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Aufregende Zeiten brechen auf der kleinen Nordseeinsel Föhr an. Mell ist auf der Insel angekommen und stürzt sich voller Tatendrang in ihr Projekt, das Geburtshaus so bald wie möglich zu eröffnen. Nur einen Wermutstropfen gibt es: Noah ist nicht da. Um sich abzulenken, vergräbt Mell sich in ihre Arbeit, so dass sie kaum etwas davon mitbekommt, was um sie herum passiert. Als sie die hochschwangere Julia in ihrer Scheune findet, ahnt sie nicht, dass das bloß der Anfang ist und bald weitere Fremde und größere Probleme vor ihrer Tür stehen werden. Wie immer ist es der Kater Gismo, der den Überblick behält und seine Menschen beschützt. Doch all die scheinbar unüberwindlichen Hindernisse schweißen die kleine Gemeinschaft enger zusammen. So dass Noah sich traut, die Fragen aller Fragen zu stellen. Die heißersehnte Fortsetzung des erfolgreichen Romans „Zimtkaffee und Nordseewind“. Ebenso turbulent, aufregend und herzergreifend wie der erste Teil.
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Stürmische Brandung
von
J.L.Mathew
Buchbeschreibung:
Aufregende Zeiten brechen auf der kleinen Nordseeinsel Föhr an.
Mell ist auf der Insel angekommen und stürzt sich voller Tatendrang in ihr Projekt, das Geburtshaus so bald wie möglich zu eröffnen. Nur einen Wermutstropfen gibt es: Noah ist nicht da.
Um sich abzulenken, vergräbt Mell sich in ihre Arbeit, so dass sie kaum etwas davon mitbekommt, was um sie herum passiert.
Als sie die hochschwangere Julia in ihrer Scheune findet, ahnt sie nicht, dass das bloß der Anfang ist und bald weitere Fremde und größere Probleme vor ihrer Tür stehen werden.
Wie immer ist es der Kater Gismo, der den Überblick behält und seine Menschen beschützt.
Doch all die scheinbar unüberwindlichen Hindernisse schweißen die kleine Gemeinschaft enger zusammen. So dass Noah sich traut, die Fragen aller Fragen zu stellen.
Die heißersehnte Fortsetzung des erfolgreichen Romans „Zimtkaffee und Nordseewind“. Ebenso turbulent, aufregend und herzergreifend wie der erste Teil.
Zimtkaffee und Nordseewind
stürmische Brandung
Von J.L.Mathew
Impressum:
1. Auflage, 2023
© 2023 J.L.Mathew – alle Rechte vorbehalten.
Wakendorfer Str.20
22889 Tangstedt Lektorat: Heike Susanne Pryzbilla
Korrektorat: Stefanie Brandt
Instagram: @j.l.mathew
Zimtkaffee und Nordseewind
Stürmische Brandung
Von J.L. Mathew
Kapitel 1
War ein bisschen Ruhe zu viel verlangt? Keiner hatte ihn vor der schier unerschöpflichen Energie des kleinen Katers gewarnt. Er bezweifelte, dass er selbst in frühen Jahren auch nur einen Bruchteil dieses ungezügelten Eifers besessen hatte. Nun wurde er auch noch unsanft von seinem Schlafplatz vertrieben. Das Leben als Babysitter des kleinen Schneeballs stellte sich derweil als ungeahnte Herausforderung heraus. Aus dem Augenwinkel warf er einen warnenden Blick auf den jungen Kater, der selig auf seinem Kissen auf der Fensterbank döste. Felix sah so unschuldig aus, wie er da in der Frühlingssonne lag und schlief, doch leider verlor er, sobald er aufwachte, jedes bisschen Sanftmut. Der Zwerg hatte es mittlerweile faustdick hinter den spitzen Puschelohren. Gähnend sprang Gismo vom Bett und warf Mell, die dabei war, eben dieses neu zu beziehen, einen vorwurfsvollen Blick zu. Wie konnte sie es wagen, ihn in seiner wohlverdienten Ruhe zu stören? Das Leben war einfach nicht fair, das musste er in diesem Moment zum wiederholten Male in seinem Leben feststellen. Dann sollte sie doch zusehen, wie sie mit dem kleinen Kater fertig wurde. Er für seinen Teil würde dorthin gehen, wo er in Ruhe schlafen konnte.
Die Monate ohne Noah zogen sich zäh dahin. Auch wenn ich ihm nicht im Weg stehen wollte, so gab es Tage, an denen ich alles dafür gegeben hätte, damit er zurückkam. Mich wie eine Irre in die Arbeit zu stürzen, war meine Art der Ablenkung. Das Projekt Geburtshaus war fast in trockenen Tüchern und auch die Ferienwohnungen waren so gut wie bezugsfertig. Es fehlte nichts weiter als die letzten Handgriffe. Zum Glück hatte ich Lisa und Bea, die ebenfalls mit Feuereifer dabei waren. Manchmal aber hatte ich das Gefühl, dass sie ein wenig zu enthusiastisch waren. Dann gab es noch Tage wie diesen, an dem es schier gar nichts zu tun gab, außer zu grübeln. Und genau das tat ich jetzt seit einer ganzen Weile. Die Stimmen in meinem Kopf hatten schon vor einiger Zeit die Podiumstische herausgeholt und waren in rege Diskussionen, meinen Geisteszustand betreffend, vertieft. Wenn ich innehielt und diesen Stimmen zu lauschen begann, war das Ergebnis erschreckend. Wie zerstörerisch konnten die eigenen Gedanken sein? Noah hatte mich nicht verlassen, er war nur wegen seiner Doktorarbeit für eine Weile aufs Festland zurückgekehrt. Das war alles, mehr steckte nicht dahinter. Leider zog sich jedes Mal, wenn ich das dachte, mein Magen auf schmerzliche Weise zusammen. Vielleicht war ja doch alles viel zu schnell gegangen? Ich war es leid, darüber nachzudenken und ging hinunter in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Kurz dachte ich an Björn und seinen Wundertee. In der stressigen Weihnachtszeit hatte mir dieser Tee schon das ein oder andere Mal den Tag gerettet. Langsam fühlte es sich nämlich so an, als würde mir gleich der Kopf platzen, wenn die Stimmen nicht bald verstummten. Während ich so darauf wartete, dass das Teewasser zu kochen begann, starrte ich aus dem Fenster. Mir kam kurz der Gedanke, ob es nicht doch eine erstklassige Idee wäre, einen dieser Meditationskurse zu besuchen. Bei dem Gedanken musste ich ein spöttisches Lachen unterdrücken. Die Vorstellung von mir im Lotussitz und meinem Atem lauschend, war absurd. Keine zehn Minuten würde ich das durchhalten, bevor ich die Wände hochgehen würde. Ablenkung war das Einzige, was mir jetzt helfen würde. Vielleicht sollte ich Lina und Sabine zu einem Mädelsabend einladen? Doch dann entsann ich mich, wie beschäftigt die beiden in letzter Zeit gewesen waren, und verwarf den Gedanken wieder. Das Vibrieren meines Handys ließ mich aufschrecken. Meine Nerven waren im Moment nicht die besten. „Lust auf Pizza?“, schrieb mir Bea. Pizza war etwas, das ging immer, besonders mit extra viel Käse. „Na klar!“, antwortete ich daher und erklärte den Abend für gerettet. Mit der Teetasse in der Hand setzte ich mich auf mein neues dunkelrotes XXL-Sofa. Meine erste und bisher einzige Anschaffung, seit ich auf die Insel gezogen war. Ich besah mir meine bunten Ringelsocken und wippte mit den Zehen. Alles war im Umbruch und auch, was die Zukunft bringen würde, lag noch im Dunkeln. Dieses Haus schien perfekt für mich zu sein, doch ob es auch einer Familie standhalten würde? Meine Vorstellung endete da, wo ich versuchte, mir Noah in den kleinen verwinkelten Zimmern vorzustellen. Wie würde es wohl sein, mit ihm zusammen zu wohnen? Ich meine so richtig. Unwillkürlich fragte ich mich, warum er es nicht mal an den Wochenenden geschafft hatte, auf die Insel zu kommen. Befürchtete er, ich würde ihn ablenken? Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich streckte die Beine aus und trank einen Schluck Tee. Ich freute mich über die Hilfe von Lisa und Bea, doch der Grund warum sie auf die Insel gekommen waren, war für mich immer noch nicht ganz klar. Sollte ich mich jetzt darüber beschweren? Wer war ich, dass ich ihre Entscheidung hinterfragte? Zusammen würden wir etwas Großartiges schaffen, das hatte ich im Gespür, meistens jedenfalls. Schneller als erwartet klopfte es an die Tür. Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte ich die beiden und ließ sie in mein Wohnzimmer.
Bea stellte die Familienpizza auf den kleinen Glastisch vor dem Sofa und ließ sich auf dem Boden sinken. Der Flokati war aber auch zu kuschelig. „Ich hol mal die Gläser“, flötete Lisa fröhlich und ging mit wippendem Pferdeschwanz in die Küche. Bea strich sich ihre kurzen schwarzen Haare aus der Stirn und zog ihre Jacke aus. Die sie über einen der Hocker legte. Gleichzeitig begann ich schon mal den Wein zu entkorken und stellte die Frage, über die ich gerade noch nachgedacht hatte: „Warum seid ihr eigentlich hier?“ Beide sahen mich mit großen Augen an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Zum Pizzaessen natürlich“, sagte Bea stirnrunzelnd. Ich schüttelte energisch den Kopf. „Das meine ich nicht. Warum seid ihr hier auf der Insel?“ Verstehend atmeten die beiden tief aus. Dann wurden ihre Mienen ernst. „Nachdem du einfach abgehauen bist …“, begann Bea, und Lisa fügte ein „verständlicherweise“ hinzu. „… sind bei dem Doktor alle Sicherungen durchgebrannt. Er hat in der Praxis gewütet wie ein Irrer. Auch Tage später hatte er sich immer noch nicht beruhigt und kam schon betrunken zur Arbeit. Nur mit Mühe und Not konnten wir ihn davon überzeugen, die Anzeige gegen dich zurückzuziehen.“ Bea atmete aus und machte ein trauriges Gesicht. Lisa begann weiter zu erzählen: „Irgendwie hatten wir dann begriffen, dass wir uns dir gegenüber ziemlich blöd benommen hatten. Aber du hast auf keine unserer Nachrichten reagiert.“ Mein Blick wanderte zwischen den beiden Frauen hin und her. Das alles hatte ich nicht gewusst, nicht mal, dass sie mir Nachrichten geschickt hatten. „Ich wusste nicht, dass ihr mir geschrieben hattet. Ich war hier so eingespannt, mit all dem.“ Ich machte eine ausladende Bewegung. Beruhigend legte Bea mir die Hand auf den Arm. „Es ist okay, es muss dir nichts leidtun.“ „Aber nachdem wir den Doktor in einen langen Urlaub geschickt hatten und die Praxis dicht gemacht haben, war das Erste, an das wir dachten, dich zu besuchen.“„Oh, das ist so lieb von euch“, gab ich gerührt zu. Lisa verzog das Gesicht, als würde das nicht ganz der Wahrheit entsprechen, doch als sie ansetzte, etwas zu sagen, warf ihr Bea aus dem Augenwinkel einen strafenden Blick zu. Dabei blitzten Beas blaue Augen mahnend auf. „Was ist?“, fragte ich leicht beunruhigt. Mit einer Hand winkte Bea ab. „Nichts weiter“, beteuerte sie. Wenn man glaubt, die Wahrheit würde einen befreien, dann irrt man sich oft. Das zumindest kam mir in den Sinn, als ich überlegte, ob ich jetzt drauf bestehen sollte, dass sie mir alles erzählten. Vielleicht, aber auch nur vielleicht würden die beiden es irgendwann von selbst tun. Felix kam hoheitsvoll auf noch leicht staksigen Beinen angeschlichen und legte sich mittig in meinen Schneidersitz. „Jetzt aber mal was anderes, was machen wir mit all den Sachen, die wir aussortiert haben? Ich meine jetzt die aus dem Gutshaus?“ „Ich weiß nicht“, gab ich zu, denn darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Erschöpft lehnte ich mich an das Sofa. Neugierig beäugte Bea Lisa. „Du siehst aus, als hättest du schon eine Idee.“ Lisa nickte so heftig, dass ihr Pferdeschwanz gar nicht mehr aufhörte zu wippen. „Ich dachte, wir könnten einen Flohmarkt machen. Was meint ihr?“ Ich unterdrückte ein Gähnen. „Das ist eine prima Idee. Ich könnte morgen Tristan anrufen, vielleicht hat der eine Idee, was wir mit den Erlösen machen könnten. Spenden oder so?“ Beide sahen mich völlig entgeistert an. „Was?“, fragte ich irritiert. „Na, ich dachte, das Geld könnten wir gut für das Geburtshaus und die Einrichtung der Ferienwohnungen verwenden.“ Ich winkte ab. „Lass mal, davon habe ich nun wirklich genug“, gab ich zu. „Wie das?“, fragten beide im Chor. Wie hatte es sein können, dass die zwei schon mehrere Monate auf der Insel waren und ich ihnen gar nichts von meinen Eltern erzählt hatte? Es wurde eine lange Nacht mit mehr als nur einer Flasche Wein. Ich begann meine Erzählung damit, dass mein Vater gar nicht mein leiblicher Vater war, dieser aber kurz vor, nennen wir es mal meiner Zeugung, eine nette Summe von einem Onkel geerbt hatte. Aus einem nebulösen Grund fand meine Mutter das gar nicht toll. Es folgte ein heftiger Streit zwischen meinen Eltern. Daraufhin war meine Mutter hierher nach Föhr gekommen. Das Ergebnis war dann wohl, ich, erklärte ich meine lückenhafte Erzählung, denn ich selbst kannte auch nicht alle Details. Ich wusste nur das, was ich in den Briefen meiner Mutter an Belinda Jansen gelesen hatte. „Hast du Frau Jansen mal nach den Briefen gefragt?“, warf Bea neugierig ein. Ich schüttelte den Kopf, denn bis heute hatte ich mich nicht getraut, sie darauf anzusprechen. „Auf jeden Fall wollte meine Mutter das Geld nicht, also hat mein Vater nach einer Möglichkeit gesucht, es irgendwie anzulegen. Doch er fand nichts, womit er zufrieden war. Er wollte, dass das Geld zwar weg war, aber gleichzeitig was Gutes tat und anderen half. Erst als er auf die Insel kam, um meine Mutter zu bitten, zurückzukommen, traf er wohl zum ersten Mal auf das Konzept von „Gemeinsam und Frei“. Er investierte in regionale Unternehmen und dachte sich, wenn das Geld weg sein sollte, dann war das eben so. Aber es verschwand nicht und aus den kleinen Unternehmen wurden immer größere und über die Jahre hatten meine Eltern so viel Geld, dass sie nicht wussten, wohin damit. Ich weiß, das klingt jetzt stark vereinfacht, aber so oder so ähnlich stand es in den Briefen, und wie gesagt, ich hatte bis jetzt weder Gelegenheit, mit Belinda als auch mit Tristan zu reden.“ Beide hatten mich die ganze Zeit schweigend angesehen, nur ab und zu ungläubig mit dem Kopf geschüttelt. „Und jetzt bist du so richtig reich?“, fragte Lisa neugierig und ich nickte zustimmend. Zwischen Lisa und Bea entbrannte eine heiße Diskussion, was sie wohl jeweils mit dem Geld gemacht hätten. Ich streckte mich und langsam sank mein Kopf auf eins der weichen Kissen, das hinter mir auf dem Sofa lag.
