaufte Sibo hauptsächlich an Kunden aus der Umgebung und an Feriengäste des Hauses. Elin konnte sich an den Farben nie sattsehen. An besonders grauen Tagen hatte sie daran ihr Gemüt aufgetankt. Es gab die warmen Töne ebenso wie die kühlen Meeresfarben, die so gut hierherpassten. Jetzt spazierte sie nachdenklich davor hin und her. Was würde am besten mit dem kupferfarbenen Garn harmonieren? Schließlich entschied sie sich für ein Taubenblau, ein dunkleres Blau und ein Meergrün, dazu ein paar feine Streifen Goldgelb.
Tessje kam mit einem Strauß Tulpen und Narzissen aus dem Garten herein. »Oh, hallo, Elin!«
Sibo legte einen Arm um sie. »Elin hat sich gerade Wolle ausgesucht. Sie wünscht sich eine große Strickjacke.«
»Ah, so eine, in der man wohnen kann und jederzeit Trost findet?« Tessjes blaue Augen leuchteten auf. Sie war rundlich, hatte einen kurzen weißen Zopf und eine Ausstrahlung, die einen unwillkürlich erwärmte. Sibo und sie waren erst im letzten Jahr zusammengekommen. Das war eines der unerwarteten Ereignisse gewesen, die dazu beitrugen, dass der Hof mit etwas Glück wieder besseren Zeiten entgegensehen konnte. Tessjes Temperament ähnelte dem Elins. Sie hatten sich sofort verstanden. Jetzt holte sie ein Maßband. »Dann lass uns gleich abmessen, ich freue mich schon darauf, mit dem Stricken anzufangen. Jetzt geht das ja endlich wieder draußen.«
Lachend stellte sich Elin hin und ließ Tessje mit dem Maßband hantieren. Diese Frau steckte alle mit ihrer Zuversicht an, dass gelingen würde, was auch immer man begann. Und sie schob nie etwas auf.
Am nächsten Tag fuhr sie mit Sibo in seinem Pick-up das inzwischen ausgemalte und getrocknete Schild dorthin, wo man von der großen Durchgangsstraße auf den kleinen, schmalen, holprigen Weg abbiegen musste, um zum Hof zu gelangen. Hinter den Schopfweiden und dem Schwarzdorndickicht war die Abzweigung im Vorbeifahren kaum zu bemerken, ebenso wenig das verwitterte, schmale Schild, das dort schief an einem Pfosten hing. Wenn dennoch einmal jemand abbog, verlor er nach einer Weile meist den Mut, nahm an, die Straße würde im Nichts enden, und wendete wieder. Durch die Kurven konnte man nicht einmal vermuten, wohin dieser Weg führte, und nirgends war ein Haus zu sehen. Nur Felder, Hecken und zerzauste Baumgruppen. Zwar wussten die Besucher, dass irgendwo der Deich sein musste und dahinter das Meer, doch das war bestenfalls an der Färbung des Himmels zu erahnen. Dass am Ende ein alter Gulfhof mit einer besonderen Atmosphäre und einer ganz eigenen Geschichte wartete, erschien manchem allzu bald wie ein bloßes Gerücht.
Entschlossen zog Elin die rostigen Nägel mit der Zange heraus und warf das alte Schild auf die Ladefläche. Sibo rüttelte an dem Pfosten und klopfte gegen das Holz. »Der ist noch solide.«
Er bohrte größere Löcher hinein, dann hielt er das neue Schild fest, und Elin versenkte die dicken Schrauben. Zufrieden trat sie ein paar Schritte zurück, dorthin, wo die Autos um die Ecke kamen. »Perfekt. Jetzt ist es nicht mehr zu übersehen!«
Sibo machte ein paar hastige Sätze und zog sie unsanft am Arm von der Straße weg. »Harrijassesne, biste mall, Deern? Das Schild sieht man vielleicht, aber dich an der Stelle nicht!«
»Tut mir leid, aber ich musste doch gucken, ob …« Ein Sportwagen zischte dicht an Elins linkem Ohr vorbei. Doch sie erkannte gerade noch, dass die Frau auf dem Beifahrersitz dem Schild einen neugierigen Blick zuwarf. »Da, es funktioniert!« Sie strahlte Sibo an, der nur den Kopf schüttelte und zum Wagen stapfte. Elin machte noch rasch ein Foto.
»Wirst sehen, das Schild hilft«, sagte sie, als sie auf den Beifahrersitz kletterte.
»Total mall«, wiederholte er. »Trotzdem danke.«
»Mall« war plattdeutsch für »verrückt«, und wenn Sibo es sagte, steckte immer auch ein bisschen liebevolle Anerkennung darin.
Während der Wagen über die Schlaglöcher holperte, dachte Elin über das doppelte »f« im Filapperhoff nach. Es hatte ihr von Anfang an gefallen. Dass die Höfe hier Hoff hießen, war für eine Brandenburgerin gewöhnungsbedürftig, aber man konnte nicht anders, als dabei an Hoffnung zu denken. Darum war es doch bestimmt unvermeidlich, dass der Hof dauerhaft gehalten werden konnte! Und dass für sie selbst hier etwas anfing, auch wenn sie noch immer nicht wusste, was es sein würde.
Gegen Abend half sie Feeke, das kalte Abendessen für die Handvoll Hausgäste vorzubereiten. Noch hatte die Saison nicht begonnen. Wer jetzt hier war, der suchte genau das, was die größte Stärke des Hofs ausmachte: Ruhe und Abgeschiedenheit. Von solchen Menschen gab es wesentlich mehr als gedacht, so hatten es die neuen Überlegungen im Herbst ergeben. Man musste sie eben nur erreichen. Das war gar nicht einfach.
Danach trieb es Elin auf den Deich. Seit sie hier war, verging kaum ein Tag, den sie nicht mit einem Blick auf Meer und Himmel verabschiedete. Das Meer war heute sogar anwesend, denn es herrschte Flut. Oft genug hatte es sich, wenn sie die Deichkrone erklomm, in die blaue Ferne zurückgezogen. Dafür war dann das Watt voller Leben, Farben und Sandmustern. Sie liebte das bestimmte Silberblau des Himmels um diese Zeit an einem Frühlingstag und den erdigen Geruch nach Anfängen und Möglichkeiten, der über das Land trieb und sich mit dem würzigen Duft des Meeres nach Salz und Tang mischte. Sie atmete das Aroma tief ein. Der frische Wind zog an ihren Haaren, und Elin band sie eilig zusammen, ehe er Knoten hineinwirrte. Hier oben war der Wind voller Unfug, aber er war ihr Freund, schon seit sie als kleines Mädchen auf ihrem Floß ein Segel aus ihrem Rock gesetzt hatte. Zum Glück war das nicht auf dem Meer gewesen. Das hatte sie damals nur in ihrer sehnsüchtigen Phantasie gekannt.
Wenn sie sich umwandte, sah sie unten den Gulfhof liegen, völlig allein inmitten der grünenden Felder und der blühenden Wallhecke, die ihn schützend umgab. Der liebste Blick aber war ihr der nach oben. Kaum irgendwo hatte sie jemals so viel Himmel gesehen wie hier. Ihr ging es um die Wolken. Noch mehr als der Wind waren ihr diese schon immer liebe Gefährten gewesen. Ihr Großvater, ehe er so früh gestorben war, hatte sich bemüht, ihr die wissenschaftlichen Namen beizubringen. Sie sollte, noch ehe sie in die Schule kam, zwischen Cirrus und Stratus und Cumulus und den vielen anderen unterscheiden lernen, doch das interessierte sie nicht. Elin wollte lieber nur die Formen betrachten, wollte staunen, wie diese luftigen, fernen Gebilde so einfach ihre Gestalt wechseln konnten. Wie sie mit dem Wind reisten, mit der Tageszeit die Farbe wechselten, wie sie sich einfach auflösten oder wie durch Zauberei aus dem Nichts erschienen. Und Geschichten erzählten. Die kleine Elin sah keine Cirrus- oder Cumuluswolken, sie sah Drachen, Rehe, Schildkröten, Adler und Fische über den Kanal und den Wald ziehen. Wahre Dramen spielten sich am Himmel ab. Die alte Nachbarin Josephine, die manchmal auf Elin aufpasste, hatte dafür volles Verständnis. »Du bist wolkensüchtig, kleine Elin!«, sagte sie mit einem Lächeln. »Das ist klug. Bleib so, egal was die Leute sagen, dann wirst du niemals einsam sein. Weißt du, was der größte Zauber der Wolken ist?«
»Was denn, Josephine?«, hatte sie mit großen Augen gefragt, in der Ahnung, gleich etwas zu erfahren, das für ihr ganzes, noch so rätselhaftes Leben wichtig sein würde.
»Sie können trösten! Es gibt kein Problem und keine Sorge, die sie nicht mindestens ein bisschen leichter machen können.«
»Oh. Weil sie selber so leicht sind, dass sie schweben können?«
»Auch.« Josephine zeigte auf die dicken weißen Wolken, die an diesem heißen Augusttag über ihnen gemächlich Richtung Norden zogen. »Wie, findest du, sehen die aus?«
Elin musste nicht lange überlegen. »Wie Schiffe! Sie fahren ja auch.«
»Genau. Und in ihren dicken Bäuchen haben sie jede Menge Trost geladen. Genau wie die Schiffe auf dem Kanal Kohle und Kartoffeln. Und weißt du, warum der Trost immer für uns da ist?«
Elin schüttelte stumm den Kopf. Sie war alt genug, um erlebt zu haben, dass es oft schwer war, welchen zu finden. Jedenfalls wenn man sehr traurig war.
»Weil Wolkenschiffe nicht sinken können!«, verkündete Josephine triumphierend, und ihre Haare leuchteten in der Sommersonne genauso weiß wie die Wolken. »Wolkenschiffe tragen dich über Momente von Traurigkeit und Verzweiflung hinweg, wenn du ihnen deine Hoffnungen und Träume anvertraust. Da kann gar nichts passieren.«
Das leuchtete Elin ein. Noch keine einzige Wolke war je im Himmelsmeer untergegangen. Das hatte es noch nie gegeben. Immer waren sie unbeirrt und mit Leichtigkeit zum Horizont gesegelt und aus Elins Sichtfeld verschwunden. Selbst die mächtigen grauen Gewitterwolken. Und immer kamen neue hinterher, wenn nicht an demselben Tag, dann an einem anderen.
Seit jenem Gespräch hatte es keinen Kummer gegeben, mit dem Elin nicht irgendwie, irgendwann fertigwurde, spätestens, wenn sie lange genug den Wolken zusah.
Dass der Physiklehrer ihnen Jahre später erklärte, wie schwer Wolken eigentlich waren, tat ihrer alten Überzeugung keinerlei Abbruch. So ein Wolkenschiff konnte tausend Tonnen wiegen, sagte er, etwa so viel wie zweihundert Elefanten. Dass es trotzdem nicht sank, bewies doch erst recht alles! Außerdem konnte man Sorgen schließlich nicht wiegen. Um Gewicht ging es überhaupt nicht. Und Josephine hätte auch nur darüber gelacht. Lachen war nämlich ein weiterer, mächtiger Zauber, den Elin von ihr gelernt hatte.
An diesem Abend zogen nur ganz zarte Streifen über dem Horizont entlang, erst golden, dann rosa. Doch jetzt gerade brauchte Elin keinen Trost. Hier am Meer zu sein und obendrein zu wissen, dass sie Feeke und Sibo helfen konnte, war genug für heute. Und morgen würden die Wolken vielleicht schon eine Geschichte erzählen, die sie auf ganz neue Gedanken brachte, was ihre Zukunft betraf.
Als Elin ins Haus zurückkehrte, brannte im Kamin ein Feuer. Sibo saß mit der Zeitung davor, die Beine ausgestreckt. »Solange die Abende noch so kühl sind, müssen wir es genießen, am Hoffbinnersten zu sitzen«, meinte er. »Später sind wir ja fast immer draußen.«
Bis dahin werde ich wohl nicht mehr hier sein, dachte Elin wehmütig. Aber wo dann? Sie musste dringend anfangen, Bewerbungen zu schreiben. Nur was, wenn man sie woanders genauso behandelte wie beim letzten Mal …
»Setz dich doch zu uns. Feeke bringt gleich noch einen warmen Apfelwein.«
»Gern. Danke.« Elin rutschte auf eine der Bänke voller bunter Kissen, die den uralten, schweren und riesigen Holztisch umgaben. Diesen Tisch sowie den passenden gewaltigen Kamin aus Feldsteinen hatte man auf dem Hof schon seit Generationen das »Hoffbinnerste« genannt, das »Hofherz«, an dem beinahe jeder willkommen war. Hier wurde gegessen, geplant, gelesen, geschrieben, geplaudert, geträumt. Der Schlag dieses Herzens unter dem breiten Dach des Hofs war sogar zu hören, denn über dem Kamin hing eine alte Uhr mit einem bronzenen Pendel, das gemächlich hin- und herschwang. Elin hatte sich sofort in das Ziffernblatt verliebt. Die Zahlen waren römisch, und auf dem altersdunklen Hintergrund waren deutlich die Sonne, der Mond und dazwischen kunstvoll gemalte Wolken zu sehen. Wolken, die sich zu bewegen schienen, wenn man nur lange genug hinsah. Vielleicht war das einer der Gründe, warum sie sich hier sofort zu Hause gefühlt hatte.
Sibo vertiefte sich wieder in die Zeitung. Elin suchte auf ihrem Handy das Foto von dem neuen Schild heraus und korrigierte den Belichtungsausgleich.
»Schreibst du an Pixie?«, fragte Feeke, die mit einer Karaffe und Henkelbechern aus der Küche kam.
»Ja, gleich.«
»Grüß sie bitte herzlich von uns!« Feeke schenkte ein. Der Duft des heißen Obstweins breitete sich aus und verlieh der Atmosphäre noch mehr Behaglichkeit.
Pixie war der Grund, warum Elin überhaupt von diesem Hof erfahren hatte. Sie hatten sich in Großefehn kennengelernt, wo Elin im Museumscafé und in der Touristinfo gearbeitet hatte, während sie auf Dokumente wartete, die ihren Studienabschluss in Nachhaltigem Tourismus belegten. Mit Pixie, dunkelhaarig, etwas ruhiger als Elin und kaum älter, hatte sie sich sofort gut verstanden. Diese war im Auftrag einer Zeitschrift unterwegs gewesen, auf der Suche nach Hinweisen zur Lebensgeschichte eines verstorbenen Kapitäns. Pixie hatte keine Familie mehr und kein festes Zuhause. Hier auf dem Gulfhof hatte sie sich wohlgefühlt, und Feeke und Sibo hatten sie ins Herz geschlossen. Dafür half Pixie dabei, dem Hof wieder Aufwind zu verschaffen. Unter anderem hatte sie einen Instagram-Account für Sibo angelegt, der sich immer größerer Beliebtheit erfreute und so für mehr Verkäufe der Wolle und mehr Besucher auf dem Hof sorgte. Mittlerweile war sie im Harz, um an ihrem neuen Buchprojekt zu arbeiten, doch Elin versorgte sie mit Fotos und Nachrichten für den Account.
Das Schild sieht super aus, danke für das Bild, antwortete Pixie jetzt. Das poste ich gleich. Ich muss nur noch das Kapitel zu Ende schreiben. Übrigens, ich komme richtig gut voran! Ich bin auf einem guten Weg, der mir viel Freude macht. Bitte grüße alle von mir. Ich habe oft Heimweh nach dem Filapperhoff. Sobald ich kann, komme ich wieder zu Besuch.
Elin gab die Grüße weiter.
»Danke. Geht es ihr denn gut?«, fragte Sibo.
»Ja, es hört sich so an. Richtig gut.« Elin legte mit einem unwillkürlichen Seufzer das Handy weg und nahm einen Schluck, der sie wohltuend wärmte.
»Und du, mien Deern?« Feeke warf ihr einen forschenden Blick zu. »Wie geht es dir? Immer noch traurig wegen diesem Fabian?«
»Ach was! Nicht mehr. Das war ja nichts Ernstes.«
»Was weh tut, ist immer ernst«, warf Sibo ein.
Elin verschluckte sich und musste husten. Sibo brachte die Dinge häufig so einfach auf den Punkt. Obwohl sie immer seltener an Fabian dachte, seit sie hier war, tat es doch noch weh. Nicht, weil sie ihn so sehr geliebt hatte. So weit waren sie gar nicht erst gekommen. Aber weil er sich als so ein Flunkerbüdel und Blaffbeck erwiesen hatte. Diese Wörter hatte sie von Sibo gelernt und war geradezu entzückt davon, wie gut sie auf ihren ehemaligen Kollegen in der Touristinfo Großefehn passten. Ein Betrüger und Großmaul, jawohl. Erst war er so nett gewesen, als sie dort zu arbeiten begonnen hatte, frisch von der Uni und unsicher. Fabian war fröhlich, freundlich und offen, er arbeitete sie geduldig ein, beantwortete alle Fragen und lud sie mal auf ein Eis, mal zu einem Ausflug ein. Für ihn war es wohl nur ein Flirt gewesen, aber Elin hatte sich zunehmend zu ihm hingezogen gefühlt. Dass ihr Instinkt dermaßen versagt hatte, ärgerte sie am meisten. Denn dann hatte sie herausgefunden, dass Fabian alles verachtete, was ihr so dringlich am Herzen lag, nämlich angenehmen Tourismus mit der Schonung der Landschaft zu verbinden und neue Konzepte zu entwickeln, die den Menschen und der Natur gleichermaßen zugutekamen. Obwohl er nach außen hin das Gegenteil verkündete und großspurig von Ökologie und Vielfalt sprach, lachte er immer öfter über ihre Ideen, Vorschläge und Ideale. »Du verstehst nichts davon, du bist noch viel zu unerfahren. Das mit dem Umweltgedöns ist doch nur, um die Presse und bestimmte Leute zufriedenzustellen. Das rechnet sich in Wahrheit niemals! Wer Urlaub machen will, der kommt nur, wenn er einen großen Wellnessbereich hat und beheizte Außenterrassen. Die Gäste wollen Golf spielen oder Tennis und jede Menge Entertainment und Einkaufsmöglichkeiten geboten bekommen. Oder sie möchten ein günstiges Ferienhaus mit allem Komfort und genug Indoor-Spielangeboten für die Kinder. Sonst kommen die nicht nach Ostfriesland! Die machen dann lieber eine Kreuzfahrt oder fliegen mit der Familie nach Malle. Das ist noch viel weniger nachhaltig.«
»Und du meinst, jemand erholt sich in so einem Ferienhaus, das ein genauer Klon von den achtzig anderen ist, die so dicht wie möglich daneben gepappt werden, alle mit einem handtuchgroßen, kahl geschorenen Rasen davor?«
»Ach, kleine Elin, du lernst das schon noch!« Fehlte nur noch, dass er ihr den Kopf getätschelt hätte.
»Sie wird schon noch erwachsen«, hatte sie ihn später am Tag zu einer Kollegin sagen hören, »aber geschäftstüchtig nicht. Lass sie am besten nur im engeren Informationsbereich arbeiten.«
Damit mochte er sogar recht haben. Eine gerissene Geschäftsfrau wurde sie sicher nicht, aber das war auch nicht ihr Ziel. Andererseits waren Betriebswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und Rechnungswesen durchaus Bestandteil ihrer Ausbildung gewesen, und die diesbezügliche Prüfung hatte sie einwandfrei bestanden. Sie wusste mindestens so gut wie Fabian und alle anderen in diesem Büro, dass man mit Idealen allein nichts erreichen konnte, was sich finanziell trug. Aber sie war der festen Überzeugung, dass beides vereinbar war, kluges Wirtschaften und ein Tourismus, der für Menschen und Natur eine Freude sein würde.
Zum Beispiel so, wie es auf diesem Hof gerade im Werden begriffen war.
Elin rutschte von der Bank. »Ich sage mal gute Nacht. Schöne Träume euch!«
»Gute Nacht, Elin.« Feeke nickte ihr zu und schlug ein Buch auf. Sibo war schon wieder in die Zeitung vertieft und winkte ihr nur zu.
Ehe sie hinausging, blieb Elin vor der alten Vitrine stehen, die Sibo und Tessje auf einem anderen Hof aufgetrieben und restauriert hatten. Das Möbel war schlicht, aber aus massivem Holz in einem warmen Farbton. Tessje hatte eine gedämpfte Beleuchtung eingebaut, welche die Schätze darin wunderbar mit all ihren Einzelheiten zur Geltung brachte. Hier wurden die beiden kunstvollen, erstaunlich großen Flaschenschiffe präsentiert, die die Leute neugierig werden ließen. Diese erst kürzlich entdeckten Schiffe hatten dem Hof eine neue Identität verliehen, etwas Besonderes, das eigentlich schon immer dazugehört hatte, nur hatte es niemand gewusst. Die beiden standen für den Anfang und das Ende einer historischen Liebes- und vor allem einer Lebensgeschichte. Die Geschichte eines gewissen Kapitäns Flömer, der 1910 geboren und 2011 gestorben war und der sich einst als junger Mann hier auf dem Hof in Feekes und Sibos Großmutter Lieke verliebt hatte. Als er alt war, war er zu einer Institution im Hafen von Ahrenshoop geworden, wo Einheimische und Feriengäste gleichermaßen gern mit ihm über ihre Sorgen sprachen. Flömer, wie er von allen immer nur genannt wurde, hatte diese Schiffe gefertigt, eines in seiner Jugend, eines kurz vor seinem Tod. Nun wurden sie das, was er einst selbst gewesen war: ein Anziehungspunkt für Touristen.
Eigentlich hat er damit schon bewiesen, dass nachhaltiger Tourismus funktioniert, dachte Elin. Flömer hatte nur mit Gesprächen und einem Stück Kreide, mit dem er wichtige Gedanken aufschrieb, an einem natürlich schönen Ort dafür gesorgt, dass Leute kamen. Jetzt tat er dasselbe posthum mit Hilfe zweier Kunstwerke. Remy Kreyhenibbe, die Frau, in deren Auftrag Pixie das eine Schiff hier auf dem Hof aufgestöbert hatte, war entfernt mit Flömer verwandt. In ihrer Zeitschrift hatte sie die Geschichte veröffentlicht und dadurch den Hof bekannter gemacht, ebenso wie es Pixie mit Sibos Instagram-Account und einer neuen Website betrieb.
Elin betrachtete die Schiffe immer wieder mit Staunen und Ehrfurcht. Es lag so viel Liebe in den Details! Das eine in der zartgrünen, ovalen Flasche war eine stolze Viermastbark mit dem Namen Licht as en Feer, das andere, in einer runderen bläulichen Flasche eine Eiderschnigge namens Anna, ein Anderthalbmaster. Auf solchen Schiffen war der Kapitän einst selbst unterwegs gewesen. Das Licht glänzte auf dem Glas der Flaschen und dem polierten Holz im Inneren, und Elin glaubte jedes Mal, wenn sie davorstand, den Wind in den Segeln knattern zu hören und das Rauschen der Wellen am Bug, der das Meer durchpflügte.
Schade, dass es nur diese zwei Schiffe waren. Die Vitrine, in der auch Dokumente ausgestellt waren, die dazugehörten, bot Platz für viel mehr. Angeblich gab es weitere vom Kapitän gefertigte, doch niemand wusste, ob sie existierten, und wenn ja, wo.
Elin unterdrückte ein Gähnen und riss sich los. Draußen war es beinahe frostig. Es war ja auch immer noch April. Dennoch trieb ein Hauch Veilchenduft aus Feekes Garten, als Elin hinüber zur alten Remise ging. Im Untergeschoß diente diese als Schuppen und Werkstatt für die Arbeiten, die auf einem Hof anfielen, und war voller Kram und Geräte. Doch das Zimmer oben unter dem Dach, einst ein Heu- und Futterboden, hatte Sibo den Winter über ausgebaut. Das hatte er Pixie versprochen. Sie sollte hier immer ein Zimmer haben, wenn sie zwischen ihren Projekten hierher zurückkehrte. »Damit die Deern endlich ein Zuhause hat«, hatte er gesagt. Pixie war unendlich glücklich darüber.
»Aber das Streichen und Einrichten, das nimmst du mir ab, Elin, ja?«, hatte Sibo sie gebeten. »Das ist wahrlich nicht meine Stärke, und Feeke hat genug zu tun. Außerdem ist Pixie deine Freundin, da weißt du viel besser, was ihr gefällt.«
Das war ein Auftrag ganz nach Elins Geschmack. Weil es so praktisch und gemütlich war und sie auf diese Weise kein Zimmer für Feriengäste blockierte, war sie nach dem Streichen kurzerhand selbst eingezogen, solange Pixie im Harz war. »Apricot und Zartgrün«, hatte sich Pixie die Wände gewünscht. »Und einen Korbsessel.« Sie hatten per Videocall alles immer zusammen entschieden und einen Heidenspaß dabei gehabt. Mit dem antiken Globus, einigen handgetöpferten Kerzenhaltern, einem Leuchtturm-Wandtattoo und gerahmten Fotografien von Meer und Küste, einem Flickenteppich sowie den farbigen Lampen, die Elin außerdem aufgetrieben hatte, war es jetzt luftig und dennoch urgemütlich geworden. Das Bett stand in einer Nische, von der aus man durch das runde Giebelfenster, das wie ein Bullauge wirkte, die Silberpappeln, die Deichkrone und viel Himmel sah. Elin kuschelte sich hinein und schrieb an Pixie.
Ich hoffe bloß, dass das Schild weitere Gäste zum Hof führt. Einige Zimmer sind belegt, aber das müssen unbedingt noch mehr werden. Feeke macht sich immer noch Sorgen, das merke ich, auch wenn sie nicht darüber spricht. Sibo lenkt sich mit Arbeit ab.
Tja, und ich bin hier jetzt total überflüssig. Die Zimmer sind fertig, deins auch, das Schild hängt, und Tessje hat alles im Griff, was die anderen nicht schaffen. Ich kann bestenfalls im Garten helfen. Aber ich will etwas bewegen und nicht nur hier in der Einsamkeit herumdümpeln, so schön es auch ist! Ich habe Bewerbungen geschrieben, aber die Angebote, die ich bekomme, bieten mir nur das genaue Gegenteil von dem, was ich möchte. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Dass ich aus Großefehn weg bin, war richtig. Mit Fabian und in diesem engstirnigen Büro hätte ich es keinen Tag länger ausgehalten. Und zu Oma Witta kann und will ich nicht zurück. Nicht einmal sie braucht mich. Ach, Pixie, sorry, dass ich so jammere! Es liegt wohl am Frühling. Alles ist in Aufbruchsstimmung. Und ich? Ich war so froh, mit dem Studium fertig zu sein, und jetzt weiß ich einfach nicht, was ich machen soll!
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Macht nichts, schrieb Pixie. Ich weiß nämlich etwas, was du machen könntest. Da hättest du die Gelegenheit, ein spannendes Hotel kennenzulernen, und es kann gut sein, dass sich dort eine Möglichkeit für dich ergibt. Näheres morgen. Schlaf gut!
