Zauberer-Geschichten aus Oz - L. Frank Baum - E-Book

Zauberer-Geschichten aus Oz E-Book

L. Frank Baum

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Beschreibung

Diejenigen, die nicht genug von dem Zauberer von Oz, Dorothy, dem Blechmann und der Vogelscheuche bekommen können, dürfen sich mit diesem Buch über einen kleinen Nachschlag freuen: In diesem Sonderband der Oz-Reihe - Zauberer-Geschichten aus Oz - sind sämtliche "Zauberer-Geschichten aus Oz" sowie die Kurzgeschichte "Das Wackelkäfer-Buch" enthalten. Empfohlenes Alter: 5 bis 10 Jahre. Große Schrift, auch für Leseanfänger geeignet. Deutsche Erstausgabe.

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Nach dem Text der amerikanischen Erstausgaben von „Little Wizard Stories of Oz” (1913), „The Woggle-Bug-Book” (1905) übersetzt von Maria Weber.

Inhalt.

Der Feige Löwe und der Hungrige Tiger

Die kleine Dorothy und Toto

Tik-Tak und der Gnomenkönig

Ozma und der kleine Zauberer

Jack Kürbiskopf und das Sägepferd

Die Vogelscheuche und der Blechmann

Das Wackelkäfer-Buch

Der Feige Löwe und der Hungrige Tiger

IM prächtigen Palast der Smaragdstadt, die sich im Zentrum des Märchenlandes von Oz befindet, gibt es einen großen Thronsaal, in dem Prinzessin Ozma, die Herrscherin, jeden Tag für eine Stunde in einem Thron aus glitzernden Smaragden sitzt und allen Problemen ihres Volkes, die sie ihr stets erzählen, Gehör schenkt. Um Ozmas Thron sind bei solchen Gelegenheiten alle wichtigen Persönlichkeiten von Oz gruppiert, wie die Vogelscheuche, Jack Kürbiskopf, Tik-Tak der Uhrwerkmann, der Blechmann, der Zauberer von Oz, der Zottige Mann und andere berühmte Leute. Die kleine Dorothy hat normalerweise ihren Sitz zu Ozmas Füßen, und zu beiden Seiten des Throns kauern zwei riesige Bestien, die als der Hungrige Tiger und der Feige Löwe bekannt sind.

Diese beiden Bestien sind Ozmas Leibwächter, aber da jeder die schöne Prinzessin liebt, gab es im großen Thronsaal niemals irgendwelche Störungen; und so war alles, was die Wächter je tun konnten, grimmig und ernst auszusehen und still zu sein, bis die königliche Audienz vorüber war und die Leute nach Hause gingen.

Natürlich wagte es niemand, unartig zu sein, während der riesige Löwe und der Tiger neben dem Thron kauerten, aber die Leute von Oz sind ohnehin sehr selten unartig. Ozmas große Wächter sind daher eher schmükkend als nützlich, und niemand weiß das besser als die Tiere selbst.

Eines Tages, nachdem alle außer dem Feigen Löwen und dem Hungrigen Tiger den Thronsaal verlassen hatten, gähnte der Löwe und sagte zu seinem Freund:

„Ich bin diese Aufgabe langsam leid. Niemand hat Angst vor uns und niemand beachtet uns.“

„Das stimmt“, antwortete der große Tiger leise schnurrend. „Wir könnten genauso gut in den dichten Dschungeln leben, in denen wir geboren wurden, anstatt Ozma zu beschützen, wenn sie keinen Schutz braucht. Und ich bin die ganze Zeit über gräßlich hungrig.“

„Du hast gewiß genug zu essen“, sagte der Löwe und schwang seinen Schwanz langsam hin und her.

„Genug vielleicht; aber nicht die Art von Essen, nach der mich verlangt“, antwortete der Tiger. „Ich habe Hunger auf dicke Babys. Ich habe ein starkes Verlangen, ein paar dicke Babys zu essen. Dann würden die Leute von Oz mich vielleicht fürchten und ich würde wichtiger werden.“

„Das mag sein“, stimmte der Löwe zu. „Wenn du auch nur ein dickes Baby essen würdest, würde das ein ziemliches Spektakel geben. Meine Klauen sind scharf wie Nadeln und stark wie Stemmeisen, während meine Zähne mächtig genug sind, um eine Person innerhalb weniger Sekunden zu zerreißen. Wenn ich einen Mann anspringen und ihn zu Hackfleisch verarbeiten würde, würde in der Smaragdstadt eine wilde Aufregung herrschen, und das Volk würde vor mir auf die Knie fallen und um Gnade betteln. Meiner Meinung nach würde mir das eine erhebliche Bedeutung verleihen.“

„Nachdem du die Person in Stücke gerissen hättest, was würdest du als Nächstes tun?“, fragte der Tiger schläfrig.

„Dann würde ich so laut brüllen, daß es die Erde zum Erzittern brächte und in den Dschungel laufen, um mich zu verstecken, bevor mich jemand wegen dem, was ich getan habe, angreifen oder töten könnte.“

„Ich verstehe“, nickte der Tiger. „Du bist wirklich feige.“

„Gewiß. Deshalb werde ich der Feige Löwe genannt. Deshalb war ich immer so zahm und friedfertig. Aber ich bin es furchtbar leid, zahm zu sein“, fügte der Löwe seufzend hinzu, „ und es würde Spaß machen, einen Aufruhr zu erregen und den Leuten zu zeigen, was für eine schreckliche Bestie ich wirklich bin.“

Der Tiger schwieg einige Minuten und dachte nach, während er langsam mit der linken Pfote sein Gesicht wusch. Dann sagte er:

„Ich werde alt, und ich würde gern mindestens ein dickes Baby essen, bevor ich sterbe. Ich schlage vor, wir überraschen diese Menschen in Oz und zeigen ihnen unsere Stärke. Was sagst du dazu? Wir werden wie üblich hier herausgehen, und ich verschlinge das erste Baby, dem wir begegnen, und du zerfleischt den ersten Mann oder die erste Frau, der du begegnest. Dann werden wir beide aus den Stadttoren rennen und durch das Land preschen und uns im Dschungel verstecken, bevor uns jemand aufhalten kann.“

„Gut, ich bin dabei“, sagte der Löwe und gähnte erneut, so daß er zwei Reihen von fürchterlich scharfen Zähnen zeigte.

Der Tiger stand auf und streckte seinen großen, schlanken Körper.

„Dann komm“, sagte er. Der Löwe stand auf und bewies, daß er der größere der beiden war, denn er war beinahe so groß wie ein kleines Pferd.

Sie gingen aus dem Palast und begegneten niemandem. Sie gingen durch das wunderschöne Gelände, vorbei an Brunnen und Beeten mit schönen Blumen, und begegneten niemandem. Dann öffneten sie ein Tor und betraten eine Straße der Stadt und begegneten niemandem.

„Ich frage mich, wie ein dickes Baby schmecken wird“, bemerkte der Tiger, als sie majestätisch nebeneinander her schritten.

„Ich kann mir vorstellen, daß es nach Muskatnuß schmeckt“, sagte der Löwe.

„Nein“, sagte der Tiger, „ich glaube, daß es wie Kaugummi schmecken wird.“

Sie bogen um eine Ecke, begegneten aber niemandem, denn die Bewohner der Smaragdstadt machten um diese Stunde des Nachmittags für gewöhnlich ein Nickerchen.

„Ich frage mich, in wie viele Stücke ich die Person zerreißen sollte“, sagte der Löwe in nachdenklichem Ton.

„Sechzig wäre ganz passend“, schlug der Tiger vor.

„Würde ihr das mehr wehtun, als in ein Dutzend Stücke zerrissen zu werden?“, fragte der Löwe mit einem kleinen Schaudern.

„Wen kümmert es, ob es weh tut oder nicht?“, knurrte der Tiger.

Der Löwe antwortete nicht. Sie betraten eine Seitenstraße, begegneten aber niemanden.

Plötzlich hörten sie ein Kind weinen.

„Oho!“, rief der Tiger aus. „Da ist mein Fleisch.“

Er stürmte um eine Ecke, wobei ihm der Löwe folgte, und traf auf ein hübsches, molliges Baby, das mitten auf der Straße saß und weinte, als wäre es in großer Verzweiflung.

„Was ist los?“, fragte der Tiger und kauerte sich vor das Kind.

„Ich – Ich – Ich habe meine Mutter verloren!“, jammerte es.

„Ach, du armes kleines Ding“, sagte das große Tier und streichelte mit seiner Pfote sanft den Kopf des Kindes. „Weine nicht, mein Liebling, denn deine Mama ist nicht weit weg und ich helfe dir, sie zu finden.“

„Nun mach schon“, sagte der Löwe, der daneben stand.

„Was machen?“, fragte der Tiger und sah auf.

„Mach schon und iß dein dickes Baby.“

„Ach, du gräßliches Geschöpf!“, sagte der Tiger vorwurfsvoll. „Möchtest du, daß ich ein armes, kleines, verloren gegangenes Baby esse, das nicht weiß, wo seine Mutter ist?“ Und die Bestie nahm den Kleinen in ihre kräftigen, behaarten Arme und versuchte ihn zu beruhigen, indem sie ihn sanft hin und her wiegte.

Der Löwe gab ein tiefes Knurren von sich und schien sehr enttäuscht zu sein; aber in diesem Moment drang ein Schrei an ihre Ohren und eine Frau kam aus einem Haus auf die Straße gerannt. Als die Frau ihr Baby in den Pranken des riesigen Tigers sah, schrie die Frau erneut und stürzte vorwärts, um es zu retten, doch in ihrer Eile trat sie mit dem Fuß auf ihren Rock und stürzte Hals über Kopf so heftig zu Boden, daß sie Sterne sah, obwohl es heller Tag war. Und da lag sie hilflos, ganz verwickelt und unfähig sich zu rühren.

Mit einem Satz war der riesige Löwe neben ihr. Mit seinen kräftigen Kiefern packte er ihr Kleid und hob sie in eine aufrechte Position.

„Armes Ding! Bist du verletzt?“, fragte er sanft.

Nach Luft schnappend versuchte die Frau sich loszumachen und aufzustehen, doch sie humpelte stark und fiel wieder hin.

„Mein Baby!“, sagte sie flehentlich.

„Dem Baby geht es gut, keine Sorge“, antwortete der Löwe; und dann fügte er hinzu: „Beruhige dich. Ich werde dich in dein Haus zurückbringen, und der Hungrige Tiger wird dein Baby tragen.“

Der Tiger, der sich mit dem Kind im Arm genähert hatte, fragte erstaunt:

„Willst du sie nicht in sechzig Stücke reißen?“

„Nein, und auch nicht in sechs Stücke“, antwortete der Löwe empört. „Ich bin kein Rohling. Eine arme Frau zu zerstören, die sich bei dem Versuch, ihr Baby zu retten, verletzt hat! Wenn du so wild, grausam und blutrünstig bist, kannst du mich ebensogut gleich verlassen und fortgehen, denn dann möchte ich nichts mit dir zu tun haben.“

„Schon gut“, antwortete der Tiger. „Ich bin nicht grausam – nicht im geringsten – ich habe nur Hunger. Aber ich dachte, du wärst grausam.“

„Dem Himmel sei Dank, daß ich respektabel bin“, sagte der Löwe würdevoll. Dann hob er die Frau hoch und trug sie vorsichtig in ihr Haus, wo er sie auf ein Sofa legte. Der Tiger folgte mit dem Baby, das er sicher neben seiner Mutter ablegte. Der Kleine mochte den Hungrigen Tiger, und indem er das riesige Tier bei beiden Ohren packte, küßte das Baby die Nase des Tieres, um zu zeigen, daß es dankbar und glücklich war.

„Vielen Dank“, sagte die Frau. „Ich habe oft gehört, was für gute Tiere ihr seid, trotz eurer Fähigkeit, den Menschen Schaden zuzufügen, und jetzt weiß ich, daß die Geschichten wahr sind. Ich glaube nicht, daß einer von euch jemals einen bösen Gedanken hatte.“

Der Hungrige Tiger und der Feige Löwe ließen ihre Köpfe hängen und sahen einander nicht in die Augen, denn beide waren beschämt und fühlten sich gedemütigt. Sie schlichen davon und liefen durch die Straßen zurück, bis sie erneut das Schloßgelände betraten, wo sie sich in die hübschen, behaglichen Räume zurückzogen, die sie auf der Rückseite des Palastes bewohnten. Dort kauerten sie sich still in ihre gewohnten Ecken, um über ihr Abenteuer nachzudenken.

Nach einer Weile sagte der Tiger schläfrig:

„Ich glaube nicht, daß dicke Babys wie Kaugummis schmecken. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie den Geschmack von Himbeertörtchen haben. Mein Güte, wie sehr es mich nach dicken Babys gelüstet!“

Der Löwe grunzte verächtlich.

„Du bist ein Betrüger“, sagte er.

„Ach ja?“, erwiderte der Tiger höhnisch. „Dann sag mir doch, in wie viele Stücke du normalerweise deine Opfer zerreißt, du kühner Löwe?“

Der Löwe klopfte gereizt mit seinem Schwanz auf den Boden.

„Jemanden in Stücke zu reißen, würde meine Krallen beschmutzen und meine Zähne abstumpfen“, sagte er. „Ich bin froh, daß ich mich heute Nachmittag nicht beschmutzt habe, indem ich die arme Mutter verletzte.“

Der Tiger sah ihn fest an und riß dann sein Maul zu einem Gähnen auf.

„Du bist ein Feigling“, bemerkte er.

„Nun“, sagte der Löwe, „es ist besser, ein Feigling zu sein, als etwas Falsches zu tun.“