Zeit für Astronauten - Nils Mohl - E-Book

Zeit für Astronauten E-Book

Nils Mohl

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Beschreibung

Was ist härter – noch nicht ganz 16 zu sein oder schon Anfang 20? Körts, eine schräge Gestalt aus den Riegeln am Stadtrand, trägt seit neuestem gebügelte Hemden. Das Schülerpraktikum absolviert der 15-Jährige im Reisebüro des Einkaufszentrums. Er träumt von seiner früheren Nachbarin Domino, rund fünf Jahre älter als er und für ihn praktisch unerreichbar. Die wiederum bekommt eines Tages eine rätselhafte Postkarte von ihrem lang verschollenen Mitbewohner Bozorg. Die Spur führt an den Rand des Kontinents, 3000 Kilometer weit im Süden. Lebenswege kreuzen sich, die Vergangenheit drängt sich in die Gegenwart, ein Countdown beginnt zu laufen – und die Frage bleibt: Wo geht die Reise hin, wenn plötzlich alles auf dem Spiel zu stehen scheint?

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Seitenzahl: 334

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Nils Mohl

Zeit für Astronauten

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Was ist härter – noch nicht ganz 16 zu sein oder schon Anfang 20? Körts, eine schräge Gestalt aus den Riegeln am Stadtrand, trägt seit neuestem gebügelte Hemden. Das Schülerpraktikum absolviert der 15-Jährige im Reisebüro des Einkaufszentrums. Er träumt von seiner früheren Nachbarin Domino, rund fünf Jahre älter als er und für ihn praktisch unerreichbar. Die wiederum bekommt eines Tages eine rätselhafte Postkarte von ihrem lang verschollenen Mitbewohner Bozorg. Die Spur führt an den Rand des Kontinents, 3000 Kilometer weit im Süden. Lebenswege kreuzen sich, die Vergangenheit drängt sich in die Gegenwart, ein Countdown beginnt zu laufen – und die Frage bleibt: Wo geht die Reise hin, wenn plötzlich alles auf dem Spiel zu stehen scheint?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nils Mohl, 1971 geboren, ausgezeichnet u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, schließt mit diesem neuen Roman die große Liebe-Glaube-Hoffnung-Trilogie ab, die mit «Es war einmal Indianerland» begonnen und mit «Stadtrandritter» fortgesetzt wurde. Jeder Teil steht für sich allein – und doch entwerfen sie alle zusammen eine einzigartige Welt, die von dem unvergleichlichen Abenteuer erzählt, jung zu sein.

Inhalt

[Dank]

[Widmung]

Futur II

Für diesen Roman [...]

|Körts

|Freitag, 6. Mai

|zurück: Anfang April, gut einen Monat zuvor

[Kapitel]

Futur II

[Kapitel]

|zurück: Mitte Juni, im Jahr zuvor

|Samstag, 7. Mai

|zurück: Anfang Januar, vier Monate zuvor

[Kapitel]

Futur II

|Sonntag, 8. Mai

|Domino

[Kapitel]

|zurück: 1. April, knapp sechs Wochen zuvor

[Kapitel]

Futur II

|Donnerstag, 12. Mai

|zurück: letzte Woche Freitag

[Kapitel]

Futur II

|Freitag, 13. Mai

… 10

|Samstag, 14. Mai

… 9

|Samstag, 14. Mai

… 8

|Samstag, 14. Mai

|Bozorg

|Montag, 18. April

|zurück: Oktober, vorletztes Jahr

|Sonntag, 24. April

Futur II

|Freitag, 29. April

|zurück: Oktober, vorletztes Jahr

|Samstag, 7. Mai

|zurück: Neujahr, vorvorletztes Jahr

|Freitag, 13. Mai

Futur II

|Samstag, 14. Mai

… 7

|Samstag, 14. Mai

… 6

|Samstag, 14. Mai

… 5

|Samstag, 14. Mai

… 4

|Sonntag, 15. Mai

… 3

|Sonntag, 15. Mai

… 2

|Montag, 16. Mai

… 1

|Montag, 16. Mai

… 0

|Montag, 16. Mai

|Später …

|KÖRTS

|TILLER

|CHRISTOS

|HHR

|JACKIE

|ANGELA KÖRTS

|DOMINO

|DIE DOS SANTOS [...]

|ULLA

|ADIL

|DIE KATZE

|RIKKI UND ROULIS

|JO

|DR. ZULI

|Nachrichten über Leben und Tod …

|Montag, 16. Mai

|Dienstag, 17. Mai

|Und ganz am Ende …

|Dienstag, 17. Mai

Futur II

Soundtrack

Der Autor dankt der Bodenstation: Industry Style (Max Reinhold), Manhattan

für Finn, Minnie und Nike

Sie werden gelebt haben.

Futur II

Für diesen Roman standen, behelfsweise, der Hamburger Stadtteil Jenfeld sowie ein rund 2700 Kilometer entfernter Landstrich auf dem Peloponnes Modell. Beliebtes Urlaubsziel ausländischer Gäste: Meer, Sandstrände, mediterranes Klima. Die fiktiven Schauplätze sollten mit den realen aber nicht verwechselt werden. Gleiches gilt für die handelnden Personen. Leben, Ansichten, Träume und Sonnenbrände aller Figuren sind freie Erfindungen: Jeder Reisebericht aus der Wirklichkeit bildet nicht einfach bereits Existierendes ab, sondern erschafft Welt. (So die Hoffnung.)

|Körts

|Freitag, 6. Mai

Ein unschuldiger Morgen am Stadtrand, also. Offiziell längst Frühling. Was man auch am Licht merkt. Wie es mit dem Beton der Hochhausriegel und noch mehr Hochhausriegel ringsum Geometrie betreibt.

Häuserschatten.

Scharfe Schatten.

Grün meldet sich in Büschen und Bäumchen zurück, grell und satt und frisch, durchsetzt mit Sprenkeln und Tupfern: Giftgelb Brautweiß Filzstiftrosa Tuschkastenorange Zirkuslila.

Raketensalven der Natur, schallgedämpft abgefeuert.

In die Lebewesen der Gegend kommt mehr und mehr Wallung, dass es überall nur so amselt und zwitschert und hummelt seit Tagen.

Das alles unter einem Himmel, an dem es nichts zu meckern gibt, der sich heute mit Maiwölkchen wie aus dem Prospekt dekoriert hat, der ein prima Sonnenbrillenargument liefert.

Körts verspiegeltes Modell sitzt schief im Gesicht. Ein prallbackiges Jungengesicht: glatt wie ein Pfirsich. Körts stupst gegen den Brillensteg. Das klobige Hörgerät hängt dem Bügel rechts im Weg. Nichts zu machen.

8.30 Uhr.

Vielleicht ein paar Minuten eher, vielleicht ein paar Minuten später.

Jedenfalls … die letzte Welle Berufsverkehr rollt, und die Schülerhorden sind inzwischen durch. Das macht es leichter, den Platz im Blick zu behalten, wo diese abstrakte Skulptur in der Sonne blitzt. Silbrige Elemente fügen sich zu einem lichten, kubistischen Großgebilde, das auf massivem Sockel ruht. Wie der Baum aus einem Science-Fiction-Film. Da soll das Geschäft gleich laufen.

Stichwort: Raketensalven.

– Du, Kevin!

Körts vernimmt den Ruf hinter sich.

Im Rücken, in Spuckweite, wenn er sich umdreht: Cems Markt, Zwitter aus Stehcafé-Kiosk und Gemüseladen. Dort deckt man sich vorm Unterricht mit Kaltgetränken Knabberartikeln Süßwaren ein. Meist belegt dann schon ein Trio Lederjackensenioren einen der Bistrotische. Frühschoppen.

Körts dreht sich nicht um. Ächzt stattdessen vor sich hin:

– Du Riesenbaby, Adil …

Körts reagiert nicht auf seinen Vornamen. Was wohl auch Adil wieder eingefallen sein muss. Denn, nächster Versuch:

– Körts! He, ich brauche dich mal eben.

Körts’ Kinn sinkt kurz auf die Brust, bevor er sich erbarmen lässt. Adil kämpft mit dem Portemonnaie. Sein Daumen steckt in einem pompösen Verband. Körts schnappt sich die Geldbörse und übergibt seinen Posten an Adil, deutet mit zwei gespreizten Fingern abwechselnd auf dessen Augen und die Metallbaum-Skulptur:

– Nur dahin gucken, nicht in die Wolken glotzen und nicht auf deine Latschen, einfach nur dahin! Kriegst du das geregelt?

– Warum sollte ich auf meine Latschen glotzen?

– Du trägst zwei unterschiedliche Turnschuhe, darum.

– Ist ein Test, oder?

– Nö, Adil, kein Test.

– Im Ernst?

– Nicht nach unten gucken!

Adil trägt wirklich zwei unterschiedliche Turnschuhe und hat es nicht gemerkt. Körts betritt Cems Markt: Kühlschränke, Gemüseregale, Cem mit kaltem Zigarrenstumpen zwischen den Zähnen. Bei ihm am Tresen schlürft ein kompakter Mann Kaffee. Arbeitsklamotten, Klempner-Schirmmütze, Tochter dabei. Cem:

– Bildhübsche Tochter hast du. Sieht gar nicht aus wie Papa.

Dreckiges Cem-Lachen.

Der Kaffeeschlürfer drückt sich die Tochter gleich mal fest in den Arm:

– Die Süßeste in der ganzen Gegend. Wird langsam flügge.

Ein Veilchen hat die Süßeste unterm Auge. Sieht man. Trotz der Schminkorgie. Rötlich bemalte Wangen, Lidschatten pink, schwarz umrandete Augen, körniger Lippenstift.

– Hi Kevin, wie läuft’s?, sagt die Süßeste.

Und linst zu Körts rüber, hinweg über das Klatschmagazin, in dem sie nebenbei blättert.

In Körts’ Jahrgang machen gerade alle Praktikum. Sie vermutlich im Nagelstudio oder Friseursalon. Oder Puff. Wo Papa sie gleich absetzen wird. Körts nickt der aus der Parallelklasse kaum merklich zu. Ihren Namen hat er gerade nicht parat. Dieser Parfümnebel.

– Der Stoff für Adil, sagt Körts zu Cem.

– Aye aye, Commander, sagt Cem zu Körts.

Reicht ihm die Papiertüte mit dem Gebäck. Außen zeichnen sich bereits Flecken vom Zuckerguss ab. Körts zahlt, Sonnenbrille immer noch schief auf der Nase. Die Süßeste meldet sich zu Wort.

– Heute frei im Reisebüro?, fragt sie Körts.

Das Klatschmagazin jetzt fest an die Brust gedrückt. Ein prominenter Schauspieler grinst vom Titelblatt herab. Grübchen im kantigen Kinn. Perfekte Zahnreihen. Verschattete Augen. Der Polarisierer! Das große Interview – über Erfolg, Feinde und wer künftig die Hauptrolle in seinem Privatleben spielt!

– Oha, Praktikum im Reisebüro, sagt der Klempner, ist das nicht was für Röckchenträger? Bleistifte anspitzen, Kataloge sortieren und so Zeug.

Körts dreht am Hörgerät. Mit Bei-mir-kommt-gerade-nicht-viel-an-Miene. Stirn in Falten. Cem hebt die Hand zum Abschied:

– Commander!

Körts hört im Rausgehen noch den Klempner fragen:

– Commander?!?

Cem, bestens aufgelegt:

– Jeden Tag jetzt gebügeltes Hemd. Vielleicht mal einer für deine Kleine. Der will nach oben.

– Pffah.

Auch das hört Körts noch. Plus: wie ein Schluck Kaffee zurück in einen Becher geprustet wird.

Was für ein Planet!

Wo hat man ihn, Commander Körts, hier nur abgesetzt?

Körts hat immer schon in den Hochhausriegeln rund um das Einkaufszentrum gelebt. Früher waren die Fassaden aus Waschbeton. Nach und nach wurde saniert und damit alles bunt.

Die Leben der Bewohner blieben, wie sie immer waren. Grau.

Die Lederblousons der Senioren vor dem Kiosk sind braun. Kackbraun.

Körts übergibt Adil die Papiertüte und befragt das Trio, ob sich etwas Auffälliges getan hat, während er im Kiosk war. Müdes Verneinen. Unterlippen, die feucht vorgeschoben werden.

– Aber geiles Oberhemd, sagt der eine Alte, schniekes Teil, nur, warum machst du oben am Hals nicht einmal einen Knopf auf, Sportsfreund?

Körts lässt nicht locker:

– Zwei Typen mit einem mickrigen Hund, sagt er, nichts gesehen?

Adil macht sich bereits über das Gebäck her.

– Die waren noch nicht da, vermeldet er kauend, hätte ich dir auch sagen können.

Der eine Alte wieder zu Körts:

– Geile Sonnenbrille und geiles Oberhemd, wirklich. Von deinem Opa?

Körts zu Adil:

– Du hast unter Garantie wieder in die Wolken gegafft. Du gaffst immer hoch. Selbst wenn kein Flugzeug fliegt, selbst wenn keine Zugvögel da oben unterwegs sind, gaffst du rauf.

– Ich schwör’s, die ganze Zeit nur auf den Platz, nuschelt Adil.

Körts nimmt die breiten Stufen runter zur Straße. Am Fuß der Treppe, bei den Findlingen, an denen die Hunde gerne das Pinkelbein heben, fällt Körts auf, dass er Adils Portemonnaie noch immer in der Hand hält.

Adil folgt Körts bei Rot über die Straße.

Körts baut sich an der Skulptur auf.

Diese Schatten: Kanten wie mit dem Lineal gezogen.