Scharfe spitze Krallen bohrten sich in meine Brust. Felix versuchte, sich eine bessere Aussichtsposition zu verschaffen, und kletterte meinen Oberkörper hoch, bis er auf meiner Schulter zum Liegen kam. „Sorry, ich bin wohl eingenickt“, nuschelte ich, doch Lisa und Bea waren immer noch heftig in ihre Diskussion vertieft. Erst war es um meine Eltern gegangen, jetzt aber diskutierten sie, was man mit den Erlösen des Flohmarktes alles tun könnte. Ich bekam das Gefühl, dass sie voll in der Idee aufgingen. Sie sollten sich unbedingt mal ausführlicher mit Tristan unterhalten, dachte ich. Mir persönlich war das alles gar nicht so wichtig, wahrscheinlich fehlte mir dafür eine gewisse soziale oder wirtschaftliche Komponente. Ich hörte ihnen noch eine Weile zu, wie sie gedanklich die ganze Insel auf den Kopf stellten. „Mädels, ich geh ins Bett“, verkündete ich und wollte gerade aufstehen. „Jetzt warte doch mal! In drei Tagen ist der erste April, meinst du bis dahin bekommen wir den Flohmarkt auf die Beine gestellt?“ Ich schnaubte. „Jetzt habt ihr es aber eilig oder?“ Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen. „Nein, aber Bea und ich hatten eine großartige Idee. Nur, dafür bräuchten wir etwas Startkapital.“ „Will ich wissen, was ihr plant?“ Beide kicherten und warfen sich verschwörerische Blicke zu. „Das ist noch nicht spruchreif, aber du bist die Erste, der wir es erzählen, wenn es so weit ist“, versprachen sie mir geheimnisvoll. Ich war zu müde, um mich jetzt auf so ein Ratespiel einzulassen, also klemmte ich mir den kleinen Kater unter den Arm und ging zur Treppe. „Schlaft hier, oder zieht die Tür hinter euch zu.“ Ich hörte von der Treppe aus, wie die beiden wild diskutierten und das Wohnzimmer begannen aufzuräumen. Vorsichtig legte ich Felix aufs Bett, der mich erwartungsvoll ansah, während ich mir meinen Schlafanzug anzog. Denn eins hatte ich gelernt auf dieser Insel, es war nachts wirklich bitterkalt, besonders, wenn man sich das Bett nur mit so einem kleinen Fellbündel teilte. Gerade als ich die Bettdecke zurückschlug, hörte ich, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde. Erleichtert atmete ich aus. Auch wenn ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hätten, so war ich morgens doch lieber allein und hatte meine Ruhe. An die Ausnahme wollte ich jetzt besser nicht denken.Er verstand nicht, was Noah solange auf dem Festland trieb und es machte ihn ein wenig wütend. Hatte er sich doch so viel Mühe gegeben, den beiden den Weg zu ebnen und jetzt hatte sich schon seit Monaten nichts geändert, nur das Mell nahezu in Arbeit versank und er so gut wie jeden Tag Babysitter spielen musste. Nicht dass er sich darüber beschweren wollte, aber er hatte angenommen, dass er das nur für eine begrenzte Zeit tun müsste. Erschöpft ließ er sich an dem Fußende des Bettes von Belinda sinken. Zumindest hier hatte sich einiges getan, sogar eine Katzenklappe hatte er bekommen. Er konnte jetzt kommen und gehen, wann er wollte. Das war von Tristan schon ein ziemliches Zugeständnis gewesen. Auch hatten sie jetzt im hinteren Teil des Hauses eine eigene Wohnung bezogen und mussten nicht mehr in dem beengten Gästezimmer hausen. Seine Schnurrhaare vibrierten, als hätte er eine Art Vorahnung. Doch er war zu erschöpft, das zu ergründen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Kapitel 2
Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg zu Mell. Die regelmäßigen Ausflüge hatten einiges für seine Figur getan und Tristan bestand nun nicht mehr darauf, dass er eine Diät bräuchte. Die morgendliche Diskussion um das Diätfutter waren lästig gewesen. Zumal er nie auch nur einen Bissen davon gefressen hatte, aber Tristan hatte einfach nie lockergelassen und es jeden Morgen aufs Neue versucht. Doch das war jetzt vorbei. Gemächlich schlenderte er durch die nicht mehr ganz so verschneite Winterlandschaft, bald würde der Frühling kommen. Er konnte die ersten Schneeglöckchen schon riechen. Mit einem Satz sprang er über eine große Matschpfütze.Keins der Fenster in dem kleinen Haus war erleuchtet, er würde also noch ein bisschen warten müssen. Als mein erster Blick aufs Handy fiel, traute ich meinen Augen kaum. Ich hatte mit einer Nachricht von Noah gerechnet, stattdessen verkündete mir mein Handy, dass mich jemand in einen Gruppenchat mit dem Titel Therapiegruppe eingeladen hatte. Müde rieb ich mir den Schlaf aus den Augen. Was sollte das? Ich blinzelte, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht täuschte. Um 4:44 Uhr hatte jemand die Gruppe erstellt und mich hinzugefügt, war dann aber selbst wieder aus der Gruppe gegangen. Die Nummer kam mir nicht bekannt vor. Also ich wollte jetzt nicht abstreiten, dass ein Therapeut wahrscheinlich seine helle Freude an mir hätte oder dass eine Therapie an sich völlig abwegig wäre. Aber das, das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sowas nervte mich! Überhaupt nervte mich alles, für das ich keine Erklärung hatte. Ich setzte mich auf, schleuderte dabei aus Versehen den kleinen Kater vom Bett, der empört maunzte. Leise nuschelte ich etwas, das im Entferntesten wie eine Entschuldigung klang. Völlig rationale und logische Erklärungen geisterten mir durch den Kopf, warum diese Gruppe existierte und warum ich das einzige Mitglied war. Wahrscheinlich war das nur ein Versehen gewesen und die Person wusste einfach nicht, wie man die Gruppe wieder schloss, aber ich wäre einfach nicht ich, wenn ich dabei nicht alle möglichen anderen Szenarien berücksichtigen würde. Ein Stalker, der Aufmerksamkeit wollte, jemand, der mich hasste und mir nahelegen wollte, dass ich dringend eine Therapie nötig hätte. Ich war geneigt, mich an die irrationalen Erklärungen zu halten. Ich verließ die Gruppe und steckte mein Handy in die Tasche meines Morgenmantels, den ich mir ebenfalls auf der Insel zugelegt hatte, um der Kälte zu trotzen. Wie ich fand, war es ein sehr kleidsamer Bademantel, schwarz mit gelben Punkten. Diese innere Unruhe, die mich mit einem Mal gepackt hatte, ließ mich nicht los. Erst als ich Gismo vor dem Fenster sitzen sah, begannen meine Gedanken sich etwas zu beruhigen. Ich öffnete das Fenster und sah mich suchend nach Felix um, doch der war nicht zu sehen. Wahrscheinlich war er auf dem Weg nach unten einfach wieder eingeschlafen. „Na, kommst du zum Frühstück?“, fragte ich ihn sanft und strich ihm durch das dicke Fell. Wie als Antwort schüttelte er sich, sprang auf den Tisch und hinterließ eine Spur aus Pfotenabdrücken. „Kannst du dir nicht wenigstens vorher die Pfoten abtreten?“, schimpfte ich. Fast schon schockiert sah er mich an und legte den Kopf schief. Als wolle er sagen, und du könntest wenigstens den Kamin anmachen. Meine Mundwinkel zuckten und noch während der Kaffee durch die Kaffeemaschine lief, machte ich mich daran, das Feuer zu schüren. Wie zur Anerkennung meiner Bemühungen ließ er sich mittig auf dem Sofa nieder und begann sich zu putzen. Leicht rümpfte ich die Nase, als ich an den ganzen Matsch dachte, den er gerade reingetragen hatte. Ich holte mir eine Tasse Kaffee und setzte mich neben Gismo aufs Sofa, der mich leicht missbilligend ansah. „Hey, das ist eigentlich mein Sofa.“ Er stand auf, drehte sich ein paarmal im Kreis und ließ sich demonstrativ wieder aufs Sofa sinken. Gismo entlockte mir ein Lächeln. Das leichte Pochen hinter meinen Schläfen erinnerte mich daran, wie kurz die Nacht gewesen war. Ein Blick auf den Wandkalender, den ich zu Weihnachten bekommen hatte, verriet mir, dass es nur noch drei Tage bis zum 1. April waren. Wie um Himmels willen wollten Lisa und Bea das schaffen, und vor allem wo? Der Stress zu Weihnachten war mir noch allzu präsent und ich hatte wenig Lust, das noch mal zu wiederholen. Es klang auf jeden Fall nach einem Mammutprojekt, das Lisa und Bea da vorhatten. In drei Tagen einen kompletten Flohmarkt zu organisieren.
Die Uhr zeigte acht. Es verstieß gegen jegliche Höflichkeit, um diese Uhrzeit jemanden anzurufen. Doch irgendwie war mir das gerade egal. Da Gismo schon hier war, musste Belinda oder zumindest Tristan bereits wach sein, ohne Frühstück hätte sich der Kater, so wie ich ihn kannte, keine zehn Zentimeter bewegt. Nach dem fünften Klingeln ging Tristan ans Telefon. „Jesebeck“, meldete er sich in seinem gewohnt distinguierten Tonfall. „Guten Morgen, hier ist Mell. Entschuldige bitte, dass ich dich so früh störe.“ „Ach, du störst gar nicht. Was gibt es denn?“ „Ja, also … so genau weiß ich das noch gar nicht, aber Lisa und Bea hatten gestern die Idee: am 1. April einen Flohmarkt zu veranstalten.“ „Das ist ja wundervoll! Das ist eine längst vergessene Tradition, zu Beginn des Frühlings einen Flohmarkt zu veranstalten. Und jetzt braucht ihr dabei Hilfe?“ „Ich denke, Hilfe könnte auf jeden Fall nicht schaden. Allerdings bräuchte ich noch Belindas Erlaubnis, die Sachen aus dem Gutshaus verkaufen zu dürfen. Und Bea und Lisa hatten eine Idee, den Erlös an irgendein Projekt zu spenden.“ „Die Idee wird ja immer besser“, freute sich Tristan. „Was hältst du davon, wenn du nachher zum Tee kommst? Wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen, und dann könnten wir uns in Ruhe unterhalten.“ Bei dem Gedanken wurde mir ein bisschen flau im Magen, hatte ich doch noch so unendlich viele Fragen an die beiden, die mir seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf gingen. „Sehr gerne. Ich würde mich freuen.“ „Also gut, abgemacht, um fünfzehn Uhr zum Tee.“ Die Vorstellung, gleich mit beiden reden zu können, bereitete mir klamme Handflächen. Als ich auflegte, wünschte ich mir, Noah wäre jetzt bei mir, und ich könnte mich an ihn lehnen und ein wenig von seiner Ruhe und Kraft in mir aufnehmen. Aber verdammt, ich war schon groß und konnte das auch ganz alleine, versuchte ich mir Mut zuzureden, doch eine kleine Stimme in mir flüsterte, es ist aber schöner, wenn man es nicht muss. Da konnte ich ihr nur recht geben. Wenn mich die letzte Zeit eines gelernt hatte, dann, dass ich stärker war, als ich geglaubt hatte. Nur, zu zweit war es einfach schöner. Ich begann zu frösteln, und als hätten die beiden Kater es gespürt, hörte ich, wie Felix die Treppen hinunterhüpfte. Gismo hatte sich still und unauffällig etwas näher neben mich gelegt. Hastig flog Felix über den Flokati und hätte dabei fast einen Überschlag gemacht. Maunzend stand er vor dem Sofa und versuchte hinauf zu springen. Ich streckte mich lächelnd zu ihm hinunter und hob ihn hoch. Gismo hatte nicht mal mit den Ohren gezuckt, doch ich konnte erkennen, dass er geblinzelt hatte. Eine Hand legte ich auf Gismos mächtigen Körper, mit der anderen kraulte ich Felix, der auf meinem Schoß saß. Es schien, als würde mit Gismos lautem Schnurren auch die Temperatur im Raum wieder ansteigen, aber das war wohl nur Einbildung. Mit jedem Tag, den sich Noah nicht meldete, wuchs meine Sehnsucht nach ihm, aber zugleich auch die Unruhe. Er hatte eben nur viel zu tun, aber bald würde er wiederkommen, redete ich mir ein, ungewiss, ob es stimmte. Wenn ich hier rumsaß, würde ich nur noch mehr Trübsal blasen, daher beschloss ich, nach dem Frühstück noch mal zum Gutshaus zu fahren, um mir einen Überblick zu verschaffen. Der Himmel war leuchtend blau, als ich mich gegen neun Uhr aufs Fahrrad schwang. Ich kam keine zehn Meter, da sah ich zwei bekannte Männer auf mich zukommen, die, sobald sie mich sahen, auseinandersprangen. Mit breitem Grinsen radelte ich auf sie zu. „Na, ihr beiden“, begrüßte ich Nick und Sergio, die gerade noch ihre Schuhspitzen inspiziert hatten, doch jetzt zu mir aufsahen. Ein Lächeln breitete sich auf den beiden Gesichtern aus und ehe ich mich versah, zog mich Nick in einer solch stürmischen Umarmung vom Rad, dass es laut scheppernd zu Boden fiel. „Dich hab ich ja schon ewig nicht gesehen. Wo hattest du dich versteckt?“ Etwas schuldbewusst war es jetzt an mir, auf den Boden zu starren, doch er hob mein Kinn an und sah mir in die Augen. „Nun, spuck schon aus, oder brauchst du mal wieder unseren Rat?“ Er zwinkerte mir zu und wechselte mit Sergio einen vielsagenden Blick. „Ach, habt ihr noch nicht mitbekommen, dass wir das Gutshaus jetzt zu einem Geburtshaus umbauen?“, versuchte ich die beiden abzulenken. Nick sah mich erstaunt an. „Nein, davon höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich hatte immer angenommen, die alte Jansen würde jeden entweder erschießen oder mit einem Fluch belegen, der dem Haus zu nahe kommt. Wie hast du das angestellt?“ „Ich weiß nicht genau, das hat sich so ergeben. Meine Kolleginnen Lisa und Bea sind Weihnachten auf der Insel aufgetaucht, und da sie keinen Job mehr hatten, kam eins zum anderen. Für mich alleine wäre das Projekt auch viel zu groß gewesen, aber zu dritt schien das irgendwie machbar zu sein. „Oh, das freut mich für dich“, klinkte sich jetzt Sergio in die Unterhaltung ein. Er war es damals gewesen, der mir den Rat gegeben hatte, dass ich mich entscheiden müsse, ob ich bleiben oder gehen wolle. Und damit hatte er recht gehabt, seitdem ich die Entscheidung getroffen hatte, fügte sich eins zum anderen. „Und wo ist deine bessere Hälfte?“, fragte Nick und seine Augen funkelten aufmunternd. „Der muss irgendwas wegen seiner Doktorarbeit auf dem Festland erledigen.“ „Das macht es Tristan bestimmt leichter, endlich in den Ruhestand zu gehen“, gab Nick selbstverständlich zurück. „Und wann kommt er wieder?“, fragte jetzt Sergio. Ich zuckte betrübt mit den Schultern. „Da drückt also der Schuh, ich wusste doch, dass du was hast.“ Nick zog mich noch enger in seine Arme. Seine Körperwärme strahlte auf mich ab, und ich merkte, wie sich einige meiner Muskeln entkrampften.„Wir wollten in drei Tagen einen Flohmarkt veranstalten.“ Ich sah die beiden Männer auffordernd an. „Vielleicht habt ihr ja auch was, das ihr loswerden wollt?“ Nick rieb sich nachdenklich übers Kinn. „Auf dem Hof finden wir bestimmt was, das wir verkaufen könnten. Da steht jede Menge Gerümpel rum.“ „Mein Onkel hat in Wyk ein Geschäft, der hat bestimmt auch was, das er verkaufen würde“, meinte Sergio. „Wunderbar, dann seid ihr also dabei?“ „Auf jeden Fall“, antworteten die beiden synchron. „Ach, bevor ich es vergesse, du solltest dich mal bei Lina melden. Die Spargelzeit beginnt bald, und sie wollte mit dem Gemüse aus eurer Halle einen Stand aufmachen.“ Das hatte ich ja fast vergessen. Lina und ich wollten das Gemüseprojekt meiner Eltern fortführen und die Ernte auf dem Wochenmarkt verkaufen. Ich schlug mir mit der Hand vor den Kopf. „Stimmt. Das hätte ich fast vergessen. Sie braucht bestimmt Hilfe. Soll ich einfach morgen Abend mal vorbeikommen?“ „Dir fällt wohl die Decke auf den Kopf, wie“, lachte Nick und ich nickte etwas verlegen. „Ein wenig“, gab ich zu. „Okay, dann komm vorbei. Ich sag Lina Bescheid. Wir müssen dann auch weiter, wir haben heute noch was vor.“ „Dann wünsch ich euch Turteltauben viel Spaß“, kicherte ich und die beiden legten sich halb belustigt, halb ernst die Finger an die Lippen. „Wir sehen uns“, rief ich den beiden hinterher, als ich wieder aufs Rad gestiegen war. Zum Abschied hoben beide die Hände und gingen weiter. Zwanzig Minuten später stand ich vor dem riesigen Gutshaus, das auf mich immer noch ein wenig unheimlich wirkte. Auch musste ich jedes Mal, wenn ich hier war, an den Nervenzusammenbruch von Belinda denken, und wie Noah uns hier abgeholt hatte. Noch mal sah ich auf das Display von meinem Handy, immer noch keine Nachricht. Fast ehrfürchtig schob ich den Schlüssel zu der großen Flügeltür ins Schloss und drückte energisch dagegen, bis die Tür aufsprang. Jetzt roch es in der Halle nicht mehr muffig, sondern nach Zitrusreiniger und Lavendel. Die Küche ließ ich diesmal links liegen und ging gerade auf die Treppe zu, hinauf in den ersten Stock. Schon unten in der Halle hatten überall Kartons mit aussortierten Sachen gestanden, doch hier oben türmten sich die Kisten und Möbel. Ich holte tief Luft und machte mich dran, mir einen Überblick zu verschaffen, dann begann ich damit, eine Kiste nach der nächsten nach unten zu tragen. Eine Stunde später lief mir der Schweiß in Strömen. Meine Zunge klebte am Gaumen, als ich eine Flasche Wasser ansetzte und sie mit einem Zug halb austrank. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, mit der Arbeit fertig zu sein, also ging ich noch mal nach oben und sah in jedes einzelne Zimmer. Erst als ich wieder nach unten gehen wollte, entdeckte ich die halb versteckte Tür zum Dachboden. Gerade als ich sie öffnen wollte, hörte ich Schritte in der Halle und fuhr zusammen. Die Schritte bewegten sich schnell und flüchtig, als wollte sich jemand unauffällig und leise durch die Räume bewegen. Lisa und Bea konnten es nicht sein, die hätten garantiert nicht versucht, leise durch den Eingangsbereich zu schleichen. Das Adrenalin rauschte mir in den Ohren. Ich überlegte, ob ich nachsehen sollte, doch gerade als ich auf dem obersten Treppenabsatz zum Stehen kam, flog die Eingangstür mit einem lauten Knall ins Schloss. Das war nicht der Wind gewesen, so viel war klar. Andererseits hätte es jeder gewesen sein können, jeder, der einfach nur neugierig war. Das musste rein gar nichts bedeuten. Ich ging oben ans Fenster.
Von hier aus konnte ich gerade noch die Kehrseite einer Frau erkennen, die in einem roten Mantel übers Feld rannte.Ich schüttelte den Kopf, doch da war die Gestalt schon hinter den Bäumen verschwunden. Was war nur mit mir los? Fing ich jetzt auch noch an, Gespenster zu sehen? Es konnte nur an diesem Haus liegen. Ich ging zurück, um mir jetzt endlich den Dachboden anzusehen. Die kleine Lampe erhellte nur dürftig die Stiege, und mit jedem Schritt wirbelte mir eine Staubwolke entgegen. Hatschi. Schützend zog ich mir meinen Schal über die Nase. Hier war schon seit Jahrzehnten keiner mehr gewesen, das konnte ich an meinen Fußabdrücken in der dicken Staubschicht erkennen. Oben fiel mattes Sonnenlicht durch ein verdrecktes Fenster. Ich riss es auf, um wenigstens etwas frische Luft zu bekommen. Zu meinem Erstaunen war es hier oben recht aufgeräumt. Es wirkte wie ein überdimensionales Puppenhaus. Kleiderschränke, Betten und die anderen Möbel standen in bemerkenswert gutem Zustand sorgfältig arrangiert in provisorisch unterteilten Nischen. Für einen kurzen Moment wirkte es so, als ob hier oben wirklich Menschen gewohnt hätten, aber nein, das konnte nicht sein, schließlich war das Haus groß genug, warum sollten dann ausgerechnet hier oben welche auf engstem Raum gehaust haben? Doch all die Schätze, die hier oben standen, würden auf dem Flohmarkt bestimmt ein nettes Sümmchen einbringen. Das Vibrieren meines Handys zog mich mit meinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt. Noahs Name blinkte auf dem Display. Als ich jedoch das Gespräch annahm, konnte ich kaum ein Wort verstehen. Hier oben war wohl der Empfang nicht der beste. Ich legte auf und tippte eine Nachricht an Noah. „Ruf gleich zurück. Hab hier keinen Empfang.“ Alleine seinen Namen auf dem Display zu lesen, ließ mein Herz Purzelbäume schlagen. Hastig stieg ich die Stiege wieder hinab und schloss sorgfältig die Tür hinter mir.
