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ZERPOCHEN!
Ein Abgesang
Prosatext und Hörspielskript in einem Band
Das E-Book Zerpochen wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Social Beat, Underground, Neue Prosa, Sprechtheater, Dada
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Seitenzahl: 46
ZERPOCHEN! Ein Abgesang – Prosatext
ZERPOCHEN! Ein Abgesang – Hörspiel
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ZERPOCHEN.
Auch eines der Lieblingswörter meines Vaters.
ZERPOCHT, so schreiben Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch, habe man zunächst nur das Erz im Bergwerk: in immer kleinere Stücke; dann auch die Menschen: durch einfaches Erschlagen; schließlich die Ketten, mit denen sich die Menschheit an Herren und Herrschaft gefesselt hat: in allen Fällen ein zerstörerischer Akt mit schwerem Werkzeug: Axt, Vorschlaghammer, Morgenstern.
ZERPOCHEN mit der Axt:
Den Fuchs, der plötzlich im Vorgarten im Narzissenbeet steht und nicht fliehen mag. Eine blutige Angelegenheit, die eine schmerzhafte Spritze gegen Tollwut notwendig macht. Aber mein Vater weigert sich: „Dann ZERPOCHT es mich eben.“
ZERPOCHEN mit der Axt:
„Noch einen Schritt und du wirst ZERPOCHT.“ Mit Äxten bewaffnet stehen sie sich auf dem zertretenen Rasen vor der Schwengelpumpe gegenüber: mein Vater und der ostpreußische Dickschädel von Nachbar. Ihre hochroten Köpfe drohen zu platzen.
„Hans, mach Dich nicht unglücklich.“
(meine Mutter versucht, meinen Vater zu bremsen)
„Zeig es ihnen!“
(die alte Ihlo feuert ihren Mann an)
Am Ende trollen sich die Helden und werden von ihren Frauen getröstet.
ZERPOCHEN mit der Axt:
Hinter dem Haus mit meinem Vater zusammen die Stühle mit den geflochtenen Sitzflächen zu Feuerholz. „So sind sie wenigstens noch zu was nütze.“
„I was born with a plastic spoon in my mouth“ tönt es dazu aus dem Neccermann-Transistor mit der Radio-Luxemburg-Taste. Das Plastik steht schon um den Küchentisch: gebogenes Metallgebein, hellorange Sitzschalen. Colani läßt grüßen. Das Alte muß dem Neuen weichen und landet ZERPOCHT auf dem Müllhaufen der Geschichte. Vorläufig. Denn bald wird es wieder hervorgezerrt von Archäologen, Geschichtsschreibern, Trödlern, verramscht in Bares für Rares, ans Licht gehoben und bewundert von Reaktionären, Nostalgikern und sonstigen Tümlern: die Hundepeitsche, das Rutenbündel, der Undercut; Maximilian, der letzte Ritter, Friedrich, der Große, Kaiser Wilhelm; sogar Adolf Hitler, Leni Riefenstahl und Arno Breker: zeitlose Ästhetik, glattrasiert und hochglanzpoliert.
Keine Zeit ist sicher vor ihrer Verklärung, die 20er, die 30er, die gerade an der Reihe sind, als wir die Stühle zerschlagen, die 40er, die 50er und so weiter und so fort; neuerdings versucht man sich sogar an den Nullern; und wenn man durch ist damit, wieder von vorn, die Nostalgie der Nostalgie.
Aber immer nur der allergewöhnlichste Mist, der kleinste Nenner, auf den man sich erinnerungstechnisch einigen kann; nicht auf Linc Wray und den Punk der Beatles im Kaiserkeller, sondern auf Elvis im falschen Glitzer auf dem Tiefpunct seines verschnulzt-verfetteten Niedergangs. Elvis steht für die Verkitschung der Rebellion, Link Wray für ZERPOCHEN; Rumble als einziges Instrumentalstück, das je verboten wurde: wegen der Gewalttätigkeit, die es ausstrahlt.
Wenn man es nicht ZERPOCHT, weicht das Alte nicht, sondern setzt Zuckerguß an.
ZERPOCHEN heißt Gewalt; ZERPOCHEN ist das Gegenteil von Lichterketten.
Zürich im März 1917: Wladimir Iljitsch, genannt Lenin, schlendert die Spiegelgasse entlang, Inessa Armand links, die Krupskaja rechts untergehakt; cnapp achtzig Meter, zwei Minuten, von seiner Wohnung in der Nummer 14 bis zum Cabaret Voltaire in der Nummer 1.
Im verrauchten Lokal drängt sich das Publikum stehend bis an den Rand der kleinen Bühne; die Leute schreien, lachen, gestikulieren. Wellenförmig bewegt sich die Masse manchmal von der Bühne zur Bar, manchmal umgekehrt. Lenin und seine Begleitung quälen sich bis zur zweiten Reihe; auf der Bühne schlägt Richard Huelsenbeck eine Kesselpauke, die Menge schreit im Takt „Muh, Muh“ und „Miau, Miau“, Lenin stimmt begeistert ein: “Da! da!“; die Menge echot: “Da! da!“, Lenin schnappt sich drei Bierhumpen von einem Tablett, die Menge tobt weiter:
„Miau, Miau! Muh, Muh! Da! da! Da! da!“.
Inessa Armand taumelt kreidebleich, die Krupskaja fängt sie auf und zischt Lenin zu: „Raus hier.“ „Geht nur.“ Die Krupskaja führt Inessa hinaus, Wladimir Iljitsch macht sich ans Werk und schafft die drei Humpen innerhalb einer Minute.
„Miau, Miau! Muh, Muh! Da! da! Da! da!“
(auf der Bühne bellt Tristan Tzara ein Manifest)
„Jeder muß schreien: es gibt eine große, destruktive, negative Arbeit zu verrichten!“
Lenin bahnt sich den Weg nach vorn durch die Masse; er ballt die Faust und grölt: „Da! da! Da! da!“
350 Kilometer nordwestlich verwest die Kunst in Schützengräben und auf zernarbten Äckern: Gasmasken auf zerborstenen Köpfen, ZERPOCHTE Lebern und Lungen, hervorquellendes Gedärm.
schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
Ernst Jandl, Jandl, Jandl,
aus dem Wiener Landl, Landl,
dein lieber Name klingt
schon wie ein liebes Wort.
(weg mit solchen Gedancen /
zurück nach Zürich)
(Lenin ist auf der Bühne angekommen)
(Tzara schreit)
„Kein Mitleid. Nach dem Gemetzel bleibt uns die Hoffnung auf eine gereinigte Menschheit.“
(Lenin ist schier aus dem Häuschen)
„Da! da! Da! da!“
(die Masse stimmt ein)
„Da! da! Da! da!“
(Lenin schreit Heureka! und schiebt Tzara beiseite)
„Die Arbeiterclasse darf sich nicht einfach auf die Besitzergreifung beschränken.“
„Da! da! Da! da!“
„Sie muß die fertige Staatsmaschine ZERSCHLAGEN, ZERBRECHEN, ZERPOCHEN“
„Da! da! Da! da!“
(die Masse stimmt freudig erregt ein)
„Da! da! Da! da!“
(Tristan Tzara jubelt)
„Ja, das ist es, das endlich entdeckte Wort, DADA, unter dem sich die Befreiung der Kunst vollziehen kann: DADA heißt ZERPOCHEN, ZERPOCHEN heißt DADA!“
„DADA, DADA, DADA!“
(skandiert die Menge weiter)
„DADA, jawohl, DADA. Danke. Und Sie haben es gefunden, Verehrtester; lassen Sie sich küssen!“
(Lenin entzieht sich und stellt sich an die Rampe)
„ZERSCHLAGEN, ZERBRECHEN, ZERPOCHEN!“
(schreit er im Takt der Kesselpauke; und die Menge antwortet)
„ZERSCHLAGEN, ZERBRECHEN, ZERPOCHEN! DADA! DADA! DADA!“
Das ist die Lösung, murmelt Lenin vor sich hin und stürmt hinaus, die Reise im verplombten Eisenbahnwaggon zu organisieren, die große destruktive negative Arbeit zu verrichten, Tristan Tzaras Manifest umzusetzen: