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Die 27-jährige Melanie ist fest entschlossen, Weihnachten dieses Jahr ausfallen zu lassen. Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern verdirbt ihr gründlich die Lust auf das besinnliche Fest. Allerdings muss sie feststellen, dass das erst der Anfang einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse ist. Mell wird alles zu viel und sie flüchtet auf die kleine Nordseeinsel Föhr. Dort trifft sie alte Bekannte und neue Freunde, die ihr das Leben nicht unbedingt leichter machen. Doch all das Durcheinander hat auch sein Gutes, sie trifft auf den eigenbrötlerischen Tierarzt Noah und den Kater Gismo. Begleitet von den beiden stolpert sie in das seltsamste Weihnachten ihres Lebens. Ein Buch über die Liebe, viel Chaos und den Sinn des Lebens.
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Inhaltsverzeichnis
Zimtkaffee und Nordseewind
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Teil I
von
J.L. Mathew
Buch:
Die 27-jährige Melanie ist fest entschlossen, Weihnachten dieses Jahr ausfallen zu lassen.
Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern verdirbt ihr gründlich die Lust auf das besinnliche Fest. Allerdings muss sie feststellen, dass das erst der Anfang einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse ist.
Mell wird alles zu viel und sie flüchtet auf die kleine Nordseeinsel Föhr. Dort trifft sie alte Bekannte und neue Freunde, die ihr das Leben nicht unbedingt leichter machen. Doch all das Durcheinander hat auch sein Gutes, sie trifft auf den eigenbrötlerischen Tierarzt Noah und den Kater Gismo. Begleitet von den beiden stolpert sie in das seltsamste Weihnachten ihres Lebens. Ein Buch über die Liebe, viel Chaos und den Sinn des Lebens.
Über die Autorin:
Geboren 1981 in Hamburg, begann die Leidenschaft zum Schreiben in der Schulzeit. In besonders langweiligen Unterrichtsstunden schrieb sie aus 5 - 10 von ihren Freundinnen vorgegebenen Wörtern kleine Geschichten. Später verbrachte sie die Nächte am liebsten bei Kerzenschein auf ihrem Schreibtisch, um dort schaurige Vampirgeschichten zu schreiben. Doch wie das Leben nun mal so ist, wurde diese Leidenschaft von anderen Lebensphasen durchbrochen. Nun, über einige Umwege, hat sie zum Schreiben zurückgefunden.
Zimtkaffee und Nordseewind
Ein Winter-Roman
Von J.L.Mathew
Zimtkaffee und Nordseewind
Ein Winter – Roman
Von J. L. Mathew
Impressum Copyright © 2022 J. L. Mathew – alle Rechte vorbehalten. J.Mathew
Wakendorfer Str. 20
22889Tangstedt Lektorin: Heike Susanne Pryzbilla Cover: akbuchcover.dehttps://jlmathew.wix.com/mysite
2. Auflage, 2022
Kapitel 1
„Das ist nicht fair!“, schrie das kleine Mädchen empört, das in ihrem rosa Wintermantel am Rande des Bahnsteiges stand und ins Gleisbett starrte. Dicke Tränen begannen ihr die Wangen hinunterzukullern. Verlegen und etwas genervt von dem plötzlichen Gefühlsausbruch, kniete sich die Frau neben ihre Tochter und streichelte ihr sanft über den Kopf. „Nein, das ist es nicht, und weißt du was? Das Leben ist einfach nicht fair.“ Es tat mir leid, dass das Kind seiner Illusion beraubt wurde, und dennoch war es besser, diese elementare Wahrheit so früh wie möglich zu begreifen. Ein kurzer Impuls durchfuhr mich. Am liebsten hätte ich mich neben das kleine Mädchen gesetzt und mit ihm zusammen über die Ungerechtigkeiten des Lebens geweint. Die U-Bahn fuhr vor und die beiden verschwanden im Inneren des Zuges. Für einen kurzen Moment stand ich alleine auf dem Bahnsteig. Die Kälte des Fahrtwindes ließ mich frösteln. Es war jetzt nicht einmal vier Wochen her, dass ich meine Eltern hatte begraben lassen müssen. Es war das Schwerste, das ich jemals in meinem Leben getan hatte und mit der Beerdigung kam schlagartig die Erkenntnis, dass ich von nun an alleine war. Meine Mutter würde mich nicht mehr damit nerven, die Weihnachtsdekoration vom Dachboden zu holen, um das Haus zu schmücken. Auch würde sie mir nicht mehr sanft über den Kopf streicheln und mir einen Teller Kekse hinhalten, wenn es mir mal nicht so gut ging. Mein Vater würde mir keine weisen Ratschläge mehr geben können und würde nicht in seinem Sessel sitzen und zuhören, wenn ich ihm mein Herz ausschüttete. Ich schluckte die Tränen hinunter, die in mir aufgestiegen waren, und verließ den Bahnhof. Kurze Zeit später betrat ich die Kinderarztpraxis, in der ich arbeitete. Wie ferngesteuert zog ich mich um und nahm meinen Platz hinter dem Empfangstresen ein. Nur kurz sah ich auf mein Handy, als ob gleich die Nachricht eintreffen würde, dass all das hier nur ein Alptraum war, aus dem ich gleich aufwachen würde. Nichts dergleichen passierte. „Würden Sie bitte Ihr Handy weglegen“, fuhr mich die schroffe Stimme meines Chefs an. Ich unterdrückte den Reflex zusammenzuzucken. „Wir sind hier in einer Arztpraxis und nicht in einem Callcenter“, setzte er nach. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war er hinter mich getreten und sah mich vorwurfsvoll über meine Schulter hinweg an. Zu gerne hätte ich ihm einen entsprechenden Kommentar an den Kopf geworfen, doch was würde das bringen? In letzter Zeit wurden seine spitzen Bemerkungen immer unerträglicher. Ob das an der Vorweihnachtszeit lag? Wir näherten uns dem ersten Advent, und ich hatte gehört, dass diese Jahreszeit nicht für alle die besinnlichste Zeit des Jahres war. Zumindest traf das dieses Jahr auf mich zu. Daher hatte ich beschlossen, dieses Jahr Weihnachten einfach an mir vorbeiziehen zu lassen. Das Fest der Liebe konnte nichts gegen meinen Weltschmerz ausrichten.
Strahlend wie zwei funkelnde Lichterketten betraten meine Kolleginnen, Lisa und Bea, den Raum. Diese beiden Frohnaturen waren, wie es sich gehörte, dem Weihnachtswahn verfallen. Beide hätten das Wort Weltschmerz erst im Lexikon nachschlagen müssen, bevor sie im Ansatz verstehen konnten, wie sich dieses Gefühl der schmerzhaft empfundenen Melancholie anfühlte. Das würde jedoch erst passieren, wenn die Hölle begann einzufrieren, so viel war sicher. Beas Kopf zierte eine Elfenmütze, doch der Gestalt nach wirkte sie mehr wie ein Gnom mit Wesenskrise. Lisa trug etwas, das im Entferntesten an eine Weihnachtsmütze erinnerte. Zusammen kamen sie mir vor wie eine Parodie von Dick und Doof. Als sie dann im Chor „Jingle Bells“ anstimmten, ergriff ich die Flucht in die Teeküche. Der Geruch von Zimt und Kardamom schlug mir entgegen, als ich die Tür hinter mir schloss und mich gegen sie sinken ließ. Ich wusste nicht, ob mir eher zum Schreien oder zum Heulen zumute war. Beides erschien mir durchaus im Bereich des Möglichen, die Frage war nur, ob es mir helfen würde. Mühsam rappelte ich mich wieder auf und goss mir eine Tasse Kaffee ein. Meine Mutter hatte zu Weihnachten ebenfalls dem Kaffee eine Prise Zimt, Kardamom und einen Hauch Kakao hinzugefügt. Bei dieser Erinnerung begann ich wieder mit den Tränen zu kämpfen.