Auf dem Hof zeigte mein Handy wieder vollen Empfang. Aufgeregt und mit leicht zittrigen Fingern drückte ich auf die Nummer von Noah. Nur hatte ich mal wieder vergessen, mein Handy zu laden und so verabschiedete sich mein Mobiltelefon mit einem theatralischen Singsang. Der Akku war leer. „Nein!“, schrie ich das verdammte Teil an, das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Seit zwei Tagen wartete ich auf seinen Anruf und dann das. Mir blieb nicht mehr genug Zeit, um nach Hause zu fahren und das Ladekabel anzuschließen. Missmutig steckte ich das Ding wieder in die Tasche. Ich konnte nur inständig hoffen, dass ich ihn heute Abend erreichte. Noch einen Tag ohne seine Stimme würde ich nicht ertragen. Also schwang ich mich aufs Rad und machte mich auf den Weg zu Tristan und Belinda. Es war gut, dass ich nicht allzu lange Zeit hatte, um über das bevorstehende Gespräch nachzudenken. Gerade als ich an die Tür klopfen wollte, stieg mir schon aus dem offenen Küchenfenster ein Geruch entgegen, der mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Es roch nach ofenfrischen Zimtschnecken. Wer die wohl gebacken hatte? Ehrlich gesagt konnte ich mir Belinda nicht mehr am Herd vorstellen, geschweige denn beim Backen. Tristan öffnete mir in einer rot-weiß karierten Küchenschürze die Tür. Nur mit Mühe und Not konnte ich mir einen Lachanfall verkneifen. „Schön, dass du gekommen bist“, begrüßte Tristan mich freundlich und steckte seine Ofenhandschuhe vorne unter die Schleife seiner Schürze. „Es riecht hier wirklich wahnsinnig lecker“, sagte ich und versteckte mein Glucksen hinter der Hand. Leider war Tristan viel zu aufmerksam, als dass ihm das entgangen wäre. Er zwinkerte mir zu. „Belinda hat mir einige unserer Familienrezepte verraten und ich dachte, das hier wäre eine gute Gelegenheit, um eins von ihnen auszuprobieren.“ Er strich sich mit einem leicht verlegenden Lächeln seine grauen Haare aus der Stirn und klopfte einen Rest Mehl von der Schürze, dann trat er beiseite, um mich hineinzulassen. An mir vorbei streckte er noch mal den Kopf durch die Tür und sah hinaus. „Ich hätte angenommen, du würdest Gismo mitbringen.“ „Der ist noch bei mir und passt auf den kleinen Felix auf. Zumindest denke ich das“, antwortete ich mit einem leichten Schmunzeln. „Wie geht es denn dem kleinen Kater?“, fragte er und eine nachdenkliche Falte zeigte sich auf der sonst glatten Stirn. „Dem geht es gut, was auch sonst“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Wieso sollte ich etwas über ihn wissen?“, fragte ich, als ich meine Jacke an die Garderobe hängte. Tristan schüttelte abwesend den Kopf. „Vielleicht solltest du mit ihm einfach mal die Tage in die Praxis kommen. Dann kann er sich schon mal daran gewöhnen.“ Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln, doch bei der Erwähnung der Praxis musste ich unweigerlich an etwas, besser gesagt: an jemand anderes denken. „Wann kommt Noah denn jetzt eigentlich wieder?“, platzte es einfach aus mir raus. „Das weißt du nicht?“ Tristan sah mich erstaunt an und ich schluckte. Verdammt, sowas sollte ich wissen oder etwa nicht? Er sah mir meine Unwissenheit wohl an. „Er ist doch schon …“, begann er, doch dann verschluckte er sich und musste husten. Ich musste zugeben, dass es sehr aufgesetzt klang. „Ich meine, also, ich wollte sagen, dass ich denke, dass es nicht mehr lange dauern wird. Zumindest hoffe ich das, in der Praxis ist zurzeit die Hölle los.“ Leicht irritiert betrat ich das Wohnzimmer, in dem Belinda in einem Schaukelstuhl saß und strickte. „Hallo, Liebes, das ist aber schön, dass du uns endlich mal besuchen kommst“, begrüßte sie mich freundlich und streckte mir ihre runzeligen Hände entgegen. Die Haut ihrer Hände fühlte sich ein wenig wie kühles rissiges Papier an, doch ihre grünen Augen strahlten mich voller Glanz an. „Das ist aber eine schöne Wolle“, bemerkte ich, als ich sanft über die grün-gelb gestreifte Arbeit strich, die sie auf den Schoß gelegt hatte. Zwinkernd griff sie neben sich und schob einen großen Weidenkorb vor sich, in dem sich zahlreiche Vierecke in unterschiedlichen Farben befanden. „Ich denke, ich könnte bald mal deine Hilfe gebrauchen“, kicherte sie mit rauer Stimme. „Stricken kann ich zwar noch, aber Nähen bereitet mir doch zunehmend Schwierigkeiten.“ „Natürlich helfe ich dir.“ Wie konnte ich auch was anderes sagen? Mir schossen die Bilder des Dachbodens wieder durch den Kopf. War das jetzt der richtige Moment, sie darauf anzusprechen? „Ich wollte dich aber noch was fragen.“ „Was ist denn los, Liebes?“ „Also, Lisa und Bea hatten die Idee, dass wir einige Sachen aus dem Gutshaus verkaufen und den Erlös spenden wollen. Aber es sind ja im Prinzip deine Sachen, darum wollten wir das nicht über deinen Kopf hinweg entscheiden.“ Ein leichtes Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen und ich atmete erleichtert aus. Ein wenig hatte ich Angst, dass die Erwähnung des Gutshauses in ihr wieder dunkle Erinnerungen wachrufen würde. „Nein, das könnt ihr gerne machen. Behaltet nur das, was ihr gebrauchen könnt“, sagte sie, doch dann nahmen ihre Augen einen trüben Glanz an und mit kehliger Stimme fuhr sie fort. „Nur, versprecht mir eins. Lasst den Dachboden unberührt.“ Ihre Stimme erinnerte mich wieder an den Tonfall, in dem sie damals im Gutshaus gesprochen hatte, ein wenig, als wäre sie nicht von dieser Welt. „Ich verspreche es“, gab ich ehrlich zu, denn sie hatte nicht gesagt, dass wir uns ihn nicht ansehen dürften. „Dann ist gut. Mit dem Rest könnt ihr verfahren, wie ihr es möchtet.“ Leicht drückte ich ihre Hände, doch der Schleier über ihrem Blick ging nicht zurück und bereitete mir ein wenig Sorge. Auch dass sie nicht auf den Druck reagierte, war doch ein wenig unheimlich. Vorsichtig erhob ich mich und ging zögerlich ein paar Schritte rückwärts in Richtung Küche, aus der ich Tristan noch immer werkeln hörte. Erst als ich den Türrahmen erreicht hatte, wagte ich es, mich umzudrehen. „Tristan“, flüsterte ich leise. Sofort drehte er sich zu mir um. „Ich glaub, ich hab was Falsches gesagt“, gab ich immer noch flüsternd zu. Er schob den Kopf durch die Tür und sah in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Mach dir keine Sorgen, das hat sie in letzter Zeit manchmal. Sie wirkt dann ein wenig, als würde sie sich von dieser Welt lösen. In Anbetracht ihres Alters wundert es mich aber auch nicht. Worüber habt ihr denn gesprochen?“ „Ich hab sie wegen des Flohmarktes gefragt. Ob wir einige Sachen verkaufen dürfen, und dann ging das schon wieder los.“ „Schon wieder?“ „Na ja, es ist ähnlich wie vor ein paar Monaten, als sie den Nervenzusammenbruch hatte“, gab ich mit schlechtem Gewissen zu. „Hm“, brummte er nachdenklich. „Warten wir mal ab, was als Nächstes passiert.“ Offensichtlich kannte er seine Tante jetzt deutlich besser als noch vor ein paar Monaten, als er vor Sorge fast verrückt geworden war. „Aber apropos Flohmarkt“, sagte er und legte ein paar noch warme Zimtschnecken auf eine Kuchenplatte. „Ich habe vorhin mit dem Bürgermeister telefoniert, er war ganz begeistert und stellt uns die Fußgängerzone und ein Stück der Strandpromenade zur Verfügung.“ Er strahlte mich begeistert an. Ich nahm ihm die Kuchenplatte ab, er holte eine Kanne Tee und stellte sie auf den Esstisch im Wohnzimmer. Der Duft des Tees ließ Belinda seufzen. „Möchtest du lieber Kaffee?“, fragte mich Tristan leise, doch nicht leise genug, denn Belinda gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Kaffee wird ausschließlich morgens getrunken“, kommentierte Belinda energisch Tristans geflüsterte Frage. Wie gut, dass die alte Dame wieder ganz die Alte zu sein schien. „Es heißt schließlich Nachmittagstee und nicht Kaffee“, zischte sie ihren Neffen an, als wäre dieser noch ein kleiner Junge. Mit einem verschmitzten Grinsen goss Tristan den Tee ein. „Setz dich“, forderte er mich auf. Ich angelte mir eine von den lecker duftenden Zimtschnecken und biss herzhaft hinein. „Mmh, sind die köstlich!“, stöhnte ich und die beiden fingen an zu lachen. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über den Flohmarkt, und wie wir das am besten in der kurzen Zeit organisieren wollten. „Weißt du, was Bea und Lisa mit dem Erlös vorhaben?“, fragte dann Tristan nachdenklich. „Nein, nicht direkt. Wir kamen auf die Idee, als ich ihnen davon erzählte, wie meine Eltern im Laufe der dreißig Jahre an das Vermögen gekommen waren. Also zumindest den Teil, von dem ich weiß. Und das muss die beiden auf eine Idee gebracht haben.“ „Ich weiß, dir mag das Vermögen deiner Eltern wie ein Hexenwerk vorkommen, aber du musst auch den Zeitraum betrachten. Über dreißig Jahre haben sie das Geld für sich arbeiten lassen, und mit ein wenig Strategie und Geschick ist das nur eine Sache der Mathematik.“ „Trotzdem, wenn das so einfach wäre, dann würde das doch jeder machen oder?“ „Wir sind aber nicht jeder“, gab Tristan kryptisch zu. „Es begann mit zwei Leuten vor vielen, vielen Jahren. Der eine hatte die Idee und der andere ein wenig Geld, das er nicht brauchte. Die zwei taten sich zusammen und aus einer Spinnerei wurde ein florierendes Geschäft.“ „Hm“, brummte ich, weil ich das Ganze immer noch nicht ganz verstand. „Warte, ich gebe dir mal ein paar Bücher mit.“ Er stand auf und kam mit einem Stapel Bücher wieder, die alle Titel hatten, die ich unter normalen Umständen nie auch nur im Vorbeigehen betrachtet hätte. Belinda begann zu gähnen. „Es ist Zeit für mein Nachmittagsschläfchen. Es wäre schön, wenn ihr euch darüber ein anderes Mal weiter unterhalten könntet. Ach, und Mell, sag bitte Gismo, er soll nicht wieder so spät kommen, ja?“ Tristan und ich grinsten uns vielsagend an. „Lies einfach ein paar der Bücher, dann unterhalten wir uns weiter, und dir wird es leichter fallen, das Konzept dahinter zu verstehen.“ Er legte mir die Hand auf die Schulter und ich wollte gerade zur Tür gehen, als er in die Küche huschte und mit einem Karton Zimtschnecken zurückkam. „Ich habe ein paar zu viel gemacht.“ Mit diesen Worten drückte er mir die Schachtel in die Hand. „Ruf an, wenn du Fragen hast oder noch irgendetwas brauchst, ja?“ Wir verabschiedeten uns und ich legte die Schachtel zusammen mit den Büchern vorne in den Transportkorb des Fahrrades. Ein leichter Hauch von Frühling lag bereits in der Luft, auch wenn es dafür eigentlich noch viel zu kalt war. Noch bevor ich los radelte, stellte ich mir bildlich vor, was Tristan mir über das Investieren erzählt hatte, dass der eine die Idee und der andere das Geld hat. Mir kam das einigermaßen plausibel vor, aber konnte man damit in dreißig Jahren ein solches Vermögen anhäufen? „Oh, Mama“, sagte ich und blickte eine kleine Wattewolke an, die einsam am blauen Himmel vorbeischwebte. Das Leben meiner Eltern war mir ein absolutes Rätsel. Doch dann kam mir eine Idee, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Mit dem Karton Zimtschnecken radelte ich zu Christian, die würden sich bestimmt darüber freuen. Viel zu lange war es her gewesen, dass ich die kleine Familie das letzte Mal besucht hatte. Als ich mein Fahrrad vor der Tür abstellte, lag das Haus verlassen da. Einladend bog sich der Ast eines Obstbaumes zu mir herunter und man konnte schon fast die Ansätze der Knospen erahnen, die in wenigen Wochen sprießen würden. Ich hätte wohl doch anrufen sollen, aber da mein Handy tot war, hatte ich keine Möglichkeit gehabt. Trotzdem klingelte ich. Wie erwartet blieb es still.
Ich würde mich wohl mit meiner Lektüre auf den Heimweg machen und es mit einem gemütlichen Abend auf dem Sofa probieren. Zumindest brauchte ich mir bei den ganzen Zimtschnecken keine Sorgen darüber zu machen, dass ich verhungerte. Auch wenn mir der Sinn eher nach etwas Herzhaften stand, aber man konnte eben nicht alles haben. Als ich die Tür zum Haus aufschloss, stürmte Gismo an mir vorbei. Anscheinend hatte er nur darauf gewartet, dass ich wieder nach Hause kam. Ob irgendwas passiert war? Vorsichtig betrat ich die Diele und hängte meine Jacke an die Garderobe. Schwarze Pfotenabdrücke führten die Treppe hinauf und ein klägliches Maunzen kam von irgendwoher. Vorsichtig blickte ich ins Wohnzimmer, bevor ich mich auf die Suche nach Felix machte. Mitten im Zimmer lag ein Blumentopf, zerschellt auf dem Boden. Das zumindest erklärte die schwarzen Pfotenabdrücke, aber nicht, wie der Topf in die Mitte des Zimmers gekommen war. Wieder ein leises Quietschen, diesmal kam es aus der Richtung des Wintergartens. Ich ging weiter den Flur hinunter, konnte aber erst etwas erkennen, als ich im Wintergarten stand, der früher Belinda als Kräuterlabor gedient hatte. „Du meine Güte!“, entfuhr es mir, als ich das Chaos betrachtete. Bücher waren auf dem Boden verteilt. Die Tischdecke von dem kleinen Beistelltisch hing in Streifen herunter und eine riesige Pfütze zierte die Mitte des Raumes. „Was habt ihr bloß angestellt?“ Als Antwort bekam ich nur ein kleines hilfloses Wimmern. Felix saß, wie zum Paket verschnürt, unter dem Korbstuhl und, wie es aussah, war er an eins der Stuhlbeine gefesselt. Es waren Katzen, die haben hier bestimmt nicht Cowboy und Indianer gespielt, rief ich mir ins Gedächtnis. Vorsichtig begann ich das Paketband, das eigentlich in einer Schublade gelegen hatte, aufzuwickeln. Mit großen Augen sah mich Felix völlig unschuldig an. „Jetzt tu nicht so“, sagte ich im beruhigenden Tonfall zu ihm. Die kleinen Puschel an seinen Ohren begannen zu zucken. Kaum hatte ich das letzte Stück Schnur von ihm befreit und wollte ihn gerade auf den Arm nehmen, flitzte er wie ein geölter Blitz durch meine Beine durch, die Treppe hoch und keine zehn Sekunden später hörte ich es scheppern. In diesem Moment verstand ich Gismo nur zu gut, so niedlich der Kleine auch aussah, er hatte einfach nur Blödsinn im Kopf. Ich holte mir Kehrblech und Besen, stöpselte mein Handy ans Ladekabel und begann aufzuräumen. Über eine Stunde brauchte ich, um die Spuren des Tages verschwinden zu lassen, und danach war ich so erledigt, dass ich wirklich keine Lust mehr hatte, mich mit den Büchern aufs Sofa zu legen und noch etwas zu lesen. Da es auch schon begann zu dämmern, beschloss ich einfach, jetzt ins Bett zu gehen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken Noah anzurufen, beließ es aber dabei, denn ich wollte wirklich nicht quengeln, dass er endlich wieder zurückkommen sollte.
Lange würde er das nicht mehr mitmachen. Völlig erschöpft ließ Gismo sich vor dem Kamin nieder. Er hatte sich einfach nicht anders zu helfen gewusst, als den kleinen Racker mit dem Paketband in Schach zu halten. Was hätte er denn tun sollen? Zusehen, wie der das ganze Haus zerlegte? Er gähnte herzhaft. Morgen würde er ausschlafen, er brauchte einen Tag Pause. So konnte das einfach nicht weiter gehen. Vielleicht würde Noah etwas einfallen, wenn er denn mal wiederkommen würde. Er jedenfalls war mit seinem Latein am Ende.Er hatte bemerkt, dass auf der Insel etwas vor sich ging, die Spatzen hatten es von den Dächern gepfiffen, doch wie hätte er sich darum kümmern sollen? Morgen – alles würde Zeit haben bis morgen.
Kapitel 3
Er blinzelte, als es draußen langsam begann zu dämmern. Die ersten Vögel begannen ihre Lieder von den Dächern zu pfeifen. Ein kurzer Impuls durchzuckte seine Pfoten, aber nein, er würde heute nicht aufstehen. Das leise Knurren seines Magens machte sich bemerkbar. Er musste seine Gedanken korrigieren, er würde aufstehen, nur um sich dann sofort wieder hinzulegen. Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft in allen Ehren, aber dieser kleine Satansbraten würde ihn noch ins Grab bringen und das früher, als er es beabsichtigte. Diese trüben Gedanken waren nur seiner Erschöpfung geschuldet. Ein Tag Pause würde wohl ausreichen, um seine Energiereserven wieder aufzufüllen und seine Nerven zu revitalisieren.
Ich wachte mit dem Gedanken auf, dass ich kaum etwas von dem getan hatte, was mir gestern noch so wichtig gewesen war. Warum fühlte ich mich nur so erschlagen? War es die fehlende Sonne, die mir aufs Gemüt schlug? Wenn es das war, dann würde ich nicht mehr lange warten müssen, denn langsam begannen die Tage länger und heller zu werden. Müde und erschöpft stieg ich die Treppe hinunter, von Felix war weit und breit keine Spur. Im Flur schaltete ich mein Handy an und ging weiter in die Küche. Für einen kurzen Moment traute ich meinen Augen nicht und musste zweimal hinsehen, um die unscharfen Konturen der Figuren zu erkennen, die kopfüber vor meinem Fenster baumelten. Das war jetzt nicht wahr, oder? Mit den Handballen rieb ich mir über die Augen und zählte langsam bis drei. Vorsichtig öffnete ich sie wieder. Da hingen tatsächlich drei Stoffpuppen von etwa zehn Zentimetern Größe, an ihren Beinen aufgeknüpft vor meinem Fenster und irgendetwas Rotes tropfte von ihnen herab. Eine dunkle Spur hatte sich bereits auf der Fensterbank gebildet. Ich legte mir meine kühle Hand auf die Stirn, um mich etwas zu beruhigen. Sollte mir das etwa Angst machen? Leider musste ich zugeben, dass es das auch ein wenig tat, aber noch viel mehr als das, machte es mich wütend. Wer war so unverfroren und schlich nachts um mein Haus und hing mir so etwas ans Fenster und warum? Der Schreck fuhr mir in die Knochen. Wo war bloß Felix? Hastig begann ich alle Zimmer nach ihm abzusuchen und malte mir in Gedanken die schrecklichsten Sachen aus, die mit ihm passiert sein konnten. Ich fand den kleinen Kater empört fauchend im Wintergarten. Er saß vor der Fensterfront und trommelte mit den Pfoten gegen die Schreibe, was bei seiner Größe weniger furchterregend klang, sondern eher irgendwie niedlich. Trotzdem beunruhigte mich sein Verhalten und ich kontrollierte die Tür, ob sie wirklich verschlossen war. Anschließend hob ich den kleinen Kater wieder hoch und trug ihn in die Küche. Zu meiner Verwunderung hing jetzt nichts mehr vor dem Fenster und auch die rote Spur war verschwunden. Ich sah den kleinen Kater auf meinem Arm an, dessen Herz immer noch wie wild pochte. „Das hab ich mir nicht eingebildet, oder?“ Wie zur Beantwortung meiner Frage maunzte der kleine Kater empört. Ich drückte ihn fester an mich und spürte seine Wärme durch mein Shirt, die mich ein wenig beruhigte. Es änderte aber nichts daran, dass mein Herz heftig gegen meinen Brustkorb hämmerte, da, wo gerade noch Wut war, saß jetzt ein kleiner Klumpen, der sich nach einer Mischung aus Furcht und Irritation anfühlte. Ich drehte mich zur Kaffeemaschine um und Felix kletterte auf meine Schulter. Gerade als ich mir eine Tasse Kaffee einschenken wollte, bohrten sich kleine spitze Krallen in meinen Nacken. Zeitgleich ertönte wieder ein Fauchen, dann das Kratzen von etwas Spitzem über die Fensterscheibe. Mein Herz drohte für eine Sekunde auszusetzen, und wie eine Salzsäule stand ich erstarrt da. Erst als der kleine Kater sich wieder etwas beruhigt hatte, wagte ich es, mich umzudrehen. Da war nichts. Ich schluckte schwer und zog die weiß-blau gestreiften Gardinen zu. Erst dann traute ich mich wieder, Luft zu holen. Mit klammen Händen ging ich in den Flur und holte mein Handy. Das Erste, was ich sah, war eine Nachricht von Noah und mein Herz machte einen Hüpfer, doch diesmal vor Freude. Ich drückte auf den Hörer und erst, als ich seine tiefe warme Stimme hörte, begann ich mich wieder zu entspannen. „Hey, Prinzessin“, hörte ich seine Stimme aus dem Telefon. Noah wusste, dass ich diesen Kosenamen nicht ausstehen konnte und trotzdem verzogen sich meine Lippen zu einem leichten Lächeln. Mit einem Mal schien alles nicht mehr so schwer zu sein, und die Welt drehte sich ein wenig langsamer. „Hey, du“, meine Stimme klang dünn und leicht brüchig. „Ist irgendwas los?“, die Sorge war deutlich in seinem Ton zu hören. Nein, ich wollte nicht zugeben, dass ich mich gerade gefürchtet hatte und dass ich ihn schrecklich vermisste, und dennoch hörte er all das aus meinen nächsten Worten heraus: „Alles gut. Ich habe nur so schrecklich viel zu tun.“ Es hatte so klingen sollen, als ob ich all das schon hinbekommen würde, doch die Wahrheit war, dass ich das Gefühl hatte, ich bekam nichts hin. Ein kleiner Teil von mir wollte, dass er stolz auf mich war, wie stark und selbstbewusst ich war. Doch all das war gelogen. „Jetzt sag schon, was ist los?“ Er ließ einfach nicht locker und würde drauf bestehen, dass ich ihm alles erzählte. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, was es überhaupt zu berichten gab. Dann begann ich einfach der Reihe nach zu erzählen von Lisa und Bea, dass wir endlich über alles gesprochen hatten. Dann von dem Flohmarkt, und dass Bea und Lisa irgendwas ausheckten, über das sie partout nicht sprechen wollten. Die ganze Zeit war er still und hörte aufmerksam zu, bis ich zu dem Punkt kam, als ich ihm von dem Dachboden erzählte und von einer Frau, die im Haus gewesen war, die ich dann über die Wiese hatte weglaufen sehen. Woran ich ausmachte, dass er sich angespannt hatte, konnte ich nicht genau sagen, aber so war es. Es hatte sich etwas kaum merklich verändert, und zum ersten Mal fragte er nach: „Was hast du von der Frau erkennen können?“ „Nicht viel, nur dass sie einen roten Mantel getragen hatte und lange braune Haare hatte.“ „Sonst nichts?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, mehr hab ich nicht sehen können.“ Ich hörte, wie er erleichtert ausatmete. „Ich hatte angenommen, es wäre eine neugierige Touristin gewesen“, gab ich zu. „Ja, so wird es wohl gewesen sein. Und du bist dir sicher, dass auf dem Dachboden mal jemand gewohnt hat?“, wechselte er das Thema. „Ja, ziemlich. Betten, Schränke, alles war so aufgebaut, dass es einzelne Bereiche gebildet hat. Für mindestens zehn Personen, wenn du mich fragst.“ „Das ist wirklich seltsam. Aber du bist dir sicher, dass da oben schon lange keiner mehr gewesen ist?“ „Ich denke schon. Die Staubschicht war zentimeterdick.“ „Hm, ich guck mal, ob ich hier in der Bibliothek was finden kann. Das klingt interessant.“ „Oh, das wäre großartig. Ich meine, in diesem Haus muss mal was Schreckliches passiert sein. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt dafür.“ Das sagte ich, ohne nachzudenken, aber Belindas Verhalten gab mehr als nur ein wenig Grund für diese Annahme. Es tat so gut, einfach mit ihm zu reden. So gut, dass ich fast die Puppen vor meinem Fenster vergaß, aber eben nur fast. Noah wollte schon auflegen, als ich damit herausplatzte. „Jemand hat vorhin Puppen vor mein Fenster gehängt und dann waren sie weg, ganz plötzlich“, meine Stimme begann dabei wieder zu zittern und Felix, den ich immer noch auf dem Arm hielt, schnurrte noch lauter, wahrscheinlich um mich zu beruhigen. Ich konnte sein Kieferknacken durchs Telefon hören. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, wer das gewesen sein könnte“, gab ich kleinlaut zu.