Zwischen den Zeilen Zwischen den Stühlen - Herbert Günther - E-Book

Zwischen den Zeilen Zwischen den Stühlen E-Book

Herbert Günther

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Beschreibung

Vom naiven Dorfjungen zum Buchhändler, Lektor, Autor und Übersetzer. In 43 Episoden erzählt Herbert Günther von seinem holprigen Weg in die Bücherwelt. Er gibt Einblick in die Praxis des Büchermachens für Kinder und Jugendliche am roten Faden persönlicher Erfahrungen. Ein Zeitbild von den fünfziger Jahren bis heute, eine Hommage an das Lesen und das Leben mit Büchern. Mit einem Nachwort von Birgit Dankert.

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Das ist wohl das Wesentliche am Paradies – dass wir es verlieren müssen.

Alberto Manguel Autor von Eine Geschichte des LesensIn einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vom 12. 12. 2020

Nicht immer strömt

der Fluss nach vorn, davon.

Er strudelt, staut sich, kehrt um,

verläuft in Nebenarme,

mäandert, sammelt sich, zieht weiter,

führt Treibgut mit und fließt

eilig dem unbekannten Ziel entgegen.

Von der Quelle zur Mündung –

woher und wohin,

die Fragen hören nicht auf.

Nach langem Unterwegssein bleibt

die Erinnerung, die brüchige,

an das nicht Greifbare, Flüchtige,

das ich nicht aufhören kann,

festhalten zu wollen.

Inhalt

Teil 1 HERKUNFT UND LEHRZEIT 1955 -1979

Schwimmen lernen

Geschichten dahinter

Thiedemann und Winkler

Bessermachen

Zwei Welten

Verwandlungen

Ins Offene

In the morning of my life

Rollenproben

Aufbruch

Der Anfang von vielem

Stiefel die passen

Molltöne und eine Begegnung auf der Treppe

Gemeinschaft der Einzelnen

Die beste aller möglichen Welten

In einem anderen Land

Anders werden

Politik, Abschiede, Anfänge

Teil 2 ZWISCHEN DEN STÜHLEN 1980 – 1988

Verteidigung der Naivität

Korrekturen

Filmemachen, Büchermachen

Preis der Freiheit

Flüchten oder standhalten

Schaffensfreude

Bleib erschütterbar und widersteh

Sind in der Freiheit auch die Affen frei?

Teil 3 ZWISCHEN DEN ZEILEN 1988 – 2020

Träume und Ellbogen und der Sprung ins Wasser

Wende wohin?

Von der Leine

Tante Rickchen

Annette

Gefühlsgenauigkeit

Das Zahme und das Wilde

Am Fenster

Robert und José

Dinosaurier

Gut aber anspruchsvoll

Eine Fee für den Alltag

Bilder auflösen – Bilder machen

Lesefrüchte

Das Eigene in einer anderen Zeit

Der Widerspruch

Woher und wohin

Nachwort

Dank

Personalien

Teil 1

HERKUNFT UND LEHRZEIT 1955 – 1979

1

Schwimmen lernen

Großmutter Emma in der fürstlichen Kleinstadt ist nur eins fünfzig, höchstens eins sechzig, eine Kleinmutter eher, aber drahtig, willensstark und tonangebend. „Junge“, sagt sie zu mir, ihrem acht-, neunjährigen Sommerferiengast, „du musst schwimmen lernen. Wer nicht schwimmen kann, geht unter.“

Das Freibad in ihrem verschlafenen Städtchen ist noch das alte mit holzverschalten Becken, und auch der Schwimmlehrer ist ein alter Mann mit alten Methoden. Für meine ersten selbstständigen Schwimmzüge im Tiefen zieht er einen an einer Angelschnur festgebundenen rotweißen Rettungsring auf dem Wasser vor mir her. Immer wenn ich nach dem Ring greifen will, zieht er ihn weg, und ich schlucke Wasser. Am Beckenrand läuft Großmutter Emma nebenher und feuert mich an. „Weiter, weiter! Du schaffst es!“

Irgendwann habe ich es tatsächlich geschafft, gleite über das Wasser ohne Strampeln und Panik. Was vorher Angst war, ist nun Freude und Stolz. Noch in denselben Sommerferien mache ich den Freischwimmerschein und bekomme amtlich bestätigt: Kann schwimmen.

Großmutter schürt meinen Stolz. „Junge, das müssen wir feiern“, wird sie gesagt haben, und sicher hat sie mich zum Bäcker geschickt. „Zur Feier des Tages bringst du zwei Amerikaner und zwei Schweinsohren!“

Dann, stelle ich mir vor, hat sie erzählt, selbsterfundene lustige Geschichten, voll Begeisterung und immer wieder von vorn. Und ich höre ihr zu, lustvoll und staunend, und auch wenn sich ihre Geschichten wiederholen, unterbreche ich sie nicht, lasse mich gern treiben auf dem scheinbar unendlichen Strom ihrer Wörter.

Erst viel später begreife ich, dass das beharrliche Erzählen meiner Großmutter auch mit dem Großvater, ihrem Mann, zusammenhängt, den ich nie kennengelernt habe, der sich lange vor meiner Zeit aus dem Leben gestohlen hat. Nach dem Großvater darf in unserer Familie nicht gefragt werden, am allerwenigsten darf man Großmutter Emma danach fragen, denn, so geht das Gerücht, sie habe Schuld auf sich geladen an der Verzweiflung ihres Mannes und seinem selbstbestimmten Tod.

Zwei Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs geboren, habe ich mehr als 70 Jahre in stetig wachsendem materiellem Wohlstand gelebt. Krieg und Notzeiten kenne ich nur aus Erzählungen, Büchern und Filmen. Freiheit und Demokratie sind mir als unverdientes Glück zugewachsen. Es wird nun Zeit, innezuhalten, zurückzublicken. Was kann ich sagen über meinen Versuch, über Wasser zu bleiben?

Unter dem angelernten Dahingleiten ist ein Abgrund, eine Tiefe. Manchmal höre ich Großmutter Emmas so nie gesagten Worte: Rede, Junge. Erzähl. Weiter, immer weiter.

2

Geschichten dahinter

Hinter jeder Geschichte steckt eine andere. Das staut und stapelt sich durch die Zeit. Wir leben auf einem Geschichtenberg in schwindelnder Höhe.

Die Geschichte, die hinter meinen Eltern steht, ist eine Liebesgeschichte. Als Kind abends im Bett stelle ich mir das immer wieder vor: Die Geschichte beginnt mit meiner Mutter als jungem Mädchen in der fürstlichen Kleinstadt. Lernbegierig ist sie, eine Schülerin mit guten Noten auf dem Gymnasium. Doch gegen den Rat der Lehrer und gegen ihren Willen muss sie die Schule abbrechen, um als Verkäuferin in der elterlichen Fleischerei zu arbeiten.

Kennengelernt haben sie sich auf dem Tanzboden, eingebunden in Form und Sitte der damaligen Zeit. Die fürstliche Kleinstadt ist auch Soldatenstadt, Soldat zu sein gilt etwas bei den Mädchen. Trotzdem gibt sie dem jungen Mann vom Land erst einmal einen Korb. Zu unterschiedlich sind ihre Lebenswelten. Zum Glück treffen sie sich schon bald auf einem anderen Tanzboden wieder, und an diesem Abend ist da etwas, das stärker ist als alle Unterschiede. Und zum Glück hat an diesem Abend angefangen, was uns fünf Kindern von heute das Leben geschenkt hat.

Von der Kleinstadt ins Dorf – für unsere Mutter ist das ein weiter Weg. Angekommen ist sie lange nicht. Die enge Welt des Dorfes bleibt ihr fremd. Festgezurrte Gewohnheiten der Einheimischen und die Angst ihres Schwiegervaters vor Neuerungen versperren ihr lange das Dazugehören in der Großfamilie. Drei Generationen leben unter einem Dach.

