Zeitlos - Lina Kaiser - E-Book + Hörbuch

Zeitlos E-Book und Hörbuch

Lina Kaiser

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Beschreibung

Ein überraschendes Familienerbe rüttelt das Leben der 26-jährigen Journalistin Toni auf. In der alten Wiener Stadtvilla entdeckt sie Briefe und Tagebücher von Clara von Escherhoff aus dem 19. Jahrhundert. Gemeinsam mit ihrer neuen Bekannten, Musical-Darstellerin Ella, will Toni herausfinden, was ihrer Vorfahrin damals widerfahren ist – und stößt dabei auf eine verbotene Liebe, einen wertvollen Diamanten und tödliche Intrigen. Doch je tiefer Toni eintaucht, desto mehr scheint sich die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen …

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Seitenzahl: 394

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Zeit:7 Std. 49 min

Sprecher:Janna Ambrosy
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Lina Kaiser

ZEITLOS

Verbunden für immer

Roman

 

 

 

 

HELMER

 

 

ISBN (Print) 978-3-8974-478-5

ISBN (E-Book) 978-3-8974-909-4

ISBN (Hörbuch): 978-3-89741-486-0

 

© 2024 E-Book nach der Originalausgabe

© 2024 Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach am Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung unter Verwendung einer Illustration

von © MoonProjekt/ AdobeStock

 

Ulrike Helmer Verlag

Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach

[email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

 

Für meine Familie,

besonders meinen Papa Thomas (1959–2003),

weil ihr mich immer begleitet.

 

Zeit

Wien, November 2023

Toni

»Was, wenn ich euch sage: Es gibt die Zeit überhaupt nicht.«

KeinandererLautwarinderHallezuhören, währenddieWortevondenWändenwiderhallten. TonirutschteaufdemSitzkissenihrerMattehinundher.

»JetztwerdetihraufeureUhrensehenundmirsagenwollen: Doch, natürlichgibtessie, schauher! SekundeumSekundeverrinnt.« AufderLeinwandhinterDoktorMontanadrehtensichdieZeigereinerUhrschnellerundschneller. »Ichsageeuch: EureVorstellungvonZeitistfalsch. WasihrmiteurenUhrenmesst, sindvonMenschenbestimmteWerte. DasistnichtdieZeit. WasistZeitüberhaupt?«

SeinestahlblauenAugenüberflogendieKöpfeimSaal. ErhobdieHändewieeinPrediger: »EsgibtkeinphysikalischesGesetz, dasdieExistenzvonZeitbeweist. AufderSuchenachderWeltformelistdieVariableZeitlängstausdenGleichungenrausgeflogen. Sorry, Leute: EsgibtdieseZeiteinfachnicht!«

UmToniherumerklangvereinzeltesFlüstern. AufderLeinwanderstrecktesicheinespektakuläreAnimationdesWeltalls.

»WirMenschenkönnendaskaumbegreifen, schließlichorganisierenwirunsergesamtesLebennachderZeit. EsistderständigeTaktunseresDenkensundHandelns, derdauerndeKommentarausdemOff. Undwervoneuchhatsichnichtschongefragt, wieschnelldochdieZeitvergeht?« Ernickteverständnisvoll. TonisahseinegebleachtenZähneaufblitzen, obwohlsieineinerderhinterstenReihensaß. »WennwirdiesemGefühlfolgen, findenwirunsschnellwiederineinemrasendenAutoaufderEinbahnstraße, vonderwirallewissen, dassanihremEndeeinAbgrundklafft. UnserLebenistzeitlichbegrenzt.«

EsfolgteeinedramatischePause.

»Dochfürchteteuchnicht! WirkönnendasSteuerindieHandnehmenundunsindenFahrersitzschmiegen. Auchwennwiresnichtbegreifen, sokönnenwiresspüren.«

TonisAugenbrauenzucktennachoben. BegannnunendlichderpraktischeTeil?

»Ichmöchte, dassihrdenGedankenzulasst: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart – allesisteins.«

Tonischautenachlinksundrechts. AndächtigeBlickehingenandenLippendesDoktors. »Sprechtmirnach!«, hallteseineStimmedurchdenSaalundeinChorerklang, derTonieinschaurigesPrickelnüberdenRückenjagte: »Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart – allesisteins!«

EinKlangteppichaussanftenTönenerfülltedenRaum, ähnlichdemHintergrundgedudelbeiTonisLieblingsjapaner.

»Lasstunsmeditieren. SchließteureAugen, fühlteurenAtem«, sagteDoktorMontana. DieMenschenaufdenbenachbartenMattenumToniherumschlossenihreAugen. Eswarallesgenauso, wiesiebefürchtethatte: DergroßeDoktorMontana, vonseinenAnhängernliebevollDoktorMogenannt, agiertewiederGurueinerSekte. EinPopstarderweltweitflorierendenCoaching-Szene, derseineProgrammedamitbewarb, einenwissenschaftlichenBackgroundzuhaben – dennDoktorMohattetatsächlichinNeurowissenschaftenpromoviert. InHarvard. SogarnierteerseinespirituellenMethodenmitdereinoderanderenErwähnungvonStudienausMedizinundPhysik. Daswarclever, dennwiedie gebanntenGesichterimSaalverrieten, verhalfesDoktorMontanazueinergewissenSeriosität. SeineTransformationsevents, monatelangvorherausverkauft, versprachen, dieTeilnehmendenmittelsTechnikenausMeditationundHypnosezuihremvollkommenenSelbstwerdenzulassen. Wasauchimmerdasheißenmag, dachteToniundunterdrückteeinGähnen. SiesahanihreminHoodieundJogginghosegehülltenKörperherunter. WaswohlihreKolleginnenundKollegeninderRedaktionzuihremSchlabberlook-Selbstsagenwürden?

»DieLuftströmtdurcheurenKörper. Atmetlangsamein … undaus. VielleichtmöchteeuerVerstandnochwidersprechen, dochtiefineuchwisstihrbereits: DieZeitfließtnicht. KeinAutorastaufdenAbgrundzu. Wirsindzeitlos. Dubistzeitlos.«

UnwillkürlichentfuhrTonieinkurzesLachen, einLautzwischenHustenundGrunzen. SieschlugeineHandvorihrenMund. InderReihevorihrdrehtesicheineältere, rundlicheFrauum, nickteTonimitrosigenWangenzuundflüsterte: »LassenSiesichdaraufein.« EinLächelnzuckteauchüberTonisLippenundobwohlsieinnerlichdarüberdenKopfschüttelte, tatsiederDamedenGefallenundschlossdieAugen. SiehörtedenberuhigendsonorenKlangderStimmedesDoktorsausdenBoxen: »FolgteuremAtem!«

WährendeinTeilvonTonisGedankenihreAtemzügezählte, suchteeinandererWorte. WassolltesieüberdieseVeranstaltungbloßschreiben?