Elin wickelte sich aus der Decke und trat ans Fenster. Der Mond zeichnete silberne Ränder um die aufkommenden Wolken, die von dem launigen Aprilwind Richtung Westen geschoben wurden. »Typisch Pixie. So sind sie, die Schriftstellerinnen. Fangen was Spannendes an, und dann lassen sie einen am Ende des Kapitels hängen. Wie soll ich jetzt schlafen können?«, fragte sie den Himmel.
Elin war gegen Morgen doch noch eingenickt und hatte von Keno geträumt, ihrem geliebten großen Bruder. Früher hatte sie ihn in allen Lebenslagen um Rat gefragt. Nicht, weil sein Name genau das bedeutete: Der »gute Ratgeber«. Es war ein friesischer Name, Oma Witta hatte ihn ausgesucht. Vielleicht war er deshalb ein gefragter Architekt. Sie hatten sich immer bestens verstanden, anders als viele Geschwister in der Gegend, und über alles geredet. Doch nun, da sie mit dem Studium fertig war, war ihr wichtig, ihren Weg ohne Hilfe der Familie zu finden. An der Anerkennung ihres Bruders lag ihr viel. Außerdem war Keno momentan in der Provence und baute dort für einen Kunden ein historisches Haus um. Es war ein schwieriges Projekt. Sie wollte ihn nicht mit ihren Problemen behelligen, sondern ihm zeigen, dass sie allein zurechtkam.
Pixies Hilfe war etwas anderes. Hoffentlich rückte sie bald mit ihrer Idee heraus. Geduld war nicht Elins Stärke.
Doch ihr Mailpostfach blieb leer. Um sich abzulenken, half sie Feeke im Garten. Das funktionierte gut, denn es war ein alter, märchenschöner Garten, mit großer Liebe von Feeke betreut. Manchmal war er etwas zerzaust vom Seewind, meist aber überraschend warm und geschützt innerhalb der dichten Wallhecke, die die Sonnenwärme einfing. Filappers Tuun stand über dem hölzernen Tor. Tuun war hier das Wort für Garten, und Elin fand es wunderbar, denn es klang nach Leben, nach der schlichten Wahrheit, dass in einem Garten immer jede Menge zu tun ist, jedoch auf glückliche und wohltuende Weise.
Statt vertrocknete Ziergräser abzuschneiden und die alten Triebe der fetten Henne, damit die neuen sich unbehelligt entfalten konnten, wanderte sie die verwunschenen Wege entlang. Immer wieder berührte sie hier zärtlich die Trompete einer weißen Narzisse, dort streichelte sie über die glänzenden Blätter einer Gruppe zartgelber Krokusse. Sie konnte nicht widerstehen und legte sich auf den Bauch ins Frühlingsgras, um an ihnen zu riechen. Die Blüten dufteten intensiv nach Honig, mit einer unterschwelligen Freesiennote.
»Das konnte ich früher auch so einfach«, sagte Feeke hinter ihr etwas wehmütig. »Inzwischen überlege ich mir das, weil ich nicht mehr so leicht hochkomme. Das hier sind Wildkrokusse, die mag ich am liebsten, und die Bienen auch.«
Elin sah zu ihr auf. »Mach es trotzdem, ich helfe dir auch hoch. Es wäre zu schade, wenn du das versäumst. Die Krokusblüte ist so schnell vorbei.«
»Stimmt. Aber das muss ich schon noch alleine schaffen.« Feeke ließ sich neben Elin nieder und schloss die Augen, als sie tief einatmete. »O ja. Unvergleichlich! Danke, dass du mich daran erinnert hast. Ich sollte noch nicht so träge werden.«
Elin lachte auf. »Du und träge? So wie Tessje und du in den letzten Tagen herumgewirbelt seid, um das Café vorzubereiten, kann man das nun wirklich nicht behaupten. Und dann dein Zauberreich hier! Ich weiß doch, wie viel Arbeit darin steckt, auch wenn es so wunderbar natürlich aussieht.« Sie machte eine Geste, die den ganzen Garten umfangen sollte, jedoch in dem dicken Ginsterbusch hängen blieb, der auch bald duften und die Insekten ebenso wie die Besucher beglücken würde, die trotz allem ihren Weg hierher fanden. Vielleicht würden sie sogar auf einer der Bänke sitzen und die Ruhe genießen, während sie aus Sibos Wolle etwas Wunderschönes strickten.
»Ja, mit dem Tuun bin ich auch vollauf zufrieden.«
Da sie sich nun einmal auf dem Boden niedergelassen hatte, drehte Feeke sich um und legte sich auf den Rücken ins Gras. Elin tat es ihr nach. Zusammen blickten sie in den Himmel, der heute fröhlich blau mit Schäfchenwolken war, die so eilig dahintrieben wie ihre Gedanken. »Was für ein schöner Tag, um das Café zu eröffnen«, sagte Feeke glücklich.
»Auf jeden Fall. Das wird mit der Zeit bestimmt ein Erfolg.« Plötzlich setzte sich Elin auf. »Ein Schmetterling!«
»O ja. Ein Zitronenfalter. Gestern habe ich schon einen Admiral gesehen. Wie schön! Sie sind noch da. Ohne sie kann ich mir Filappers Tuun nicht vorstellen.«
»Sind es hier auch so erschreckend viel weniger Schmetterlinge geworden wie bei mir zu Hause in Brandenburg?«, fragte Elin bang. Das war einer der Gründe, warum schonender Tourismus so dringend nötig war.
»Ja, früher waren es auf jeden Fall mehr von ihnen«, bestätigte Feeke.
Ärger stieg in Elin auf, dass so wenige Leute hierherkamen, weil sie den Ort für langweilig hielten. Von wegen nichts los hier! So eine weiche, seidige Krokusblüte zu berühren, den mit Meeresluft gemischten Duft zu atmen und die Frühlingsblüher mitsamt den Schmetterlingen überall in der Sonne leuchten zu sehen, als hätte jemand übermütig mit dem Pinsel auf die Landschaft gekleckst – war das etwa nichts? »Wie kann es jemandem hier nicht gefallen? Wie kann man sich an einem solchen Ort langweilen?«, stieß sie hervor. »Ich verstehe die Menschen nicht!«
Feeke lächelte. »Ich schon. Sie sind nun mal verschieden, und das ist gut so. Manche sehen hier einfach nichts von Bedeutung, und sie hören auch nicht die Lerche singen und die Meisen und die Amsel – jedenfalls nicht so wie wir. Für sie ist es eben nur belangloses Gezwitscher. Sie brauchen ein anderes Leben, interessante Geschäfte, Musik, Theater, Begegnungen, die Gelegenheit, ihre schönen Kleider auszuführen und anders zu feiern als wir. Daran ist nichts verwerflich. Liebes, wenn du in deinem Beruf erfolgreich sein willst, wäre es sicher gut, wenn du etwas toleranter wirst und lernst, dein Temperament mit mehr Bedacht zu nutzen.«
»Ich weiß. Ich arbeite daran.« Zerknirscht versuchte Elin, auf einem Grashalm zu pfeifen, wie es Keno ihr vor so langer Zeit beigebracht hatte. Daran konnte sie sich abreagieren. Fabian hatte fast dasselbe gesagt wie Feeke, er hatte es nur drastischer ausgedrückt. Dass er womöglich recht gehabt hatte, war das Schlimmste daran gewesen.