An den Stirnseiten des Familientisches sitzen sie sich gegenüber, Vater und Großvater, in meiner Kindersicht die neue und die alte Welt. Wenn der Machtkampf ausbricht, in lauten Worten, im tagelangen verbissenen Schweigen der Erwachsenen, wird jedes Mal mein Kinderglaube an das gute Leben erschüttert, das ich mir wünsche, an das ich mich klammern möchte. Ich spüre die Unversöhnlichkeit als Bedrohung. Während des Streits bin ich zumeist mehr auf der Seite meiner Eltern. Ihre Geschichte ist mir näher. Das Neue, die Zukunft. Das hat mit mir zu tun.

Ich fühle aber auch mit der alten Welt, mit dem Großvater. Die Wurzeln seiner Geschichte reichen weit zurück ins Dunkel der Vergangenheit. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte nicht unser Vater, sondern sein zweiter Sohn den Hof geerbt. Der aber ist als Soldat in Russland vermisst, und alle Hoffnungen auf seine Rückkehr haben sich zerschlagen. Unsere Eltern, die sich während der Kriegsjahre schon auf eine ganz andere Zukunft in der fürstlichen Kleinstadt eingerichtet hatten, übernehmen schließlich das ungeliebte Erbe, den kleinen Bauernhof, das Lebenswerk des Großvaters. Mein Vater folgt den Bedingungen der neuen Zeit, trennt sich nach und nach von der unrentablen Landwirtschaft und arbeitet in einem zweiten Beruf als Versicherungsvertreter. Gegen den Willen seines Vaters entschied er, dass die alte Lehmfachwerkhälfte unseres Doppelhauses abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden soll.

Wenige Tage vor dem Abriss begegne ich dem Großvater bei seinem letzten Gang durch das alte Haus. Ich trabe neben ihm her, aber er scheint mich gar nicht zu sehen. Er geht im stillen Gespräch mit sich selber von Raum zu Raum, und unten in der ehemaligen Tischlerwerkstatt seines Vaters, meines Urgroßvaters, stützt er sich mit einer Hand auf die Hobelbank und legt die andere, ohne hinzusehen, auf meine Schulter. Lange steht er reglos da und sieht durch das spinnwebverhangene Fenster auf den Hof hinaus.

Als vom alten Haus nur noch der hohe nackte Schornstein übrig ist und niedergerissen werden soll, müssen wir wegen Einsturzgefahr die notdürftig abgestützte Haushälfte verlassen. Trotz allen Zuredens und der eindringlichen Warnung der Bauleute lässt sich der Großvater nicht aus seinem Zimmer vertreiben. Die niederprasselnden Steine lassen die Erde erzittern, aber das Haus bricht nicht zusammen. In seinem Zimmer steht Großvater, die Arme auf das Fensterbrett gestützt, und sieht vorwurfsvoll auf uns hinunter. Die große Staubwolke beißt einen Moment lang in unseren Augen. Dann zieht sie über Wiesen und Wald davon.

3

Thiedemann und Winkler

Wir spielen Schlachtefest und Reitturnier. Mein Freund, der in der Dorfschule neben mir sitzt, ist auf einem Bauernhof zu Hause. Im Durchgang neben ihrer baufälligen Scheune rollen wir Matschwürste aus und lassen sie in der Sonne trocknen. Auf dem Grasstück vor dem Brennnesselmeer bauen wir einen Parcours mit drei, vier Hindernissen und schneiden uns Weidenstockpferde vom Baum. Er ist Fritz Thiedemann auf Meteor, ich Hans-Günter Winkler auf Halla. Wir sind Freunde, und wir sind Rivalen.

Die Nachmittage gehören uns, kein Erwachsener verplant unsere Zeit. Wir sind frei und kämen nie auf die Idee, uns über die Freiheit Gedanken zu machen.

Die Natur ist Wunder, die Natur ist grausam. Wenn das neugeborene Kalb schon nach kurzer Zeit auf wackligen Beinen die ersten Schritte wagt, ist da – ohne Worte – etwas von der unbegreiflichen Lebenslust in der Luft, die auch uns antreibt.

„Die dumme Sau“, sagt mein Freund eines Tages und zeigt mir im Stall das riesige Mutterschwein, das alle seine zwölf Ferkel totgebissen hat.

Manchmal kommen wir mitten im Spiel unverhofft auf Grundsätzliches, auf Unterschiede, die wir spüren und für die wir noch lange keine Wörter haben.

„Was alle tun, ist immer richtig“, sagt mein Freund. „Sonst würden es ja nicht alle tun.“

Ich empöre mich. „Dann bist du wie ein Schaf in der Herde.“

Mein Freund lässt sich nicht beirren. „Du willst ja nur was Besseres sein“, sagt er. Wir streiten uns heftiger als nach jedem fragwürdigen Hindernisabwurf.

Wer weiß schon, was richtig und was falsch ist? Gibt es dafür einen verbindlichen Gradmesser, der für alle gilt? Oder ist jeder sein eigener Richter?

Ich erfahre es zu meiner eigenen Beschämung: Zwischen guten Gedanken und guten Taten ist ein tiefer Graben. Auf dem Bauernhof lebt ein nach dem Krieg in Deutschland gebliebener Fremdarbeiter aus Rumänien als Knecht. Er spricht wenig und wenn, dann in gebrochenem Deutsch, so dass wir ihn manchmal hinter seinem Rücken nachäffen. „Der ist nicht ganz dicht im Kopf“, sagt mein Freund, „wenn du verstehst, was ich meine.“ Als Kinder einem Erwachsenen überlegen zu sein – es versetzt uns in eine bizarre Machtlust.

Ich weiß nicht mehr, wieso und wofür mir Johann ein Fünfmarkstück in die Hand drückt mit dem Auftrag, ihm irgendetwas aus dem Kaufmannsladen zu besorgen. Ich weiß nur noch, dass ich der Versuchung nicht widerstanden habe, den „dummen“ Johann bei der Geldrückgabe um fünfzig Pfennige zu betrügen.

Johann aber ist keineswegs schwachsinnig oder blöde. Mit Geld kennt er sich aus, und meinen Betrugsversuch durchschaut er sofort. Er nennt mich „Dieb“ und „Lumpenkerl“ und sicher noch viel Schlimmeres. Ich kann ihm nicht widersprechen. Ich kann nichts ungeschehen machen. Scham steigt in mir hoch. Meine idealistischen Träume sind beschmutzt.

In den Augen meines Freundes glaube ich einen Moment lang den Triumph des Siegers zu sehen: Von wegen besser sein. Bilde dir bloß nichts ein.

Einen Tag später hat er scheinbar alles vergessen, und wir sind wieder Freunde und Rivalen, wieder Thiedemann und Winkler. Wir legen die Hindernisstangen höher.

An einem sonnigen Frühlingstag gehen wir auf dem Weg von der Schule nebeneinander her und schmieden Pläne für den Nachmittag. Auf einmal bleibt mein Freund stehen, starrt in den wolkenlosen Himmel, verdreht die Augen, rudert mit den Armen durch die Luft und beginnt, am ganzen Körper zu zittern. Schaum steht vor seinem Mund.

Erschrocken rede ich auf ihn ein, aber offenbar hört er mich nicht, verkrampft die Arme und schwankt. In panischem Schreck umklammere ich ihn. Wenn er auf die Straße stürzt, kann das nächste Auto ihn überfahren.

Es kommt kein Auto, es kommt auch kein Mensch. Nur wir zwei sind auf der Welt. Ich bin verwirrt und ratlos.

Schließlich löst sich sein verspannter Körper ein wenig, und das Leben scheint wieder in ihn zurückzukehren. Ich rede, aber erreiche ihn nicht. Er lächelt, und es kommt mir vor, als wolle er mir sagen: „Habe ich alles nur für dich gemacht.“

Weil er immer noch unsicher auf den Beinen ist, stütze ich ihn. Langsam gehen wir weiter. Vor ihrem Hoftor will er mich loswerden, aber ich bringe ihn die große Steintreppe hinauf, und als seine Mutter die Haustür öffnet, erzählte ich ihr aufgeregt von dem Vorfall. Sie nickt nur, als wäre alles selbstverständlich, zieht ihren Sohn in den Hausflur und sagt zu mir: „Schon gut, Junge. Alles ist gut.“

Am nächsten Tag ist mein Freund wie er immer gewesen ist, aller Schrecken scheint unwirklich. Wir reden nie darüber. Der Alltag überwächst das Erlebte.