»LassaufkommendeFragenziehen.«

Okay, keineFragen. NuntauchteinihremKopfdasGesichtihrerMutterauf. Siewarenverabredet. SorgenfaltenzogensichüberTonisStirn.

»LassdeineGedankenlos!«

Nungut! Sieseufzte.

»Fühle in jeden Teil deines Körpers hinein, während du atmest …«

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. UndplötzlichwaresinTonisKopfstill. DieLuftglittdurchihreNasenflügel, denHalshinabundweitetedieBrust. IhrHerzschlugruhig. IhreHandflächenlagenwarmaufdenKnien. IhreFußknöcheldrücktenaufdenkühlenBoden. LuftzirkulierteumihrenKörperherum. Toniglaubte, jedeseinzelneSauerstoffmolekülaufihrerHautzuspüren.

»Alles, wasist, istindiesemMoment.«

VoneinerplötzlichenNervositäterfasst, öffnetesiedieAugen. HattedieserHokuspokusetwafunktioniert?

»Sprechtmirnach«, halltedieStimmedurchdenRaum, undeheTonisichversah, bewegtensichauchihreLippen: »Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart – allesisteins!«

Bullshit. DiesesWortwiederholtesichinTonisKopf, alssiezwischendenHundertenvonTeilnehmendenhinausströmte. ObwohlderHimmelvoneinerdichtenWolkendeckeverhangenwar, trafdasMittagslichtTonisPupillenwieeinBlitzlicht. »Siesehennochimmerskeptischaus«, sagtedierundlicheDamevonebenzuihr. IhreWangenglühten, diedunklenAugenglänzten.

»Umehrlichzusein, habeichnurausRecherchegründenteilgenommen«, antworteteToni.

»Abereristschoninspirierend, nichtwahr?«

»Inspirierend … isteinschönesWort.«

»DieserMoment, alsesmirklarwurde ­– dieNicht-ExistenzderZeit … Alswäreichneugeboren!«

SosympathischihrdieDameauchwar, Tonikamnichtumhin, zuerwidern: »DieIdeeistinteressant – abermeinKopfsagt: Nein. EbenhabenwirdenWorkshophinterunsgebracht – eristeindeutigvergangen. Vielesistendgültigvorbei … NahezujedesGebäudeindieserGegendistalt. BeweisederVergangenheit – sehrreal! UnddieZukunftisteinfachnochnichteingetroffen. AuchwenninmeinemTerminkalendersteht, dassichnächsteWocheDoktorMontanazumInterviewtreffe – vielleichtkommtjaetwasdazwischen? EsgibtkeinVorundkeinZurück. ObichnunmeinemAtemfolgeodernicht.«

KleineGrübchenbildetensichaufdenWangenderFrau. »Siehabenesnochnichtverstanden.«

TonizucktedieSchultern.

»›Vergangenheit, GegenwartundZukunftsindnurIllusionen, wennauchhartnäckige‹«, sagtedieFraudann. »DashatbereitsAlbertEinsteingesagt.«

»Istdasso?«

DieFraunickte, strichToniflüchtigüberdenArmundgingindieentgegengesetzteRichtung. Tonisahihrnach. AlsdieerstenTropfenaufihrHaarfielen, liefsieschnellzurTram.

 

I. Mondlicht

Fürstin-Justine-Pensionat für höhere Töchter zu Graz, 1879

Clara

Die Dielen knarrten leise, als Clara die Falltür zurück ins Schloss gleiten ließ.

»Wirdachtenschon, ihrzweitrauteuchnicht«, zischteBettine. SiesaßgemeinsammitSophieaufeinerDeckeinmittenderkleinenDachbodenkammer.

»Wann habe ich mich jemals nicht getraut«, gab Clara zurück.

Bettinewinkteab. »HabtihrdieKerzen?«

MathildeöffneteihrezusammengebundeneSchürzeundholtedreiKerzenhervor. HektischbegannBettine, mitdenZündhölzernzuhantieren.

»GebtachtaufdasFeuer«, mahnteClara. DaswärewohldieKrönungihresgeheimenTreffens – vorihreminnerenAugesahClarabereitsdieLetternimTagesblatt: EntsetzlichesUnglück – MädchensetzenFürstin-Justine-PensionatinFlammen.UnddasnurwenigeWochenbevorihreZeithierohnehinbeendetwäre.

»Seidihreuchsicher, dassdraußenniemanddasLichtsehenkann?« MathildesStimmewarnichtmehralseinFlüstern.

BettinewarfihreinenabfälligenBlickzu. »Schau, diekleineLukedorthabenwirverhüllt. Ihrmüsstaufhören, euchsovielzusorgen! Sonstverschließtihreuch … NunkommtzumirineinenKreis.«

DasKerzenlichtzeichneteihrezitterndenSilhouettenandieDachschrägen. SausendzogderWinddurchdiealtenBalken.

SophieriebsichdieArme.

»Hier, weildirimmerfortkaltist«, sagteClarasogleichundreichteSophieeinWolltuch.

»Oh, wieliebvondir.« SielegteessichumdieSchultern.

»Meine Damen«, zischte Bettine. Die dunklen Schatten verliehen ihrem sommersprossigen Gesicht einen ungekannten Ernst. Die Mädchen fassten einander an den Händen. Bettine schloss die Augen.

»WirhabenunsamheutigenAbendhierversammelt, umVerbindungzuderspirituellenWeltaufzunehmen. IchheißeallegutenGeister, dieinunsererNähesind, willkommen. Bitte, gesellteuchzuuns!« Bettinehattemitfeierlicher, dochgedämpfterStimmegesprochen. TrotzdemschienesClara, alshalltendieWortevondenSchrägenwiderwieeinEcho. Kaumzuglauben, dasssiesichtatsächlichzudieserSéancehatteüberredenlassen. BettinehatteimmerwiederdieGeschichteerzählt, wiesiemitihrerMuttereinMediumaufgesuchtunddabeizugesehenhatte, wieesindieLuftgestiegenwar. DieGeisterhattenesfliegenlassen. NatürlichnahmClaranichtsdavonfürbareMünze. DennochkamdasThemaindenvergangenenWochenfortwährendauf – undwaszunächstalsScherzbegonnenhatte, warzueinemernsthaftenInteressegeworden. VorallemfürClarasbesteFreundinSophie, derenBlickfestanBettinesLippenhing. BisindiedunklenHaarspitzenschiensiedurchdrungenvoneinererwartungsvollenSpannung.