Die Tür der Teeküche öffnete sich, als ich dabei war, einen Schluck Kaffee zu trinken, und Bea steckte den Kopf herein. „Sonntag ist der erste Advent“, flötete sie gut gelaunt. Auch Lisa schob sich hinter ihr durch die Tür. „Wir haben uns überlegt, dass wir dieses Jahr die Praxis richtig schön festlich dekorieren wollen. Machst du mit?“
„Sehe ich so aus, als wäre mir nach Weihnachten?“, konterte ich genervt und strich mir einige Locken aus dem Gesicht. „Was nicht ist, kann ja noch werden“, gaben die beiden im Chor zurück und kicherten wie aufgedrehte Teenager. Mein Handy vibrierte und bot mir die willkommene Fluchtmöglichkeit. „Guten Tag, Frau Reimann“, meldete sich der Nachlassverwalter meiner Eltern am anderen Ende. „Ich habe die Unterlagen zusammengestellt und wie besprochen alles in die Wege geleitet. Sie können sich die Übersicht gleich aus meinem Büro holen. Ich kann sie Ihnen aber auch per Kurier zukommen lassen.“ „Oh. Guten Tag. Vielen Dank, dass sie das so schnell erledigen konnten“, stammelte ich etwas überrumpelt und fügte hinzu: „Nein, ich hole sie mir nach der Arbeit lieber selbst ab, wenn das geht?“ „Natürlich geht das. Das habe ich Ihnen ja gerade angeboten. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Natürlich war es das nicht, aber das ging den freundlichen Herren rein gar nichts an. „Ja, es ist alles gut“, log ich daher. „Ich bin nur ein bisschen …“ „Verstehe“, entgegnete er. „Dann freu ich mich darauf, Sie nachher zu sehen“, bestätigte der Mann. Ich stimmte zu und verabschiedete mich. Bea und Lisa sahen mich mit fragenden Blicken an. Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern, „Heute kann ich euch nicht helfen. Das war mein Anwalt, ich soll heute noch bei ihm vorbeikommen.“ Die Augen der beiden weiteten sich, als bedeutete das Wort Anwalt, ich sei eine Schwerverbrecherin. Mir gefiel die Sache mit dem Anwalt besser, als ihnen um die Ohren zu hauen, dass Weihnachten mir gestohlen bleiben konnte. „Oh! Wie wäre es dann, wenn wir uns morgen früh hier treffen? Ich bring auch Kaffee und Lebkuchen mit“, erklärte Lisa, und Bea stöhnte theatralisch auf, als wäre schon der Gedanke daran, am Wochenende früh aufzustehen, Folter an sich. Ich war kurz davor, genervt die Augen zu verdrehen, ließ es aber und biss stattdessen in einen der Kekse, die auf dem Tisch standen. Nur, um mich gleich darauf würgend umzudrehen und das, was ich im Mund hatte, ins Spülbecken zu spucken. „Verdammt! Was ist denn das für ein Zeug?“ „Das sind Plätzchen aus Salzteig“, Bea hob entschuldigend die Hände. „Sowas stellt man doch nicht auf den Tisch in der Teeküche! Was ist bei euch beiden eigentlich schiefgelaufen?“, fauchte ich wütend und spülte mir den seifigen Geschmack aus dem Mund. „Kommst du jetzt morgen?“, fragte Lisa, während ich noch mit Würgen beschäftigt war. „Lass mich mal überlegen. Nein! Macht was ihr wollt, aber mit Weihnachten bin ich durch.“ Wütend verließ ich den Raum. Der restliche Tag verlief ereignislos und selbst zum Feierabend hin ließen mich alle mit ihrem Weihnachtskram in Ruhe. Eine halbe Stunde nach Dienstschluss stand ich in der Tür zum Büro meines Anwalts, der sich über seinen etwas zu weiten dunkelbraunen Anzug einen Trenchcoat zog. „Es tut mir ganz schrecklich leid“, beteuerte er zum wiederholten Mal. Durchgefroren wischte ich mir eine nasse Strähne aus der Stirn und konnte mir nur ein mattes Lächeln abringen. „Leider muss ich dringend weg. Ich habe Ihnen aber alle Unterlagen zusammengestellt. Sehen Sie sich das erst einmal in Ruhe an, dann vereinbaren wir einen Termin, um darüber zu sprechen, was in Ihrem Fall das Klügste wäre. Ich war so frei und habe auch einige Optionen gleich mit in den Umschlag gesteckt. Machen Sie sich bloß keine Sorgen und rufen Sie mich jederzeit an.“ Mit diesen Worten drückte er mir ein dickes Kuvert in die Hände und rauschte an mir vorbei. Im Gehen hielt er noch mal inne, um mir einen besinnlichen ersten Advent zu wünschen. Anschließend verabschiedete er sich bei seiner Sekretärin, die damit beschäftigt war, mich mitleidig zu beobachten. Eine kleine Pfütze hatte sich zu meinen Füßen gebildet und alles, was ich mir wünschte, war, nach Hause zu gehen und mich in die Badewanne zu legen, und dann ins Bett. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, fragte die Frau mittleren Alters hinter ihrem Schreibtisch. Nur, wenn das Taxi meinen Einkauf erledigen kann, lag es mir auf der Zunge. Doch anstatt etwas zu sagen, verstaute ich den Umschlag in meiner Tasche und schüttelte den Kopf. Dieses Jahr würde Weihnachten ausfallen, mit dem Entschluss betrat ich am Montagmorgen die Praxis. Leider wollte sich außer mir keiner an dieses Credo halten. Der Kaffeebecher in meiner Hand kam bedrohlich ins Wanken, als ich drohte von der Weihnachtsdekoration erschlagen zu werden. Unzählige Glitzergirlanden, leuchtende Schneemänner und sogar ein singender Elch auf dem Empfangstresen, keine Ecke war verschont geblieben. Alles blinkte und strahlte wie in einem drittklassigen amerikanischen Weihnachtsfilm. Ich bahnte mir einen Weg durch den Girlanden-Dschungel. Eine große Kette aus künstlichem Tannengrün löste sich und fiel auf mich herab. Als würde sie leben, schlang sie sich um Arme und Beine. Ich hatte Mühe, nicht umzufallen. Ich funkelte die beiden Verursacherinnen dieses Weihnachtshorrorkabinetts erzürnt an, doch die kicherten nur. „Jetzt fehlt dir nur noch eine Weihnachtsmütze und du könntest als griesgrämiger Weihnachtself durchgehen“, meinte Bea lachend. „Schön, dass ich zu eurer Belustigung beitrage. Wirklich sehr witzig! Hättet ihr die Güte, mich aus diesem bissigen Ungetüm zu befreien?“, konterte ich. Tatsächlich dauerte es ein paar Minuten, bis Lisa und Bea mich aus dem lianenhaften Weihnachtsalptraum befreit hatten. „Ah, guten Morgen, Frau Reimann!“, ertönte die Stimme meines Chefs aus einer hinteren Ecke. Ein leichtes Unbehagen begann sich in mir breitzumachen. „Schön, dass Sie uns auch mal wieder beehren“, der gehässige Tonfall stellte mir die Nackenhaare auf, als ob ich jemals gefehlt hätte, oder sonstigen Pflichten nicht nachgekommen wäre. Dann trat er aus dem Schatten und ich staunte nicht schlecht, als ich eine Weihnachtsmütze auf seinem Kopf sah. Sofort schoss mir das Bild des Grinchs durch den Kopf, wie er bösartig und gehässig lachte. Aus seinen Augen schien er Blitze auf mich abzufeuern. Diese Form von Aufmerksamkeit war in keinem Fall gerechtfertigt und auch nicht angebracht. Das Bild, wie ich ihn mit einer der Weihnachtsgirlanden erdrosselte, zog vor meinem inneren Auge auf, zusammen mit einem snobistischen Lächeln, welches ich aber gleich wieder unterdrückte. Der Blick auf die Uhr brachte mich erneut in Rage, es war zehn vor acht. Zwischen zusammengepressten Zähnen sagte ich: „Ihnen auch einen Guten Morgen. Wenn ich mich nicht irre, beginnt mein Dienst um 8 Uhr, oder habe ich da etwas verpasst?“ Da daraufhin keine Antwort kam, ging ich nach hinten, um mich umzuziehen und wenigstens für einen Moment meine Ruhe zu haben. Ich sah Bea und Lisa nach diesem Zwischenfall schon die Köpfe zusammenstecken. Das Pochen hinter meinen Schläfen nahm zu. Ich setzte mich auf die kleine Bank und versuchte, den Schmerz wegzumassieren, mit nur mäßigem Erfolg. Verdammt, ich war erst 27 Jahre alt und das hier sollte das sein, was mich für den Rest meines Lebens erwartete? Platzangst machte sich in mir breit und es schien, als würden die Wände langsam und bedrohlich immer näher auf mich zukommen. Weg. Einfach nur weg, war alles, was ich denken konnte. Angestrengt versuchte ich mir vorzustellen, was meine Mutter mir in dieser Situation jetzt raten würde, doch es gelang mir nicht, egal wie sehr ich mich bemühte. „Mell, bis du da drin?“, fragte vorsichtig eine weibliche Stimme. Ich tippte darauf, dass es Bea war, konnte das aber nicht so genau sagen, da gellendes Kindergeschrei es schwer machte, überhaupt etwas zu verstehen. „Ich komme!“, schrie ich daher nach draußen und zog mir das rosafarbene Poloshirt über den Kopf. Es war tatsächlich Bea, die vor der Tür auf mich wartete und mir zuraunte, dass ich dringend im Behandlungszimmer 2 gebraucht wurde. Das konnte nur eines bedeuten, mein Chef war emotional vollkommen überfordert. Das kam nicht selten vor. Empathie war so gar nicht seine Stärke. Ich war ja der Meinung, dass er den falschen Beruf hatte, aber wer fragte mich schon. Eine Welle aus Angst, Sorge und Verzweiflung schlug mir entgegen, als ich die Tür zum Behandlungsraum öffnete. Es kostete mich nicht mehr als einen Blick, um die Situation zu erfassen. Das Kind hatte Schmerzen, vermutlich eine Mittelohrentzündung, die Mutter drückte es beschützend an ihre Brust und der Herr Doktor stand in der Ecke und rieb sich nachdenklich das Kinn, als ob das helfen würde. Ich griff nach einer Kühlkompresse, wickelte sie in ein Tuch und drückte sie dem Kind unter das Ohr, dann bedeutete ich der Mutter, sie solle die Kompresse festhalten. Das würde wenigstens einen Teil der Schmerzen lindern. Es dauerte nicht lange, und das Kind gab nur noch ein erschöpftes Wimmern von sich. Mein Blick wanderte zu dem Mann, der in der Ecke stand. Ein leichtes Kopfnicken war alles, was ich zum Zeichen seiner Dankbarkeit erhielt. In einer der Schubladen suchte ich nach den Lutschpastillen. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und ich versuchte unter der Berührung nicht zusammenzuzucken. Bis zur Mittagspause verlief alles Weitere eher ereignislos. Ich setzte mich mit einer Tasse Kaffee in die Teeküche und genoss die Stille. Die anderen waren ausgeflogen und ich hatte freiwillig den Telefondienst übernommen. Vor mir auf dem Tisch lag der braune Umschlag. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, um ihn zu öffnen. Doch bevor ich einen Entschluss fassen konnte, klingelte mein Handy. „Ja, bitte?“, meldete ich mich, wie gewohnt. „Frau Melanie Reimann?“, fragte eine unbekannte Frauenstimme mit einem seltsamen Akzent am anderen Ende. „Ja, das bin ich“, bestätigte ich. „Hier ist die Hausverwaltung Nordseeliebe. Vielleicht haben sie schon von uns gehört?“ Gedanklich schüttelte ich den Kopf. „Als Erstes möchte ich mein herzliches Beileid zum Tod ihrer Eltern aussprechen“, fügte die Frau hinzu. „Danke“, stammelte ich und spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildete. „Doch leider gibt es noch einen anderen Grund, warum ich anrufe. Ich würde Sie bitten, umgehend zu uns auf die Insel zu kommen. Es wurde uns gemeldet, dass es wohl einige Probleme mit dem Haus Ihrer Eltern gibt, und leider sind wir nun nicht weiter für das Anwesen zuständig, können daher also auch nichts machen.“ „Und jetzt? Kann ich nicht einfach den Vertrag verlängern und Sie kümmern sich um die Probleme?“ „Leider ist das nicht ganz so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Es wäre wirklich gut, wenn wir das vor Ort besprechen könnten.“ „Ist das wirklich nötig?“, wiederholte ich meine Frage. „Ich fürchte, ja, und je eher Sie kommen, desto besser.“ „Ok“, stammelte ich etwas ahnungslos. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Vielen Dank für ihren Anruf. Könnten Sie mir alles Weitere per Mail schicken?“ „Natürlich, das mache ich gern. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag!“ Damit verabschiedete sich die Frau und ich legte auf. Ich konnte hier unmöglich weg. Ob ich versuchen sollte, meinen Chef um Urlaub zu bitten? In diesem Moment hörte ich, wie jemand die Praxistür aufschloss. Ich zuckte zusammen. Seit wann war ich nur so schreckhaft? Schnell packte ich den Umschlag wieder in die Tasche und stellte sie in das Fach, in dem meine Sachen lagen. Vorsichtig öffnete ich die Tür der Teeküche und lugte um die Ecke. Gerade noch konnte ich erkennen, wie ein Paar langer Beine im hinteren Teil der Praxis verschwand. Das war die beste Gelegenheit, um mit dem Chef zu sprechen, beschloss ich und ging ihm hinterher. Doch meine Courage verließ mich kurz vor der Tür zu seinem Büro, und mir war ein wenig mulmig, als ich zaghaft an die Tür klopfte. Ich betrat das Büro durch einen schmalen Spalt und beobachtete einen Moment, wie der Doktor seinen Mantel an den Kleiderständer hing, bevor er sich zu mir umdrehte. „Frau Reimann! Was verschafft mir denn dieses zweifelhafte Vergnügen?“ Er legte den Kopf etwas schief und ließ seinen Blick über meinen Oberkörper wandern. Einen Tick zu lange ruhte er auf der Stelle, wo meine Brüste den Stoff des T-Shirts spannten. Ein Schaudern überkam mich, trotzdem nahm ich allen Mut zusammen und räusperte mich. „Ich bin hergekommen, weil ich Sie um etwas bitten wollte.“ „Na dann schießen sie mal los. Ich denke nicht, dass es um einen Antrag für neue Arbeitskleidung geht. Es wäre wirklich zu schade, wenn sie die Kleidung eine Nummer größer bestellen würden.“ Mir blieb fast die Spucke weg, das war das Widerlichste, was ich seit Langem gehört hatte. „Es wäre nett, wenn Sie mit mir und nicht mit meinem T-Shirt sprechen würden“, versuchte ich seinen Blick wieder auf mein Gesicht zu lenken. Kurzzeitig hatte ich damit Erfolg, sein Blick wanderte langsam nach oben und blieb erst an meinen Lippen, dann an meinen Augen hängen. „Ich bitte um Verzeihung“, sagte er in einem so schmierigen Tonfall, dass mir schlecht wurde. Noch mal kämpfte ich um den letzten Hauch von Selbstbeherrschung und begann von vorne. „Ich wollte Sie fragen, ob sie mir einige Tage freigeben könnten. Es gibt da eine Sache, um die ich mich dringend kümmern muss.“ „Schon wieder?