– Hast du das überhaupt gemerkt, sagt Körts zu Adil, du nimmst dein Gebäck. Und das Portemonnaie? Das Portemonnaie ist dir egal.

– Ich vertrau dir.

– Weißt du, was? Du interessierst dich überhaupt nicht für Geld. Du solltest dir ernsthaft Sorgen um deine Zukunft machen.

Ein Gebäckkrümel baumelt an Adils Nase.

Adil Suleman: Körts’ Klassenkamerad und Nachbar. Ein Lulatsch mit müden Knopfaugen wie ein Ameisenbär. Die Nase wirkt zu groß für sein Gesicht. Adil könnte eins a den Nebendarsteller in einem dieser uralten Sandalenschinken mimen. Diese Art Film, die abends manchmal auf den Sendern läuft, von denen kein Mensch weiß, wer die wohl guckt.

Vielleicht liegt es auch an Adils breiten Augenbrauen.

Aber: Brillie im Ohr.

Und riecht immer nach Kokosseife.

Kokosseife.

– Ich mache mir laufend Sorgen um die Zukunft.

– Tust du nicht.

– Doch. Weil, ich komme nie dort an.

– Der ist gut, Adil, sagt Körts.

Krümmt einen Zeigefinger, klemmt den Fingernagel fest gegen die Daumenkuppe. Hebt die Hand.

– Autsch!, sagt Adil.

Körts hat ihm den baumelnden Krümel weggeschnippt, dabei auch Adils Nase erwischt. Er gibt das Portemonnaie zurück. Bringt das Thema dann auf die Süßeste aus Cems Markt. Seine knochenfeste Überzeugung: Jungs von fast 16 Jahren sollten sich für alles interessieren, was mit den Geschlechtern und deren kompliziertem Verhältnis zu tun hat. Ganz natürlich. Er fängt an:

– Heißt die nicht wie diese eine Sängerin von früher? Mireille?

Adil zuckt mit den Schultern.

– Kann sein.

Körts schraubt an seinem Hörgerät.

– Kann sein? Das ist alles? Mehr fällt dir nicht ein? Wenn du so weitermachst, kann ich dir genau sagen, was später kommt. Mehr Schmerz nämlich vor allem. Richte dich schon mal drauf ein.

– Ich kenne mich mit Sängerinnen von früher nicht so aus.

– Darum geht’s doch gar nicht. Was ist bloß los mit dir, Adil?

Adil tastet mit dem bandagierten Daumen die Nasenspitze ab:

– Die Woche war hart. Das Praktikum. Mitten in der Nacht aufstehen …

– Und sich mit dem Cutter in den Finger säbeln, sagt Körts, und das gleich am zweiten Tag. Dann erst einmal krankfeiern. Hart, du sagst es. Und jetzt lass mal deinen Zinken in Ruhe. Da hing ein Krümel.

– Ich habe drei Tage in der Frühschicht Kartons gefaltet, ich habe nur einen halben Morgen gefehlt nach dem Unfall, mehr nicht, und helfe seitdem im Lagerverkauf aus. Weißt du doch.

– Bravo. Glück gehabt. Richtig Glück.

Adil spuckt sich sofort doppelt über die linke Schulter. Aberglaube. Eine Sache, die Körts immer fasziniert hat: Sobald er dies eine Wort ausspricht, spuckt Adil sich über die Schulter. Adil mault:

– Du hast heute frei. Ich nicht.

– Roger! Ich habe frei. Dafür arbeite ich morgen. Am Samstag. Doch jetzt zum eigentlichen Thema. Sprechen wir über Mireille. Oder wie immer sie auch heißt.

– Die da eben aus Cems Markt, sagt Adil.

– Exakt, genau die, sagt Körts, das dralle Klempnertöchterchen, das gerochen hat, als wäre sie vorhin an einer Parfümerie entlangmarschiert, als dadrin plötzlich ein Sprengsatz hoch ist. Fette Explosion. Das ganze Sortiment zerdeppert. Pamm!

– Und? Stehst du vielleicht auf die, Kevin?

Adil guckt so teilnahmslos wie ein Stopp-Schild.

– Bist du irre! Die hatte ein blaues Auge. Entweder macht die mit so einem Prügelmacker rum oder der Vater langt gerne mal zu. Hier war bei der alles richtig bunt.

Körts hebt kurz die Sonnenbrille und zeigt die Stelle.

– Üble Geschichte, sagt Adil.

– Weißt du, was echt übel ist? Die kennt meinen Namen. Die kennt meinen Namen, und die weiß auch, wo ich Praktikum mache. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?

– Nein.

– Ich auch nicht. Aber eins steht mal fest: Die hat Informationen über mich gespeichert. Stell dir das mal vor. Auweia, meine Eier! Vielleicht steht die auf mich.

Adil nimmt den letzten Happs. Knüllt die Papiertüte zur Kugel.

– Kann man nie wissen, sagt er, kann ja immer passieren, dass es bei jemandem funkt, und das bleibt absolut einseitig.

– Demnächst habe ich dann vielleicht ihren Prügelmacker am Hals. Oder den Klempnerpapa. Dabei würde ich mir von der Süßesten vermutlich nicht mal umsonst einen blasen lassen. He! War das eine Anspielung?

– Wegen was?

– Von wegen, dass es bei jemandem einseitig funkt. Ich dachte für eine Sekunde, vielleicht spielst du ja auf eine gewisse Person an, bei der meine Wenigkeit vor einiger Zeit mal unglücklich abgeblitzt ist.

Adil macht mit dem bandagierten Daumen und seinem Zeigefinger eine Handbewegung, als schlösse er seine Lippen wie einen Reißverschluss.

– Keine Anspielung.

Körts:

– Vielleicht meinst du, die Sache mit Mireille oder Monique oder was weiß ich, wie die heißt, das wäre sozusagen Ironie des Schicksals. Aber zur Erinnerung: Die fragliche Person, um die es mir ging, war liiert seinerzeit. Und ich sage dir, Domino ist jetzt über ein halbes Jahr solo. Guter Zeitpunkt, um noch einmal anzugreifen. Beste Aussichten. Schätze ich.

Adil gönnt seinen Gesichtsmuskeln eine weitere Pause. Macht nur:

– M-hm.

– Was soll das nun wieder heißen, Adil? Willst du mir vielleicht erzählen, Mireille-Monique wäre eine Alternative? Soll ich dir mal die Brustwarzen umdrehen? Vielleicht stehst du ja drauf.

Körts macht Anstalten, Adil zu kneifen. Der wehrt ihn ab:

– Ich will dir gar nichts erzählen. Nur: Schon vergessen, wie du damals ordentlich den Kopf gewaschen bekommen hast von deiner Mutter?

– Und?

– Und wollte sie ihn dir nicht sogar abreißen, wenn du dich nicht von Domino fernhältst?

Körts:

– Was ist klein, rot und dreht sich?

Er kneift nun doch zu.

– Au, sagt Adil.

– Angekommen in der Zukunft, sagt Körts, so!

Dann lockert Körts die Schultern und schraubt wieder am Ohrkasten. Er verschränkt die Arme. Adil:

– Immer Stress wegen dieser Domino. Merkst du das?

– Für mich ist der Altersunterschied kein Problem, sagt Körts, wenn sie jetzt, was weiß ich, 42 wäre. Aber was bitte sind schon fünf Jahre? Ein Witz. Vier lausige Jahre und ein paar Monate. Ich bin inzwischen gereift.

– Bitte sag, dass das nicht wieder von vorn anfängt, Kevin.

– Die Mädchen der Gegend kennen meinen Namen. Richtig? Ich werde demnächst 16, Adil. Trage gebügelte Hemden. Es ist an der Zeit, sich bei Domino zurückzumelden. So weit der Plan. So weit der Stand der Dinge. So weit, so weit. Es wird ein Feuerwerk gezündet. Jetzt weißt du es.

Adil reibt sich gedankenverloren die Brust.

– Feuerwerk?!

– Raketen, Adil. Raketen. Deswegen haben wir hier Posten bezogen.

|zurück: Anfang April, gut einen Monat zuvor

Erst nach dem dritten Klingeln öffnet sich die Wohnungstür. Im Spalt, den die eingeklinkte Sicherungskette erlaubt, sieht Körts die wuchtige Hornbrille, dahinter bläuliche Augenringe: Heinrich Himmelein-Roden.

– Ich dachte schon, es wäre wieder eines dieser Gören. Weißt du, warum die klingeln? Die konsumieren Rauschgift. Die wollen in die Keller, Klebstoff schnüffeln.

Körts:

– Ihre Einkäufe. Nun lassen Sie mich schon rein.

In der Wohnung riecht es, wie es in ungelüfteten Wohnungen eben riecht, nach Fenster zu und Wäschetonne, und das alles mollig warm. Ein Geruchsandenken, das Körts jedes Mal mitnimmt und das ihm für ein paar Stunden bleibt.

Körts, in Trainingsanzug und Daunenweste, trägt die Tragetüte in die Küche. Graubrot Honig Mettwurst Schnittkäse Klopapier. Das Übliche.

– Wechselgeld ist für dich, Kevin Körts.

Der Alte schneidet eine Grimasse. Die blasse Gesichtshaut an Stirn und Wangen wie benutztes Backpapier, dünn und knittrig.

– Guter Versuch, sagt Körts, merke ich mir.

Er präsentiert den Bon. Er hat vorgeschossen. HHR legt ein bisschen Trinkgeld drauf, als er die Rechnung begleicht. Wie gehabt. Der Alte:

– Dank dir, mein Junge. In ein paar Wochen streiche ich hier endgültig die Segel. Ich werde dich tatsächlich vermissen. Wirklich leiden kann ich dich zwar nicht, aber du bist nicht auf den Mund gefallen. Das gefällt mir.

Auf altmodischen Hausschuhen und im obligatorischen Tweedjackett schlurft HHR ins Wohnzimmer, plumpst in den Sessel mit dem verstellbaren Fußteil. Faltet die Hände im Schoß. Gerade Haltung. Sitzt da, in diesem dunklen Raum, an dessen Wänden überall Regale bis unter die Decke emporgewachsen zu sein scheinen. Bücher und Tinnef.

– Mir bricht das Geschäft weg, sagt Körts, erst Almut, dann Tatterbernd, dann die künstliche Hüfte aus Nummer 10. Und jetzt Sie! Und ich brauche noch einen Anzug für das Praktikum.

– Die gute Almut.

Himmelein-Roden verschluckt sich beim kehligen Lachen. Körts klopft ihm hilfsbereit zwischen die Schulterblätter. Nicht sauber rasiert heute, der Alte, silberne Stoppeln überziehen das Kinn, aus der Nase ragen ein paar lange, weiße Haare. Körts so:

– Die gute Almut, genau. Musste sie auch die Pantoffeln auf die heiße Herdplatte stellen, um die Küche halb abzufackeln?

HHR fängt wieder das Husten an:

– Gib mir mein Asthmaspray!

Körts übertreibt bei der Geschichte, wenigstens ein bisschen. Einen großen Feuerwehreinsatz gab es zwar nicht. Was aber stimmt: Der Pantoffel war hinüber. Bis letzten Herbst hat er Almut zwei Mal die Woche ins Eiscafé begleitet. Beim letzten Treffen hat sie ihm gegen die Nasenspitze getippt: Dudidudidu!

Und ins Heim.

Almut war die erste Alte, die Körts aufgesucht hat, um ihr unter die Arme zu greifen. Teil des Konfirmandenunterrichts zunächst, eine Idee des Pastors, um einsamen Menschen im Stadtteil zu helfen. Wie sich rausstellte, durchaus lukrativ. Körts blieb dabei, kümmerte sich um den Ausbau seiner Kundschaft, die ihm nun nach und nach wieder abhandenkommt.

Jetzt also auch HHR.

– Was machen Sie da? Sie wollen sich doch wohl nicht zudecken. Hier drinnen herrscht locker Schwimmbadtemperatur.

Der Alte winkt ab. Wirft die grün-rot karierte Wolldecke über die Beine. Auf der Lehne liegt ein stark angegilbtes Taschenbuch: Kometen-Brevier für jedermann. Auf dem Cover: ein Schweif vor nachtblauem Himmel.

HHR schaut zum Fenster.

Kein Komet.

Kein Nachthimmel. Richtig hell ist es aber auch nicht. Die Aprilwolken lassen sich hängen wie zerfaserte, nasse Lappen. Nicht weit darunter die Türme des Einkaufszentrums. Von der Sonne in Jahrzehnten ausgeblichen, vom Regen verwaschen. Himmelein-Roden:

– Warum verbringe ich meinen Lebensabend nicht im Süden?

– Zu hohes Hautkrebsrisiko?

– Kevin Körts, du solltest schnellstmöglich das Weite suchen. Das ist das, was ich an deiner Stelle machen würde. Reisen! Auswandern! Bloß weg!

– Großstadtleben. Gibt härtere Schicksale. Ich weiß nicht, was Sie immer haben.

– Kurz nach der Mondlandung bin ich hier eingezogen. Damals ein Ort der Hoffnung. Fließend warmes Wasser. Gab’s nicht überall in der Stadt. Inzwischen allerdings: ein schlechter Ort, um hochtrabende Erwartungen zu haben. Ein guter Ort, um auf die schiefe Bahn zu gelangen. Oder zum Verrecken. Schnüffelst du auch Klebstoff im Keller? Nimmst du Drogen?

– Das fragen Sie mich jedes Mal. Weniger als Sie.

Die vage Andeutung eines Lächelns auf dem Furchengesicht:

– Weißt du, warum ich junge Menschen nur schwer ertragen kann? Weil mir nicht passt, wie euereins die Jugend achtlos verplempert. Was würde ich damit anfangen!

– Meinen Sie jetzt, ich sollte mehr Drogen nehmen? Davon abgesehen: Sie hatten Ihre Chance, richtig?

– Na, ich weiß nicht. Soll ich dir jetzt mit Kriegsgedöns kommen? Mit den Storys, wie wir damals eine Stunde lang barfuß durch den Schnee zur Schule latschen mussten? Jeden Tag Sauerampfersuppe. Vergiss es.

HHR schnaubt trotzig die Verachtung durch die Nase. Körts dreht am Hörgerät und wechselt das Thema:

– Wir könnten mal lüften. Was meinen Sie?

Körts öffnet das Fenster auf Kipp. Regengepladder. Ein erfrischender Hauch Kühle. HHR zieht die Decke höher an die eingefallene Brust. Dann so:

– Ich habe mir was überlegt, Kevin. Ich habe mir sogar mehrere Dinge überlegt. Kannst du bügeln?

– Sie meinen, mit einem Bügeleisen?

– Ich bring’s dir bei. Das ist das eine. Damit bleiben wir im Geschäft. Du besuchst mich in meinem neuen Domizil bei den ganzen dementen Pfeifen und bügelst die Hemden für mich. Ich wette, ich verschaffe dir in kurzer Zeit noch zusätzliche Aufträge, wenn du dich halbwegs anständig machst.

– Muss ich dabei so weiße Handschuhe tragen? Sie wissen schon, wie früher die Butler.

– Du musst ab sofort gebügelte Hemden tragen! Das habe ich mir auch überlegt. Wir haben, wenn ich mich nicht völlig irre, dieselbe Konfektionsgröße, du und ich. Du bekommst deinen Anzug von mir. Und Hemden.

In dem dämmrigen Raum brennt kein Licht.

– Für Ihren Humor habe ich echt was übrig, Herr Himmelein-Roden.

Körts kann in der Tat nicht einschätzen, ob der Alte grinst oder nicht.

– Hast du schon mal Oberhemd getragen?

– Niemand in meinem Alter, den ich kenne und der zurechnungsfähig wäre, trägt Hemden, also nicht die Art Hemden, die Sie tragen. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber sind Ihre Sachen nicht ein bisschen aus der Mode?

Der Alte muss sich in seiner Erregung auf den Sessellehnen abstützen:

– Ich habe tadellose Anzüge, sehr gute Anzüge. Ich habe stapelweise teure Hemden. Klassische Schnitte kommen nie aus der Mode. Mach mich nicht wütend. Lass mich dich nicht daran erinnern, wie kläglich deine Erfolge bei der Damenwelt bisher waren. Oder herrscht neuerdings großes Gedrängel um dich? Ich ärgere mich jetzt schon, dass ich die Sache zur Sprache gebracht habe. Was ist dein Problem, Kevin Körts?

– Ich schätze, Sie wissen es. Zu wenig Drogen, vielleicht?

– Willst du ein paar von meinen Rheumapillen? Du siehst ja, die machen richtig fröhlich. Fröhlich und attraktiv. Auch wenn du ein Kotzbrocken bist, und gerade weil du nicht übermäßig mit Schönheit gesegnet bist, muss sich etwas ändern. Dein Auftreten, Junge. Das Auftreten macht den Unterschied.

Der Regen vor dem Fenster nimmt zu.

Körts wendet seinen Blick nach draußen: Hochhäuser, die nur noch zu erahnen sind, sich hinter den Niederschlagsschleiern aufzulösen scheinen wie eine verblassende Erinnerung an die Vergangenheit.

– Sie wollen mir den ganzen Kram also schenken, sagt er, habe ich das richtig verstanden, Anzug und Hemden?

– Den meisten Plunder kann ich in die popelige Abstellkammer, in die ich demnächst umziehe, sowieso nicht mitnehmen. Vermutlich laufe ich über kurz oder lang nur noch in schäbigen Bademänteln herum. Und darunter habe ich dann so einen albernen Sportanzug an wie du.

– Wäre richtig schade, das nicht mit anzusehen.

Der Alte hebt den Arm und deutet in den hinteren Teil des Raums, in den noch dunkleren:

– Da drüben steht das Bügelbrett!

 

Es tut sich was am Science-Fiction-Baum. Wie ein Ameisenbär mit Blähungen guckt Adil auf einmal. Streckt fahrig den Arm aus:

– Ich muss los. Schicht.

Adil stapft davon, erstaunlich eilig.

– He, wusstest du das?, ruft Körts ihm nach, nur Nebendarsteller und Statisten hauen ab, bevor überhaupt was los ist …

Adil erreicht bereits die nächste Ecke. Ein Fahrradrahmen ohne Sattel und Reifen lehnt dort am Straßenschild, seit Ewigkeiten. Adil rasselt dagegen. Der rostige Rahmen scheppert gegen das Stangenrohr des Schilds. Man hört das Gejammer deshalb kaum.

Adil, der humpelnde Nebendarsteller.

Dann ist er weg.

Körts fährt sich einmal übers (auf ein paar Millimeter runtergestutzte) Haar. Von der anderen Seite nähert sich das Duo, auf das er gewartet hat: silbrig schimmernde Bomberjacken. Wiegender Hooligan-Schritt, pendelnde Oberkörper. Was nicht ohne Komik ist, weil: Eher Zwerge, keine Riesen stiefeln da heran. Zwerge mit Riesenköpfen allerdings. Wie Außerirdische von der feindlichen Sorte. Alien-Monster.

Lollistiele ragen aus den Mundschlitzen.

Ihr Hündchen zerrt an einer straff gespannten Leine. Die Stummelrute des getüpfelten Kläffers wippt wie eine Federantenne.

Die Alien-Monster spazieren in ihrem Prollgang auf die Kreuzung zu. Vorbei an Körts, vorbei an der Skulptur, als wäre der Platz leer. Körts nestelt am oberen Hemdknopf.

Und dann aber hinterher.

Vor der Ampel hat er sie. Zeigt auf den Science-Fiction-Baum:

– Verabredungsgemäß sollte die Chose doch da vorne ablaufen, sagt er, ich bin auf jeden Fall bereit. Dass ihr ein paar Minuten zu spät aufkreuzt, he! Kann passieren. Von mir aus geht alles klar.

– …?!

– …?!

Alien-Blicke, aber mindestens so leer wie die sich weiter und immer weiter ausdehnenden Tiefen des Weltalls. Körts deshalb noch einmal so:

– Wie sieht’s aus: Steigt die Sache? Oder steigt sie?

Alien-Monster 1 zu Alien-Monster 2:

– Trampelt auf unserem Schatten rum und labert uns von der Seite an, der taube Spast!

Das Gesagte: ein kratziges Klanggemisch.

Stimmbruch.

Körts hebt die Sonnenbrille, wie um sich zu erkennen zu geben.

– Leute! Ihr solltet das eigentlich auf dem Schirm haben. Operation Feuerwerk. Ihr erinnert euch?