4

Bessermachen

Der Lokführer ist ein guter Zuhörer meines Vaters. Eingehüllt in Zigarrenqualm sitzen sie in der „Guten Stube“ am Tisch, mein Vater an der Stirnseite. Sie reden, nicken sich zu in ihrer Welt aus beißendem Qualm. Manchmal durchstößt eine Hand die Wolkenwand, manchmal zieht die zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmte Zigarre meines Vaters einen weiten Kreis, um die Stärke des angreifenden Feindes anschaulich zu machen. Manchmal fällt weiße Asche auf die Tischdecke, wie um keinen Zweifel zu lassen an den Folgen des erbitterten Kampfgeschehens.

Meine Mutter und die kleine, immer strickende Frau des Lokführers sitzen außerhalb der qualmenden Front und sprechen über Verlobungen und Hochzeiten im Dorf und über Kochrezepte.

Ich weiß nicht mehr warum, vielleicht um meine Dankbarkeit für die mitgebrachte Tafel Schokolade zu bezeugen, darf ich als Neun-, Zehnjähriger beim Lokführerbesuch am Samstagabend eine Weile mit dabei sein. Mit Angstlust sauge ich das Kriegsgeschehen in mich hinein, und immer, wenn mein Vater sagt: „Um ein Haar!“ – rieselt es mir den Nacken hinunter, und ich denke: Um ein Haar und ich wäre gar nicht auf der Welt. 1947 geboren, ist mein Leben Glücksache, Millimeterarbeit des Schicksals.

Wenn es den Frauen zu viel wird, sagt meine Mutter: „Nun hört aber mal auf!“

Dann kann es sein, dass sich der Nebel für eine Weile lichtet und mein Vater verstohlen Aschehäufchen von der Tischdecke wischt. Aber schon mit der neu angezündeten Zigarre setzen die Einschläge und Stellungskämpfe wieder ein und begleiten mich bis in meine Träume hinein.

Wenn am Sonntagmittag die Nachtischschälchen ausgelöffelt sind, verbietet es sich, vom Tisch aufzustehen, bevor der Vater das Signal dazu gibt. Auch Vaters Wort zum Nachtisch mündet meist im Kriegsgeschehen, jetzt in der lehrreich-abenteuerlichen Version, geeignet auch für Kinderohren.

Die große Schwester rutscht ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Der bewunderte große Bruder, fünf Jahre älter als ich und bester Tischtennisspieler der Dorfmannschaft, verzieht das Gesicht. Plötzlich platzt es aus ihm heraus:

„Warum hast du da mitgemacht?“

„Was? Wo mitgemacht?“ Überrascht mustert der Vater seinen ältesten Sohn.

„Warum habt ihr andere Länder überfallen? Polen, Frankreich, Russland?“

Vater holt tief Luft. Hoch erregt antwortet er: „Weil man uns das befohlen hat!“

„Befohlen, befohlen“, hält der große Bruder dagegen. „Und das mit den Juden? Hat man euch das auch befohlen? Sechs Millionen Menschen! Ermordet wie am Fließband! Nur weil sie Juden waren!“

Einen Moment lang denke ich, Vater verliert die Fassung, steht gleich auf und ohrfeigt den großen Bruder. Mutter legt ihm die Hand auf den Arm.

Vater schließt die Augen und sammelt sich. Mit mühsam beherrschter Stimme sagt er: „Davon haben wir nichts gewusst. Wir sind betrogen worden, ja. Das wissen wir heute. Ihr habt leicht reden. Ich wünsche euch nicht, dass ihr erlebt, was wir erleben mussten. Wir haben nur unsere Pflicht getan wie alle Soldaten überall auf der Welt, nur unsere Pflicht! Macht ihr das mal besser!“

Dieser Satz ist mir für immer geblieben: Macht ihr das mal besser!

Wie aber soll das gehen? Keiner Pflicht mehr genügen? Sich aus allen Bindungen lösen? Niemandem mehr trauen? Nicht mal dem eigenen Vater?

Ist jeder am Ende ganz allein auf der Welt? Muss, wer frei sein will, einsam sein können?