“, seufzte er theatralisch, „Sie wissen doch: Es ist Erkältungszeit und da kann ich Ihnen nicht schon wieder freigeben. Soweit ich weiß, musste ich schon vor einigen Wochen auf Sie verzichten.“ „Das war ein halber Tag. Nur einen halben Tag haben Sie mir freigegeben, um meine Eltern zu beerdigen“, ich kochte innerlich vor Wut. „Einen halben Tag, an dem ich auf Sie und ihren Anblick verzichten musste. Das war doch nun wirklich mehr als genug, finden sie nicht auch? Aber wenn Ihnen wirklich so viel daran liegt, dann könnten wir uns bestimmt einig werden.“ Er strich mit seiner kalten Hand über meinen Oberarm, bis er am Saum meines Polohemdes angekommen war. Er kam einen Schritt näher, bis ich zwischen ihm und der Tür eingeklemmt war. Roch ich da etwa Alkohol? Eine Fahne seines Atems strich über mein Gesicht und mir kam die Galle hoch. „Wissen Sie, es liegt nur an diesem T-Shirt, dass ich meinen Blick nicht von Ihnen lassen kann. Mit Ihnen hat das rein gar nichts zu tun. Würden Sie es für mich ausziehen, dann wäre ich bereit, Ihnen einige Tage freizugeben.“ Was zu viel war, war zu viel. Mit Wucht rammte ich ihm mein Knie in die Weichteile und befreite mich aus seinem Griff. „Wissen Sie, wo Sie sich Ihre freien Tage hinschieben können?“, fauchte ich. „Ich kündige, und zwar fristlos. Vielleicht melde ich Sie auch noch bei der Ärztekammer.“ Er krümmte sich und ging auf die Knie, trotzdem hörte er nicht auf zu wimmern: „Es liegt nur an dem Shirt, ich kann nichts dafür.“ Wenn er das glaubte, dann war er ein Fall für die Psychiatrie. Wutentbrannt holte ich meine Sachen und rauschte aus der Praxis. Beim Verlassen der Räumlichkeiten hätte ich fast einen Paketboten über den Haufen gerannt. „Ich suche eine Melanie Reimann, wissen Sie, wo ich die finde?“ Der junge Mann in seiner Uniform wirkte ein wenig eingeschüchtert. „Das bin ich“, bellte ich ihn an. An seinem Zusammenzucken merkte ich, dass ich mich im Ton vergriffen hatte. Er reichte mir ein Paket. Seine Hand zitterte, als er mir das elektronische Gerät reichte, auf dem ich unterschreiben sollte. Ohne den Paketboten und seine Gefühlslage weiter zu beachten, griff ich nach der Kiste und machte mich auf den Heimweg. Schlafen war das Einzige, was mir jetzt sinnvoll erschien. Das und eine Familienpackung Eiscreme. Da ich aber nicht wusste, wie ich Eis essen sollte, während ich schlief, beließ ich es dabei, dass ich einfach nur schlafen wollte.
Kapitel 2
Müde erhob er sich. Man konnte es Intuition, vielleicht auch einen siebten Sinn nennen. Denn eine leise Stimme flüsterte ihm zu, dass jemand auf die Insel kam, der seine Hilfe brauchte. Ob es sich dabei um einen Mann, eine Frau oder etwas anderes handelte, das sagte ihm seine innere Stimme nicht. Gemächlich streckte er seine in die Jahre gekommenen Glieder. Sehnsüchtig sah er zu dem knisternden Kaminfeuer und nur für einen Moment dachte er darüber nach, sich wieder hinzulegen. Ein Knurren, das aus seinem Magen zu kommen schien, hielt ihn aber davon ab. Da war doch der Braten von gestern noch im Kühlschrank, oder? Das wäre jetzt genau das Richtige. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Es kostete ihn zwar etwas Mühe, den alten Kühlschrank zu öffnen, doch es lohnte sich. Der saftige Braten lag genau auf seiner Höhe und schien seinen Namen zu tragen. Er nahm sich zwei Scheiben, denn wer konnte schon auf einem Bein stehen? Drapierte die Stücke Fleisch auf einem Teller und ließ sich in der Küche nieder. Immer wieder glitt sein Blick durch das Küchenfenster nach draußen. Die ersten zarten Eisblumen hatten sich an der Scheibe gebildet. Ein lautes Knacken des Kaminfeuers zog seine Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt. Es gab keinen schöneren Ort, den er sich vorstellen konnte als diesen hier. Ihn schauderte bei der Aussicht, gleich in die Kälte hinaus zu müssen.
Ein dumpfes Klopfen riss mich aus meinen kuscheligen Träumen. Ein wenig desorientiert sah ich mich um. War das Klopfen ein Teil meines Traumes gewesen? Müde rieb ich mir die Augen. Da, da war es schon wieder. Ein dumpfes Pochen, aber woher kam es? Nichts konnte jetzt so wichtig sein, dass ich dafür aufstehen würde, dachte ich und drehte mich um. Das Einzige, für das ich in Erwägung ziehen würde aufzustehen, waren Tacos mit extra Käse. Bei dem Gedanken begann mein Magen zu knurren. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? „Frau Reimann, machen Sie bitte die Tür auf!“, schrie eine Männerstimme meine Tür an. Ich blinzelte den Schlaf aus den Augen und schwang meine nackten Beine über die Bettkante. Mein Schlafshirt mit der Aufschrift „Schwarz ist bunt genug“ fiel mir über die Oberschenkel, trotzdem griff ich nach der pinkfarbenen Jogginghose und ein paar Wollsocken. Das Klopfen war mittlerweile zu einem Hämmern geworden, und es war nicht mehr nur eine Stimme, die meinen Namen rief, da draußen schien ein ganzer Chor auf mich zu warten. Erst jetzt fiel mir auf, dass es unangenehm kühl und feucht in der Wohnung war. Je näher ich der Tür kam, umso deutlicher konnte ich die aufgebrachten Stimmen dahinter hören, die allesamt verstummten, als ich die Klinke hinunterdrückte. Es war wie der Cliffhanger eines Blockbusters. Wer konnte schon sagen, was mich hinter der Tür erwartete? Langsam öffnete ich die Tür. Erstaunt und ein wenig befremdet sah ich in das puterrote Gesicht meines Hausmeisters. Er sah gehetzt aus und trug etwas, das einem Ganz-Körper-Kondom glich. Ich erinnerte mich daran, Angler im Fernsehen mal in einer solchen Bekleidung gesehen zu haben. Mein Blick schweifte über die Gestalt vor mir zu meinen Nachbarn, die sich hinter ihm versammelt hatten. Jeder von ihnen hielt eine Tasche oder einen Koffer in der Hand. „Heizung kaputt, Wasserrohrbruch im Keller“, keuchte mein Hausmeister atemlos. Ganze Sätze wurden eindeutig überbewertet. Ein Herr mittleren Alters schob sich nach vorne, um die sprachliche Barriere des Hausmeisters zu überbrücken. Der Mann kam mir seltsam bekannt vor, ich hatte ihn schon das ein oder andere Mal im Hausflur getroffen. „Das Haus soll geräumt werden und die Feuerwehr ist schon auf dem Weg. Daher wäre es gut, wenn Sie die nötigsten Sachen schnell packen würden. Das Haus wird vorübergehend evakuiert.