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Sarajevo - ein Wort mit einem wunderbar weichen Klang. Der vierzehnjährige Paul schnappt es im Vorübergehen auf. Doch was in seinen Ohren wie eine Zauberformel klingt, kündigt die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts an. Pauls Alltag ist geprägt von ganz anderen, von pathetisch aufgeladenen Worten, die die Kriegsbegeisterung schüren. Pauls Vater und sein bewunderter großer Bruder melden sich als Freiwillige. "Weihnachten sind wir wieder zu Hause!" Mit diesen Worten verabschieden sie sich. Doch alles kommt ganz anders als erwartet und Pauls Familie zerbricht fast an diesem Krieg, der sich vier Jahre hinziehen wird. Immer dringlicher wächst in Paul die Frage danach, wie seine Zukunft aussehen wird, danach, was sich hinter den großen Worten verbirgt, und welches seine, Pauls Worte, sein könnten.
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Seitenzahl: 372
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Herbert Günther
Herbert Günther
TEIL 1: IN DER STADT
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
TEIL 2: AUF DEM DORF
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
ANHANG
GROSSE WORTE UND SCHLIMME FOLGEN
WOHER UND WOHIN
GLOSSAR
ZUM WEITERLESEN EMPFOHLEN
Müssen wir uns nach diesem Jahrhundert ständiger Kriege nicht fragen, ob der Mensch nicht vielleicht falsch konstruiert ist, da wir immer wieder gewalttätig werden? Und sind wir unserer Aggressionen wegen zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen und wo sollte man anfangen?
Astrid Lindgren
Der Krieg ist aus. Am 10. November 1918 hat sich der Kaiser über die Grenze nach Holland abgesetzt. In Deutschland soll jetzt Demokratie sein. Der Sattler Friedrich Ebert ist der erste Reichskanzler der Republik. In der Stadt hat ein Soldaten- und Volksrat das Sagen. Wer beim Plündern erwischt wird, steht in der Zeitung, wird erschossen. Wie alles weitergehen soll, ist ungewiss.
Gewiss ist nur, was der Krieg angerichtet hat. Helene hat gesagt, ich soll das aufschreiben. Ich soll aufschreiben, was der Krieg mit unserer Familie gemacht hat.
Für wen denn, habe ich gefragt.
Zuerst für dich selber, hat Helene geantwortet. Alle Geschichten sind zuerst für den, der sie erzählt. Nur wer ehrlich zu sich selber ist, kann anderen zu denken geben.
Aber wieso ich, habe ich sie gefragt. Wer bin ich denn? Paul Hoffmann, achtzehn Jahre, gerade mal Volksschule, ohne Ausbildung, ohne Beruf, mit ungewisser Zukunft.
Die Zeit der großen Worte ist vorbei, hat Helene gesagt. Jetzt bist du an der Reihe, Paul. Du und deinesgleichen. Denkmäler haben wir genug und tote Helden auch. Und wann welche Schlacht stattgefunden hat, kann jeder im Geschichtsbuch nachlesen. Aber wie es sich angefühlt hat hinter all dem Tschingderassa und wie es so weit kommen konnte, das muss jetzt festgehalten werden. Schreib einfach auf, was dir durch Kopf und Bauch gegangen ist. Damit es nicht vergessen wird.
Helene ist eine kluge Frau. Ich verdanke ihr viel. Vielleicht hat sie ja recht und es gibt ein paar Leute – außer mir – denen meine Geschichte von Nutzen sein kann.
Angefangen hat alles ganz harmlos …
»Wer Angst hat, der bleibt da.«
Erich sah von einem zum anderen. Bei mir blieb sein Blick stehen. Vor zwei Jahren vom Dorf gekommen, war ich noch längst keiner von ihnen. Zum ersten Mal war ich bei einer Sache dabei, die nichts mit Schule zu tun hatte. Einer verbotenen Sache. Einer »jugendgefährdenden« Sache.
Ich hielt Erichs Blick stand.
»Angst?«, sagte Gottfried und pustete verächtlich die Luft aus den Backen. »Phh!«
Der kleine Nickel verdrehte die Augen, spuckte aus.
»Dann los«, sagte Erich. Wir gingen über den Hinterhof, eine Steintreppe hinunter. Erich zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Kellertür. »Noch was«, sagte er nun flüsternd und hielt die Tür einen Spalt auf. »Wenn einer erwischt wird, ich meine allein, dann kennt er die anderen nicht. Ist das klar?«
»Klar«, sagte Gottfried.
»Habe dich nie gesehen«, murmelte Nickel.
Ich nickte.
Wir folgten Erich durch einen muffigen, finsteren Kellergang zu einer Holztreppe. Von oben drang dämmriges Licht herunter, von weit weg hörten wir Stimmen.
»Ihr bleibt hier«, bestimmte Erich. »Kommt erst, wenn ich euch ein Zeichen gebe.«
Immer zwei Stufen auf einmal stieg Erich die Treppe hinauf. Sein athletischer Körper schwang sich wie schwerelos nach oben, seine Füße berührten die Holzstufen nur kurz, keine quietschte.
Eine Weile standen Gottfried, Nickel und ich am Fuße der Treppe und schwiegen.
»Hast du so was schon mal gesehen?«, flüsterte Gottfried schließlich.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie denn?«, sagte Nickel. »Sein Dorf, das liegt doch hinter dem Mond.«
Ich antwortete nicht.
Oben an der Treppe tauchte jetzt Erich auf und winkte. »Nicht so laut, ihr Affen!«
Wir schlichen uns die Treppe hinauf, ich als Letzter. Jede Stufe knarrte. Gottfried schickte einen entrüsteten Blick über die Schulter, als sei ich allein schuld an dem Knarrkonzert.
Erich presste den Finger auf die Lippen. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet. Räuspern, Husten, gedämpfte Stimmen waren zu hören.
Erich sah uns bedeutungsvoll an. »Mir nach«, flüsterte er.
Mit federnden Schritten ging er voran, erst durch einen langen Gang, dann zweimal um Ecken, bis wir schließlich vor einer schmalen Tür standen. Erich sah sich noch einmal nach allen Seiten um, dann drückte er die Klinke hinunter, schob die Tür auf und schlüpfte in das Dunkel dahinter. Wir anderen folgten ihm, und nachdem Gottfried die Tür zugezogen hatte, war es stockfinster.
»Absolute Ruhe jetzt!«, zischte Erich.
Als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten wir die schemenhaften Umrisse von Kisten und Regalen, offenbar waren wir in einer Art Abstellraum gelandet. In der Ecke ganz hinten lauerte ein großes, schlafendes Tier, wahrscheinlich ein Kanapee.
Und dann fiel ein flackernder Lichtstreifen in den Raum.
Wie gebannt starrten wir alle darauf.
Erich, der sich auskannte, hatte eine Klappe in der Wand geöffnet. Durch die Öffnung konnte man direkt auf die Kinoleinwand sehen.