»Wirwendenunsanunsereverehrte, höchstgeschätzteStifterin, FürstinJustine. WennSiehiersind, gebenSieunseinZeichen!« KeinGeräusch. NichteinmalderWindwarmehrzuhören. GebanntschautendieMädchenaufdieflackerndenKerzen.

»IsteinGeistanwesend?«, durchbrachBettinedieStille. MiteinemMalerfassteeineBöedenDachstuhl, dieFlammenzüngeltenindieHöhe, einederKerzenerlosch. Clara beobachtete die Mienen ihrer Freundinnen: Bettinewirktebegeistert, Mathildeängstlich, nurSophiesAusdruckwarundeutbar.

»DieHalskette, Sophie«, wiesBettinean, undsofortnahmSophiedassilberneMedaillonvonihremHals. »IsteinGeistanwesend?«, fragteBettineerneutundhieltdasMedaillonmitausgestrecktemArmvorsich. GebanntverfolgtendieMädchen, wiederAnhängervoneinerSeitezuranderenpendelte. »Dasbedeutet: Ja …«, flüsterteBettine. »WerterGast, hastdueineVerbindungzueinerderanwesendenDamen?« ErneutschwangdasPendelaus. DieKettewiesinSophiesRichtung. »Sophie …« ErgriffenlegtesichBettineeineHandüberdasHerz. »Eine SeelewillmitdirinVerbindungtreten!«

DraußenbeganneszuregnenunddieTropfenklopftenaufdieDachziegel. MisstrauischbeobachteteClaraBettinesFaust. Vermutlichplappertesiebloßnach, wassiedamalsbeiihrerSéancegehörthatte – undgleichzeitigschlugClarasHerzhart gegen ihre Rippen.

»Ichwerdeversuchen, ihnzusehen.« BettineschlossdieAugen. ClarakonnteihreAugäpfelhinterdenLidernrollensehen.

»IchseheeineFrau«, hauchteBettine.

SophiesHandumfassteClarasfester.

»Sieistschön, mitgoldschimmerndemHaar. Aberes ist … nun, rechtkurz. Nichtzurechtgesteckt. Eigenartig.«

Claratrautesichkaum, zuatmen.

»Undichspüre … Wohlwollen. Wärme. Liebe. Sophie, möchtestduihreineFragestellen?«

»Ichwüsste gerne, obsieeinenRatfürmichhat.«

»EinenRat im Hinblick auf was?«

Sophieseufzte. »DieZukunft. Wiewirdesmirergehen?«

Bettineatmetetiefein, alsversuchtesie, diegeisterhafteBotschaftausderLuftzusaugen. »DieFrausagt: ›TriffdenMann, derum dich wirbt.‹«

EinenMomentlang vermeinteClara, dieIrritationimRaumgreifenzukönnen. DannkonnteBettine nicht mehr an sich halten und das Lachen brach aus ihr hervor.

»Nicht so laut«, zischte Mathilde.

»Verzeiht«, kicherteBettine. SophierolltemitdenAugen. ClaraverstanddenWitznicht. WelcherMann?

»Ichgestehe, daswarmeineigenerRat. IchöffnemichnunwiederderjenseitigenWelt.« BettineschüttelteihreArmeausundrolltedenKopfimNacken. »Bistdunochanwesend, werterGeist?« DasMedaillonhingwiederbewegungslosausBettinesFaustherunter.

»Ichspüreetwas, ich …«

WährendClaranoch immer versuchte, zu begreifen, was ihr entgangen war, zogBettinesveränderterTonfallschlagartigihreAufmerksamkeitaufsich. »Eswird … sokalt«, sagtesie. »Ichspüre … Sorge? Verrat. Und …« Bettine erbebte. »Schmerz!« Aus ihremGesichtwarjedeFarbegewichen.

Clarafragtesich, obdasalleszumSchauspielgehörte, dochdakippteBettinemiteinemschauerlichenÄchzenzurSeite.

MathildejapstevorSchreck, sprangaufundrissdabeidieKerzenum. Schonleckten Flammenanderdarunter liegendenDeckeund sogleich begann sich die Luft mit Rauchzu füllen.

ClararissdasTuchvonSophiesSchulternundschlug damit aufdieFlammen. SophiehattesichüberBettinegebeugt, diezuckendamBodenlag.

»Wasistmitihr? WasmachtsiemitihremArm? Istdas – istdasihreFallsucht?«, krächzteMathildemiterstickterStimme.

»Ichdenke, ja«, antworteteSophie.

»SolltenwirnichtHilfeholen?«

»Nein.« ClarahattedasFeuererfolgreicherstickt. SierissdenStoffvonderDachluke, um Luft und MondlichtindenRaum zu lassen. »WirwerdensicherlichkeineHilfeholenund riskieren, alledesPensionatsverwiesen zuwerden!«

»Ichmeinejanur, Bettine – siewindetsich, alswäresie … besessen. Was, wenndasderGeistist?«

»Niemandhieristbesessen!«

»ImZimmerhatsie ihreArznei. Dienimmtsiegleich«, sagteSophie.

EinigebangeMinutenschautendieMädchenaufdieweggetreteneBettinehinunter. LangsamlöstensichBettineskrampfendeArmeunderschlafften. BenommenschautesiezuSophiehinauf. »AllesistinOrdnung, Bettine. Wirsindbeidir«, versichertesiemit beruhigender Stimme undhalfihr, sichaufzusetzen.

»Ich … ichsahdiesenBlitz – unddannwurdeallesschwarz«, hauchtesie.

»VorherhastduvonGefahrgesprochen.« MathildestandderSchreckennochimmerinsGesichtgeschrieben.

ClarahattedieDeckeunddasTuchsamtKerzeneingerollt. SosehrsieMathildealstreueSeeleauchschätzte, sogernehättesieihrmanchmaleinenKlapsfürihreÄngstlichkeitverpasst.

»Ichsahdich«, sagteBettineundwandtedenKopfzuClara.

»Mich?«

»UnddawarsoeinSchmerz …«

DieWorte griffen wie eine eisige Hand nach Clara.

»SprichdochnichtsoeinenUnsinn.«

»Esistwahr.«

EinenMomentlangverharrtendieMädchen. DerRegentrommelte auf das Dach.