Die Typen in den Bomberjacken drehen ihm synchron die Visagen zu. Auf den Oberlippen wächst ein zarter Flaum. Die Lollistiele klemmen regungslos zwischen den Zähnen.

Verkehrsgeräusche untermalen das Schweigen.

Körts justiert am Ohrkasten nach. Auf einmal knallt eine Faust gegen seinen Oberarm. Harte Knöchel. Links. Und gleich darauf das ganze Spiel auch rechts. Der Hund bellt ein beherztes Bellen. Eins der Alien-Monster befiehlt:

– Aus, Laika!

Dann bellen auch sie laut los. Ihre Art des Lachens. Künstliche Bonbonsüße schwappt mit in die Atmosphäre hinaus.

– Scherz, Raketenmann. Die Sache steigt. Aber nicht hier, verstehst du. Gleich im Schacht, wenn du Kohle einstecken hast.

Der Schacht.

Ein tunnelartiger Ort ohne viel Tageslicht.

Ein Durchgang, um von der einen Seite des ewig langgestreckten Blocks, in dem auch Körts und Adil wohnen, auf die andere zu gelangen: von den Eingängen und Müllcontainern zu den Balkonen, dem Parkdeck und dem Trampelpfad vorm Sportplatz.

Wenn man Pissoirs an die Wände schrauben würde, hätte man es im Grunde: die heimelige Gemütlichkeit eines versifften Parkplatzklos.

Der eine Bomberjackentyp packt nach dem Eintreffen auch prompt sein Ding aus und pullert breitbeinig los: Der Strahl geht gegen die beschmierte Betonwand. Ein Pissrinnsal schlängelt sich zwischen seinen Füßen hindurch. Laika beschnüffelt den Boden rund um die wachsende Pfütze.

Körts setzt die Sonnenbrille ab.

– Okay, okay, sagt er, lasst sehen, was ihr besorgt habt. Wo habt ihr es überhaupt? Gibt es so was wie ein Geheimversteck?

Die Trippelschritte der Hündin. Auf dem nackten Boden hier unten klingen sie wie sehr rhythmisches Tastaturgeklapper.

– Du sabbelst verdammt viel. Hast du auch mit jemandem über den Deal gequatscht, Raketenmann?

Der Pinkler blickt über die Schulter. Körts ignoriert die Frage:

– Kommt. Nun macht es nicht so spannend, sagt er, was habt ihr?

Ein Zungeschnalzen vom Nicht-Pinkler:

– Dreh schön laut an deinem Hörkasten: Das Raketen-Set Bombastico. Originalverpackt. Wie klingt das?

Körts spürt süßen Schmerz in der Magengegend. Das Triumphgefühl. In nicht mal zwölf Stunden wird er das fragliche Fenster im zweiten Stock hell aufleuchten sehen, im Schein der bunten Feuerwerke. Dominos Fenster.

– Originalverpackt, sehr schön, sagt er.

– Aber erst die Patte. 25. Lass rüberwachsen.

Der Pinkler ist fertig mit Abklopfen und allem, stopft seinen Rüssel zurück in die Hose. Körts sagt:

– Im Laden hat das keine sieben gekostet.

Die Antwort:

– Tja, ist das große Set, du Sack.

– Aha. Dachte, es gibt davon nur eine Größe.

Das Pinkel-Alien-Monster tritt nun sehr dicht vor Körts hin, packt ihn oben am Hemd, dreht es am Hals so fest zusammen, dass Körts die Luft knapp wird. Alien-Monster schnappt mit der freien Hand nach dem Lollistiel, befördert den kugelrunden Dauerlutscherkopf ans Licht und doppelklopft Körts damit gegen die Stirn. Tock! Tock!

– Hast du gedacht, was? Dann denk doch mal ein bisschen weiter. Wieso gehst du wohl nicht in einen Laden?

– 25 ist zu viel, beharrt Körts tapfer.

Der klebrige Lutscher landet wieder an der gleichen Stelle, ein einzelner Schlag diesmal, so als würde man einen Mini-Gong ausprobieren:

– Dann warte bis Dezember. Dann gibt’s Raketen wieder günstig.

– Kein schlechter Plan, stimmt, stimmt, sagt Körts.

Hat er Bammel wegen der zwei Typen? Die meisten in seinem Alter, tippt Körts, hätten Bammel, wenn einer sie so am Kragen hätte. So nämlich, dass der oberste Knopf längst abgefallen ist. Aber er: Er führt Verhandlungen.

– 13, sagt Körts.

– 13 am Arsch, sagt der andere.

– 15, bessert Körts nach.

Alien lässt ihn los, sagt schließlich:

– Letztes Angebot, 20.

Körts glättet den Kragen. Dass sie ihn testen würden, das ist ihm klar gewesen, das hat er einkalkuliert. Die Sache mit dem Knopf ärgert ihn. Aber er pult zwei Scheine aus der Brusttasche seines Hemdes.

– Roger! Und jetzt?

– Und jetzt wartest du genau hier. Wir sind gleich zurück mit deinem Set. In fünf Minuten. Genau hier.

Einer schnappt Körts die beiden Zehner weg. Einer zerrt Laika fort. Blitzende Bomberjacken und Lutscher: So kehren sie aus dem Schacht ins Tageslicht zurück, halb Menschen, halb Schatten.

Körts wartet. Es stinkt nach Pisse. Er schaut sich flüchtig nach dem Hemdknopf um. Eine Böe drückt Wind durch die Unterführung, dass Körts es in den kurzen Haaren spürt. Der Wind: auch so jemand, der ruhelos zwischen den Häuserblocks umherirrt.

Wo ist der verdammte Knopf?

Körts wartet.

Das dreckige Wasser der Pfütze kräuselt sich. Geräuschschleier, die von der Hauptstraße heranwehen. Altbekannte und ein paar neue Filzstiftschmierereien zieren die Wände im Schacht.

R.I.P. Kondor, entziffert Körts.

Er wartet.

Kickt gegen einen zertretenen Trinkkarton mit Strohhalm. Eine Schar gepanzerter Insekten stiebt zur Seite weg. Ein Exemplar krabbelt auf Körts zu. Nicht ohne Ekel setzt der den Fuß darauf, verlagert das Gewicht. Er spürt das Knacken unter der Sohle mehr, als dass er es hört.

Beim Zertreten des Tiers liest Körts erneut die Wandkritzelei.

R.I.P. Kondor.

Fünf Minuten? Gefühlt sind die längst drei Mal rum.

Die Rampe hoch, in der gleichen Richtung aus dem Schacht raus wie die Alien-Monster. Bis zur verkrüppelten Birke mit dem Knick im Stamm.

Zwitschernde Vögel, die man nicht sieht.

Nur eine Amsel, braun und schwarz gefiedert, die ein Stück weiterhüpft, als Körts anmarschiert, aber gleich wieder ihren Schnabel dem Boden entgegensenkt: verlorenes Material für den Nestbau einsammeln.