Die anderen hatten die besten Plätze vor dem Lichtspalt schnell besetzt. Ich fand eine Kiste, stellte mich darauf und hatte nun wirklich und wahrhaftig vor Augen, wovon sie mir vorgeschwärmt hatten und was zurzeit in aller Munde war: die bewegten Bilder auf der großen Leinwand, Menschen fast so groß wie im richtigen Leben. Und da, das Mädchen, das auf Knien rutschend die Treppe putzte, das musste sie sein, die berühmte Asta Nielsen. Sie sah aus wie ein Mädchen aus der Nachbarschaft, gar nicht vornehm oder verrucht, wie man sich eine Filmschauspielerin vorstellte. Trotzdem waren die meisten ihrer Filme, auch dieser, für Jugendliche verboten – wegen der Liebesszenen und dem zwielichtigen Milieu. In einem der Filme sollte sogar ihr nacktes Bein bis zum Knie zu sehen sein.
Die Viktoria-Lichtspiele gehörten Erichs Onkel. Seit Wochen hatte Erich damit geprahlt, dass er alle Asta-Nielsen-Filme gesehen habe, die verbotenen sowieso. Gottfried und Nickel hatten das bezweifelt, und jetzt wollte Erich beweisen, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
Der Film an diesem Sonntagnachmittag hieß Die arme Jenny, und natürlich war Asta Nielsen die Jenny, das Mädchen, das die Treppe putzte.
Ich war vom ersten Blick an von ihr gefesselt. Ihre großen Augen sahen mich an – Treppenputzen war bestimmt nicht das, was sie sich für ihr Leben gewünscht hatte. Aber der Mann, der um sie herumscharwenzelte, der meinte es nicht ehrlich, das brauchte mir niemand zu sagen. Der war ein Städter, ein Filou, ein Lebemann. Fast hätte ich ihr zugerufen: »Glaub ihm nicht, bitte, glaub ihm bloß nicht!«
Aber die Bilder auf der Leinwand und die Schrift dazu liefen unerbittlich weiter. Dramatische Klaviermusik erfüllte den Raum.
Der Filou gab der armen Jenny seine Visitenkarte, auf die er Ort und Zeit für ein Rendezvous geschrieben hatte. Und Jenny, die dumme Jenny, setzte alles daran, um sich mit dem losen Vogel zu treffen. Ihre Schwester Trude half ihr, sich aus dem Haus zu stehlen. Eduard Reinhold, so hieß der Lebemann, machte ihr schöne Augen und falsche Versprechungen.
Zu Hause hatte der Vater längst alles erfahren. Er war ein harter, unerbittlicher Mann. Er verstieß seine Tochter. Jenny musste ihr Elternhaus verlassen, und Eduard Reinhold, der Lackaffe, dachte nicht daran, Jenny zu heiraten. Ratlos, voller Verzweiflung irrte sie durch die Stadt. Dunkle Klaviertöne deuteten an, dass die Sache ein böses Ende nehmen würde.
Dann kicherte eine Frauenstimme, und eine tiefe Männerstimme sang: »Püppchen, du bist mein Augenstern. Püppchen, hab dich zum Fressen gern …«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Stimmen Wirklichkeit waren und dass sie nicht aus dem Kinosaal, sondern vom Gang direkt vor dem Abstellraum kamen.
Erschrocken fuhren wir herum und starrten auf die Tür.
»Psst!«, machte die Männerstimme. »Nicht so laut!« Dann erstickten die Stimmen in Schmatz- und Grunzlauten.
Erich hatte die Hand vor den Mund gepresst. Aus dem Kinosaal hörten wir aufgeregte Klaviertöne.
»Grüne Neune!«, stöhnte Erich. »August. Mein Vetter. Der will hier rein. Das ist sicher.«
»Los, verstecken!«, flüsterte Nickel.
Aber wo? Die Kisten waren viel zu niedrig.
»Hinter dem Kanapee!«, raunte Nickel.
Aber Erich schüttelte den Kopf. »Zwecklos«, sagte er. »Kein Platz für vier.«
Wir standen da und erwarteten das Unheil. Unten im Kinosaal waren alle Köpfe der armen Jenny zugewandt, die immer noch durch die Straßen der Stadt irrte.
Leise wurde die Tür geöffnet. Vom Gang her schob sich ein fahler Lichtschein in den Raum herein, tuschelnde Stimmen näherten sich, ein großer schlanker Mann in der Uniform der Leibhusaren zog ein Mädchen in hellem Kleid und verrutschtem Pfauenfederhut hinter sich her.
»Hier herein, mein süßes Püppchen …«, säuselte der Husar.
Erich stieß Gottfried und Nickel mit den Ellenbogen in die Rippen. »Jetzt!«, zischte er. »Nichts wie raus!«
Unvermittelt schnellte er nach vorn, sein langer Körper prallte gegen das überraschte Paar, der Husar stolperte über die Füße des Mädchens und Erich rannte an ihm vorbei zur Tür hinaus. Gottfried, Nickel und ich hinter ihm her. Wir rannten den langen Gang hinunter und waren schon um die Ecke, da hörten wir die dröhnende Stimme des Vetters hinter uns: »Erich, du verflixter Bengel! Na warte, das wird ein Nachspiel haben!«
Wir rannten weiter, die knarrende Treppe hinunter, blieben einen Moment mit fliegendem Atem stehen und lauschten. Vetter August war uns nicht gefolgt. Wir grinsten und pusteten erleichtert Luft aus den Backen.
»Der Windhund!«, sagte Erich. »Jetzt weiter. Sonst schnappt er uns doch noch.«
»Erst mal hat der was Besseres zu tun«, lachte Gottfried.
In meinem Kopf drehte sich alles. Stundenlang hätte ich Asta Nielsen noch zuschauen wollen. Ich war enttäuscht. Jetzt wusste ich nicht, wie die Geschichte ausging. Obwohl … es war vorauszusehen, dass sie traurig enden würde. In einem anderen Film, hatte Erich erzählt, sah man Asta Nielsen am Ende als Leiche in einem Kahn auf dem Wasser treiben.
Über den Hinterhof rannten wir auf die Straße. Gottfried und Nickel stießen mit den Schultern gegeneinander. Die Angst war abgefallen. Das Abenteuer war bestanden.
»Es war einmal ein treuer Husar, der liebt’ sein Mädchen ein ganzes Jahr …«, fing Nickel übermütig zu singen an.
»Hör auf!«, sagte Erich drohend. »Hört auf, ihr Affen! Mit Soldatenehre macht man keine blöden Witze!«
Aber Gottfried sang weiter: »Ein ganzes Jahr und noch viel mehr, die Lie-hie-be nahm kein Ende mehr.«
»Ihr Blödmänner!«, schrie Erich, blieb stehen und ballte die Fäuste.
»Hab dich doch nicht so«, versuchte Gottfried ihn zu beruhigen.