»Nun«, räuspertesichClara. »Ichdenke, jetzthabenwirersteinmalgenugvondenBotschaftenausdemJenseits.« Siestandauf. »Mathilde, kannstduBettinehinunterhelfen?«

DieAngesprochenenickte. KaumwarendiebeidendieTreppehinabgestiegen, spürteClaraSophiesHandaufihremArm: »Gehtesdirgut?«

»Mirgehtesimmergut. Aberduzitterst. Nichtdass …«

»Ja,das, ach … Dasgehtsicherlichgleichvorüber.« Sophie sahaufihrebebenden HändeundverschränktesiedannhinterdemRücken. »DasGanzewarbloßeinwenigseltsam, nichtwahr.«

»Wenndumichfragst, hatBettineeinedramatischeVorstellunggeboten – nichtmehrundnichtweniger.«

EinAnflugvonEnttäuschungflackerteindenAugenihrerFreundinauf. SchnellschobClarahinterher: »Wasnichtbedeutet, dassesnichtmöglichist, dasstatsächlicheinGeistfürdichhierwar!«

»Schongut.« SophielegtedasMedaillonwiederumihrenHals.

»Nureineshabeichnichtverstanden: VonwelchemMannwar die Rede?«

SophiesMundwinkelzuckte, dochbevorsieetwasantwortenkonnte, hörtensieBettinesStimmevonunten: »Kommtihrendlich?«

SchonverschwandSophiedurchdieFalltüre. ClaraverharrtefürdieDauerwenigerHerzschlägeinderleerenKammer. Es war in der Tat seltsam –obdiesesGefühl allerdings mitGeisternodermitSophiezusammenhing, vermochtesienichtzusagen …

»Denkt daran: Morgen erwarte ich die Abgabe eurer Essays.« Fräulein Conzens Stimme schnitt quer durch das Klassenzimmer und sandte den Mädchen augenscheinlich ein Schaudern durch die Körper. Allen außer Clara, deren Aufmerksamkeit sich am Morgen nach der missglückten Geistersitzung zu keiner Zeit in der Unterrichtsstunde befunden hatten. Ihre Gedanken flohen aus dem Fenster, durch die dichten Kronen der Kastanien, über das Gelände hinweg bis zu den Mauern, die das Pensionat von der Außenwelt trennten.

SeitClaradamalsdieSchwellezumFürstin-Justine-StiftfürhöhereTöchterüberschrittenhatte, warenihrdieseMauernzuwidergewesen. ›DortbekommstdudenletztenSchliff, dendu, weißGott, nötighast‹, hatteihreMuttergesagt. SieundderVaterlegtengroßenWertaufdieBildungihrerKinder – unddarauf, dassdieseeineZeitlangaußerhalbdestrautenZuhauseserworbenwurde. ›Ihrmüsstlernen, alleininderWeltzubestehen‹, hattederVatergesagt – unddasindiesemTonfall, derkeinenZweifeldaranließ, dassersowohl1864alsauch1866aufdemSchlachtfeldgestandenhatte. SowarenArthurundMaxeinstzumMilitärkonviktgeschicktwordenundClarabliebnurderGangzumPensionat. DasFürstin-Justine-PensionatwarihremVateralsbesteAdressefürjungeDamenihresStandesempfohlenworden. Hierwurdeeinekleine, illustreMischungwohlsituierterMädchenunterschiedlichenAltersmitchristlicherDisziplinaufihrLebenindenhohenKreisenvorbereitet. MancheinerderknappdreißigZöglingeentstammtesogareinerindenAdelsstanderhobenenFamilie, sowieClaraselbst. AufdemUnterrichtsplanstandenUngarisch, Italienisch, EnglischundFranzösisch, Literatur, Handarbeiten, MusikundTanz. NichtzuvergessendieregelmäßigenGottesdienste, diegemeinsammitLehrerinnen, NonnenundOberinbegangenwurden. DieTagewarengefülltundstetsgetaktetvomunermüdlichenSchlagderGlocke. EinpaarwenigeStundenbliebendenMädchenzumLesenoderSpazierenaufklarabgestecktenWegen. Tagein, Tagaus.

Dochnunhattedas Leben das eng geschnürte Korsett aus Routinen, RegelnundStandesdünkelgelockert – undwashatteesgebracht? NichtsalseinZieheninihrerBrust, einunangenehmesKribbelnindenGliedernunddasVerlangen, dieWeltwiederauszusperren. WomöglichhatteBettinegesternkeineechtenGeisterbeschworen – aberaufeinmalgabeseinenMann, derSophieschöneAugenmachte. NatürlichhatteClaraihreZimmergenossinMathildewenigspäterbefragt. SophiehabeaufdemsonntäglichenKirchwegeinenBriefvoneinemunbekanntenBurschenzugestecktbekommen. Clarakonnteesnichtfassen. Nichtnur, dassSophieesoffenbarnichtfürnötighielt, sieüberderleiEreignisseinKenntniszusetzen – alleanderenMädchen, sogarMathilde, schienengutgenugdafürzusein! AlsdieGlockeendlichschlug, warClaradieerste, diesich erhob.

DieMädchenströmtenhinauszuihrenZimmern, demStudierraumoderindenGarten, dochClarahattenureinZiel. SiedrängtesichanBettinevorbeiundhaktesichbeiSophieunter: »AufeinWort?«

»Abernatürlich, liebsteClara, beachtemicheinfachnichtundgehedeinenBelangennach«, scherzteBettine.

UnbeirrtzogClaraSophieumdieTreppeinderEingangshalleherumundineinestilleEcke. »WannwolltestdumirvondemBrieferzählen?«, zischtesie.

»Wasgibtesdaschonzuerzählen?«

»Na, wasdarinsteht, werderBurscheist, wasdudarüberdenkst – alldas, wasBettineundderRestoffensichtlichbereitswissen!«

SophiesdunklerWimpernkranzschlosssichbeinahe vollständig umdiegrüneIris. »GehtesumdenBriefoderumdieanderen?«

ÄnneausderKücheschobeinenServierwagenquietschendvorbei. EinMysterium, wiesiedenWagenmitdenrappelndenSchüsselnunfallfreisteuerte, ohnediebeidensoverdächtiginderEckeharrendenMädchenausdenAugenzulassen. UnschuldiglächelndwarteteClaraab, bisÄnneaußerHörweitewar. Schonplatzteesausihrheraus: »Ichdachte, ichwäredeineFreun­din!«

»Bistdudoch.«

»UndBettineweiß, wasindemBriefsteht?«

»Nein.«

»Warumredetsiedannso …«

»WeilBettineimmerredet!«

Natürlich.

»EsistnureinBrief, Clara, denmireinjungerMannbeimKirchenbesuchgereichthat …« Sophieseufzte, öffnetedenoberstenKnopfderUniform, schobdieHandhineinundzogdenzusammengefaltetenZettelhervor.

»NureinBrief, aberduträgstihndirektüberdemHerzen?«

ProvozierendbetrachteteSophiedenZettelinihrerHand.

»Weristerdenn?«

»Ein Stallbursche von einem der Güter, die die Küche beliefern.«

»EinStallbursche«, spöttelteClaraundeinTeilderSchwereaufihrerBrustlöstesich. EinStallburschelagnunwirklichweitunterSophiesNiveau. »Ichversteheumsoweniger, warumdumirnichterzählst, wasergeschriebenhat.«

DochSophiemachtekeineAnstalten. Stattdessenverzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Grinsen.

»Langsamwirdesalbern.« ClaragriffnachdemZettel, dochSophieließ ihn flugshinterihremRückenverschwinden.

»Wervonunsverhältsichalbern?!« SiewichzweiSchrittezurück, dochsoleichtließsichClaranichtabschütteln. Blitzschnell packte sieSophiesArm. IhreFreundinhattekeineChance, ihr fehlteClarasErfahrungauszahlreichenGefechtenmitzweiBrüdern. ImGerangelstießensieandenTischunterdemraumhohenGemäldederwertenStifterin – unddiePorzellanvasemitdenrosafarbenenKamelienfielzuBoden. DasKlirrenerfülltediegesamteHalleundschalltesoverräterischdurchdieFlure, dass sie sich nur entsetzt anschauen konnten, bevor auch schon ÄnneundFräuleinConzen sichvorihnenaufbauten.

»Wiekonntedasgeschehen?«, keiftedasFräulein. ÄnnekonntedieSchadenfreudehinterihremempörtenGesichtsausdrucknichtverbergen.

»Oh, mir war nicht gut, Fräulein Conzen.« Wie von einem Schwäche­anfall erfasst, stützte Sophie sich am Tisch ab. »Ich verlor das Gleichgewicht. Clara wollte mich stützen.«

»So?« MisstrauensprachausdemGesichtderLehrerin. »Bistdukrank?«

»Esistnichts, nur … Siewissenschon, dasmonatlicheLeiden …«

Beinahe hätte es Clara selbst geglaubt. Unbeirrt zeigte das Fräulein auf die Scherben am Boden: »Dies werdet ihr entsorgen!«

»Natürlich, FräuleinConzen«, sagteClaramitglockenhellerStimme.

»ZudemübernehmtihrdenPutzdienstfürdieHalle, dasEmp­fangszimmerunddengroßenSaal. Undihrfangtunverzüglichan.«

»Jawohl, FräuleinConzen«, erklangesausbeidenMündern.

ÄnnedeutetedenMädchen, ihrzufolgen.

Kaumhattesiesichumgedreht, öffneteClaradiegeballteFaust, diedengewonnenenZettelzerknüllthatte. Sophieverzogmissbilligendden Mund, dochbliebansonstenregungslos. ›GlücklichalleinistdieSeele, dieliebt. MittwochnachtumMitternachtbeiderBrücke.‹ WortlosgabClaraihrdenZettelzurück.

Als das Mondlicht durch die Vorhänge schimmerte, wälzte sich Clara in ihrem Bett hin und her. GlücklichalleinistdieSeele, dieliebt – das war ein Zitat von Goethe! Clara wusste nicht, was sie mehr ärgerte: dass Sophie Geheimnisse vor ihr hatte, oder dass sie sich so einfach mit gestohlenen Worten beeindrucken ließ. Clara schob ihr Gesicht unter das Kopfkissen. Sophie hatte eigens nur für sie verfasste Gedichte verdient. Und vielleicht war dies das Schlimmste: Solche Gedichte existierten bereits. In Claras Notizbuch. Versteckt unter den Kleidern im Schrank. Als ein Geschmack nach Eisen ihr klarmachte, dass sie sich die Lippen blutig biss, mahnte sich Clara zur Ruhe. Wenn sie Schlaf finden wollte, musste sie an etwas anderes denken. Doch kaum hatte sie die Vorstellung eines stillen Sees beschworen, ließ eines von Mathildes grunzenden Geräuschen aus dem Nachbarbett sie aufschrecken. Mit einer gezielten, da bereits häufig ausgeführten Bewegung, warf sie ihr Kopfkissen und erwischte Mathildes Hinterkopf. Dumpf fiel das Kissen zu Boden – und Mathilde war verstummt. Während Clara ihr Kissen wieder aufhob, stellte sie sich vor, wie auch Sophie gerade hellwach in ihrem Zimmer liegen musste, still darauf wartend, im richtigen Moment zu dem Treffen aufzubrechen. Allein mit dem Stallburschen im Mondlicht. Clara schob die Vorhänge ein Stück auseinander. Dochwaswäre … Der Gedanke erschien zunächst vage in ihrem Kopf, doch dann immer deutlicher. WennSophieihngarnichterstdortantreffenwürde?

Geräuschlos öffnete sie die Zimmertür und linste in den dunklen Flur.

 

1. Das Haus von Escherhoff

Wien, November 2023

Toni

RegentropfenspritztenvonihrenFingerknöcheln, alssiegegendiemassiveHaustürklopfte. Siewarzuspät. AlssichdieTüröffnete, sahTonidirektindengehetzte GesichtihrerMutter. IhreHaarestandenkreuzundquerinalleRichtungen.

»Antonia!«

Tonitratanihrvorbei. Marty, derJackRussellTerrierihrerMutter, hüpftebellendzwischenihrenBeinenhinundher. TonistrubbelteihmüberdenKopf. »Ja,meinKleiner, wirhabenunsvielzulangenichtgesehen!« Kaumausgesprochen, formtesicheinKloßihnihremHals. LangsamdrehtesiesichzuihrerMutterum. »Ichweiß, ichbinzuspät.«

»Ichbinfroh, dichüberhauptmalwiederzusehen.«

DiebeidenFrauenschautensicheinigezäheSekundenlangan.

»Nunja …«, fing Toni an. »Esgingnichtschneller. IchkommegeradevomschlimmstenYogini-Treffen. FüreinenArtikel, natürlich. Undichbinsehrmüde. MorgenhabeicheinewichtigeAbgabe, alsobleibeichnichtlange.« MitdemnächstenSchrittschlittertesieüberdennassenKachelbodenderEingangshalle.

»Vorsicht!« DerfesteGriffihresBrudershieltsiegeradesoaufdenBeinen. »WieimmerzuspätzudenwichtigstenFamilien­veranstaltungen.«

ToniquittierteAlex’ süffisantesLächelnmiteinemebenbürtigenundstreiftedieJackeab. »Also, wieschaut’saus? Wolegtmanhierab?«

»TrägstduetwaimmernochLidiasJacke?«

ToniignoriertedieFrageundfolgteAlex’ ZeigefingerzudemKleiderhaufenaufeinemvergilbtenHeizkörper. DirektdanebenbefandsicheinehoheStanduhrmitverschnörkeltemZifferblatt. DasPendelhingbewegungslosinderMitte. ToninickteinRichtungUhr: »Und, istdieetwaswert?«

»AchAntonia, wirhabendochkeineAhnung.« IhreMutterrücktedievielzulockersitzendeBrillezurecht.

»IneinemAntiquitätenhandelkriegenwirdiesicherverscherbelt. AberdasistnurderAnfang.« IndenAugen ihres Brudersfunkeltees.

VorzweiTagenwarderAnrufbeiihrerMuttereingegangen. MargareteEscherhoffwarimstolzenAltervonvierundneunzigJahrenverstorben. EinedenMichelsvollkommenunbekanntePerson. DochderNachlassverwalterüberbrachteTonisMutterdiefroheBotschaft, dasssie, ReginaMichels, einederletztenNachkomminnenderFamilieEscherhoffsei. TatsächlichhattediealteDameinihremTestamentausdrücklichfestgeschrieben, dassihrNachlassandennächstenBlutsverwandtenübergehensolle. ReginaglaubtezunächstaneineTelefonabzockeundlegtelachendauf. KurzdaraufriefderMannerneutanunddröselteihrhaarkleinauf, dassessichbeiMargareteumeineGroßtantehandelteundsiesomitinderVerantwortungstünde, zuentscheiden, obsiedieErbschaftantretenwolleodernicht. AufgelöstriefReginadaraufhinihrebeidenKinderan. WährendTonikaumverstand, mussteAlexnichteineMinuteüberlegen: NatürlichwürdensiedieseErbschaftantreten! DenAufwand, eindreihundertQuadratmetergroßes, überaltertesundsanierungsbedürftigesAnwesensichtenundentrümpelnzumüssen, hattensie jedoch eindeutigunterschätzt. MargareteEscherhoffhatteineinerStadtvillaausdem19. Jahrhundertgelebt. EinimposantesGebäudedesHistorismus, allerdingsüberdieZeitmürbegeworden – mitdunkelangelaufenerFassade, starkem EfeubewuchsundFenstern, diewieleereAugenhöhlenaufdieStraßestarrten. ImInnerenruhteeinedichteStaubschichtaufden zerschlissenen Möbeln.

»VerehrteAntoniaMichels, ErbinvonEscherhoff, darfichSiedurchIhrAnwesenführen?« AlexhieltToniseinenArmhin, undnacheinemKopfschüttelnhaktesiesichein. »SiestehenhierinderEingangshalle. DieFliesensindzwarmürbe, aberstellenSiesichvor, dasssichhiereinstDamenundHerrenhohenRangesihreMäntelvondenBedienstetendesHausesabnehmenließen. UnsbleibtheuteleidernurdiezerbröselndeHeizungalsAblage. DurchdieseTüregelangenSieineinekleineBibliothek. DieTürlinksnebenderTreppeführtineineKüche, hierrechtssindeinEss- undeineArtRepräsentationszimmer. BeidemitZugangzurTerrasse.« DurcheinehölzerneFlügeltürführteersieindasvermeintlicheEsszimmer. »Lichtgibt’sleidernicht.« AlexkippteeinenLichtschalterdemonstrativhochundrunter.

»Schön.«

»Jaja … KaumGegenstände, zerfallenesMobiliar – daskönnenwiralleswegwerfen. MargaretescheintdasErdgeschossgarnichtmehrgenutztzuhaben«, vermerkteihrBruder, alsersiebereitswiederausdemRaumschob. »FolgenSiemirindenerstenStock!«

EinsamtroterLäuferzogsichüberdieStiegenhinauf, paralleldazuverliefanderWanddieSchieneeinesTreppenlifts. »HatMargaretedasHausganzalleinbewohnt?«, fragteToni, diedasBildeinerrunzeligenaltenDameaufdiesemTreppenliftvorsichsah.

»Ja, abersiehatteeineVierundzwanzig-Stunden-Pflegekraft. Siewaralsonichtganzallein.«

KnarrendkommentiertendieStufenjedenSchritt.

»WiealtistdiesesHausüberhaupt?«

»BeinahezweihundertJahre.« SeineWangen waren vor Aufregung gerötetwiedieeinesJungenunterdemWeihnachtsbaum. »MargaretewardasletztegeradlinigeMitgliedeinerAdelsfamilie!«

»Adel!«

»Jap. AbernichtsoalterAdel, dievonGottgegebengeherrschthaben – nein, harterwirtschafteterAdel. KarlFerdinandvonEscherhoffwurdedurcheinenkaiserlichenOrdenindenFreiherrenstanderhoben. Dasgeschahdamalswohlöfter. SisiundFranzlsahendaraufeherherab – fürsiegehörtenunsereVorfahrenzurZweitenGesellschaft.«

»Duhastdichjarichtigeingelesen …«

»Dasmussichdoch! Schaudichum!«

Alles, wasTonisah, warendieverblichenenStellendesTeppichsunterihrenFüßenunddiemilchigenGläserderFenster. »WirkönntendasHausauchalsKulissefürHorrorfilmeanbieten …«, murmeltesie. »Odervielleichtwirftes Requisiten fürdeineGeisterbahnab?«

»Möchtestdudamitetwaandeuten, meineGeisterbahnseinochnichtperfekt?!«

»Niemalswürdeichmiranmaßen, soetwaszusagen …«

AlexignorierteihrenUntertonoffenbarundsprangdieletztenStufenhoch. »Linksvonuns: derRoteSalon! Das, wasMargaretewohlalsWohnzimmernutzte. Zudeinerrechten: dasSchlafzimmer. Daneben: dasandereSchlafzimmer! UndeinBad.«

»UndnochmehrStufennachoben?«

»NochmehrZimmer. MargaretehatsiewieLagerboxengenutzt.«

»Fürwas?«

SeineAugenblitzten, währendsichseinlinkerMundwinkelschelmischnachobenzog. »Kunst! Gemälde, Zeichnungen, Bücher, komischeKerzenhalter, blindeSpiegel, hässlichesPorzellan …«

EröffneteeinederZimmertüren, Tonilugtehinein. SchwereVorhängeschlossendasTageslichtfastvollständigaus. DerRaumlaginstaubiger, drückenderDunkelheit. SchemenhaftwarenKistenüberKistenzuerkennen, dieBodenundWändebeinahe vollständigverdeckten.

»Toni, werweiß, aufwelchenSchätzenwirhiersitzen!«

»Alex, werweiß, wiewirdasallesdurchsehensollen – bevorwirsterben?«

»Achkomm, dafürbistdujetztjada! MeineliebeKulturredakteurin, hieristdeineSpielwiese, aufderduendlichalldeinnutzlosangesammeltesWissenanwendenkannst! Findeheraus, waswirzuGeldmachenkönnen!«

Wosolltesiedaanfangen? BeieinerdereingerissenenPappkistenoderbeimSchrankmitderhalboffenenTür, vondemsiesichgarnichtvorstellenwollte, wievieleMottendarinEinzuggefeierthatten?

»Alexander!«, hallte die Stimme ihrer Mutter zu ihnen hinauf.

»MeinTypwirdverlangt«, verabschiedetesichihrBrudermit einer ironischen kleinen Verbeugung. WährenddasKonzertderDielenleiserwurde, schiendieStilleumToniherumlauterzuwerden. SieblinzelteunschlüssigindieTiefedesRaumes, nahmeinenstaubbeschwertenAtemzugundtratüberdieSchwelle. SiewürdeLichtbenötigen. DochschonmitdemerstenSchrittinRichtungFensterstießihrFuß gegeneinenkniehohenKerzenhalter, dergeradewegsumfiel, dumpfgegeneinederKistenstießundeinLochhineinriss. ToniöffnetedieKisteeinStückchen. MitihremHandybeleuchtetesieeineBatterievonSchallplatten. UdoJürgens, PeterAlexanderundeineReihevonKlavierkonzerten – maximaleinEuroproStückwert, wennüberhaupt. FallsdiesdasNiveauderHabseligkeitenwar, fehltenHunderteMüllsäcke. SieöffnetedienächsteKiste: Christbaumschmuck. GlitzerndeKugeln, büschelweiseLametta, hölzerneEngelchenmitabgebrochenenBeinchen. NächsteKiste: StoffserviettenundTaschentücher, dieeinenfauligenGeruchabsonderten. EinSchnauben entwichToniunderstickteinderStille. Grabesstille. ZwischenverhülltenGemäldenundKistenstapelnkämpftesiesichbiszudemhohenMahagonischrankdurch.

SiedrehtedenSchlüsselimSchloss, öffnetedieächzendenTürenundzucktezusammen, alssieinzweitoteAugenblickte. JedesHärchenihresKörpersrichtetesichauf. Puppen! Kleinereundgrößere, adrettgekleidetePüppchenmitfrisiertemHaar, rosigen, aneinigenStellengrauangelaufenenGesichternundkaltenKunststoffaugen, lächeltenleblosaufToniherab. MitzitterndenFingernschlosssiedenSchrankwieder, tratzurück, stolpertedabeiüberetwasWeichesundfingihrenSturzgeradesoab, indemsiesichaneinemKistenbergfesthielt. EineinäugigerTeddy­bärstiertezuihrherauf. SeinrechterArmlöstesichvomKörper. WirbraucheneinenContainer, schossesihrdurchdenKopf. Einengroßen, großenContainer!

JustindiesemMomentknarzteeshinterihr. ErschrockenrichtetesieihrHandylichtindieEckeundsahsichselbstineinemhohenSpiegelmitverschnörkeltemRahmen. DurchseinGlaszogsichvonuntenbisobeneinRissundteilteTonisGesichtentzwei. ZuseinemFußkippteeinschwarzerHutzurSeite, derSaumdesFenstervorhangsdanebenbewegtesich. WahrscheinlichhatteeinLuftzugdenHutvomSpiegelgeweht. TonibahntesichentschlosseneinenWegquerdurchdenRaumhinzumFenster, rissdieVorhängebeiseiteundzogamDrehknauf. Luft!Das Sonnenlicht und die StraßengeräuschenahmendemRaumetwasvonseinemGruftcharakter. TausendeStaubteilchen tanzten im einfallenden Tageslicht. SiewirbeltenamSpiegelvorbeizueinemStapelkleinererBoxen, ausdenenStoffeherauslugten. EinTuchmitorientalischemMusterwalltehinabundbedecktehalbeinemitLederbezogeneTruhe. HöchstwahrscheinlichbefandsichdarinweitererSchrott. Trotzdemwirktesieungewöhnlich.

TonihobdieBoxenvonderTruhe. WieeineSchatzkistewarsiemiteinemrostigenSchlossversiegelt, jedochbaumelteesoffenherumundkonnteeinfachabgezogenwerden. AlsTonidenDeckelanhob, stobeineStaubwolkeindieHöhe. TonihatteaufSchmuckgehofft, stattdessensahsieaufeineAnsammlungvonPapieren. Loseundzusammengebundene, vergilbteunddünnePapiere, bedrucktundbeschrieben, UmschlägemitaufgebrochenenSiegeln. VorsichtighobsiedasobersteBlattmiteinemaufgeklebten, getrocknetenVeilchenan. Bevorsieesnäherbegutachtenkonnte, rutschteeinFotodarunterhervor. DerovaleRahmenpassteperfektinihreHandfläche.

DieverblassteSchwarz-Weiß-FotografiezeigtedasGesichteinerFrau. Sietrugihrdunkles, gescheiteltesHaarnachhintenzusammengesteckt, woesloseüberihrenRückenwellte. ÜberdieSchulternfieleneinigewohldrapierteSträhnen. IhreAugen, hellundmandelförmig, umringtvontiefschwarzenWimpernkränzen, fixiertenToni. UndihrHerzbegannzupochen.

IrritiertließsiedasBildsinken und atmete tief durch. SophieAmalieMarkaustandinhauchzartenLetternunterdemFoto. AlsToniHitzeindieWangenstieg, wandtesiesichvomBildderFrauabundschautesichstattdessendasPapiernäheran. EswareinBrief, verfasstingeschwungenerKurrentschrift. MiteinersolchenHandschrifthattemanvormehralshundertJahrengeschrieben, vielleichtsogarmehralshundertfünfzig. Unterzeichnetvon … alleindasEntzifferndieseskurzen, verschnörkeltenWortesforderteTonisgesamteFantasie. WardaseinL? SiezückteihrHandyundhattemitwenigenKlickseinKurrentschriftalphabetzurHand. Clara. UndClaraschrieban … Sophie.

IndereinenHandhieltTonidasPorträt, inderanderendenBrief. PlötzlichließeinWindstoßdasFensterklirren, dieVorhängeblähtensichihrentgegenundTonikipptehintenüber. DerVorhanggabdenSpiegelwiederfrei – undTonisGliedererstarrten. EineGestaltstanddirekthinterihr, gehülltineinlangesKleid. StummdrehtesieTonidasGesichtzu. IhrHerzsetzteeinenSchlagaus, aber als sie mit einem Schrei herumfuhr, war da – niemand. IhreKehlewarwiezugeschnürt. EintieferAtemzug, einzweiter, undschonwarsieaufdenBeinen, übersprangeineKiste, drücktesichzwischenzweiweiterenhindurchundflohausderTür.

SieflogdieStiegehinunterundkamstolperndimRoten ­SalonzumStehen, woAlexundihreMuttersieirritiertmusterten. SelbstMarty, derentspanntaufeinemSessellag, hobdenKopfundstarrtesiean.

»HastdueinenGeistgesehen?«, fragte Alex spöttisch.

Hattesie? OderwareseineEinbildunggewesen? HättesienichtschonlängstihreMonatslinsenwechselnmüssen?

»AllesinOrdnung?«, fragteihreMutter.

Toninicktelangsam. NochimmerhieltsieBildundBriefinihrenHänden. SieschobbeidesinihreGesäßtasche.

AlexundihreMutterwandtensichwiederdemInhalteinerVitrinezu. »KönntePorzellansein«, murmelteihreMutter, währendAlexeinGlasherauszog: »UndKristallmitGoldrand?«

»KeineAhnung, obdasechtist.«

TonisBlickschweiftedurchdenRaum. NebenderVitrinebefandsicheingroßerFernseher, unweitdavonzweiOhrensesselmitHockerundDeckchen. EineBrilleruhteaufeineraufgeschlagenenFernsehzeitschrift, alswäreMargaretenurkurzzurToilettegegangen. ZweiFenstererhelltendenRaum. RoteTapetenmitgoldfarbenenOrnamentenbekleidetendieWände, orientalischeTeppichedenBoden. InderhinterenEckedesRaumeswareinhoherKamineingelassen. Darüber: dasGemäldeeinerFamilie.

WiemagischangezogengingTonidaraufzu, dochdieStimmeihresBrudersrisssiezurück: »HastdulautertolleSachenobengefunden?«

»Nein. Ich –«

»Wiraber! Schaumal: einFabergé-Ei!« StolzpräsentierteereinmitBlumenornamentenverziertes, rosafarbenesEiaufeinemgoldenenSockel. »DaskönnteMillionenwertsein.«

»EtwasstimmtnichtmitdiesemHaus«, flüsterteToni.

»Machnichtimmerallesschlecht«, sagteihrBruder. »Mama, wirpackendas, wasrichtigwertvollwirkt, zusammenundnehmenesmit. Bevorhiernochjemandeinbricht …«

WährenderdasEiundGeschirreinpackte, zogTonidasPorträtwiederhervor. WarsieebeneineroptischenTäuschungerlegen – oderhattesieeinenGeistgesehen? SolcheErscheinungenwarenerklärbar. Wahrscheinlichwarsiebloßnervös. DievielenfremdenGegenstände. DieserGeruchvonjahrhundertealtem, vergangenemLeben … UndnatürlichauchwegendesAbgabeterminsfürdieRedaktion.

AberdieseAugen …

»Alex, duhastdochsovielrecherchiert. SagtdirderNameSophieAmalieMarkauetwas?«

ErsummteeinenlanggezogenenTon, währendersichamKopfkratzte. TonihieltihmdasPorträthin.

»Meinstdu, daskannmaneinemAntiquitätenhandelverkaufen?«

TonigabihmeinenKlapsundzischte: »DasBildverkaufenwirnicht! – Gut, sagtdiralsonichts. DerNameClaravielleicht?« SierechnetenichtmiteinerAntwort.

Alex runzelte die Stirn. »ClaravonEscherhoff?« ErzückteseinHandyundtippteetwasein. DannbreitetesicheintriumphierendesGrinsenaufseinemGesichtaus. »Wussteich’sdoch! IchhabdirjaschonvonKarlFerdinanderzählt. ErhattedreiKinder: Arthur, MaximilianundClara.«

GebanntlasTonidieNamenundDatenaufdemDisplay: ClaraElisabethFreiinEschervonEscherhoff, 19.1.1863bis …Tonistutzte. »SiewurdenurachtzehnJahrealt?«

»Jap.«

»Aberwieso?«

»Stehthiernicht.«

»DieLeutewurdenfrühernuneinmalnichtsoalt«, erklärteihreMutter. »Undichmöchtehierauchnichtaltwerden. Packtihrmitan?«

WährendAlexdirekteineKistehob, schüttelteTonidenKopf: »Tutmirleid. DiewichtigeAbgabe.«

Alex gab ein ungläubiges Schnauben von sich, ihreMutterbliebmitoffenemMundstehenundMartykläffte – dannzogTonidieTürhintersichinsSchloss.

 

II. Das Unumkehrbare

Fürstin-Justine-Pensionat für höhere Töchter zu Graz, 1879

Clara

EswarnichtdasersteMal, dasssichClaradesNachtsihrenWegdurchdasPensionatsuchte. AufleisenSohlenundmitkräftigpochendemHerzen. SeitsichHenrietteeinstbeidemVersuch, ausdemFensterzuklettern, beideBeinegebrochenhatte, desPensionatsverwiesenwurdeund – Gerüchtenzufolge – heutenurnochstummausdemFensterstarrte, warderlangeWegdurchdieFluredereinzige, dermutigenMädchenblieb. ZumGlückhattesichClaradaslautloseSchleichenbereitsinfrühesterKindheitangeeignet, wennsiesichmitMaxspätindieKüchestahl, umKuchenzuklauen. ImPensionatwaresnureineFragederRoutinendereinzelnenPersonen. ZurNachtruhebefandensichalleaufihrenZimmern, nurhinundwiederpatrouillierteHerrHamstettdurchdieGänge. DeralteHausmeisterwaraufeinemOhrtaubundkeinewirklicheGefahr. WennmanPechhatte, wandelteauchFräuleinConzenwieeinWiedergängerüberdieFlure.

HinundwiederbliebClarastehen, horchtenachknarrendenDielenunddumpfenSchritten. InderEingangshalle, wostetseinLichtbrannte, huschtesiedichtanderWandentlangundhineinindenGang, derzurKücheführte. DenSchlüsselzumHofversteckteÄnneuntereinemGlasWacholderbeerenimGewürz­regal. Eswarbeinahezueinfach. DraußenmussteClaranurnochunterhalbÄnneserleuchtetemFensterentlang, vorbeianderleerenHundehütte – HerrHamstettholteOskarnachtszusichinsZimmer –, undschonwurdeClarainihremschwarzenMantelverschlucktvonderDunkelheit.

SieliefdurchdenGarten zurDorfstraßeundbiszurBrückeamBach. DortverlangsamtesieihreSchritteundducktesichhintereinenüppigenFliederbusch. VonhierauskonntesiehinunterzumBachufersehen.

Sosiehteralsoaus. EinschlaksigerJungemittlererGrößestandanderBrückenmauer. SeineFingerfuhrenallepaarSekundendurchdieHaare, währenderwieeinSchilfrohrhinundherwankte. SeineGesichtszügewarenkaumzuerkennen. Claraversuchte, einwenignachvornezurücken, undschonknirschtendieSteinchenunterihrenSchuhen.

Offenbar