5

Zwei Welten

Ich weiß es, lange bevor ich Wörter dafür finde. Es gibt zwei Welten, die sich für immer unversöhnlich gegenüberstehen. Lange ist für mich das Dorf, sind Wald und Wiesen und das selbstgenügsame einfache Leben Bestimmung und Rahmen für alles, was da kommen wird. Das Paradies nennt unser Nachbar seinen Garten am Waldrand, und wenn ich oben auf dem vom Pferd gezogenen, vollgeladenen Heuwagen liege und in die Wolken und den blauen Himmel sehe, gibt es Momente von so wunderbarem Stillstand, die ich mir von niemandem und nichts zerstören lassen will.

Dann kommt ein vornehmer Herr aus der Stadt, der Vorgesetzte unseres Vaters, spricht von „verwilderten und bildungsfernen Landkindern“ und empfiehlt meinen besorgten Eltern das Abonnement einer Zeitschrift für die Jugend, aus der auch „schlichte Gemüter“ etwas lernen könnten. An den Namen der Zeitschrift kann ich mich nicht erinnern, nur, dass mir das Erniedrigende der Pflichtlektüre für längere Zeit den Blick ins Offene verstellt hat.

Für Bildung, Anstand und Sitte ist in unserer Familie der Onkel aus der fürstlichen Kleinstadt zuständig, der Bruder meiner Mutter. In der Vor- und Kriegszeit hatte mein Vater als junger Soldat vom Land von seinem zukünftigen Schwager das Lösen von Gleichungen mit zwei Unbekannten und auch sonst viel gelernt, so dass es sich von selbst verstand, des Onkels Kompetenz fürs Fortkommen auch in der Nachkriegszeit in Anspruch zu nehmen.

Kleine Aufbrüche, fast Abenteuer, sind die Wochenend-Familienbesuche mit unserem kühlwasserbedürftigen Kleinwagen Marke Champion in die Stadt zu Onkel und Tante, Cousin und Cousine und Oma Emma. Für uns Dorfkinder sind es auch Bildungsfahrten, bei denen Rüstzeug für ein gelingendes Leben eingeholt werden soll. Lange schambesetzt bleiben mir die Heimwehattacken am Anfang der ersten vier Ferienwochen, die ich allein bei Großmutter Emma verbringen soll. Zum ersten Mal fort zu sein von allem Vertrauten, Gewohnten, zum ersten Mal allein in der kleinstädtischen Benimm- und Konkurrenzwelt – meinem kindlichen Empfinden kommt es einer Vertreibung aus dem Paradies gleich.

Gemäß dem Familienbildungsplan soll ich als der jüngste von vier Kindern der erste sein, der ein Gymnasium besucht, Abitur macht, studiert, und so weiter und so weiter. Die Zeit, die späten fünfziger Jahre, erlaubt nun solche Pläne, und die Erwartung, dass ich die einwöchige Aufnahmeprüfung mit Glanz bestehen würde, ist groß. Gewöhnt an die Überschaubarkeit und die fast familiären Verhältnisse einer Dorfschule mit zwei Lehrern erwartet mich in der Probewoche die Wirrnis einer großen Schule, in der jede Klasse einen eigenen Raum hat, jede Schulstunde von einem anderen Lehrer unterrichtet wird. Nein, nicht jeder Lehrer ist ein Zyniker, nicht jeder suhlt sich in bildungsbürgerlichem Besserwissen und erschreckt mich mit seinem Hohnlachen über die Naivität der Landkinder. Nicht jeder. Aber von Tag zu Tag steigt die Angst in mir höher und blockiert das freie Denken. Als dann der Brief mit der Bestätigung meines Versagens eintrifft, mein amtlicher Ausschluss aus der „höheren“, der „besseren“ Welt, fasse ich den Entschluss: Nie wieder!

Wenn also der Transfer von der einen in die andere Welt nur unter Selbstverleugnung, wenn das Mehr- und Besserwissen nur unter Verhärtung oder gar Unterdrückung aller Gefühle zu haben ist, dann will ich eben für immer in meinem Dorf bleiben, auf dem Heuwagen liegen oder vom Waldrand in die Wolken schauen. Ich will nur der Welt zugehören, die mich ungeprüft akzeptiert.

Ich vergrabe mich in mich selbst, führe heftige innere Kämpfe gegen die Vereinnahmung durch die andere, die feindliche Welt. „Die Städter“ nennen wir Dorfkinder die wenigen Gymnasiasten und Mittelschüler voller Verachtung. Etwas Schlimmeres als „die Städter“ gibt es für uns kaum.

Mit der Zeit aber kommen Selbstzweifel. Allmählich steigt der Verdacht in mir auf, dass mir die Gewissheit des Gewohnten, die enge Welt des Dorfes, nicht ausreichen könnte. Ich füge mich dem elterlichen Willen, einen zweiten Anlauf zu nehmen, bestehe im nächsten Jahr die Aufnahmeprüfung zur Realschule. Fortan gehöre ich zu den „besseren Menschen“ zweiter Wahl. Gut drei Jahre lang bleibe ich ein Fremder in der Schul- und Stadtwelt, ein Fahrschüler, der sich nirgendwo zugehörig fühlt.

Das Schreiben ist es schließlich, das meinen Weltschmerz, meine Schwermut allmählich löst. Heimlich habe ich angefangen Gedichte zu schreiben, düstere Kurzgeschichten, einen moralisch-pathetischen Liebesroman. Alles muss von der Seele, auch wenn es gut gehütet nur auf dem Papier bleibt.

Ein glücklicher Zufall will es, dass eine Lehrerin, „ein verrücktes Huhn“ im Schülerjargon, eine ehemalige Journalistin, auf die Idee kommt, unsere Schule brauche eine Schülerzeitung. Trotz meiner weiterhin holprigen Schulleistungen oute ich mich als Schreiberling und werde ihr erster „Chefredakteur“. Ihr Vertrauen und ihr Enthusiasmus ebnen mir den Weg zu einer ganz neuen Zugehörigkeit. Als der Packen mit der ersten Ausgabe unserer Schülerzeitung von der Druckerei kommt, reißt unsere Lehrerin das Paket auf und wirft unter lauten Jubelschreien die Hefte im hohen Bogen in den Klassenraum. Damals ist es mir nicht bewusst, heute bin ich mir sicher: Für mich war das ein Initialschrei, die Geburtsstunde von etwas in mir, das mich schließlich ein Leben lang getragen hat.

Aber es war auch die Geburtsstunde eines immer deutlicher werdenden Widerspruchs: Beide Welten sind in mir, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ich muss sie toben und sich gegeneinander empören lassen. Frieden werden sie niemals geben.

6

Verwandlungen

Zu unserem Biologielehrer halten wir Abstand. Sein Glasauge gibt ihm etwas Strenges, Unnahbares, sein Unterricht ist nüchtern, mehr gefürchtet als geliebt. Eines Tages aber kommt er entgegen dem Lehrplan auf die Idee, uns in den letzten zehn Minuten vor dem Klingeln in Fortsetzungen aus seinem Lieblingsbuch vorzulesen. Es heißt Die Heiden von Kummerow, ist eine Dorfgeschichte aus Vorpommern, handelt von Gerechtigkeit, von naiven jungen Menschen wie mir. Unter der Oberfläche der humor- und gemütvoll erzählten lebensvollen Handlung ist deutlich auch das Abgründige spürbar. Die ersten zwei Sätze: Die Geschichte beginnt mit einer traurigen Angelegenheit, es ist nicht zu ändern. Mutter Harms wollte sterben.

Ein Wunder geschieht: Der gefürchtete, strenge Lehrer verwandelt sich während des Vorlesens in einen Jungen meines Alters. Zum ersten Mal bekomme ich eine Ahnung davon, was es heißt, in einer Geschichte zu Hause zu sein, das Eigene mitspielen zu lassen inmitten der Bilder und Gedanken, die ein anderer in anderer Zeit an anderem Ort zu Papier gebracht hat. Ich kaufe mir das Buch, lese es heimlich, verborgen vor meinen Geschwistern, vor meinen Eltern, lache und weine. Ich entdecke ein neues Land. Ein Land, das in mir liegt.

Kaum habe ich es entdeckt, weiß ich, dass ich es verteidigen muss und mit ihm die Menschen, die von ihm wissen. Den Biolehrer zum Beispiel gegen die, die ihn wegen seines gestenreichen Vorlesens verspotten. Und mit der Zeit finde ich heimlich Verbündete, Menschen, die scheinbar von alledem wissen. Menschen, von denen ich annehme, dass sie Umgang haben mit dem Geheimnis der Verwandlung.

Unser Religionslehrer Rudolf Otto Wiemer zum Beispiel. Es heißt, er sei Schriftsteller. Ich kenne keines seiner Bücher. Aber ich spüre, dass etwas Verletzliches an ihm ist. Manche seiner Lehrerkollegen können sich nicht verkneifen, hin und wieder spitze Bemerkungen über ihn loszuwerden. Ich verteidige ihn innerlich, auch wenn ich mich in seinem Unterricht eher langweile.

Lehrer Hoppenrath dagegen ist ein guter, wenn auch strenger Lehrer. Er rettet mich in schwerer Krisenzeit allein dadurch, dass er es immer wieder versteht, Neugier und die Funken der Schaffensfreude in mir anzufachen. Aufsätze schreiben, Referate halten: Hoppenraths Lob und Tadel sind mir Wegweiser in meinem neu entdeckten Kosmos. Seine Fähigkeit zuhören zu können, seine Ernsthaftigkeit, sein Humor – alles an ihm gibt mir die Gewissheit, dass er lange schon in meiner geheimen, anderen Welt unterwegs ist. Viel später – lange nach meiner Schulzeit – habe ich erfahren, dass Kurt Hoppenrath Jahre vor unserer Begegnung zur Figur in einem Roman geworden war, den Uwe Johnson – sein ehemaliger Schüler in Güstrow – geschrieben hat.

Wie gefährdet aber unser Kosmos der Wörterlust, der Gedankenreisen und der Schaffensfreude ist, erfahre ich schon bald. Realschüler, so heißt es in den Reden zu Schulfeiern, stehen mit beiden Beinen auf der Erde, sind nützliche Mitglieder der Gesellschaft. Sie sind Praktiker, werden nach der Schulzeit Banklehrling, Vermessungstechniker, Kaufmann. Um seine Schülerinnen und Schüler auf die sie erwartende Welt vorzubereiten, hat sich der Rektor unserer Schule etwas Besonderes ausgedacht. Eines Tages erscheint er in unserer Redaktionskonferenz und verkündet: „Die Schülerzeitung wird – ganz wie in der Marktwirtschaft – zur Aktiengesellschaft.“ Als Startkapital legt er 300 DM auf den Tisch. „Jede Aktie hat einen Wert von einer Mark“, erklärt er uns. „Eine Aktie, eine Stimme.“ Wenn er also bei künftigen Entscheidungen die Schülerzeitung betreffend die Hand hebt, hat der Rektor 300 Stimmen. Mehr als jeder Schüler jemals auftreiben kann.

Wir protestieren heftig.

Der Rektor lächelt. „So ist das in der freien Wirtschaft“, sagt er. „Wer Geld hat, schafft an. Das könnt ihr nicht früh genug lernen. Seinen Nutzen erkennen, schneller sein, besser sein – so funktioniert die Welt. Für Träume und schöne Gedanken kann sich keiner was kaufen. Wach sein müsst ihr, auf Vorteil bedacht …“

Es ist das erste Mal, dass ich mich gegen die Mechanik der Geldwirtschaft empöre. Es ist das erste Mal, dass ich meine Hilflosigkeit deutlich spüre. Wenn am Ende alles vom Geld abhängen soll, was zählt dann der freie Wille? Sind wir nur Marionetten und geben aus der Hand, was uns von innen bewegt?

Das pädagogische Exempel unseres Rektors hat seine aufklärerische Langzeitwirkung: Die heimliche Entwertung von allem Schönen und Guten. Mitkommen heißt die Devise. Tun was alle machen.

Aber es gibt die andere Welt. Die leise, verletzliche. Sie scheint mir die eigentliche. Die, zu der ich gehören will.