Der Ton, den Elin erzeugte, erschreckte die Amsel, die laut zeternd davonstob. Feeke lachte herzlich und rappelte sich etwas mühsam wieder hoch. Elin sprang auf und bot ihr die Hand an, doch Feeke schüttelte den Kopf. »Danke. So alt bin ich nun doch noch nicht.«
Sie machten sich jetzt an die Gartenarbeit und befreiten die jungen Schösslinge von den Laubschichten des Vorjahrs, während Elin immer wieder auf ihr Handy schielte – als ob das nicht vibriert hätte, wenn Pixie ihre versprochene Nachricht schickte.
Danach schlenderten sie nach vorn, wo das winzige Hofcafé, das Feeke mit Elins Hilfe den Winter über geplant hatte, kurz vor der Eröffnung stand.
Elin wandte sich noch einmal um, ehe sie durch den Torbogen ging. Der Garten war ein einziges Farbenflirren, alles noch so frühlingszart wie aus Glas gesponnen. Eine Gänsehaut überlief sie. Ein solch unfassbar großes Wunder, gewebt aus unzähligen kleinen. So zerbrechlich. Warum brachte der Mensch es nur so selten fertig, Hüter und Förderer all dessen zu sein, anstatt es achtlos zu gefährden und zu zerstören? Sie war sich sicher, dass das möglich war, ohne auch nur ein bisschen des gewohnten Komforts aufzugeben. Im Gegenteil!
Und dazu wollte sie wenigstens etwas beitragen. Hoffentlich war Pixies Idee ein erster Schritt in diese Richtung.
Tessje war dabei, die Tische abzuwischen. Sie hatten sich vorerst für schlichte Klapptische entschieden, die sich leicht in der Remise verstauen ließen. Für die Stühle hatten sie etwas mehr ausgegeben, Feeke hatte darauf bestanden, dass diese bequem sein sollten. »Man muss gern lange darauf sitzen und lesen oder die Sonne genießen können, oder ein ausführliches Gespräch«, sagte sie. Dennoch waren auch die praktisch und stapelbar. Was den Möbeln an Farbe fehlte, machten sie durch die selbst genähten bunten Kissen mit dezentem Fisch- und Muscheldesign wett. Den Gesamteindruck hoben besonders die ganz verschiedenen, charmanten Vasen in Blau- und Grüntönen, die Elin zusammengesucht hatte. Auf jedem Tisch stand eine. Feeke und Elin verteilten frische Narzissen und Tulpen darin. Aus dem Küchenfenster drang der Duft von Rhabarberkuchen. »Die Narzissen hat einst Kapitän Flömer mit Lieke gepflanzt«, erzählte Feeke. »Seitdem vermehren sie sich jedes Jahr. Es ist doch faszinierend, was von Menschen und ihren Geschichten bleiben kann und wie es sich fortsetzt.«
Eine große Eröffnung »mit Gedöns« war nicht geplant. Das Café sollte von Beginn an genauso sein wie der Hof. Ein Ort der Ruhe, für stilles Verweilen und Genießen. Für die Hausgäste und für jene, die bei Sibo Wolle kauften, für Feriengäste nach einer Wanderung oder solche, die auf einer langen Fahrt eine Pause brauchten. Eine Oase zum Ausruhen, und um den hausgemachten Kuchen zu genießen oder einen Eisbecher mit frischen Früchten. Einen erstklassigen Espresso aus der nahen Kaffeerösterei oder Feekes eigene Mischung ostfriesischen Tees mit Kluntjes. Dazu nette Begegnungen, einfach nur dasitzen und träumen oder ein Buch aus dem Regal im Eingangsbereich des Hofs nehmen, wo Elin und Sibo aus einem ehemaligen Pumpenhäuschen einen Bücherschrank zum Tauschen eingerichtet hatten. Es gab genug Gäste, die ein ausgelesenes Buch daließen. Andere brauchten an einem Regentag dringend Lesestoff. Im Pumpenhäuschen gab es sogar einen Sessel, in dem man in Ruhe blättern, stöbern und aussuchen konnte, in welcher Geschichte man auf einer Bank im Garten oder an einem Tisch mit einem Tee und einer Leckerei schmökern mochte. Pixie und Elin hatten online und in den örtlichen Zeitungen die Info gestreut, dass man ab heute Nachmittag im Café des Filapperhoffs willkommen sein würde.
»Mir ist es lieb, wenn es ganz langsam anläuft und sich am besten einfach nach und nach herumspricht«, fand Feeke. »Es ist ja sowieso nur ein Versuch.«
»Das klappt.« Elin war zuversichtlich. »Ein paar schöne Bewertungen im Netz, dann flutscht das.«
Tessje musste lachen. »Na, dann sehe ich mal nach dem Kuchen. Der sollte aus dem Ofen. Magst du kosten, Elin?«
In diesem Moment klingelte das Handy. Pixie! Endlich.
»Entschuldigt mich bitte.« Weil gerade ein Schwarm Möwen über dem Deich kreischte, verzog sich Elin spontan ins Pumpenhäuschen, das die Geräusche dämpfte, und kuschelte sich auf den Sessel.
»Hey, Elin, wie geht’s bei euch?«, fragte Pixie.
»Super. Das Café ist startklar. Drück die Daumen!«
»Mach ich. Es werden bestimmt ein paar Gäste reinschneien. Du, was meine Idee angeht – warst du schon mal in Carolinensiel in dem Lokal von Venja Tönjes, das ich dir empfohlen habe? Im Verpuusten?«
»Nein, wie denn, die hatten ja bis vor kurzem Winterpause.«
»Jetzt haben sie offen. Bitte fahr so bald wie möglich mal hin. Das lohnt sich schon allein wegen ihrer Krabbensandwiches. Venja wird dir alles erklären. Du könntest mehreren Menschen einen großen Gefallen tun, unter anderem mir und dir selbst, wenn du ihren Vorschlag annimmst.«
»Ihren Vorschlag oder eher deinen?«
»Na ja, sie kennt dich ja nicht, also …«
»Ich höre, wie du grinst«, sagte Elin streng.
»Haha. Bitte! Sie und ihr Bruder Friso sind liebe Freunde von mir.«
»Besonders Friso?«
»Jetzt grinst du«, beschuldigte sie Pixie. »Also, machst du es?«
»Mit Venja reden? Ja. Sicher.« Elin war enttäuscht. Jetzt war sie so schlau wie vorher. Und nach einer großen Sache klang das nicht. Aber ein Ausflug nach Carolinensiel wäre auf jeden Fall schön. Sie war schon einmal dort gewesen, um die Läden zu inspizieren, immer auf der Suche nach Accessoires für die Zimmer. Da hatte es noch geschneit, als sie am Museumshafen neben der Skulptur der Caroline gestanden und die Harle entlanggeblickt hatte.
Und es gab ja kaum etwas anderes zu tun.
Als sie Feeke Bescheid gesagt hatte und in ihr kleines Auto stieg, warf sie einen Blick zu der Galionsfigur hoch, die über der Tür an der Giebelwand hing und schon seit Generationen den Hof beschützen sollte. Es war eine leicht belustigt dreinblickende Frau namens Taleja.
»Wünsch mir Glück, dass irgendetwas Interessantes geschieht«, sagte Elin.
Das Verpuusten war ein heimeliges Häuschen direkt an der Harlepromenade. Davor lagen an schmalen Stegen einige Tretboote, die wie Miniaturkrabbenkutter gebaut waren und von Friso Tönjes vermietet wurden. Auf der Terrasse saß eine Familie an einem Tisch und aß. Elin betrat einen kleinen Gastraum, der so geschickt eingerichtet war, dass er angenehm luftig wirkte. Hinter dem Tresen stand eine Frau mit blonder Hochsteckfrisur und notierte etwas in einem Heft. Sie sah mit einem herzlichen Lächeln auf. »Hallo, willkommen! Sie können sich einen Tisch aussuchen.«
»Danke. Gern, aber ich suche außerdem Venja Tönjes.«
»Das bin ich. Ach, bist du Elin? Pixie hat dich ja beschrieben.«
»Die roten Haare, meinst du? Schön, dich kennenzulernen, Pixie hat so viel erzählt.«
»Nicht rot. Kupfern. Sie sind wunderschön! Setz dich doch, bitte. Hat Pixie dir erzählt, was wir zusammen ausgesponnen haben?«
»Nein. Sie hat nicht mal eine Andeutung gemacht.«
»Oh. Na, dann erkläre ich es dir.« Venja schien verlegen. »Was magst du essen?«
»Mir wurde gesagt, ich soll euer Krabbensandwich probieren.«
»Friso?«, rief Venja in Richtung Küchentür. »Kannst du bitte mal übernehmen? Und ein Krabbensandwich bringen?«
»Geht klar, Schwesterchen«, kam es von hinten.
»Magst du hausgemachte Rhabarberschorle?«, erkundigte sich Venja.
»Gern.«
Venja holte zwei volle Gläser, während Elin sich für einen Tisch in einer Nische entschied. Von hier aus konnte man die Schiffe auf der Harle fahren sehen. Gerade glitt der kleine Raddampfer Concordia vorbei.
Venja kehrte zurück und setzte sich. Doch statt etwas zu sagen, kaute sie auf ihrer Unterlippe. Sie war um einiges älter als Elin, vielleicht an die vierzig. Was quälte sie so, dass sie so unsicher war?
»Pixie sagt, ich kann vielleicht helfen? Was ist denn das Problem?«, fragte sie vorsichtig. »Die Schorle ist übrigens sehr lecker.«
»Danke dir. Ja, also … hat Pixie erwähnt, dass Friso und ich einen kleinen Bruder haben? Tede?«
»Nein.« Was hatte das mit ihr zu tun?
»Er ist ganz anders als Friso. Manchmal kommt es mir vor, als sei er noch der kleine Junge, den ich mit großgezogen habe. Unsere Eltern sind früh ausgewandert, weißt du. Seitdem fühle ich mich verantwortlich …«
»Wieso, wie alt ist er denn?«
»Gerade dreißig geworden. Nur wenig jünger als Friso.«
Elin versuchte, ernst zu bleiben.
Venja lächelte zerknirscht. »Ich weiß, es klingt albern. Die ewige große Schwester, die sich in alles einmischt. Aber Tede hat sich immer schon mit vielem schwergetan. Und zurzeit ist sogar Friso besorgt, der sonst alles so locker sieht. So geht das doch nicht weiter.«
»Was hat das Sorgenkind denn angestellt?« Elin versuchte, sich in Geduld zu üben. Sie fühlte sich am falschen Platz. Wenn die Geschwister der Meinung waren, ihren längst erwachsenen Bruder erziehen zu müssen, wollte sie damit absolut nichts zu tun haben. Außerdem hatte sie genug eigene Sorgen. Dieser Typ war vier Jahre älter als sie selbst. Der würde schon klarkommen.
»Ich glaube, ich muss anders anfangen.« Venja schüttelte den Kopf, wohl irritiert über sich selbst. »Sagt dir der Name Remy Kreyhenibbe etwas?«
»Ja. Das war die Frau mit der Zeitschrift und dem tollen Flaschenschiff, die Pixie beauftragt hat, etwas über die Lebensgeschichte Kapitän Flömers zu erfahren, der das Schiff angefertigt hatte. Pixie hat dabei dann ein weiteres Flaschenschiff gefunden, das er vor langer Zeit als Geschenk für seine große Liebe Lieke gemacht hat. Remy hat dafür gesorgt, dass beide Flaschenschiffe auf dem Filapperhoff ausgestellt werden können.«
»Richtig. Ich habe Remy kennengelernt, als auf dem Filapperhoff ein Sonnwendfest gefeiert wurde und sie dort war. Eine beeindruckende Frau, wir haben uns gleich gut verstanden. Jedenfalls, Pixies Nachforschungen haben ergeben, dass dieser Kapitän Flömer wahrscheinlich an verschiedenen Orten und Stationen seines Lebens weitere Flaschenschiffe hinterlassen hat. Remy möchte dafür sorgen, dass diese nach und nach auch gefunden werden, soweit das möglich ist.«
»Ja, Pixie erwähnte so etwas. Es wäre wunderbar für den Filapperhoff, wenn noch mehr Schiffe in die Vitrine kämen und zu einer Sammlung werden, die für eine große Liebe und ein vielfältiges Leben steht. Ich glaube, Pixie will einmal ein Buch aus Flömers Geschichte machen. Sicher wird sie bald das nächste Schiff suchen.«
Venja nickte. »Siehst du, und da sind wir genau beim Thema. Pixie hat vorerst keine Zeit dafür. Remy sagte außerdem, Flömer hätte in einem Dokument angedeutet, dass jedes Schiff von jemand anderem gesucht werden sollte. Ich stelle mir vor, er hat es sich als eine Art posthume Schnitzeljagd ausgedacht. Ja, und da hatte ich eine Idee. Ah, da kommt dein Sandwich! Danke, Friso.«
»Danke. Das sieht ja gut aus«, sagte auch Elin zu dem Mann mit dem Schopf zerzauster blonder Haare und wolkengrauen Augen, der mit einem Lächeln den Teller vor sie hinstellte. Kein Wunder, dass Pixie ihn mochte.
»Sehr gerne. Guten Appetit!« Dann verschwand er wieder in der Küche.
»Ja, lass es dir schmecken. Geht natürlich aufs Haus«, sagte Venja und verstummte dann.
»Sprich ruhig weiter, ich höre zu. Was war deine Idee?« Elin biss in das Sandwich, sie konnte dem Duft der Krabben nicht widerstehen. Sie verstand zwar immer noch nicht, worum es ging, aber nun konnte sie sich ebenso gut den Rest anhören.
»Mein Bruder!«, stieß Venja hervor. »Tede. Er hat ein Handwerk gelernt, doch dann wollte er ganz plötzlich unbedingt studieren. Aber kurz vor seinem Abschluss hat er hingeschmissen. Er wollte uns nie sagen, warum. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber seitdem hat er sich bei einem Freund irgendwo auf dem Land vergraben. Der brauchte wohl Hilfe beim Renovieren seines Hotels, aber inzwischen sind sie längst fertig damit. Tede meldet sich kaum bei uns. Telefonieren hat er schon immer vermieden. Jedenfalls haben wir das Gefühl, dass er komplett in einer Sackgasse steckt und deprimiert ist.« Venja schob den Salzstreuer hin und her. »Na ja, und da habe ich Remy gebeten, ob sie nicht ihm den Auftrag anbieten kann, nach dem Schiff zu forschen. Es wäre was Spannendes, zeitlich Begrenztes, und er würde etwas verdienen. Und vor allem aus seiner Lethargie herausgeholt werden! Remy war so nett und hat ihm gleich geschrieben und ein konkretes Angebot gemacht. Sie suchte ja sowieso jemanden, den sie damit beauftragen kann. Es ist ein richtiges Jobangebot, mit Vertrag, wie sie es letztes Jahr mit Pixie vereinbart hatte.«
Das Sandwich war so köstlich, dass Elin Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. »Aber was hat das denn alles mit mir zu tun?«
»Ja. Entschuldige. Das fragst du dich natürlich, aber die Vorgeschichte war nötig. Tatsache ist, Tede hat einfach abgelehnt! Höflich, aber ganz ohne Begründung. Als ich dann Pixie mein Leid geklagt habe, hat sie vorgeschlagen, dass du dort hinfahren und mit ihm darüber sprechen könntest.«
Elin verschluckte sich und musste husten. »Hinfahren? Ich?«, krächzte sie um den Krümel herum. »Wieso das denn? Ich kenne ihn doch gar nicht. Das wäre total übergriffig! Er wird schon seine guten Gründe haben. Wie kommt Pixie denn auf diesen irren Gedanken?«
»Sie hat auch ihre Gründe. Pixie meint, das Hotel könnte für dich sehr interessant sein. Sie hat sich die Website angesehen. Es kommt deinen Idealen entgegen, sagt sie, und sich das anzusehen würde sich lohnen. Außerdem ist es nicht weit von deiner Heimat entfernt. Du könntest es mit einem Besuch bei deinen Eltern verbinden, hat sie gedacht.« Venja sah Elin bittend an. »Du sollst Tede ja zu nichts überreden. Nur eben das Hotel besichtigen. Du kannst doch sagen, dass du den Tipp von uns bekommen hast. Und dabei könntest du nach ihm sehen. Ich kann hier nicht weg, und außerdem würde er es uns übel nehmen und erst recht auf stur schalten, wenn einer von uns dort auftaucht. Große Schwester, du weißt schon. Er war schon immer sehr empfindlich. Aber wenn du dort für ein, zwei Tage Gast bist, vielleicht kommt ihr ja ins Gespräch? Die Rechnung übernehme ich natürlich.«
»Venja, das kommt mir sehr schräg und unrichtig vor.« Das mit dem Hotel machte sie allerdings wider Willen neugierig, und ihre Eltern endlich wiederzusehen war auch sehr verlockend.
»Das verstehe ich. Aber bitte denk wenigstens darüber nach. Sprich mit Pixie und sieh dir die Infos über das Hotel an. Ich hab es dir aufgeschrieben.« Venja schob ihr einen Zettel zu.
Elin seufzte. »Gut. Ich sage dir morgen Bescheid.« Wenn sie fertig mit Pixie geschimpft hatte. »Das Sandwich ist übrigens phantastisch.« Damit hatte Pixie immerhin recht gehabt.
Was, wenn es mit dem Hotel ebenso war? Vielleicht bekam sie dort tatsächlich interessante Anregungen und einen Hinweis, was sie als Nächstes tun konnte? Eventuell brauchten sie dort sogar eine Mitarbeiterin – für die Betreuung der Gäste, für das Marketing oder ein neues Konzept? In der Nähe von zu Hause, das wäre schon ein großer Glücksfall.
Verflixt, warum musste Pixie ihr so einen Köder hinhalten? Das war nicht fair.
Als Elin über die Brücke zum Hof fuhr, sah sie zu ihrer Freude, dass einige Gäste an den Tischen saßen. Das Café war eröffnet, und es waren Leute gekommen! Nun würde es mit dem Filapperhoff gewiss weiter aufwärtsgehen. Sie blieb einen Augenblick im Auto sitzen und betrachtete nachdenklich das Geschehen. Feeke und Tessje servierten, gelassen und mit sichtlicher Freude. Die zwei hatten alles im Griff, und Sibo war ja auch noch da.
Hier wurde sie eindeutig nicht mehr gebraucht. Falls es ihr gelang, die Suche nach den Schiffen wieder anzukurbeln, indem sie diesem Tede einen behutsamen Anstoß gab, war das vielleicht doch ein letzter Dienst, den sie Feeke und Sibo erweisen konnte? Sie hatte die beiden und den Hof sehr ins Herz geschlossen und eine Zuflucht hier gefunden, als sie sie gebraucht hatte. Doch nun hielt sie nichts mehr. Ihre Eltern waren wahrscheinlich mittlerweile so besorgt um Elin wie Venja um ihren Bruder Tede. Das war ihr bei der Begegnung mit Venja bewusstgeworden. Selbst ihre gutmütige Großmutter hatte schon mehrfach gefragt, was sie denn nun mit ihrem abgeschlossenen Studium anfangen würde.
Pixie machte Vorschläge nie ohne einen guten Grund. Die Besichtigung des Hotels konnte schlicht ein Anlass sein aufzubrechen. Dann würde sie ihre Eltern besuchen und von dort den nächsten Schritt gehen. Wer wusste schon, was sich ergab, wenn sie erst einmal unterwegs war?
Die Hotelrechnung würde sie natürlich selbst bezahlen, und ob sie diesen Tede wirklich ansprechen würde, blieb schließlich ihr überlassen. Sie konnte Venja auch einfach schreiben, dass es ihrem Bruder gut ging, und fertig.
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