In einiger Entfernung: Das Fachwerk eines hohen Stahlmasts für die Überlandleitungen. Wie schlaffe Notenlinien hängen die Seile in der Luft.

Vor Körts: der Trampelpfad, matschig. Weiche Erde mit einer Streuung von Unkraut. Fahle Blättchen, die im Wind zittern. Hinter dem Zaun ein Parkplatz. In einem Auto mit laufendem Motor raucht eine Mutter ihr Kind voll beim Telefonieren. Ansonsten keine Menschenseele weit und breit.

Nirgends Alien-Monster.

Körts verstaut die Hände in den Hosentaschen, blickt an der Fassade über dem Schacht hoch. Aus Plastikblumenkästen an den Balkonbrüstungen ragen lange Stängel und verkümmerte Büschel.

Keine Blüten. Keine Blumen.

Körts stapft den Matschweg hoch. Taucht am Ende unter den rostigen Rohrbügeln der Fußgängerschleuse hindurch, kehrt auf den Platz mit der Skulptur zurück, wechselt die Straßenseite.

Das Trio am Bistrotisch, ein Bier weiter, zeigt Beobachtungsgabe. Einer der drei meint:

– Na, Sportsfreund, endlich Knopf aufgemacht?

Der Nächste ergänzt:

– Deine zwei Kollegen mit dem Hund sind eben bei Cem gewesen.

Und der Letzte so, ganz abgeklärt:

– Keine Ursache.

Körts presst die Kiefer knirschend zusammen, als Cem aufgeräumt erklärt, dass sich die Bomberjackentypen, aber hallo!, soeben die Taschen bei ihm vollgepackt hätten.

Der gerupfte Lollibaum neben der Kasse.

Dezenter Hundemuff im Laden.

– Darf’s denn auch noch was sein, Commander?

Und: zurück zum Schacht. Im Sprint vorbei an der uneingezäunten Wiese vor den Minigärten der Erdgeschosswohnungen.

Wenn sie sich nur dummerweise verpasst haben? Wenn er nur zu ungeduldig war? Letzte Hoffnung. Alberne Hoffnung. In den Hirnfasern hat längst das Begreifen eingesetzt.

Sie haben ihn gelinkt!

Körts stützt sich, als er wieder an Ort und Stelle ist, mit den Händen auf den Knien ab, außer Atem vom Laufen. Wendet sich im Geist an Adil:

– Bin ich ein Trottel? Ich bin der König der Trottel! Nach der Schule kann ich wie die IQ-Kanonen in der Behindertenwerkstatt Reis in Kopfkissenbezüge trichtern.

– Commander Trottel, sagt der Adil-Geist.

Körts könnte kotzen. Ausgerechnet er: Er, von dem er immer glaubte, dass er Menschen richtig einschätzen kann, hat sich reinlegen lassen wie ein Dreijähriger. Er starrt auf den Boden. Jede Menge Kippen, der platte Trinkkarton mit dem Strohhalm. Und das zermanschte Insekt.

Wie lautet der Merksatz? Erst Ware, dann Cash.

Wie blöd muss man eigentlich sein?

Vorm inneren Auge sieht er sich zwei Scheine von einem Geldstapel nehmen, hält sie hoch. Das Papier zerbröselt in der Luft.

– Aber schau an, schau an, sagt Körts, Glück im Unglück!

Er begutachtet das kleine, runde Ding am Pfützenrand. Der Hemdknopf! Kann man unter den Wasserhahn halten, richtig? Kann man wieder annähen.

Körts hebt ihn auf.

– Komm, spuck zwei Mal über die Schulter, sagt der Adil-Geist.

Futur II

54 Tage später: Die Sommerferien werden begonnen haben. Körts hat an der Gesamtschule den Abschluss gemeistert, wenig glanzvoll. Der größte Erfolg seit der 7., als er mit der Breakdancegruppe den Talentwettbewerb der Mittelstufen gewann. Abitur scheint denkbar. Allerdings wirkt auch das Reisebüro-Praktikum nach. Körts bemüht sich um einen Ausbildungsplatz. Von der Welt hat er bislang wenig gesehen. Klassenreisen im Inland. Opas Campingwagen. O-Ton: «Eine Blechbüchse auf einer bescheuerten Wiese an der Autobahn. Baggersee vor der Tür.» Auch in diesem Jahr wieder: drei Wochen.

7,6 Jahre später: Körts wird mit einer Mireille-Monique, die nicht Mireille-Monique heißt, in den Hafen der Ehe eingefahren sein. Sitzt Abend für Abend mit seiner chipsmampfenden Frau auf dem Sofa. Bezahlbare Wohnung am Stadtrand. Klatschmagazine neben Fernbedienungen. Sein Schwiegervater, Polizist, mittlerer Dienst, besorgt ihm eine Stelle bei der Gewerbeaufsicht. Außendienst. Körts wechselt bald (die empfindliche Nase) zum Zoll in die Zahlstelle.

43,2 Jahre später: Körts wird seinen 59. Geburtstag gefeiert haben. Im Kreise der Familie. Drei Kinder, zwei Enkel. Bis auf ihn allesamt übergewichtig. Während er in seiner Jugend Hörgeräte lediglich trug, um sich u.a. vor Übergriffen durch Ältere zu schützen, leidet er nun wirklich an Schwerhörigkeit. Er trägt noch immer gerne gebügelte Oberhemden. Spielt Lotto, interessiert sich für Pferdewetten.

 

Eine hübsche Lektion, wie launisch und unberechenbar das Universum sein kann: Ein weißer Kleintransporter biegt bei gedrosselter Geschwindigkeit am Science-Fiction-Baum ab. Schleicht über das stumpfe Asphaltband zwischen den Riegeln, vorbei an parkenden Autos.

Auf der Tür die Aufkleber einer Fernsehstation. An Bord ein Quartett Männer mittleren Alters. Einer davon: Valentin Tiller, Kinostar. Die anderen drei arbeiten für den Sender, Redakteur Kamera Ton.

Der Transporter umkurvt einen verbeulten Möbelwagen, findet dahinter einen Platz zum Halten.

Tiller öffnet die Beifahrertür, schält sich als Erster ins Freie. Outdoor-Stiefel, passgenaue Jeans und himmelblaues V-Kragen-T-Shirt, das er niemals in die Hose stecken würde. Darüber ein Designer-Parka.

Die Fernsehcrew rafft Ausrüstung zusammen.

Tiller raucht.

Gibt damit in dieser Kulisse das Bild eines TV-Kommissars ab. Die kernige Variante. Die Rolle kann er, hat er schon bewiesen. Besitzt einfach die nötige Statur. Nicht muskelbepackt, aber top in Form. Definierte Arme. Ein Kerl.

Man würde niemals vermuten, dass er bereits hart auf die 50 zugeht.

– Wie sieht’s aus? Seid ihr so weit?

Er wirft die Kippe weg, halb geraucht. Ton sagt:

– Ich verkabele dich noch schnell.