“ Das klang gar nicht gut, realisierte mein träges Hirn, das dem Mann insgeheim dafür dankte, dass er wenigstens das Prinzip der Satzbildung verstanden hatte. Während ich zurück in die Wohnung stolperte, überlegte ich fieberhaft, was ich falsch gemacht hatte, um so ein Karma zu verdienen. Andererseits hatte ich jetzt, was ich wollte, nur eben nicht so, wie gedacht. Mit der Tasche in der Hand besah ich mir den Inhalt des Kleiderschrankes. Dann packte ich alles zusammen, was ich brauchte, um neu anzufangen, denn das war das Einzige, woran ich denken konnte. Erst, als ich in meine Winterstiefel stieg, mir meinen dunkelblauen Steppmantel anzog und mir das Paket, das auf meinem Küchentisch stand, griff, begann mein Hirn seine Arbeit wieder aufzunehmen. Zwanzig Minuten später drängte ich mich durch die Schar Feuerwehrmänner, die sich ihren Weg ins Haus bahnten. Die blassblaue Fassade, die ich einmal so schön gefunden hatte, wirkte mit einem Mal trostlos und eher grau als blau. Ich stellte meine Tasche neben mir ab und starrte auf das Haus. Fast zehn Minuten vergingen, bis mir jemand eine Hand auf die Schulter legte. „Wissen Sie, wo Sie jetzt hinkönnen?“, fragte mich die raue Stimme des Hausmeisters, der mittlerweile seine Sprache wiedergefunden hatte. Ich nickte. Das hatte ihm ausgereicht, denn er ließ mich wieder allein. Während ich so vor dem Haus stand und vor mich hinstarrte, fühlte es sich an, als ob etwas in mir zerbrechen würde. Ich drehte mich um und die Scherben knirschten unter meinen Schuhen. Keine Stunde später saß ich mit meinen Habseligkeiten im Zug nach Dagebüll. Dicke Schneeflocken wirbelten am Fenster vorbei. Hypnotisiert von ihrem Anblick starrte ich ihnen hinterher, wie sie durch den Fahrtwind an die Scheibe gedrückt wurden und von ihnen nicht mehr übrigblieb als ein nasser Fleck. Ein älterer Mann schob sich zu meiner Sitzgruppe durch, deutete auf das Paket, das mir gegenüber lag und fragte: „Darf ich?“ „Oh, natürlich“, ich hob das Paket hoch und wollte es gerade neben mich legen, als ein leises Klingeln aus seinem Inneren erklang. „Was ist das?“, fragte der Mann leicht irritiert und sah sich suchend um. Der Mann erinnerte mich mit seinem weißen Rauschebart ein wenig an den Weihnachtsmann. „Meinen Sie das Klingeln? Das kommt aus meinem Paket“, gab ich zurück und stellte die Kiste ab. Seine blauen Augen funkelten mich belustigt an, als er sich mir gegenüber auf dem Platz niederließ. „Darf ich fragen, was da so klingelt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist doch Ihr Paket, oder? Sind Sie denn gar nicht neugierig?“ „Um ehrlich zu sein, nein, ich bin nicht neugierig.“ Der Mann mir gegenüber verschränkte seine Arme vor dem Bauch und legte den Kopf schief, sagte aber nichts. Na gut, ich musste zugeben, dass ich schon ein bisschen neugierig war, aber ich hatte bis jetzt keine Zeit gehabt. Verstohlen sah ich auf das Päckchen. Auf dem Adressaufkleber stand mein Name, den Absender aber konnte ich beim besten Willen nicht entziffern. Ich fühlte mich beobachtet, also unterließ ich den Versuch, wenigstens mal hineinzulugen. Der Mann kramte in seiner Tasche und holte eine Brotdose, eine Thermoskanne und ein rotes Buch hervor. Die goldenen Lettern schienen sich unter dem Licht zu bewegen. Ich konnte nicht anders. Wie gebannt starrte ich auf den Einband. Es war Charles Dickens` „Der Weihnachtsabend.“ Dunkel konnte ich mich dran erinnern, wie mein Vater mir immer aus dem Buch vorgelesen hatte. Der Duft von Apfel, Zimt und weiteren Gewürzen stieg in einer Dampfwolke auf, als er sich einen Becher Tee eingoss. „Möchtest du auch einen Becher Tee?“ Ich war so verdutzt über die Frage, dass ich nur wie ein kleines Kind nicken konnte. Aus seiner Tasche zauberte er einen zweiten Becher, goss ihn voll und schob ihn mir zu, zusammen mit einer vollen Dose Lebkuchen. Mit seiner tiefen, sonoren Stimme begann er vorzulesen. Ohne dass er gefragt hatte, ob ich das wollte. Der Klang seiner Stimme, der Duft des Tees und der Lebkuchen, ebenso das Rattern der Eisenbahn ließen mich langsam dahindämmern. Das Gefühl von Geborgenheit hatte sich wie eine schützende Decke über mich gelegt. „Dagebüll. Der nächste Halt ist Dagebüll, bitte alles aussteigen. Der Zug endet hier.“ Ich war alleine im Abteil, der alte Mann war weg, nur der Becher mit Tee und die Lebkuchen standen noch da, genauso wie das Buch, das aufgeschlagen auf dem Sitz lag. Ich fühlte die leicht salzigen Spuren von Tränen auf meinen Wangen und rieb mir über das Gesicht. Suchend sah ich mich um. Von dem alten Mann war keine Spur mehr zu sehen. Ich trank einen kleinen Schluck Tee, und er schmeckte köstlich. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Ich streckte meinen Arm nach dem Buch aus und fühlte mich gleich wie eine Verbrecherin, doch ich konnte das Buch nicht hier liegen lassen. Ich griff danach und ließ es elegant in meiner Reisetasche verschwinden. Schnell trank ich den Tee aus und verstaute die Tasse ebenfalls. Anschließend schulterte ich meine Habseligkeiten und trat, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, an die Tür. Es rumpelte und rüttelte und ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Als ich mit Schwung die Tür öffnete, blies mir ein eisiger Wind ins Gesicht, der wundervoll salzig nach Meer roch. Ich musste mich richtiggehend gegen den Wind lehnen, um vorwärtszukommen. Schon von weitem sah ich die wartende Fähre. Ich musste mich beeilen. Auf dem Schiff suchte ich mir einen ruhigen Platz unter Deck, zog das rote Buch hervor und begann zu lesen. Kaum das ich die ersten Zeilen gelesen hatte, begann die Welt, um mich herum stillzustehen.
Es war an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sein runder Bauch wog schwer von dem ganzen Braten, den er verschlungen hatte. Ihn beschlich das Gefühl, dass das dritte Stück Fleisch doch etwas zu viel gewesen war. Er verließ das Haus und schüttelte sich, bei der klirrenden Kälte, die ihm ins Gesicht schlug. Das Gras knirschte leise unter seinem Gewicht. So sehr er sich auch wieder vor den knisternden Kamin sehnte, jetzt war nicht die Zeit, um zu faulenzen, jetzt war die Zeit für Heldentaten. In einem gemächlichen Tempo trottete er los. Schon nach kurzer Zeit begann sein Atem stoßweise zu gehen, ob es nun an der Kälte lag oder doch an dem opulenten Mittagessen, konnte er nicht genau sagen. Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, über einen Nachfolger nachzudenken, jemanden, dem es nichts ausmachte, mal eben über einen Zaun zu springen. Ich betrat die kleine Insel, deren Anblick mir zugleich fremd und auch vertraut war. Wie lange war ich nicht mehr hier gewesen? Früher hatte ich hier oft zusammen mit meinen Eltern die Ferien verbracht. Das war nun aber schon eine gefühlte Ewigkeit her. Auf dieser Insel hatte ich mich zum ersten Mal verliebt, hatte die Tage am Strand verbracht und unter freiem Himmel geschlafen. Sie war ein Teil meiner Vergangenheit, doch war ich seit über zehn Jahren nicht mehr hier gewesen. Ich musste ein Schluchzen unterdrücken, den genau wie die Insel zählten jetzt auch meine Eltern zur Vergangenheit. Um mich herum gingen die anderen Menschen zielstrebig ihrer Wege. Nur ich stand wie angewurzelt am Fähranleger und wusste nicht, wohin.
Nicht weit von mir, auf einem der Poller, saß eine Katze, die mich mit schräggelegtem Kopf zu beobachten schien. In ihren Fellspitzen schimmerte es, als säße sie schon lange hier in der Kälte. Die buschigen Ohren zuckten, als ich näherkam, doch ansonsten bewegte sich das stattliche Tier nicht. Ihr grauweißes Fell erinnerte mich an einen Schneesturm.
„Na du“, flüsterte ich, um das Tier nicht zu verschrecken. Wie zur Erwiderung meines Grußes hob die Katze die Pfote. „Weißt du zufällig, wo ich hinmuss?“ Mit hoch erhobenem Schwanz sprang die Katze vom Poller und stolzierte auf mich zu, drehte sich ein paarmal zwischen meinen Beinen und sah mich auffordernd an.
Ich folgte ihr einige Meter, nur um zu sehen, wo das Tier hinwollte, und blieb dann stehen. Doch das schien nicht in ihrem Sinne zu sein, denn die Katze drehte sich um, hob die Pfote und gab ein aufforderndes Mauzen von sich. So weit war es schon, dass ich einer Katze folgte. Zögernd ging ich hinter dem Tier her, das die Größe eines kleinen Hundes hatte. Als würde ihm die ganze Insel gehören, führte es mich durch die Fußgängerzone. Sobald ich stehenblieb, zuckte es genervt mit dem Schwanz und warf mir einen protestierenden Blick zu.
Das Gewicht meiner Tasche zog schwer an meinem Arm, als ich endlich in die kleine Seitenstraße einbog. An der Tür des kleinen Geschäfts mit der geschwungenen Schrift „Nordseeliebe – Hausverwaltung“ hing ein Schild: Betriebsferien vom 25.11 bis 27.12. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, ich hatte doch gestern mit denen telefoniert. Ich tippte die Nummer ein, die für Notfälle angegeben war. Eine nasale Stimme teilte mir mit, dass ich eine Nachricht hinterlassen könnte, sie würde dann an die zuständigen Handwerker weitergeleitet werden. Was, in aller Herrgottsnamen, war hier los? Hatte sich jemand mit mir einen schlechten Scherz erlaubt? Wartend saß die eindrucksvolle Katze vor mir. Ich kniete mich hin, um ihr über den Kopf zu streicheln. „Danke Kätzchen, dass du mich hergebracht hast.“ Ich erntete einen bösen Blick, dann sprang sie gegen meine Hand und rieb ihren Kopf an ihr. „Kein Kätzchen?“, fragte ich etwas irritiert. Als Antwort bekam ich ein Fauchen, das die weißen spitzen Fänge des Tieres entblößte. „Kater?“, fragte ich und kam mir albern vor, dass ich mich mit einer Katze unterhielt. Doch als Antwort gab er ein lautes Schnurren von sich. „Gut, dann also Kater. Ich bitte um Verzeihung.“ Als würde er mir seine Gunst erweisen, senkte er den Kopf, dann schlenderte er weiter seines Weges und ließ mich perplex zurück. Am Ende der Gasse drehte sich der Kater um, hob die Pfote und schüttelte sie. Es sah aus, als würde er mir winken. Ich erwiderte den Gruß. Dann war das Tier verschwunden.
Die Sonne kam hinter einem dicken Wolkenberg hervor, fast so, als wolle sie mich besänftigen. Für einen Moment gab ich mich der wärmenden Wintersonne hin und hielt ihr mein Gesicht entgegen, bis ein lautes Knurren mich aufschrecken ließ. Ich sah mich um, doch hier war niemand außer mir. Da war wieder das Geräusch, gepaart mit einem unwohlen Gefühl in meiner Magengegend. Erst jetzt begriff ich, dass es mein Magen war, der geknurrt hatte. Der Gedanke an ein Fischbrötchen ließ mich wieder in Richtung des Hafens gehen. Früher hatte es dort immer einen Imbiss gegeben, und mir war so, als wäre ich vorhin an einem solchen Laden vorbeigekommen. Ewig hatte ich sowas nicht mehr gegessen, und bei dem Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Die Vorfreude darauf ließ meinen Magen lauter knurren. Die einzelnen Sonnenstrahlen schienen über die Wasseroberfläche zu tanzen, und ich musste blinzeln, als ich mit einem Brötchen in der Hand den Laden verließ und mir einen Platz suchte, an dem ich mich hinsetzen konnte. Ja, es war kalt, aber ich liebte diese klare Luft und die weite Sicht aufs Meer. Mein Magen war sofort besänftigt, als ich herzhaft in den Fisch biss, der sich, in Remoulade getaucht, zwischen den Brothälften aalte. „Mmh“, stöhnte ich und bemerkte verlegen, dass mein Stöhnen etwas zu laut gewesen war. Ich grinste. Einer der Fischer kam geradewegs auf mich zu. Ich traute meinen Augen kaum. Es war Lars, der Sohn eines der Krabbenfischer und meine erste Urlaubsliebe. Das musste schon Ewigkeiten her sein, denn jetzt war er kein pubertierender Junge mehr. Er war groß und breitschultrig, sein strohblondes Haar, das oben von einer Pudelmütze bedeckt wurde, lugte verspielt unter der Mütze hervor. Warme braune Augen musterten mich von oben bis unten, bevor er fragte: „Bist du es wirklich?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er mich in eine herzliche Umarmung, die so ungestüm war, dass ich nur mit Not mein angebissenes Fischbrötchen in Sicherheit bringen konnte. „Lars!“, keuchte ich unter dem festen Druck seiner Arme. „Ich bekomme keine Luft mehr.“ „Oh, Entschuldigung, es ist nur …“, er rückte ein Stück ab, ohne mich dabei loszulassen. „Ich, also, wir alle haben gehört, was mit deinen Eltern passiert ist, und es tut uns so leid. Wir hatten uns schon gefragt, wann du den Weg auf unsere Insel finden würdest.“ Er setzte sich neben mich auf die kleine Mauer und zog mich an seine Seite. Er sagte nichts. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und genoss das Gefühl. Meine Mutter hatte immer gesagt, manchmal ist eine ehrliche Umarmung das Einzige, was hilft. Jetzt verstand ich, was sie damit gemeint hatte. Es gab mir das Gefühl, mit meinem Schmerz nicht mehr alleine zu sein. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen und aufs Meer starrten. Ein anderer Mann, der neben einem Kutter stand, begann heftig zu winken und ich knuffte Lars in die Seite. „Ich glaube, der meint dich.“ Lars blickte auf und hob ebenfalls die Hand. „Jo. Sieht ganz so aus. Ich muss dann mal wieder. Bleibst du noch ’ne Weile? Dann ruf ich dich an und wir gehen mal zusammen essen?“ Ich nickte, kramte aus meiner Tasche Stift und Papier und kritzelte meine Nummer auf eine Ecke des Zettels. Lars nahm den Zettel mit einem breiten Grinsen entgegen und schwenkte ihn wie eine Trophäe. Dann verschwand das kleine Stück Papier in der Brusttasche seiner Latzhose. Erst jetzt bemerkte ich den Gestank nach Fisch, den er hinter sich herzog und hoffte, dass er vor unserer Verabredung wenigstens duschen würde. Das war ein gemeiner Gedanke und ich wusste, dass er ihn nicht verdient hatte. Unter einem leisen Stöhnen schulterte ich meine Reisetasche und machte mich auf zum nächsten Supermarkt, wo ich die Tasche in einen Einkaufswagen fallen ließ. Mir war schleierhaft, wie ich zusätzlich einen Einkauf mit Grundnahrungsmitteln zum Haus befördern sollte, doch da sprang mir ein kleiner faltbarer Bollerwagen ins Blickfeld. Normalerweise wurden die nur zur Hauptsaison verkauft, wenn Eltern sich fragten, wie sie das ganze Strandspielzeug ihrer Kinder befördern sollten, oder die quengelnden Kinder. In meinem Fall war er die Rettung. Bepackt mit allem, was ich fürs Erste brauchte, half mir der Busfahrer den vollen Bollerwagen aus dem Bus zu heben. Dankbar lächelte ich ihn an. Wie selbstverständlich winkte er ab, er schien es gewohnt zu sein, arglosen Touristen zu helfen. Ich zog den Bollerwagen noch ein Stück durchs Dorf, bis ich an die kleine Seitenstraße kam, die zu dem Ferienhaus meiner Eltern führte. Kurz hielt ich inne und holte tief Luft, dann lief ich das Stück zwischen den kleinen gedrungenen Reet- und Fachwerkhäusern hindurch, bis ich am Ende der Straße die vier vertrauten Häuser sah, die rund um einen Wendehammer standen. Das linke und das rechte schienen nicht bewohnt zu sein. Nur das Haus ein Stück neben dem meiner Eltern wirkte bewohnt, denn dünne Rauchwolken stiegen aus dem Kamin. Ich streckte den Schlüssel in das Schloss der Klöntür, die noch recht neu wirkte. Meine Mutter hatte sich immer eine solche Tür gewünscht, nur konnte ich mich nicht daran erinnern, wann diese hier eingebaut worden war. Kalte, feuchte und abgestandene Luft schlug mir entgegen, als ich ungeachtet der Spuren, die es hinterlassen würde, den kleinen Wagen direkt in die Küche zog. Die weiße Landhausküche wirkte unbenutzt. Ob hier vor kurzem noch Gäste gewohnt hatten? Ich öffnete die Schränke, doch alles schien noch an seinem Platz zu stehen, und auch der Vorratsschrank enthielt noch eine übersichtliche Auswahl an Grundnahrungsmitteln. Als erstes machte ich mich daran, einen Kaffee zu kochen, denn mir war kalt und ich war müde. Noch während ich dabei war, den Einkauf einzuräumen, zog eine bleierne Traurigkeit an mir, immer wieder musste ich innehalten, um nicht gleich in Tränen auszubrechen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so schrecklich allein gefühlt. Die Versuchung, auf die Knie zu sinken und das Leben anzuflehen, den Schmerz von mir zu nehmen, war groß, doch solange ich in Bewegung blieb, konnte ich dem Drang widerstehen. Es fühlte sich an wie ein nie enden wollender freier Fall, ohne Netz und doppelten Boden. Die ganze Zeit hatte ich mich tapfer gehalten, alles ertragen, doch mit einem Mal wurde die Last zu schwer. Zog und zerrte an mir. Bald erfüllte der Duft von Kaffee die Küche und rettete mich vor den düsteren Gedanken, die sich breitmachten. Ich goss mir einen großen Becher ein, als symbolische Geste hob ich die Tasse, als würde ich meinen Eltern im Himmel zuprosten, nahm mir ein Stück des Kuchens, den ich mir mitgebracht hatte, und setzte mich an den runden Tisch. Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme: Meine Wohnung war für die nächsten Wochen nicht bewohnbar, meinen Job hatte ich hingeschmissen und Freunde hatte ich nur, wenn es mir gut ging, was dank dem Tod meiner Eltern wohl eine sehr lange Zeit nicht der Fall sein würde. Also war ich allein. Und mal ganz im Ernst, Lars war vorhin nur aus Mitleid so fürsorglich gewesen, vielleicht spielte da auch ein wenig schlechtes Gewissen mit. Da ich aber nicht beabsichtigte, auf gut Wetter zu machen, würde auch er sehr schnell wieder die Kurve kratzen. Denn wenn wir ehrlich waren: Ich war einfach nicht nett! So saß ich also am Tisch und versuchte, nicht allzu sehr im Selbstmitleid zu versinken, als ein stetig tropfendes Geräusch sich in mein Bewusstsein bohrte. Wieso war mir das nicht vorher aufgefallen? Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch meine Jacke trug und mich auch noch nicht um den Kamin gekümmert hatte. Dem Anschein nach litt ich doch mehr an geistigen Aussetzern, als ich es mir eingestehen wollte. Vorsichtig folgte ich dem Geräusch, die Treppe hoch. Schon im Flur sah ich das Desaster. Mitten auf dem Fußboden befand sich eine riesige Pfütze, in die stetig Wasser tropfte. In jedem der anderen beiden Zimmer fand ich ein ähnliches Bild vor. Der Boden war feucht und es roch nach Moder. Der schöne polierte Parkettboden begann sich zu wellen und war ganz aufgequollen von dem vielen Wasser. Hier oben würde ich nicht schlafen können. Nur gut, dass das Haus mit Dachpfannen gedeckt war und nicht wie viele andere hier im Ort mit Reet, so hatte ich die Hoffnung, dass der Schaden relativ schnell zu beheben war. Auf meinem Handy suchte ich nach Dachdeckern und Handwerkern in der Umgebung und wählt schnell darauf eine Nummer. Eine ältere Frau versicherte mir, dass innerhalb der nächsten Stunde jemand vorbeikommen würde. Die Zeit würde ich damit überbrücken, das Wasser aufzuwischen, denn der Boden war spiegelglatt. Als ich damit fertig war, inspizierte ich die beiden anderen Räume. Auf den Matratzen und an den Vorhängen hatten sich schon dunkle Wasserflecken gebildet. Moder und Schimmel hatten sich hier in jede Ecke gesetzt. Das würde ein ganz schönes Stück Arbeit bedeuten. Aus der Küche holte ich mir etwas zu trinken und gerade, als ich aus dem Fenster sah, fuhr ein schwarzer Pick-up vor. Meine Rettung, dachte ich und stürmte zur Tür heraus, als ob ich Angst hätte, dass es sich der Handwerker noch anders überlegen würde. Ein verdammt großer Mann, mit Muskeln, die seine Kleidung zu sprengen drohten, stieg aus dem Auto aus. Wie ein geölter Blitz schoss ich aus der Tür und fiel ihm fast um den Hals, allerdings weniger vor Freude, als mehr, weil die Straße spiegelglatt war. Beherzt griff er zu und hielt mich fest. Dunkle Strähnen fielen ihm in die Stirn und seine waldgrünen Augen wirkten matt und müde. „Oh“, keuchte ich, denn mehr brachte ich nicht heraus. Nachdem ich ihn eine Weile perplex angestarrt hatte, fand ich meine Worte wieder. „Wie gut, dass Sie endlich da sind!“ Der Mann, der mich immer noch in seinen Armen hielt, sah mich verwundert an, schwieg aber. „Bis morgen würde wohl das ganze Haus unter Wasser stehen. Sie sind wirklich meine letzte Rettung“, und das war er wirklich, denn in weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen und dann wäre es für Reparaturen jeglicher Art zu dunkel. Ich griff nach dem Oberarm des Mannes und zog ihn hinter mir her. Im oberen Stockwerk hatte er immer noch kein Wort von sich gegeben, sondern starrte nur auf die Pfützen am Boden. „Draußen ist es zu glatt, um aufs Dach zu klettern, das wäre glatter Selbstmord und soweit bin ich noch nicht.“ Er rang sich ein mattes Lächeln ab. „Zeigen Sie mir einfach, wo der Dachboden ist, und ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Ich sprang einige Male etwas unbeholfen hoch, um an den Griff der Luke zu kommen, mit der man die Treppe zum Dachboden herunterzog. Anscheinend schien es ihn zu amüsieren, denn erst nach dem dritten Versuch streckte sich ein langer Arm an mir vorbei und zog mit einer fließenden Bewegung die Treppe herunter. Ein warmer männlicher Geruch stieg mir in die Nase, der gemischt war mit dem Geruch nach Stall und frischem Heu. Kurz schloss ich die Augen, um das Gefühl zu ergründen, das dieser Geruch in mir auslöste, doch dann ermahnte ich mich selbst. Trotzdem konnte ich nicht umhin, ihn dabei zu beobachten, wie er behände wie eine Raubkatze die Leiter emporkletterte. So viel Eleganz und Geschmeidigkeit hatte ich ihm gar nicht zugetraut. „Au! Verdammter Mist!“, hörte ich ihn von oben fluchen. Ich schämte mich nicht für das breite Grinsen, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete. Da steckte er schon wieder seinen Kopf aus der Luke und sah mich mit finsterer Miene an. Für einen kurzen Augenblick flackerte etwas in seinen Augen auf, das wie Belustigung aussah, und es stand ihm verdammt gut. „Auf der Ladefläche von meinem Pick-up steht ein Werkzeugkasten. Könnten Sie mir den bitte bringen?“ „Natürlich“, erwiderte ich und machte mich sofort daran. Das Monstrum von einem Werkzeugkasten von der Ladefläche zu hieven, stellte sich als lebensbedrohliche Aufgabe heraus. Der Werkzeugkasten schien sich mit aller Kraft gegen mich zu wehren und begann dann auch noch zu beißen. Zerschrammt und mit einigen blauen Flecken mehr stellte ich den Werkzeugkasten an den Fuß der Dachbodentreppe. „Hier!“, rief ich nach oben, „Das Monstrum ist aber gemeingefährlich.“ Diesmal war er es, der amüsiert dreinblickte, als ich versuchte, das Ding einen Teil der Treppe hochzuwuchten. Kurz berührten sich dabei unsere Hände und ein seltsames Kribbeln durchfuhr mich. Ich konnte nicht anders, als ihn einfach anzustarren. Es war, als würde seine Berührung einen tiefen Frieden und Ruhe in mir auslösen und gleichzeitig all meine Nervenenden stimulieren. Ich musste zusehen, dass ich hier wegkam, das war nicht das, was ich jetzt gebrauchen konnte. „Brauchen Sie noch etwas?“, fragte ich nach oben. „Nein, ich denke, ich hab alles. Aber etwas zum Aufwärmen, wenn ich hier fertig bin, wäre nicht schlecht. Es ist doch ziemlich frostig hier oben.“ Seine Stimme löste die Vorstellung von warmem flüssigem Karamell in mir aus, dass sich langsam um meine Eingeweide schmiegte und damit meinen inneren Kampf zur Ruhe zwang. Ich schüttelte den Kopf. Nein, an sowas durfte ich nicht denken. Im Wohnzimmer beschäftigte ich mich erst mal damit, den Kamin anzufeuern, was mich eine Menge Atemluft kostete, denn das Feuer wollte nicht wirklich zu prasseln beginnen. Von oben hörte ich es hämmern, rumpeln und auch fluchen. Es war ein seltsam angenehmes Gefühl, den Mann dort oben zu wissen. Nachdem meine Arbeit getan war und das Kaminfeuer loderte, ging ich in die Küche. Es begann tatsächlich schon zu dämmern. Allerdings staunte ich nicht schlecht, als ich den großen grauweißen Kater von vorhin auf der Fensterbank sitzen sah. Dieses Tier war so beeindruckend, dass ich es nicht verwechseln konnte. Seine Ohren zuckten, als er mich sah, als ob das, was er sah, ihn amüsieren würde. In der Tat, ich sah an mir herab, ich war über und über mit Ruß beschmiert, und die Wischaktion von vorhin ließ meine Locken strähnig ins Gesicht hängen. Ich überlegte kurz, ob es jetzt sinnvoll wäre, wenn ich mir etwas Frisches anzog, kam aber zu dem Schluss, dass ohne eine heiße Dusche auch frische Klamotten mir nicht helfen würden. Ich griff nach einem rosa Tuch, das ich an den Griff meiner Tasche geknotet hatte, und band mir damit die rotbraunen Locken hoch. „Und was sagst du nun?“, fragte ich den Kater, auf der anderen Seite des Fensters. Der legte den Kopf schräg und schien mich zu betrachten. Dann machte er eine Bewegung, als würde er nicken. „Schon besser?“ Mit wem sprach ich jetzt eigentlich? Das war mir selbst nicht ganz klar. „Ich bin fast fertig!“, rief die Männerstimme von oben und wieder durchflutete ein warmes Gefühl meinen Körper. Ich setzte einen Topf mit Milch auf und stöberte in den Küchenschränken. Meine Eltern mussten oft hier gewesen sein, denn ich fand alles, was ich brauchte. Zuerst kratzte ich eine Vanilleschote aus und gab sie zu der Milch in den Topf. Dann fand ich noch den Kakao, Tabasco und Honig, sogar eine Dose mit Sprühsahne konnte ich auftreiben, perfekt! Dieses Rezept hatte ich von meiner Mutter gelernt. Das war der weltbeste Kakao, den man sich vorstellen konnte und mit dem extra Schuss Tabasco optimal für die kalten Wintertage. Gerade als ich zwei Becher füllte und mit einer Sahnehaube garnierte, spürte ich mehr, als dass ich ihn hörte, wie er die Küche betrat. Ich gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen, und legte noch die Lebkuchen auf einen Teller. Er stand jetzt hinter mir und ich erstarrte in der Bewegung. Sein Blick war auf den Kater auf meiner Fensterbank gerichtet. Doch das, was ich spürte, war seine Wärme, die mich wie ein Magnetfeld anzog. „Den hab ich hier noch nie gesehen“, bemerkte er trocken und fuhr dann fort: „Ich habe einige Dachpfannen ausgetauscht und sie mit Folie abgedichtet, das war alles, was ich vorerst tun konnte. Wenn es wärmer ist, sollten Sie überlegen, das Dach neu decken zu lassen“, beendete er und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke im Spiegelbild des Fensters. „Und wenn ich noch einen Tipp geben darf, besorgen Sie sich Granulat für den Boden, damit die Feuchtigkeit herausgezogen wird. Die Sicherungen für das obere Stockwerk würde ich auch vorerst herausdrehen.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn. Irgendetwas war jetzt anders, aber ich konnte unmöglich sagen, was es war. „Vielen Dank! Ich wüsste nicht, was ich ohne Ihre Hilfe getan hätte.“ Ich drehte mich um und hielt ihm eine Tasse Kakao hin. „Wow, der kann was“, kommentierte er den Kakao nach dem ersten Schluck. „Und das ganz ohne Alkohol“, kicherte ich und kam mir dabei selbst schrecklich albern vor. „Wie viel bekommen Sie für die Arbeit von mir?“, ich versuchte geschäftsmäßig zu klingen.