Und Nickel sagte: »Ehre hin und Ehre her. August weiß schon, wo der Hase im Pfeffer liegt. Die werden doch alle Soldat, weil ihnen die Mädchen dann nachlaufen.«
Ich war allmählich immer weiter zurückgeblieben. Sie merkten gar nicht, dass ich fehlte. Richtige Freunde waren sie für mich sowieso nicht. Als ich auf dem Schulhof Erich gefragt hatte, ob sie mich bei der Kino-Sache mitnehmen würden, hatte er sich in die Brust geworfen, mich von oben herab gemustert und mit schnarrender Soldatenstimme gesagt: »Haste gedient?« Und ich musste strammstehen und antworten: »Jawoll, Herr General. Dragoner-Regiment ›Prinz Albrecht von Preußen‹. Verletzt in der Schlacht bei Preußisch Eylau.« Erst nachdem ich salutiert hatte, sagte Erich gnädigst: »Brav, brav. Tritt er ins Glied!«
Das war so ihr Ritual, und wer sich dem nicht fügte, gehörte eben nicht dazu.
Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Immer noch staute sich die Hitze in den engen Gassen der Stadt. Aber, das spürte ich schon bald, in die gewöhnliche Sonntagnachmittags-Schläfrigkeit mischte sich heute eine seltsame Unruhe.
Etwas war anders als sonst. Auf dem Marktplatz standen Leute in Gruppen zusammen und redeten aufgeregt durcheinander. Einige eilten mit schnellem Schritt davon, als hätten sie etwas Wichtiges zu erledigen. Ein Mann schwenkte seinen Hut und rief: »Es lebe unser Kaiser, heil, heil, heil!«
Ich ging näher. Anzusprechen wagte ich keinen. Alle waren von etwas außerordentlich Wichtigem erfüllt, und niemand hätte sich herabgelassen, einen vierzehnjährigen Jungen, dazu noch einen Fremden, daran teilhaben zu lassen. Ein bärtiger Mann mit hochrotem Gesicht sagte mehrmals hintereinander: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!« Dabei schien er alles andere als ruhig zu sein.
»Ein Schurkenstück!«, rief ein anderer aufgebracht, und ich musste unwillkürlich an Eduard Reinhold denken, den Filou, den gemeinen Lebemann im Film. Aber das war ja nur eine Geschichte. Wegen dem regte sich bestimmt keiner auf.
»Das darf sich der Kaiser nicht gefallen lassen!«, hörte ich.
»Hurra, hurra, hurra!«, rief ein anderer. Es klang spöttisch, als wolle er den Kaiser nachmachen.
»Wöhler«, sagte nun ein Mann mit Monokel, reckte den Kopf gegen den Vorredner und seine Stimme schwoll an. »Wöhler, ich appelliere an Ihr Ehrgefühl!«
»Wir sind jetzt alle Österreicher!«, mischte sich noch ein anderer ein, und der rotgesichtige Mann nickte.
Ich ging weiter. Im Vorbeigehen flog mir immer wieder ein Wort ins Ohr, das ich noch nie gehört hatte, ein Wort mit einem wunderbar weichen Klang, ein Wort wie eine Zauberformel: »Sarajevo.« Es schien der Schlüssel zu sein für die Erregung, die plötzlich über die Stadt gekommen war. »Sarajevo.« Es klang so schön, so einschmeichelnd. Das konnte doch unmöglich etwas Böses bedeuten. Zu Hause würde ich Genaueres erfahren.
Kolonialwaren Wilhelm Steinhoff stand in Stein gehauen über unserer Haustür. Eigentlich müsste Mutters Name jetzt dort stehen, ging es mir durch den Kopf, Anna Hoffmann. Nachdem vor zwei Jahren ihre Mutter, Großmutter Alwine, gestorben war, waren wir hierher in die Stadt gezogen. Mutter hatte das Heft in die Hand genommen und den Gemischtwarenladen ihrer Eltern wieder zur Blüte gebracht. Die Anna, sagten die Leute, die weiß, was sie will.
Die dicke Messingklinke war immer noch warm von der Hitze des Tages. Ich drückte sie hinunter und schob die schwere Haustür auf. Schon auf dem Flur hörte ich ihre Stimmen. Sie waren alle in der Küche. Laut und aufgeregt redeten sie durcheinander. Ich blieb stehen und hörte eine Weile zu.
Da war es wieder, dieses Wort: »Sarajevo.« Max sagte es, mein großer Bruder. So wie er es aussprach, klang es nach Abenteuer.
Sie saßen um den Küchentisch, Mutter, Vater, meine siebenjährige Schwester Gertrud, Großvater Wilhelm und Max. Als ich die Küche betrat, sahen sie kurz auf, nickten mir zu und redeten weiter.
»Es wird dazu kommen«, sagte der Vater. »Ganz unvermeidlich.«
»Ein neues Sedan!«, rief Großvater Wilhelm und schwenkte die Hand mit der qualmenden Pfeife. »Wie 1870/71!«
Großvater Wilhelm gehörte zu den Veteranen, die vor mehr als vierzig Jahren in der legendären Schlacht von Sedan die Franzosen besiegt hatten. Jeden 2. September feierten wir das mit langen Reden, Gedichtaufsagen, vaterländischen Liedern, Fahnenschwenken und Theateraufführungen ganz groß in der Schule. Und Großvater Wilhelm ging am Jahrestag der Schlacht, die Brust voll funkelnder Orden, zur Sedanfeier auf dem Rathausplatz. Da genoss er es, umjubelt zu werden, und seine Begeisterung ließ ihn um Jahre jünger erscheinen.
»Noch ist nichts entschieden«, sagte Max. »Aber wenn es denn sein muss, wir sind bereit!«
»Jetzt ist es an euch«, sagte Großvater Wilhelm. »Das Vaterland ruft!«
Mutter schüttelte den Kopf und sah ratlos von einem zum anderen. Aber sie schwieg.
»Kann mir mal einer sagen, was eigentlich los ist?«, wagte ich mich einzumischen.
»Komm her, Paul«, sagte Vater. »Setz dich zu uns.«
Ich drückte mich auf die Eckbank neben meinen Bruder.
»Es ist was passiert«, sagte Max. »Sie haben den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand umgebracht. Und seine Frau. In Sarajevo.«
Nie zuvor hatte ich von einem Franz Ferdinand gehört. Und Sarajevo war also ein Ort. Kein Zauber, kein Märchen. Aber weit weg wahrscheinlich. Was ging uns das an?
»Wer?«, fragte ich.
»Genaues weiß man noch nicht«, sagte Max. »Ein Attentat von serbischen Fanatikern. Einer hat ihn aus nächster Nähe erschossen.«
»Und?«, fragte ich. Etwas schlich sich von weit her an mich heran, immer dichter. Sarajevo. Das schöne Wort war plötzlich blutgetränkt. Etwas Gefährliches lauerte dahinter. »Aus nächster Nähe«, hatte Max gesagt.
»Das wird Folgen haben«, sagte Vater und nickte wie zur Bestätigung vor sich hin.
»Nun macht ihm doch nicht Angst«, sagte die Mutter. »Noch ist gar nichts entschieden.«
»Welche Folgen?«, fragte ich.
»Österreich-Ungarn ist unser Verbündeter«, sagte Max. »Und wir stehen zu unserem Wort.«
»In Treue fest!«, sagte Großvater.
»Das feige Schurkenstück darf nicht ungesühnt bleiben«, sagte Vater. »Das ist eine Frage der Ehre.«
»Nun hört mal auf«, sagte Mutter. »Noch weiß man nicht, was der Kaiser dazu sagt.«
»Dem Kaiser bleibt keine Wahl«, sagte Großvater Wilhelm durch den Qualm seiner Pfeife.
»Die Zeit ist reif«, sagte Vater. »Über vierzig Jahre Frieden haben uns schläfrig gemacht. Schläfrig und bequem.«
Die Mutter schüttelte den Kopf. Obwohl sich unsere Eltern bemühten, es niemals zu zeigen: Über manche Dinge waren sie verschiedener Meinung. Mutter war ein Stadt-, Vater ein Landmensch. Nur widerwillig hatte er vor zwei Jahren dem Umzug in die Stadt zugestimmt. Vater war mit ganzer Seele Bauer. Weil aber sein Bruder Karl den Hof geerbt hatte, war uns nichts übrig geblieben, als die Gelegenheit zu nutzen, Großvaters Kolonialwarenladen zu übernehmen. Mutters Tüchtigkeit hatte den Vater zur Seite gedrängt. Es fiel ihm schwer, damit fertig zu werden, dass nun hauptsächlich seine Frau für den Unterhalt der Familie sorgte.
»Ehre, Vaterland«, sagte Mutter. »Schöne Worte. Große Worte. Schön für Kaisers Geburtstag oder zur Sedanfeier. Aber warum können wir nicht einfach in Frieden leben?«
Vater seufzte. »Anna«, sagte er und legte Mutter die Hand auf den Arm. »Das verstehst du nicht. Das ist Männersache. Wenn es ernst wird, sind wir dazu da, euch zu beschützen. Das war schon immer so. Das wird immer so sein.«
»Wenn es ernst wird«, sagte Max, »stellt sich doch erst heraus, was unser Wort wert ist. Wir werden unsern Mann stehen. Das ist mal sicher. Wir lassen unsere Freunde nicht im Stich.«
Ich zögerte. Dann fragte ich es doch: »Was soll denn ernst werden?«
Max strich sich die schwarze Haartolle aus dem Gesicht. Und in einem Ton, als freue er sich darauf, sagte er:
»Vielleicht gibt es Krieg.«
Unsere Betten standen nebeneinander, zwischen uns der schmale Gang, beide konnten wir durch das Fenster in die ausladende Krone einer großen Buche sehen. Im Dunkeln stellte ich mir manchmal vor, da draußen wäre ein finsterer, wilder Wald, in dem sich alle Geheimnisse der Welt versteckten. Wenn Max beim Erzählen gut in Form war, schien es mir oft, als würde ich den Geheimnissen ein Stück näher rücken, auch wenn ich ahnte, dass er mir längst nicht alles verriet, was ihn bewegte.
»Wenn es Krieg gibt …«, sagte ich. »Hast du gar keine Angst?«
»Angst ist was Kleines«, sagte Max. »Wir leben in einer großen Zeit. Da müssen die kleinen Dinge schweigen. Wenn das Vaterland ruft, darf man sich nicht hinter dem Ofen verkriechen. Wo kommen wir hin, wenn jeder nur an sich denkt? Das Vaterland, das sind wir alle. Und wenn es bedroht ist, dann müssen wir dafür einstehen, und sei es mit unserem Leben.«
Er hatte dieses Leuchten in den Augen, diese Begeisterung, die ich so sehr an ihm mochte. Sie war mir wie ein Versprechen, dass es im Leben mehr geben musste als das tägliche Einerlei, den grauen, langweiligen Alltag. Zum Kummer der Mutter träumte Max immer noch davon, eines Tages zur See zu fahren statt wie vorgesehen den Laden zu übernehmen. Auch die Enttäuschung darüber, dass sie ihn bei der Marine wegen zu großen Andrangs nicht genommen hatten, konnte ihn nicht von seinen Träumen abhalten.
Die halbe Nacht über redete Max davon, warum man die Angst in sich bekämpfen müsse und dass jeder, der seine Heimat liebe, nicht nur das Schöne genießen, sondern auch für die Gemeinschaft da sein müsse. Dass Eigensucht feige und verwerflich sei und dass er schon bei den Wandervögeln gelernt habe, Entbehrungen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, materiellen Luxus zu verschmähen und statt sich in einem faulen, bequemen Leben einzurichten, sich für das Große und Ganze einzusetzen. Und dass Gehorsam, wie er nun einmal von den Soldaten gefordert werde, die Grundlage aller Ordnung sei, und niemand – absolut niemand – könne ihn davon abhalten, freiwillig seine Ehrenpflicht zu erfüllen. »Fürchten musst du nur Gott, Paule«, sagte Max. »Und sonst niemanden auf der Welt.« Er redete und redete, als wolle er nicht nur mich überzeugen. Als seine Stimme leiser wurde und er schließlich eingeschlafen war, sah ich noch eine Weile hinaus in das schattenhafte Gewirr der großen Buchenkrone, und da fiel mir Erich ein, und ich hörte seine Stimme: »Wer Angst hat, der bleibt da.«
Nein, ein Feigling wollte ich nicht sein. Dazugehören wollte ich doch auch.
Krieg. Einen Monat lang war alles in der Schwebe. Einen Monat lang mischte sich das Wort in alles und jedes und wurde doch selten ausgesprochen. Es schien, als würde auch mein Vater sich danach sehnen, Soldat zu werden. »Wenn es sein muss«, sagte er, »werden wir redlich unsere Pflicht erfüllen. Einer für alle. Alle für einen.«
Großvater Wilhelm hatte sich nach dem Tod seiner Frau kaum noch aus seinem Zimmer bewegt. Jetzt schlurfte er ab und zu wieder durch den Laden und erzählte den Leuten von der »großen Zeit«, die nun anbrechen werde.
Mutter dagegen suchte jede Gelegenheit, um die Erwartungen der Männer zu dämpfen. Mit Genugtuung in der Stimme las sie aus der Zeitung vor, dass Kaiser Wilhelm wegen »Hexenschuss« nicht zur Beerdigung des ermordeten Thronfolgerpaares nach Wien fahren würde. Wenige Tage später war der kaiserliche Hexenschuss offenbar geheilt und Mutter verkündete triumphierend: »Der Kaiser macht Urlaub! Eine Nordlandreise, von Kiel aus. Hier steht es: ›Ein zahlreiches Publikum begrüßte den Kaiser am Bahnhof und am Quai mit lebhaften Hurrarufen!‹ Dann kann es ja wohl nicht so schlimm sein. Was gehen uns die Österreicher an?«
In der Schule aber waren die letzten Tage vor den Sommerferien anders als sonst. Das unausgesprochene Wort hatte Macht über alles. Es lag in den Andeutungen der Lehrer. »Sechs Wochen sind eine lange Zeit. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen …« Wie Vater und Max rechneten offenbar viele damit, in Kürze in den Krieg zu ziehen.
Erwartung lag auch in der hochfahrenden Stimme von Erich Kessler, als er für den Jungdeutschlandbund warb und jeden dazu aufforderte, endlich Mitglied zu werden. »Mit Gott für König und Vaterland!« Endlich passierte etwas, endlich stand etwas bevor, endlich fieberte man einer Sache entgegen. Die Schläfrigkeit der Kleinstadt war wie von einem frischen Wind fortgeblasen. Abschiedsblicke und Gesten hatten jetzt neue Bedeutung und in alles mischte sich eine seltsame Feierlichkeit. Franz Menke kam auf mich zu, Franz Menke, der Klassenbeste, der »Streber«, mit dem ich bis dahin kaum geredet hatte. Jetzt drückte er mir die Hand, dass es wehtat, sah mir in die Augen und sagte: »Jetzt geht’s los, Hoffmann. Halt dich gerade.« Dann drehte er sich um und verließ eilig den Klassenraum.
Ich sah hinter ihm her. Was wusste ich von ihm? So gut wie nichts eigentlich. Beim Religionsunterricht war er nicht dabei, weil mosaischen Glaubens. Einzelkind, hochbegabt, Vater Musiker. Warum er nicht aufs Gymnasium ging, war mir ein Rätsel.
Trommelwirbel und Marschmusik. Am letzten Wochenende im Juli war die Stadt wie verwandelt. Die Häuser mit Tannen-Girlanden und grün belaubten Zweigen geschmückt, Fahnen hingen aus den Fenstern, an Hauswänden, an Flaggenmasten. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Erwartungsfroh drängten sich die Menschen hinter Absperrungen auf den Bürgersteigen, schwenkten Fähnchen, kleine Kinder wurden auf die Schultern von Vätern gehievt, Hälse reckten sich. Mittendrin versuchte auch ich mit Gertrud an der Hand hinter breiten Rücken und hohen Hüten einen Blick zu erhaschen. Kaum war mir das, auf Zehenspitzen balancierend, halbwegs gelungen, zog Gertrud mich weiter.
Vom Bahnhof kommend hatten die auswärtigen Turnerriegen am Anfang der Bahnhofsallee Aufstellung genommen und zogen, Musik und Fahnen voran, durch den eigens aufgestellten, blumengeschmückten Torbogen, die Ehrenpforte, mit der goldfunkelnden Aufschrift: 17. Kreisturnfest. Die Turner – blaue Jacken, weiße Hosen und schwarze Hüte – marschierten durch das Spalier der wartenden Menschen in die Stadt ein, winkten und schwenkten ihre Hüte. Aus der Menge winkte man zurück, aus manchem offenen Fenster warfen Mädchen Blumen auf die Turner hinunter.
Nach den Turnern kamen die Vereine der Stadt. Auf den vorangetragenen Schildern stand: Kampfgenossen-Kriegergarde, Landwehr-Kavallerie und Artillerie, Marineverein, Fahrbeamtenverein »Flügelrad«, Arbeiterbildungsverein, Verein Deutscher Lokomotivführer, Neuer Arbeiterverein, Gesangverein »Einigkeit«, Mandolinenclub, Fußballverein Germania, Jungdeutschlandbund, Brauereipersonal. Beifall erhielten sie alle, Hochrufe und bewundernde Blicke.
Nachdem die Mehrzahl der Vereine vorbeigezogen war, mischte ich mich, Getrud an der Hand, in den Strom der zum Marktplatz strebenden Menge, wo die Turner inzwischen in Reih und Glied Aufstellung genommen hatten. Fahnen wurden geschwenkt, Marschmusik fuhr in alle Glieder, Kommandos tönten über den Platz und aus vielen Kehlen schallte der Turnergruß: »Gut Heil! Gut Heil! Gut Heil!«
Von der Rathaustreppe herab hielt ein Professor eine lange Rede von »vaterländischer Pflicht«, von »deutsch sein, einig sein, komme, was da wolle.«
Wie die meisten Umstehenden nickte auch ich zustimmend. Man musste jetzt zusammenstehen, das war klar. Und es wird schon auch gut sein, dachte ich, als der Redner sagte: »In stiller, selbstloser, hingebungsvoller Arbeit wirkt die Deutsche Turnerschaft, um des Vaterlandes Wehrkraft zu mehren …« Alle auf dem Marktplatz waren sich einig. Was der Mann auf der Rathaustreppe auch sagen würde, alle warteten nur darauf, ihm zuzujubeln.
»Und nun, ihr versammelten Turner«, rief der Professor, »entblößt eure Häupter, schwört dem teuren Kreisbanner, unserer Fahne, schwört der Sache unseres Turnkreises unverbrüchliche Treue …«
Die Turner rissen sich die Hüte von den Köpfen, und selbst die beiden Damen vor mir nahmen ihre Strohhüte ab. Alle standen wie in der Kirche, lauschten andächtig den feierlichen Worten der Zeremonie.
Ich war froh, dabei zu sein. Sarajevo. Krieg. Das Ungewisse verlor den Schrecken, wenn man zusammenrückte, wenn man spürte, wohin man gehörte. Nie zuvor war mir die Stadt so nah wie jetzt in der festlich gestimmten Menschenmenge. So unterschiedlich wir auch waren, wir gehörten doch alle zusammen.
Als der Festzug sich in Richtung Jahnplatz in Bewegung setzte, hörte ich einen weißhaarigen alten Mann rufen: »Einer für alle, alle für einen und alle für uns, für das Vaterland!« Rings um ihn brandete Beifall auf, viele winkten ihm zu, auch ich hob die Hand.
Als ich die Hand fallen ließ, merkte ich, dass Gertrud nicht mehr neben mir war. Ich sah mich nach allen Seiten um. Gertrud war nirgends zu entdecken. Einen Moment überlegte ich, ob ich umkehren, Gertrud suchen oder nach Hause gehen sollte. Wahrscheinlich war sie längst dort, und wenn ich ankam, würde sie mir eine lange Nase machen.
Der Sog der Menschenmenge war stärker als alle Bedenken. So klein war Gertrud nicht mehr, und dumm war sie auch nicht. Und was sollte schon passieren an einem Tag wie diesem.
»Frisch, fromm, fröhlich, frei!«, riefen die Turner. Fanfarenklänge zerrissen die Luft und in geordneter Fröhlichkeit folgten die Turnerriegen und Vereine den vorausmarschierenden Herolden. Fahnen flatterten im Wind. Nebenher liefen Zivilisten mit, auch ich. Es ging kreuz und quer durch die Straßen der Stadt, bis wir endlich den von alten Bäumen umstandenen Jahnplatz erreichten. Auf dem Freiübungsplatz vor dem Jahnspielhaus nahmen die Formationen Aufstellung, die Musikkapelle stimmte die Nationalhymne an, alle sangen: Deutschland, Deutschland über alles …
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Dass so viele Menschen mit solcher Inbrunst sangen. Lauter noch und inniger, schien mir, als an Kaisers Geburtstag und am Sedantag. Was konnte uns passieren, wenn alle einig waren!
Vom Balkon des von mächtigen Baumkronen eingerahmten Holzhauses, auf dem die Ehrengäste Platz genommen hatten, verlas der Professor ein Telegramm, das die Turnerschaft hier und heute an den Kaiser Wilhelm, z.Zt. in Norwegen, verschickt hatte. »Eurer Kaiserlichen und Königlichen Majestät bringen die Turner vom 17. Kreisturnfest die ehrerbietigste Huldigung dar und bitten Eure Majestät das Gelöbnis unwandelbarer Treue allergnädigst entgegennehmen zu wollen …«
Allein der Kaiser, hatte Vater gesagt, entscheidet über Krieg und Frieden.
Schließlich begann das Turnfest mit Stab- und Keulenschwingen und dem Einzug der Turner in das vor einem Jahr neu errichtete Stadion. Speerwerfen, Diskuswerfen, Steinstoßen, Schlagball, Fußball, Stabhochsprung, Stafettenlauf. Ich hätte am liebsten mitgemacht. Noch besser als Worte und Lieder, so stellte ich mir vor, würde Bewegung gegen all das Ungewisse helfen.
Auf dem Nachhauseweg drückte mich das schlechte Gewissen. Mutter hatte ich hoch und heilig versprochen, auf Gertrud aufzupassen. Was, wenn doch etwas passiert war?
In Erwartung großen Ärgers schob ich die schwere Haustür auf und legte mir schon die Worte zurecht, mit denen ich mich verteidigen wollte. Auf einmal war sie weg. Ohne ein Wort zu sagen. Habe sie überall gesucht.
Aber es kam anders. Gertrud lief mir entgegen, den Zeigefinger auf die Lippen gepresst, und zog mich in den halbdunklen Lagerraum.
»Psst«, machte sie. »Nicht petzen. Ich habe gesagt, du hast mich nach Hause gebracht.«
»Wieso bist du weggelaufen?«
»Sooo langweilig«, sagte Gertrud. »Immer nur Reden und Reden …«
Glückliche Gertrud. Sie hatte also gar nichts gemerkt von der Ungewissheit, die wie ein Schatten über dem festlichen Tag gelauert hatte, nichts von der Spannung, die jeden Moment etwas zum Explodieren bringen konnte. Sollte ich sie beneiden? Sollte ich sie bedauern?
»Sag nichts«, flüsterte Gertrud. »Sie müssen ja nicht alles wissen. Mutti macht sich nur unnötig Sorgen.«
Dass die Ferien hauptsächlich zum Arbeiten da sind, das kannte ich nicht anders. Früher auf dem Dorf war es die Ernte- und Stallarbeit gewesen, die meine Ferientage ausfüllte, jetzt war es die Arbeit im Laden. Kartoffelkisten stapeln, die Schubfächer mit Kaffeebohnen, Reis, Salz und Zucker nachfüllen, welk gewordene Sachen aussortieren, verdorbenes Obst und Gemüse zum Abfall werfen.
Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, älteren Menschen, denen das Laufen schwer fiel, die vorbestellten Lebensmittel in die Wohnung zu bringen. So führte mich der erste Botengang an diesem Mittwoch zur Witwe Kubitzki, Bismarckstraße 25, zweite Etage. Auf ihren Stock gestützt öffnete sie die Wohnungstür, begrüßte mich mit ihrer dünnen, heiseren Stimme. Mit schlurfenden Schritten tappte sie von der Tür zu ihrem Fensterplatz am Küchentisch zurück. Wie immer stellte ich die Lebensmittelkiste in die Vorratsnische hinter dem geblümten Vorhang. Ich nahm die leere Kiste vom vorigen Mal auf und ging zurück, um die üblichen zehn Pfennig Botenlohn entgegenzunehmen.
Es roch nach Kohlsuppe und essigsaurer Tonerde. Frau Kubitzki saß über den Küchentisch gebeugt und stocherte mit gichtgekrümmten Fingern in ihrem Geldbeutel nach der passenden Münze. Auf dem Tisch lag die Zeitung. Ich reckte den Hals und las die Schlagzeile: Österreich erklärt Serbien den Krieg.
»Na, Jungchen«, krächzte Frau Kubitzki. »Willst du auch zu den Soldaten?«
Ich zog die Schultern hoch.
»Es geht ja nun los«, sagte Frau Kubitzki. »Hier.« Sie warf ein Fünfpfennigstück auf den Tisch. »Mehr ist es heute nicht. Und sag deiner Mutter schönen Dank für den Extra-Salatkopf vom letzten Mal.«
Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir zugezogen hatte, blieb ich einen Moment stehen. Das graue Treppenhaus, an dessen Wänden der Putz bröckelte, schien mir von einer Trostlosigkeit wie nie zuvor. Draußen vor dem Haus sah ich zum blauen Himmel hinauf. Ein Schwarm Krähen kreiste über den Baumwipfeln. Es geht ja nun los. Es geht ja nun los … krächzten sie. Krähen sind Unglücksvögel, dachte ich und ein dunkles Gefühl von Bedrohung stieg in mir auf.
Aber die Sonne schien. Autos, Kutschen und Fahrräder rollten über die Bismarckstraße, eine Mutter schimpfte mit ihrem Kind, das Glockenspiel am Giebel der Apotheke gegenüber spielte Üb immer Treu und Redlichkeit.
Alles war wie immer. Vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden. Ein kurzes Abenteuer, und die siegreichen Truppen würden heimkehren. So stand es in der Zeitung. So sagten es Vater und Max. Und Großvater Wilhelm wäre enttäuscht, wenn es keinen Krieg gäbe.
Am nächsten Tag meldete die Zeitung: Russland mobilisiert!
Und als ich am Samstag mit meiner Lebensmittelkiste zum Marktplatz kam, war der Platz schwarz von Menschen. Der Bürgermeister verlas von der Rathaustreppe einen Aufruf des Kaisers. Ich kam dazu, als er schon fast am Ende war: »… Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, dass unsere Väter sich gründeten, um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross. Wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war! Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit unseren Vätern war!«
Ein Jubelsturm brach los.
Kein Zweifel, der Krieg war da.
Es war der erste Sonntag im August, der letzte Tag, an dem unsere ganze Familie zusammen war. Vater bestand darauf, dass wir alle, bis auf Großvater Wilhelm, mitfuhren.
»Was das kostet«, klagte Mutter. »Und morgen wird ein strenger Tag. Sie werden uns den Laden einrennen.«
»Morgen ist morgen«, sagte Vater, »und heute ist heute. Und das Geld gebe ich gern aus. Fünfundachtzig Pfennige, dritter Klasse hin und zurück, das können wir uns leisten.«
Am Samstag war die Mobilmachung verkündet worden und Vater und Max rechneten damit, am Montag in den Krieg zu ziehen. Beide hatten sich als Freiwillige gemeldet. Vater wollte sein Heimatdorf noch einmal sehen. Niemand konnte ihm das abschlagen. Auch Mutter nicht.
Zum Glück war die Kleinbahn noch nicht in die Fahrplanänderungen der Mobilmachung einbezogen. Am Abend vorher hatte Vater mit Bürgermeister Hampe telefoniert. Der war der Einzige im Dorf, der ein Telefon besaß. Er hatte versprochen, bei Onkel Karl und Tante Lina unseren Besuch anzukündigen. Trotzdem und für alle Fälle hatten Mutter und Gertrud am Morgen Wurstbrote geschmiert und eine Flasche Milch eingepackt.
Auf dem Bahnsteig gegenüber, von dem die Fernzüge abfuhren, ging es lebhaft zu. Kriegsfreiwillige, vor allem junge Männer im Alter von Max, standen mit Eltern, Freunden und Bekannten um die abgestellten Gepäckstücke herum, lachten und redeten laut und aufgeregt.
Auf großen Anschlagtafeln stand in fetter schwarzer Schrift: Bekanntmachung. Seine Majestät der Kaiser haben die Mobilmachung der Armee und Marine befohlen.
Darunter Anordnungen und Befehle: Alle wehrpflichtigen Soldaten haben sich zu melden. Ab sofort besteht ein Pferdeausfuhr-Verbot. Mit der Einquartierung von Truppen ist zu rechnen. Die Ein- und Ausfuhr von Tauben ist bei Strafe verboten. Alle Ärzte haben sich sofort zu melden. Kraft- und Luftfahrzeuge, Kriegs-, Verpflegungs-, Arznei- und Verbandsmittel und ärztliche Geräte dürfen nicht ausgeführt werden. Zuwiderhandlungen werden mit strengen Strafen geahndet.
Morgen schon würden auch Max und Vater auf dem Bahnsteig gegenüber stehen. Max winkte seinen zukünftigen Kameraden zu. Sie winkten zurück.
Vater hatte es eilig, in die schon bereitstehende Kleinbahn einzusteigen. An diesem Sonntagmorgen zog es offenbar nur wenige Leute aufs Land. Wir setzten uns in den dritten und letzten Wagen hinter der Lokomotive. Bis auf ein mit sich selbst beschäftigtes Liebespaar am Fenster schräg gegenüber waren wir die einzigen Fahrgäste hier.
Eine Unterhaltung kam nicht in Gang. Seit gestern begannen Vaters Sätze meist mit: »Wenn wir nicht da sind, dann …«, und Mutter antwortete mit: »Was soll nur werden, wenn …« Für ein unbeschwertes Sonntagmorgenausflugsgespräch taugte das nicht. Selbst Gertrud spürte offenbar die gedrückte Stimmung und sah schweigend aus dem Fenster.
Als sich die Lokomotive endlich schnaufend in Bewegung setzte, sagte Max: »Weihnachten sind wir ja wieder zu Hause.«
Mutter schenkte ihm ein Lächeln.
»Das sagen alle«, versuchte Max Mutter zu trösten.
Dubu-dum-dubu-dum-dubu-dum – machten die Räder, wenn sie von einem Schienenstrang zum nächsten holperten. Ein Geräusch wie aus einer anderen Welt. Wir rollten aus der Stadt hinaus, zurück in unsere Vergangenheit. Die Hügel und Wälder, der Bach, die Feldwege, die Kirchtürme und roten Dächer hinter den Baumkronen – all das Vertraute tauchte vor uns auf, überstrahlt von einem fast wolkenlosen Himmel. Vater stand auf, stellte sich zwischen den leeren Holzbänken vor das Fenster, zog es ein Stück herunter und nahm in Kauf, dass ihm in Linkskurven der Qualm der Lokomotive ins Gesicht wehte. Hielt der Zug in den kleinen Dörfern an der Strecke, winkte er den draußen vorbeigehenden Menschen zu. Ich sah nicht, dass jemand zurückwinkte.
Max neben mir schwieg. Mutter schwieg. Gertrud schwieg. Als wäre alles gesagt.
Eine Stunde brauchte die Kleinbahn für die fünfzehn Kilometer bis in unser Dorf. Tante Lina und Onkel Karl standen an der Haltestelle im Schatten des Kohlenschuppens und erwarteten uns.
Die Begrüßung war herzlich. Sogar die Männer umarmten sich kurz. Der Bruderzwist vergangener Jahre war vergessen.
Es war seltsam, wieder durch unser Dorf zu gehen. Seit wir vor zwei Jahren in die Stadt gezogen waren, war ich – anders als Vater – nicht mehr hier gewesen. Die alte Vertrautheit war wieder da, aber alles war ein Stück weiter von mir gerückt, ob ich wollte oder nicht.
Auf dem Hof hatte sich nichts verändert. Hasso, glaube ich, erkannte mich sofort. Er sprang an mir hoch und leckte mir die Hand. Die Hühner scharrten wie immer im Misthaufen, die Katzen, unter ihnen die alte Hedwig, lagen um den Futternapf vor dem Scheunentor herum, fünf Rinder, Onkel Karls ganzer Stolz, standen auf der Weide vor dem Wald, und im Schlamm des Schweinekobens zwischen Stall und Garten suhlte sich Eberhard mit seinen drei Säuen.
Oma Charlotte saß gichtgeplagt auf der Ofenbank und sah mich aus großen Augen fragend an, als habe sie Mühe, mich zu erkennen.
Gustav, der kleine Hoferbe, lernte gerade Laufen. Gertrud war begeistert von ihm und er von ihr. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Bauklötzen, krabbelten über den Teppich und machten Tierstimmen nach.
Zur Feier des Tages aßen wir nicht wie früher in der Küche, sondern im Wohnzimmer am großen ausziehbaren Tisch, auf dem Oma Charlottes Häkeldecke lag. Die Männer tranken Bier, Gertrud und ich Limonade. Im Gespräch der Erwachsenen ging es um alles Mögliche, nur vom Krieg sagte keiner ein Wort.
»Was gibt es Neues im Dorf?«, fragte Vater.
Der Fuhrknecht Isermann war unter seine Langholzfuhre geraten und tödlich verunglückt. Der Postbote Dietrich war versetzt worden, der Telegrafenarbeiter Sonnemann zum Postboten ernannt. Im Nachbardorf hatten sie Tausendjahrfeier. Der Pastor hatte ein Theaterstück verfasst, das aber erst im Herbst oder Winter aufgeführt werden sollte, weil in der Erntezeit keiner seine Rolle einstudieren konnte. Der Tierarzt Küster hatte als Erster im Dorf ein Automobil gekauft und war gegen einen Baum gefahren. Die Heuernte war gut, gerade noch rechtzeitig vor dem großen Gewitter eingefahren. Drei Dörfer weiter hatten sie die Schweinepest.
Zu Mittag gab es Schnitzel mit Erbsen und Möhren, vorweg Nudelsuppe und zum Nachtisch Schokoladenpudding mit Vanillesoße.
»So viel Umstand«, sagte die Mutter. »Das war doch nicht nötig.«
»Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen«, sagte Tante Lina.
Nach dem Essen ging ich meinen Freund Kurt besuchen. Kurt war mein bester Freund im Dorf gewesen, wir hatten von klein auf miteinander gespielt. Hinter Hagemanns Scheune gab es einen herrlich verwilderten, durch ein hohes Brennnesselmeer geschützten Platz, der außer von uns von niemandem betreten wurde. Auf Weidenruten-Pferden waren wir über selbst gebaute Hindernisse gesprungen, und nach Regengüssen hatten wir aus Matsch Würste und Brot geformt. In der Schule haben Kurt und ich immer nebeneinander gesessen, die ersten zwei Jahre beim alten Bode, danach unter der Knute von Lehrer Knoche, der bis heute die Schulkinder des Dorfes in Angst und Schrecken versetzte.
Die rundliche Frau Hagemann empfing mich mit gewohnter Herzlichkeit. »Ja, Paul, dass man dich mal wieder sieht!« Ich konnte mich ihrer Umarmung nicht erwehren, und erst als ich einen Schritt zurücktrat, sah ich, dass sie rot geweinte Augen hatte.
Trotz des schönen Wetters war Kurt in seinem Zimmer. Schulterklopfen natürlich, ein paar freundschaftliche Boxhiebe in die Rippen, und doch war da eine Fremdheit, mit der ich nicht gerechnet hatte.
»Kurti, Mensch!«
»Mensch, Paule. Los, erzähl mal. Was treibst du so in der Stadt?«
Im Laden helfen, Schule, Kino, Erich, Gottfried, Nickel – das war schnell erzählt, aber nichts davon hatte mit Kurt zu tun. Ob wir wollten oder nicht, wir lebten seit zwei Jahren in verschiedenen Welten.
»Morgen fährt Max in den Krieg«, sagte ich schließlich. »Und mein Vater auch.«
Kurt nickte. »Mein Bruder ist heute Morgen schon los«, sagte er. »Russen verkloppen.«
Wir waren nicht nur beste Freunde gewesen, sondern immer auch Konkurrenten. Ich spürte einen leichten Ärger in mir aufsteigen, dass Kurts Bruder Konrad schneller gewesen war als Max und Vater.
Auf dem Fensterbrett hatte Kurt seine Zinnsoldaten aufgebaut. Links die Preußen in roten Uniformen, rechts die napoleonischen Franzosen in blauen. Wir gingen hinüber und blieben vor dem offenen Fenster stehen.
Plötzlich brach es aus Kurt heraus und er schrie: »Jeder Schuss, ein Russ! Jeder Stoß, ein Franzos!« Mit dem Handrücken fegte er die zum Angriff bereite Franzosen-Armee vom Fensterbrett. Die Zinnsoldaten kippten nach hinten über, hinunter in den Hagemann’schen Garten. Die Preußen blieben siegreich stehen.
Kurt lachte haltlos, und ich fiel in das Lachen ein. Aber wohl war mir nicht. Kurt legte mir den Arm um die Schulter. Ich tat es ihm nach. So standen wir dicht beieinander, beugten uns zum Fenster hinaus und lachten und lachten. Die blauen Zinnsoldaten waren im hohen Gras verschwunden, besiegt für immer.
Als wir ausgelacht hatten, besah sich Kurt seinen Handrücken und saugte das Blut ab, das ihm die Zinnsoldaten mit ihren spitzen und scharfen Kanten abgefordert hatten.
»Die haben sich gewehrt, die Schweinehunde«, sagte Kurt.
Natürlich wurde ich an den Hagemann’schen Kaffeetisch gebeten und musste vom selbst gebackenen Streuselkuchen probieren, und natürlich musste ich auf die Frage: »Wie ist es denn so in der Stadt?« mit der ausführlichen Erwachsenen-Version antworten. Gut geht’s. Viel Arbeit ist’s. Wird schon alles werden.
Es war fünf Uhr geworden, als ich mich von den Hagemanns verabschiedete.
Zu meiner Überraschung begegnete ich auf der Dorfstraße den Eltern, Onkel Karl und Tante Lina. Hier auf dem Dorf ging niemand – wie in der Stadt – einfach so spazieren, wenn er keinen Grund dafür hatte.
»Wir waren beim Schmied Gellert«, erklärte Mutter. »Du kennst doch die Ida? Tante Lina hat uns erzählt, dass Ida eine Stellung in der Stadt sucht. Wir werden jetzt Hilfe brauchen. In drei Tagen fängt Ida bei uns an.«
Ich versuchte, mich an Idas Gesicht zu erinnern. Sommersprossen. Eine Narbe auf der Wange unter dem linken Auge. Rote Haare. Sie war eine Klasse über mir gewesen, musste also in diesem Jahr konfirmiert worden sein. In der Schule hatte sie manchmal gute Einfälle gehabt. Einmal hatte sie den Rohrstock von Lehrer Knoche mit Zwiebelsaft eingerieben. Beim ersten Zuschlagen war er auf dem Hintern von Heinrich Deppe zerbrochen. Ida also sollte zu uns kommen.
Vater zögerte die Rückfahrt bis zur letzten Möglichkeit hinaus. Nach dem Abendbrot ließ es sich dann nicht mehr ändern. Wenn wir den letzten Zug um Viertel nach sieben in die Stadt erreichen wollten, mussten wir aufbrechen.
Aber wo war Max? Ich fand ihn schließlich auf der Bank im Garten hinter den Himbeersträuchern. Mit Rudolf, dem alten Knecht, saß er dort, beide in Zigarettenrauch gehüllt, und Rudolf erzählte von seiner Soldatenzeit und der Schlacht auf den Höhen von Sedan. Max hörte aufmerksam zu.
»Wir müssen los«, sagte ich.
Mein Bruder war in Gedanken schon weit weg. Ich musste ihn an der Schulter rütteln.
Max nickte, warf die Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie sorgfältig aus. Dann gab er dem Knecht die Hand, bedankte sich und der alte Rudolf sagte »Kamerad« zu Max.
Beim Abschied am Bahnhof gab es dann doch Tränen bei Mutter und Tante Lina. Die Männer weinten nicht. Karl und Walter, die Brüder, sahen einander mit ernstem Blick in die Augen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Auch Max hielt an sich. »Ihr werdet sehen«, rief er. »Wenn wir erst mal losmarschiert sind, geht alles ganz schnell!«
Ein Pfiff, der Zug ruckte an, Onkel Karl und Tante Lina winkten, dann wurden sie kleiner und kleiner und als der Zug um die Kurve herum aus dem Dorf hinausrollte, verschwanden sie ganz. Vater stand noch winkend am Fenster, als sie schon längst nicht mehr zu sehen waren. Endlich schob er die Glasscheibe hoch, setzte sich auf die harte Holzbank neben Mutter und drückte ihre Hand.
Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause schlug Vater vor, den kleinen Umweg durch den Park zu nehmen. Das letzte Sonnenlicht stand schräg zwischen den alten Bäumen und spiegelte sich im Wasser des kleinen Teichs.
»Ich wollte, es wäre schon alles vorbei«, seufzte Mutter.
»Anna«, sagte Vater. »Wir tun es doch für euch. Und für das Vaterland.«
Am Abend saßen wir alle – außer Gertrud – mit Großvater Wilhelm am Küchentisch und redeten. Auch ich durfte ausnahmsweise am Wein nippen, den Vater eigenhändig aus dem Keller geholt hatte. Erst gegen zehn Uhr schickten sie mich ins Bett.
Ich konnte lange nicht einschlafen und war noch wach, als gegen Mitternacht Max kam. Ich presste die Augen zu und tat, als ob ich schliefe.
Ich brachte es nicht fertig, ihn zu fragen, wie es sich anfühlte, zum letzten Mal im eigenen Bett zu schlafen.