Er clippt Tiller ein Mikrophon an den Ausschnitt. Der langhaarige Redakteur holt ein Tablettenheftchen aus der Manteltasche:

– Magentabletten, erklärt er, will jemand? Diese Ghetto-Tristesse schlägt mir immer auf den Stoffwechsel. Ich mache lieber Berichte über junge Leute, die vor Banken kampieren und die Abschaffung des Kapitalismus fordern. Ist lustiger.

Tiller:

– Das sind doch alles Flachzangen. Ey, die Wohlstandskinder, die auf Weltverbesserer machen, die hängen mir mittlerweile derbe zum Hals raus. Selbst wenn die recht haben. Die feiern sich immer nur selbst.

– Die haben immerhin was zu feiern.

– Na, super. Go, get a life!, sage ich. Nein, ist mir schon lieber, auch mal da hinzugucken, wo sonst niemand hinguckt.

– Der räudige Teil der Stadt, sagt Ton.

Als müsste er jetzt eben etwas sagen. Er rückt sein Wollmützchen zurecht. Der Redakteur schluckt die Tablette.

Mit eingezogenen Hälsen stapfen sie auf die Eingänge der Klötze zu. Körts verlässt in diesem Moment den Schacht, spielt mit dem Knopf in seiner hohlen Faust.

Zuerst sieht er den Möbelwagen.

Körts überlegt kurz, ob das der Sessel von Himmelein-Roden ist, der da auf der Ladebühne steht. Dann sieht er den Kleintransporter und als Nächstes die Männer. Zwei vor, zwei hinter der Kamera.

Gerade spricht der Typ mit dem Mantel in ein Mikrophon. Ein Blick, als hätte er es mit dem Magen:

– Valentin Tiller verfolgt das berührende Schicksal der kleinen Amber schon geraume Zeit. Hier, wo die sozialen Nachteile in Beton gegossen sind, wohnt das achtjährige Mädchen bei der Großmutter. Die Rente reicht nur knapp für das Nötigste. Armut kennen viele der jungen Menschen in diesem Stadtteil. Lehrer berichten, dass es sogar längst nicht mehr ungewöhnlich sei, wenn Schüler im Unterricht ohnmächtig werden. Das passiert zum Monatsende hin, wenn in den Familien das Geld alle ist. Kinder wie Amber wachsen in einem Umfeld auf, in dem die Chancen, die jedes Kind in diesem Land verdient hätte, oft ein ferner Traum sind. Was für eine Ungerechtigkeit!

– Habe ich, sagt Kamera.

Ton nickt. Dann so:

– Stimmt die Sache mit den Schülern? Hammer!

– Die stimmt, sagt der Redakteur, sobald etwas im Fernsehen in die Welt gesetzt wird, stimmt es sowieso erst mal immer. Aber keine Sorge, knallhart recherchiert.

Sie ziehen ein paar Schritte weiter. Tiller postiert sich an der Rampe zum Schacht.

– Kamera läuft.

Ton zupft am Bärtchen, hebt die Hand.

– Ton läuft.

Tiller legt los:

– Wer nicht findet, dass das ein Skandal ist, wenn Kinder in unserer Wohlstandsgesellschaft das Nachsehen haben, hat kein Herz, sagt er, es ist der totale Skandal. Deswegen bin ich hier. Damit wieder berichtet wird, damit gespendet und geholfen wird. Und auch, um Amber das Gefühl zu geben, nicht immer von den Erwachsenen, abgesehen von ihrer tapferen Oma, im Stich gelassen zu werden.

Körts kennt den Mann.

Derselbe Typ, der auf dem Magazin abgebildet war, das diese Mireille-Monique bei Cem in der Hand hatte. Prominentheitsgrad: maximal. Körts wäre ihm gefolgt, auch wenn Amber nicht im selben Eingang wohnen würde. Vielleicht ergibt sich hier eine Alternative zu den Raketen?

Aus Prominenz lässt sich Kapital schlagen.

9.13 Uhr.

Die vier Männer drücken sich vor dem Eingang herum.

Tiller schaut auf die Uhr. Zu Redakteur:

– Sag mal, Freitag um die Zeit, bist du sicher, dass jemand da ist? Muss die Kleine nicht in der Schule sein?

– Sondergenehmigung. War ein bisschen Telefoniererei, ging aber ja nicht anders. Dein Agent meinte, bei dir fliegen die Brocken tief, und du bist demnächst privat auf Reisen. Wo geht’s hin?

– Cluburlaub. Sinillyk. Nächsten Samstag. 14 Tage.

– Kein Witz, Sinillyk? War ich schon ein paarmal. Gab früher mal eine schräge Disco in den Hügeln. Und da hat auch eine neue Tanz- und Cocktail-Bar aufgemacht, noch gar nicht lange her. Das eine Ding hatte den Namen Shangri-LaBamba, oder so ähnlich. Sieh dich vor. Ich erinnere mich an einen Cocktail, der hieß ungelogen, pass auf, jetzt kommt’s, Challenger! Prädestiniert für üble Abstürze die Gegend.

– Partys kann ich auch hier jeden Tag haben, sagt Tiller.

– Aber hier hast du immer die Presse am Hals.

– Ich lach mich weg. Euch wird man doch nirgends los.

Er kneift Redakteur in die Wange. Ton grinst:

– Der Mann ist gut, sagt er.

Tiller klatscht die Hände zusammen:

– Ey, natürlich bin ich gut. So, wer klingelt?

Die Fernsehcrew tauscht Blicke. Redakteur reibt sich die Wange:

– Wo überhaupt?

Die Männer nehmen die Klingelschilder nun genauer in Augenschein. Die Namen unter Schmierereien nur schwer lesbar. Körts tritt näher, wiegt den Schlüssel in der einen, den Knopf in der anderen Hand. Tiller zu ihm:

– Weißt du, wo Amber wohnt?

Körts dreht am Hörgerät.

Eine Eingebung.

– Bei Amber funktioniert die Klingel nicht. Kaputt, sagt Körts, überall ab Etage zwei. Wenn ich ein Foto mit Ihnen und mir bekomme, verrate ich, wo Sie hinmüssen. Der Apparat, den ich brauche, liegt allerdings in meiner Bude.

Körts öffnet, stemmt sich gegen das Glas, geht voran in den dunklen Schlund. Die Tür fällt hinter der Truppe aus ihm, Tiller und den Fernsehleuten krachend ins Schloss. Die Lampen im Treppenhaus geben wenig Licht. Ein Geruch nach saurer Milch und kaltem Rauch. Redakteur zu Körts:

– In welchem Stock wohnt Amber jetzt?

Körts zu Tiller:

– Erst das Foto. Eine Videobotschaft wäre auch spitze. Ich bin seit längerem an einer Frau dran, ein relativ hartnäckiger Fall.

Redakteur zu Tiller:

– Amber wartet. Erinnerst du dich? Eben hast du dir noch Sorgen gemacht, dass die Kleine nicht in der Schule ist.

Tiller zu Redakteur: