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Journalistin Mia Jørgensen gelingt es, in Kopenhagen einen absoluten Traumjob zu ergattern: Als Hygge-Korrespondentin soll sie die Leser eines deutschen Magazins für das dänische Lebensgefühl begeistern. Alles scheint perfekt – bis sie aus heiterem Himmel auf ihre Jugendliebe Jonas trifft, und alte Gefühle erneut aufflammen. Mia ist hin- und hergerissen. Soll sie das Abenteuer Kopenhagen wirklich wagen? Oder der Beziehung zu Jonas noch eine Chance geben? Als es dann zu einem verhängnisvollen Missverständnis kommt, ist das Chaos perfekt – und Mia muss sich endgültig entscheiden.
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Seitenzahl: 409
Kurzbeschreibung: Journalistin Mia Jørgensen gelingt es, in Kopenhagen einen absoluten Traumjob zu ergattern: Als Hygge-Korrespondentin soll sie die Leser eines deutschen Magazins für das dänische Lebensgefühl begeistern. Alles scheint perfekt – bis sie aus heiterem Himmel auf ihre Jugendliebe Jonas trifft, und alte Gefühle erneut aufflammen. Mia ist hin- und hergerissen. Soll sie das Abenteuer Kopenhagen wirklich wagen? Oder der Beziehung zu Jonas noch eine Chance geben? Als es dann zu einem verhängnisvollen Missverständnis kommt, ist das Chaos perfekt – und Mia muss sich endgültig entscheiden.
Inga Schneider
Zimtschneckentage
Roman
Edel Elements
Edel Elements
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ISBN: 978-3-96215-461-5
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»Egal, wer dir das Herz gebrochen hat und wie lange es dauert, bis es heilt, du schaffst es niemals ohne deine Freundinnen.«
– Carrie Bradshaw
Für Christin.
Danke für unsere Freundschaft.
»Moin.«
Ich betrat die kleine Bäckerei am Marktplatz und atmete tief ein. Der Duft von frisch gebackenen Brötchen, köstlichem Brot und herrlich aussehenden Zimtschnecken erfüllte den ganzen Raum und mischte sich mit dem aromatischen Duft feinster Kaffeekreationen. Ich liebte Bäckereien und Konditoreien. Nahezu meine ganze Kindheit hatte ich in einer Backstube verbracht und zusammen mit meiner Schwester zwischen den Mehlsäcken Verstecken gespielt, meinem Vater an Silvester beim Backen der Berliner geholfen und heimlich von der Schlagsahne genascht.
Meinem Vater, dem die Konditorei früher gehörte, hatte ich gerne dabei zugesehen, wie er in der Weihnachtszeit bunte Hexenhäuschen baute und mit Süßkram verzierte oder aus einem großen Klumpen Marzipan die bezauberndsten Figuren formte. Kleine rosa Schweinchen mit Ringelschwänzen aus weißem Zuckerguss oder süße Igel mit Stacheln aus dunkelbrauner Schokolade. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und träumte mich zurück an jenen heimeligen Ort glücklicher Kindertage. Den Duft von Zimt und Bratapfel konnte ich noch immer riechen.
»Mia, was kann ich für dich tun?«
Mariannes raue Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt.
»Hab ich dich beim Träumen erwischt?«, hakte die schrullige Bäckereiverkäuferin nach und lächelte.
Ich fühlte mich ertappt, strich mir verlegen eine blonde Strähne aus dem Gesicht und erwiderte ihr Lächeln.
»Ja, das hast du«, sagte ich und deutete auf den Tresen, in dem Mandelhörnchen, Napoleonhüte, Eisenbahnschienen und Zimtschnecken nebeneinanderlagen. »Zwei Zimtschnecken, bitte.«
»Gerne. Also, wie immer …«, murmelte Marianne, griff zur Zange und packte zwei Zimtschnecken in eine bunte Papiertüte. »Darf es sonst noch etwas sein? Ein Kaffee vielleicht?«
»Nein, heute nicht. Danke, ich bin ein wenig in Eile.« Ich legte ein paar abgezählte Münzen auf den Tresen und wandte mich zum Gehen um.
Marianne Ahrens, die kleine rundliche Verkäuferin, kannte ich seit vielen Jahren. Früher hatte sie in der Konditorei meiner Eltern gearbeitet. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie schon ihre Ausbildung bei meinen Eltern gemacht. Ein halbes Leben hatte sie in unserem Laden hinter dem Tresen gestanden und Kuchen, Torten, Gebäck und süße gefüllte Teilchen verkauft. Doch nachdem meine Eltern sich in den Ruhestand verabschiedet und die Konditorei verkauft hatten, war Marianne gezwungen, sich einen neuen Job zu suchen. Zum Glück konnte sie schon bald in der Bäckerei am Marktplatz anfangen. Seitdem stand sie hier täglich für jeweils vier Stunden hinter dem Tresen und kannte die Vorlieben ihrer Kunden gut.
Auf meinem Weg zur Arbeit machte ich öfter Halt in der kleinen Bäckerei am Marktplatz, um mir für die Arbeit eine Kleinigkeit mitzunehmen. Obwohl ich das Sortiment in- und auswendig kannte, fiel mir die Wahl häufig schwer. Zumindest in dieser Hinsicht war Entscheidungsfreude keine meiner Stärken. Die Auslage zeigte eine süße Köstlichkeit neben der anderen: Eisenbahnschienen, Wienerbrot mit Vanillecreme, Pflaumenmus oder Marzipan, Schokoboller, Nussecken. Wie um alles in der Welt sollte man sich da entscheiden können? Meistens kaufte ich daher zwei Zimtschnecken, eine fürs zweite Frühstück im Büro und eine zum Nachmittagskaffee.
»Tut mir leid, wir schnacken beim nächsten Mal etwas länger. Versprochen. Geht‘s dir denn gut, Marianne?« Ich packte die Tüte hastig in meine cognacfarbene Shopping-Bag und sah auf die Uhr. Ich musste mich wirklich beeilen. Mist!
»Alles bestens, Kleines. Und bei dir?«
»Ja, es läuft.« Ich lachte, winkte kurz und drehte mich um. »Wir sehen uns bestimmt am Montag«, sagte ich noch schnell und versuchte, dabei nicht zu gestresst zu klingen, bevor ich im nächsten Augenblick auch schon zur Tür hinaus verschwand.
»Dieses Mädchen, immer in Eile«, hörte ich Marianne hinter mir sagen, während sie sich kopfschüttelnd der nächsten Kundin zuwandte.
Draußen war es ungewöhnlich laut. Über Nacht war neben dem Marktplatz eine der zahlreichen Tagesbaustellen, die gerade jetzt zur Ferienzeit überall in der Stadt auftauchten, eingerichtet worden. Warum man sich dazu entschied, gerade dann Straßen und Plätze umzubauen, wenn die Stadt voller Touristen war, würde ich wohl nie verstehen. Das brummende Dröhnen des Presslufthammers schallte durch die angrenzenden Straßen, während auf dem Wochenmarkt die Marktverkäufer verzweifelt versuchten, gegen den Lärm anzuschreien.
Ich hielt mir die Ohren zu und huschte über das Kopfsteinpflaster, bis mir ein kleiner älterer Mann mit grauem, schütterem Haar und Nickelbrille auf der Nase von hinten auf die Schulter klopfte.
»Hallo, Mia. Wie wäre es heute mit ein paar frischen Erdbeeren?«
»Herr Fischer, haben Sie mich jetzt aber erschreckt«, neckte ich ihn und legte mir mit gespieltem Entsetzen eine Hand auf die Brust. Trotz Zeitnot ließ ich mich von Herrn Fischer breitschlagen und begleitete ihn zu seinem großen Obst- und Gemüsestand am Rande des Wochenmarkts.
»Hier sieht es aber lecker aus.«
Eine riesige Auswahl frischer Erdbeeren lag neben einem großen Berg roter und grüner Äpfel, während zahlreiche Ananas zu einer Pyramide aufgetürmt worden waren.
»Alles frisch vom Großmarkt geholt heute Nacht. Nur die Erdbeeren nicht. Die kommen von Bauer Johannsens Feldern. Probieren Sie mal«, sagte Herr Fischer und hielt mir eine Schale mit wunderbar duftenden Erdbeeren hin.
Ich nahm mir eine große, leuchtend rote Frucht und kostete.
»Die sind ja köstlich. Ja, davon nehme ich gerne eine Schale mit ins Büro. Dann brauche ich später nicht selbst noch mal raus aufs Feld«, sagte ich und hielt Herrn Fischer einen schwarzen Stoffbeutel hin, damit er die Schale darin verstauen konnte.
»Hab ich Ihnen doch gesagt. Bei mir gibt‘s nur beste Ware«, meinte Herr Fischer selbstzufrieden und pries weiter sein Obst und Gemüse an. »Darf es sonst noch etwas sein? Kartoffeln vielleicht? Ich hab neue Kartoffeln hier. Oder Brokkoli? Wie wäre es mit Bananen?«
»Nein, danke. Heute wirklich nicht. Ich muss zur Arbeit und bin jetzt schon viel zu spät dran. Aber vielleicht schaffe ich es, nächste Woche auf dem Markt vorbeizuschauen. Dann mache ich bei Ihnen einen Großeinkauf. Versprochen.« Ich zwinkerte dem alten Mann zu.
»Mia, Sie werden doch wohl nicht etwa mit mir flirten?«, scherzte Herr Fischer und gab mir den schwarzen Jutebeutel zurück.
»Herr Fischer, jetzt haben Sie mich aber erwischt! Wir sehen uns.« Ich lachte, reichte einen Fünfeuroschein über den Stand und drehte mich um. »Stimmt so.«
»Bis nächste Woche dann«, rief Herr Fischer mir hinterher, und ich winkte noch einmal fröhlich über die Schulter.
Der Lärm des Presslufthammers war kaum auszuhalten. Ich beeilte mich, nicht nur, um pünktlich in der Redaktion zu sein, sondern auch um dem Krach endlich zu entkommen. Die armen Wochenmarktverkäufer taten mir leid. Würde der Lärm bis zum Abend anhalten, wären einige von ihnen bestimmt taub oder würden mit einem Tinnitus beim Ohrenarzt sitzen.
Schon jetzt am Vormittag war die Fußgängerzone gut mit Touristen gefüllt, die im Sommer immer in Scharen in die Stadt kamen, sodass ich abwechselnd nach links und rechts huschen musste, um überhaupt voranzukommen. Jetzt, im Sommer, war immer besonders viel los, während es im Winter in der Stadt nur an den Wochenenden richtig voll wurde.
Dank einer aufwendigen Marketingkampagne hatte sich die kleine Stadt am Meer in den vergangenen Jahren zu einem wahren Shoppingmekka entwickelt und lud Touristen aus dem In- und Ausland zum gemütlichen Bummeln und Verweilen ein. Die Fußgängerzone bot alles, was das Shoppingherz begehrte: große Einkaufspassagen mit den üblichen Modeketten und kleine, feine Boutiquen mit einem ausgewählten Sortiment. Berühmt und beliebt waren vor allem die zahlreichen alten Kaufmannshöfe, deren Speicher nach und nach liebevoll saniert worden waren und jetzt unter anderem Hotels, gemütliche Cafés oder Wohnungen beherbergten.
Am Hafen reihten sich, ähnlich wie in Kopenhagens Nyhavn, kleine bunte Häuser in Gelb, Blau, Grün und Rot aneinander und schufen so eine charmante Postkartenkulisse, die man ohne Weiteres als hyggelig, also gemütlich, bezeichnen konnte.
Heute waren vorwiegend Urlauber aus Skandinavien in der Fußgängerzone unterwegs. Ich lief unter den aufgespannten Sonnenschirmen der Cafés hindurch in Richtung Medienhaus, das vor einiger Zeit am Hafen errichtet worden war.
Fast ein Jahr lang war das alte Getreidesilo auf der Ostseite des Hafens in ein schickes Verlagshaus umgebaut worden. In die dicken Betonmauern waren etliche graue, bodentiefe Sprossenfenster eingebaut und die Fassade war mit gelb-roten Backsteinen verklinkert worden, sodass nun alles an einen alten Getreidespeicher erinnerte.
Gleich zwei Zeitungen und ein Magazin hatten im Medienhaus seitdem ein neues Zuhause gefunden. Das Morgenjournal, die Tageszeitung der Stadt, Unsere Woche, das kostenlose Anzeigenblatt der Stadt, und Hygge & Meer, ein überregionales Lifestyle-Magazin, das im Kielwasser der weltweiten Hygge-Bewegung aus dem Boden gestampft worden war und sich mittlerweile am norddeutschen Markt positionieren konnte.
Ich hatte bei Hygge & Meer vor zwei Jahren angeheuert und war seitdem nicht nur umtriebige Reporterin, die überall in der Region unterwegs war, neue Lifestyle-Trends aufspürte und über zauberhafte Häuser und traumhafte Gärten berichtete. Ich hatte es auch geschafft, mir einen festen Platz im Magazin zu sichern und vor etwa einem halben Jahr meine Kolumne Mias Welt ins Leben gerufen. Ursprünglich war es nur ein Notnagel gewesen, um eine Lücke in der Januarausgabe zu füllen. Doch meine Kolumne und die Sichtweise auf das Leben im Land zwischen den Meeren war glücklicherweise so gut angekommen, dass Mias Welt aus dem Magazin inzwischen nicht mehr wegzudenken war.
»Mia, diese Idee ist genial gewesen. Das war genau das, was unserem Magazin noch gefehlt hat. Deine Ideen sind so inspirierend«, hatte Frida, meine Chefredakteurin, gejubelt und mir eine dicke Gehaltserhöhung zugesagt, von der nach Abzug der Steuern allerdings nicht mehr allzu viel übrig blieb. Immerhin reichte es dafür, dass ich aus meiner Einzimmerwohnung im Süden der Stadt in eine schicke Neubauwohnung mit Dachterrasse im Westen umziehen konnte.
Außerdem hatte sich Mias Welt von der Kolumne zu einem eigenständigen Ressort entwickelt. Mindestens vier Seiten in den monatlichen Ausgaben gehörten mir und Mias Welt, sodass die Leserinnen und Leser nicht mehr nur meine Kolumne, sondern auch spannende Reportagen, Lifestyle-Tipps und kulinarische Empfehlungen zu lesen bekamen. Ich hatte es geschafft und konnte nicht verhehlen, dass ich ein wenig stolz auf mich war.
Als ich die Hafenspitze erreichte, war es bereits neun Uhr.
Mist! Ich beschleunigte mein Tempo und ärgerte mich über mich selbst. Pünktlichkeit gehörte neben Verlässlichkeit zu einer der Eigenschaften, die Kollegen und Freundinnen besonders an mir schätzten. Ich kam nie später als neun in die Redaktion. Nicht ganz uneigennützig, denn so hatte ich immer noch Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und mich auf die tägliche, quälend lange Redaktionssitzung um zehn Uhr vorzubereiten.
Gerade heute wollte ich besonders pünktlich im Büro sein. Meine Chefredakteurin hatte gestern Abend noch zu einer außerordentlichen Redaktionssitzung um halb zehn am Vormittag eingeladen und große Neuigkeiten angekündigt. Auch die Worte »Umstrukturierung« und »neue Ideen« waren gefallen. Und ausgerechnet heute war ich zu spät dran, weil mein blöder Wecker nicht geklingelt hatte. Dabei war ich mir sicher gewesen, dass ich ihn gestern Abend angeschaltet hatte.
In meiner Tasche piepte das Handy. Hastig warf ich einen Blick darauf.
ALLES AUS!!!
Die großen Buchstaben waren nicht zu übersehen. Die Nachricht war von Henrieke, meiner besten Freundin.
Ich drückte die Taste für Sprachnachrichten.
»Hallo Henrieke. Ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit und schon zu spät dran. Wir haben gleich eine außerordentliche Sitzung, auf der Neuigkeiten verkündet werden sollen. Ich hab keine Ahnung, was da schon wieder los ist. Aber darum geht‘s jetzt nicht. Was ist denn passiert? Was ist aus? Doch nicht etwa die Sache mit Kim?«, quasselte ich ins Handy und drückte auf Senden. Trotz Stress hatte ich das Bedürfnis, mich nach Henrieke zu erkunden. Außerdem war ich extrem neugierig und wollte wissen, was genau der Grund für Henriekes Nachricht war.
Es dauerte keine Minute, bis es erneut piepte.
»Und wie es aus ist mit Kim! Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Der Idiot hat mich betrogen. Mit Kessi oder Moni oder wie auch immer die Trulla heißt! Ich erzähl dir später mehr. Viel Spaß beim Meeting. Melde dich, wenn‘s vorbei ist. Wollen wir heute Abend was trinken gehen?«
Henriekes Stimme überschlug sich förmlich, so in Rage war sie. Jetzt packte mich doch das schlechte Gewissen, weil ich mir im Moment nicht mehr Zeit für sie nehmen konnte.
Oh, dieser Mistkerl! Lass uns heute Abend Bei Bo treffen. Ich melde mich, sobald ich das Meeting überstanden habe. Vielleicht kann ich heute auch früher Feierabend machen, dann können wir nachmittags zum Strand fahren und uns den Meereswind um die Stirn pusten lassen. Ich drück dich
schickte ich zusammen mit einem Kuss-Emoji per WhatsApp an Henrieke zurück.
Ich blickte auf meine Uhr. Es war zehn Minuten nach neun.
»Oh, Mist, Mist, Mist!« Schimpfend betrat ich das Medienhaus.
Hygge & Meer lag in der sechsten Etage des Gebäudes. Zu hoch, um mit einer Verspätung im Rücken die Treppen zu nehmen. Also entschied ich mich für den Aufzug. Ich wollte auf gar keinen Fall verschwitzt und abgehetzt ankommen, wo ich doch heute Morgen eine gefühlte Ewigkeit gebraucht hatte, um den Lidstrich gerade zu ziehen.
Die Redaktion war lichtdurchflutet und offen gestaltet. Es gab zwar separate Büros, die lediglich durch Glaswände voneinander getrennt waren, sodass man stets im Blick hatte, was im Nachbarbüro vor sich ging. Anfangs hatte ich noch mit zehn weiteren Kollegen im Großraumbüro ohne Trennwände gesessen, doch seit der Idee mit Mias Welt war ich in ein kleines Büro in der hintersten Ecke der Etage, aber immerhin mit Blick auf die Werft und die dänische Küste gezogen.
Dieser kleine Glaskasten am Ende des Ganges war mir seitdem ans Herz gewachsen. Nicht nur wegen der fantastischen Aussicht auf einen Teil des Hafens, sondern weil ich in dem Büro wirklich meine Ruhe hatte. Links von mir lag das Archiv, das ausnahmsweise nicht von Glas-, sondern von Betonwänden umgeben war, und in das sich tagsüber nur wenige Kollegen verirrten, und im Büro auf der rechten Seite hatten die Praktikanten ihre Schreibtische. Im Moment arbeiteten bei Hygge & Meer drei Praktikantinnen, wobei eine, Ida, meist mir zur Seite gestellt wurde und gerade jetzt, als ich den Gang entlangeilte, aufgeregt mit den Armen gestikulierend auf mich zukam.
»Guten Morgen, Ida«, sagte ich, lächelte freundlich und ging an ihr vorbei in mein Büro, wo ich meine Tasche und den Stoffbeutel mit den Erdbeeren auf den Schreibtisch legte.
»Moin, Mia. Du bist aber spät dran heute«, bemerkte Ida und folgte mir.
»Ja«, antwortete ich und verdrehte genervt die Augen. »Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendwo zwischen Wochenmarkt und Büro habe ich die Zeit aus den Augen verloren. In der Stadt ist die Hölle los, alles voller Touristen. Und die Geschäfte haben noch nicht einmal geöffnet.«
»Frida hat sich heute Morgen schon zweimal nach dir erkundigt. Sie wollte dich unbedingt noch vor dem Meeting sprechen«, sagte Ida hochtrabend.
»Hat sie sonst noch was gesagt?« Ich schaltete den Computer an und überlegte kurz, ob es sich lohnen würde, meine E-Mails zu checken.
»Nein, sie meinte nur, du sollst dich bei ihr melden, sobald du im Büro bist.«
»Gut, dann werde ich sie gleich anrufen.« Ich setzte mich und schaute zur Uhr. Noch eine knappe Viertelstunde bis zum Meeting. Ich griff zum Telefonhörer und drückte die Kurzwahltaste, hinter der Fridas Nummer gespeichert war. Es tutete.
Ida blieb wie angewurzelt vor dem Schreibtisch stehen und wickelte eine rote Haarsträhne um ihren Zeigefinger.
»War noch was?«, fragte ich ungeduldig.
»Nicht so wichtig«, sagte Ida und verließ den Raum.
Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Frida nahm nicht ab. Ich legte auf, schnappte mir meinen Notizblock und machte mich auf den Weg in die Büroküche. Ich würde mir noch schnell einen Kaffee holen, denn ich brauchte dringend Koffein, um das Meeting durchzustehen. Anschließend würde ich bei Frida vorbeischauen und gemeinsam mit ihr zum Konferenzraum gehen. Doch in der Küche gab es weder frischen Kaffee, noch war Frida in ihrem Büro. Ich seufzte. Irgendwie war heute der Wurm drin.
Der Konferenzraum Kopenhagen war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich konnte gerade noch einen Sitzplatz mit Blick auf das tiefblaue Meer ergattern, das sich seelenruhig in der Sonne glänzend bis zum Horizont erstreckte.
Frida saß ganz vorne am Kopf des langen ovalen Tisches und war in ein Gespräch mit Paul Hansen, dem Geschäftsführer des Verlags, vertieft. Nur kurz hatte sie den Kopf gehoben und ihren Blick durch den Raum schweifen lassen, vermutlich um zu schauen, ob schon alle Mitarbeitenden da waren.
Punkt halb zehn schloss Ida die Tür und setzte sich auf den freien Stuhl neben Frida, die sogleich das Wort ergriff. »Ihr Lieben, wie schön, dass ihr alle so zahlreich heute Vormittag erschienen seid. Und das, obwohl ich dieses Meeting so kurzfristig einberufen habe. Ich bin entzückt«, sagte Frida und legte theatralisch eine Hand auf ihr Herz. Sie neigte in Wortwahl und Gesten gerne zu Übertreibungen. Fehlte nur noch, dass sie sich leicht verbeugte. Was sie im nächsten Moment auch tatsächlich tat. Fremdschämend wollte ich mir eine Hand über die Augen legen, als ich Maries Blick einfing, die Fridas übertriebene Geste nachäffte und mit den Augen rollte, sodass wir uns zusammenreißen mussten, um nicht laut loszulachen.
»Ich habe euch in meiner E-Mail Umstrukturierungen angekündigt. Jetzt möchte ich euch erzählen, wie diese genau ausfallen werden. Keine Angst, es wird niemand entlassen. Soviel steht schon mal fest. Aber wir haben beschlossen, die Redaktion umzugestalten«, setzte Frida ihre Rede fort, und ein leises Raunen ging durch den Raum.
»Unser Magazin verkauft sich immer besser, doch der Erfolg hat auch seinen Preis. Und mir ist nicht entgangen, dass wir in der Redaktion unterbesetzt sind. Gerade nach dem Wechsel von Petra zu Bei dir zu Hause«, wieder legte Frida eine Hand auf ihre Brust, »haben wir in der Redaktion alle Hände voll zu tun. Hinzukommt, dass die Anzeigenverkäufe in den vergangenen Monaten deutlich nach oben gegangen sind, sodass wir künftig einen Redakteur abstellen werden, der sich um sogenannte PR-Artikel, sprich gekaufte Artikel, kümmern wird. Diese Aufgabe wird Toni übernehmen«, verkündete Frida die Nachricht.
Im Raum drehten nun alle ihre Köpfe, um einen Blick auf Toni zu erhaschen, der cool und lässig wie immer an eine Wand gelehnt stand. Trotzdem schien ihm die Aufmerksamkeit seiner Kollegen unangenehm zu sein, denn er wurde etwas rot im Gesicht.
»Na, na, Toni, nun mal nicht so schüchtern«, zog Frida ihn auf. »Wir freuen uns auf jeden Fall sehr darüber, dass du künftig mit unserer Anzeigenabteilung enger zusammenarbeiten wirst.«
Jetzt klatschten alle Beifall, was bei Toni dazu führte, dass er seine lässige Anfangshaltung vollends aufgab und wie ein kleines Kind die Hände vor der Brust verschränkte.
»Jetzt reicht es aber wirklich, Leute«, sagte er grimmig und zog eine Grimasse.
»Kommen wir zu den weiteren Umstrukturierungsplänen. Celine wird ins Haus-&-Garten-Ressort wechseln und Simi wird Tonis Platz in der Food-Redaktion einnehmen. Außerdem werden wir mit Max künftig auch jemanden haben, der sich um Sportthemen in der Region kümmert.«
Fridas Rochade erstreckte sich auf einen Großteil der Redaktion. Es war ein regelrechtes Stühlerücken. Doch was mich am meisten wunderte: Niemand schien sich an seiner neuen Position zu stören. Es gab zwar hier und da erstaunte Gesichter, aber keiner war wirklich überrascht davon, dass er oder sie künftig in einer anderen Abteilung arbeiten sollte. Offensichtlich hatte Frida heute früh oder vielleicht auch gestern Abend noch mit allen Beteiligten gesprochen.
Da sie nicht mit mir gesprochen hatte, ging ich zunächst davon aus, dass mich die Umstrukturierungen nicht treffen würden. Eine Hoffnung, die sich in der nächsten Minute zerschlug.
»Kommen wir nun zu Mias Ressort«, verkündete Frida.
Ich hielt den Atem an. Mein Ressort sollte umstrukturiert werden? Es war doch gerade erst ins Leben gerufen worden. Ich spürte, wie ich urplötzlich verkrampfte, und schaute fragend in Fridas Richtung. Wollte sie deswegen heute Morgen mit mir reden? Verdammter Wecker!
»Uns alle hat der Erfolg von Mias Welt überrascht. Die Kolumne ist charmant und ehrlich. Sie ist witzig und verfügt manches Mal über eine Prise Sarkasmus. Die Reportagen sind vielseitig und das, was viele wohl ›aus dem Leben gegriffen‹ nennen. Aber vor allem spricht Mias Welt unsere Leserinnen und auch Leser an. Umfragen haben gezeigt, dass unsere Zielgruppe sich mit genau diesen Themen beschäftigt. Liebe, Freundschaft, Klatsch und Tratsch, Familie, Schule, Ausbildung, Beruf, Kulinarisches und Lifestyle – ich kann gar nicht alles aufzählen. Die Leute scheinen gar nicht genug von Mias Welt bekommen zu können.« Frida machte eine wohlüberlegte Pause und erhöhte so den Spannungsbogen.
Meine Hände waren inzwischen ganz schwitzig, und mein Herz pochte bis zum Hals. Was wollte sie uns mitteilen?
»Und deshalb haben wir beschlossen, das Ressort künftig um zwei Seiten zu erweitern«, schloss Frida den Satz.
Erleichtert atmete ich aus. Immerhin wurde die Kolumne nicht eingestampft. Wie ich zwei weitere Seiten jedoch füllen sollte, war mir ein Rätsel.
»Doch das ist noch nicht alles. Damit Mia ihre Aufgaben künftig auch bewältigen kann, wird sie ab sofort Unterstützung bekommen.« Rumms! Frida legte ihre Hand auf Idas Arm, die auf ihrem Stuhl nun noch ein Stück näher gerückt war und bis über beide Wangen wie ein Honigkuchenpferd grinste.
»Ida wird ab sofort als Volontärin bei uns einsteigen und Mia bei ihrer Arbeit nicht nur zur Seite stehen, sondern sie auch vertreten, wenn sie ausfallen sollte. Mia und Ida werden von nun an ein Team bilden. Ziel ist es, aus Mias Welt in absehbarer Zukunft, spätestens aber zum Anfang des nächsten Jahres Mias und Idas Welt zu machen.«
Frida klang triumphierend, während ich das Gefühl hatte, gleich vom Stuhl zu kippen. Meine Beine und Hände zitterten, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Warum in aller Welt hatte sie vorher nicht mit mir gesprochen? So eine Entscheidung konnte doch nicht einfach ohne meine Zustimmung getroffen werden.
Ich spürte die Blicke der Kollegen, die alle auf meine Reaktion warteten. Aber was sollte ich jetzt sagen? Am liebsten hätte ich sofort den Raum verlassen, doch der war so überfüllt, dass ich es gar nicht bis zur Tür geschafft hätte. Auch ein Sprung aus dem Fenster hinter mir erschien mir nicht die beste Option zu sein. Also lächelte ich stattdessen verlegen und brachte ein leises »Super!« hervor. Möge sich ein Loch auftun, in das ich auf der Stelle versinken kann, dachte ich und kritzelte eifrig etwas auf meinen mitgebrachten Notizblock, fest entschlossen, vor versammelter Mannschaft nicht in Tränen auszubrechen.
»Mia, komm bitte in mein Büro.«
Fridas scharfe Stimme drang zu mir durch. Die restliche Sitzung hatte ich wie in Trance verbracht. Nur ab und zu hatte ich den Blick gehoben, als zum Beispiel Paul über die neuesten Abo-Zahlen gesprochen oder die Marketingabteilung neue Strategien zur weiteren Kundengewinnung vorgestellt hatte. Im Großen und Ganzen aber hatte ich dem Meeting nichts mehr abgewinnen können. Meine Gedanken kreisten immer nur um die eine Frage: Warum?
»Neue Aufgaben sind neue Herausforderungen. Packen wir es also an!«, hatte Frida schließlich das Treffen beendet und dabei einmal mehr begeistert in die Hände geklatscht.
Viele der Kollegen hatten sich daraufhin von ihren Plätzen erhoben und waren zu ihren Schreibtischen zurückgekehrt. Teils voller Motivation, teils im Gespräch mit Ida, um dieser zu ihrem Einstieg bei Hygge & Meer zu gratulieren.
Ich folgte Frida auf leisen Sohlen ins Büro und schloss die Tür hinter mir.
»Ich hätte gerne früher mit dir gesprochen, aber ich habe dich heute Morgen nicht in deinem Büro erreicht.« Der Tadel in Fridas Stimme war nicht zu überhören. Offenbar schien auch sie genervt davon zu sein, dass sie mich in der Sitzung vor vollendete Tatsachen hatte stellen müssen.
Ich betrachtete meine Chefin einen kurzen Augenblick. Frida sah wie immer perfekt aus: Ihre rotbraunen Haare lagen lockig auf ihren Schultern, ihr Körper, der eindeutig Modelmaße hatte, steckte in einem figurbetonten dunkelblauen Etuikleid, dazu trug sie hohe Schuhe, die vermutlich sündhaft teuer gewesen waren.
»Ich habe versucht, dich zurückzurufen, dich aber nicht erreicht. Es tut mir leid«, stammelte ich voller Selbstzweifel.
»Hast du ein Problem mit Ida?«
»Nein.«
Ich hatte kein Problem mit Ida. Vielmehr hatte ich aber ein Problem damit, dass sie mir als Partnerin zur Seite gestellt wurde, ohne mit mir darüber gesprochen zu haben. All das und noch viel mehr wollte ich Frida am liebsten ins Gesicht brüllen, doch meine Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Ich setzte mich auf den schwarzen Lederdrehstuhl vor ihrem Schreibtisch und wartete.
Frida lehnte sich in ihrem Chefsessel vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Dann sah sie mich eindringlich an.
»Umso besser. Wie ich gerade eben schon vor versammelter Mannschaft sagte, möchte ich, dass du Ida nicht nur als Unterstützung, sondern auch als Partnerin siehst. Ich habe genau beobachtet, wie ihr in den vergangenen Wochen zusammengearbeitet habt. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich denke, dass ihr euch prima ergänzen werdet.«
Sie machte eine kurze Pause, um sich zu versichern, dass ich ihr auch wirklich zuhörte. Ich legte den Kopf zur Seite und gab mich interessiert, während ich zu verbergen versuchte, wie enttäuscht ich war.
»Mia, diese Entscheidung soll dir auf Sicht mehr Verantwortung geben. Denn du bist jetzt nicht mehr nur dir gegenüber verantwortlich, sondern darfst auch delegieren. Es ist quasi eine kleine Beförderung, nur ohne Titel. Wenn zwei Leute in einer Redaktion arbeiten, muss eine den Hut aufhaben. Und das bist natürlich du.«
Ich sah Frida an und hob eine Augenbraue. Merkte sie eigentlich, was für einen Quatsch sie da erzählte? Ihre Aussagen ergaben für mich überhaupt keinen Sinn. Langsam begann ich, mich über ihr Verhalten zu ärgern. Ich wurde richtig wütend. Wollte Frida mich für dumm verkaufen?
»Ich soll den Hut aufhaben in meiner Redaktion? Gut, dann gib mir auch einen Titel. Ressortleiterin? Redaktionsleiterin? Was auch immer. Aber vermittele mir nicht das Gefühl, degradiert worden zu sein, denn das ist es, was du gerade gemacht hast.«
Ich war selbst am meisten erstaunt darüber, meine Sprache plötzlich so klar und deutlich wiedergefunden zu haben. Aber es gefiel mir.
»Ich habe dich nicht degradiert, wie kommst du nur darauf? Mia, ich möchte den Druck von dir nehmen, monatlich etwas Neues aus dem Ärmel schütteln zu müssen. Ich möchte dich einfach entlasten.« Frida wurde unruhig und schob ein paar Papiere auf ihrem Tisch herum.
»Ich verspüre keinen Druck. Danke der Nachfrage. Mir gefällt meine Arbeit. Und ich übernehme gerne für eine Sache die alleinige Verantwortung«, konterte ich. So einfach ließ ich mir mein Baby nicht wegnehmen.
Frida stand auf, verschränkte die Arme und lief im Zimmer auf und ab. Dann stellte sie sich neben mich und lehnte sich an die Schreibtischkante.
»Das weiß ich, Mia. Und du bist eine sehr gute Mitarbeiterin, eine geschätzte Kollegin und Journalistin. Daran besteht kein Zweifel, und daran zweifelt auch niemand hier in der Redaktion.« Wieder machte sie eine Pause und warf einen prüfenden Blick auf ihre perfekt manikürten Fingernägel. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich von dem, was du kannst, überzeugt bin. Ich habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass du durchaus das Potenzial hast, irgendwann eine Führungsposition zu übernehmen. Doch bis es so weit ist, musst du erst einmal beweisen, dass du überhaupt Menschen führen kannst. Nutze die Zusammenarbeit mit Ida als Chance, dich für Höheres zu qualifizieren. Du weißt, dass Gitta im kommenden Jahr in den vorzeitigen Ruhestand geht. Und Hygge & Meer braucht eine zuverlässige stellvertretende Chefredakteurin«, sagte Frida und sah mich eindringlich an. »Ich brauche nicht zu erwähnen, wen ich für diese Stelle im Visier habe, oder? Nutze die Chance, die ich dir gebe.«
Ich lauschte eine Zeit lang den Geräuschen, die vom Flur zu uns herüber ins Büro drangen, und beobachtete Marie im Nachbarbüro dabei, wie sie einen Stapel roter Aktenordner aus dem einem Regal in ein anderes packte.
Dass Frida ihre Entscheidung über meinen Kopf hinweg getroffen hatte, tat weh. Außerdem war ich auf kaltem Fuß erwischt worden. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, künftig mit einer Partnerin zusammenarbeiten zu müssen. Und dann auch noch mit jemandem wie Ida.
Ida war die Tochter eines Baulöwen in der Stadt. Dieser Baulöwe hatte unlängst eine Menge in Hygge & Meer investiert und war einer der Hauptaktionäre des Magazins. Zum Dank hatte Frida seiner Tochter Ida ein Praktikum in unserer Redaktion angeboten. Ida war zwar nett und lieb, doch sie war auch mit Vorsicht zu genießen. Erst kürzlich hatte ich unbeabsichtigt ein Telefonat von ihr mitbekommen, in dem sie immer wieder betont hatte, dass sie möglichst schnell Karriere machen wolle. Mit dem Schritt zum Volontariat und der damit verbundenen Partnerschaft in meiner Redaktion war ihr das nun offensichtlich gelungen.
»Mia, hast du mir überhaupt zugehört?« Frida fasste mir leicht an die Schulter und wartete auf eine Reaktion meinerseits.
Ich nickte, wenn auch noch in Gedanken versunken.
»Möchtest du mir etwas sagen? Du scheinst gar nicht anwesend zu sein.« Fridas Griff auf meiner Schulter wurde nun etwas kräftiger.
Ich holte tief Luft und sah Frida an.
»Du sagst, du gibst mir eine Chance, weil du mich im kommenden Jahr zu deiner Stellvertreterin beförderst. Ich werde dich beim Wort nehmen, und ich werde meine Chance nutzen. Aber Mias Welt werde ich mir nicht wegnehmen lassen. Weder von Ida noch von dir. Mias und Idas Welt wird es niemals geben. Wenn das geschieht, wechsle ich zur Konkurrenz.«
Ich war fest entschlossen und hielt Fridas Blick stand. Ihre Augen blitzten grün.
Frida brauchte einen Moment, um sich von meinem Konter zu erholen. Dann fing sie sich jedoch und spielte die Chefkarte aus.
»Möchtest du mir drohen?«
»Nein, ich möchte nur für klare Verhältnisse sorgen. Wenn wir alle wissen, woran wir sind, kann sich am Ende niemand beschweren.«
Sichtlich angesäuert nickte Frida. »Gut, dann haben wir das ja geklärt«, sagte sie bissig, erhob sich und ging zurück auf die andere Seite des Schreibtisches.
Ich stand auf, drehte mich um und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort. Ich würde heute früher Feierabend machen, so viel stand fest. Und ich brauchte dringend einen Schnaps!
»Komm schon, etwas Besseres als den letzten Mann werden wir überall finden!«
Henrieke erhob ihr Glas und schaute gespannt in die Runde. Es schien, als hätte sie lange darauf gewartet, diesen Satz zu sagen. Die Trennung von Kim, dem schmierigen Immobilien-Hai, heute früh hatte ihr stark zugesetzt.
Kim war mir von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte in der Stadt einen eher zweifelhaften Ruf. Ich hatte Henrieke eindringlich vor ihm gewarnt – oder es zumindest versucht. Doch Henrieke war auf dem Ohr taub gewesen und hatte immer wieder betont, sie wolle ja eh nichts Festes, sondern lediglich ihren Spaß haben.
»Wie bitte?« Ich hielt mir die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. »Hast du das eben wirklich gesagt?«
Henrieke war immer so direkt und hielt mit ihrer Meinung nur selten hinter dem Berg. »Doch, das habe ich nicht nur gesagt, sondern auch gemeint, meine Liebe. Ich hab die vergangenen Jahre so viele Nieten im Bett gehabt.« Henrieke stoppte einen Moment und runzelte die Stirn. »Es muss einfach noch etwas Besseres auf dem Markt geben.«
»Na gut, in dem Punkt stimme ich dir zu. Auch wenn ich es vielleicht ein wenig diplomatischer ausgedrückt hätte.« Ich lachte und griff zum Sektglas.
»Ja, du als Journalistin musst da natürlich objektiv in deiner Wortwahl sein. Aber Diplomatie ist noch nie meine Stärke gewesen. Das solltest du nach all den Jahren, die wir uns kennen, eigentlich wissen.« Henrieke stieß mir in die Seite.
Ich nickte und nippte am Sekt, der leicht säuerlich und angenehm erfrischend auf meiner Zunge perlte.
Nach dem Gespräch mit Frida heute Vormittag war ich in mein Büro zurückgekehrt, hatte kurz mit Ida gesprochen, der die ganze Sache ziemlich unangenehm zu sein schien. Daraufhin hatten wir beide entschieden, am Montag einen Plan auszuarbeiten, wer künftig welche Aufgaben übernehmen sollte. Im Grunde konnte ich mich sogar ein wenig mit der Idee anfreunden, jetzt eine Sparringspartnerin zu haben. Auch wenn ich beschlossen hatte, allem mit höchster Vorsicht zu begegnen. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, künftig ein wenig Arbeit abgeben zu können.
»Worauf trinkt ihr denn?«
Eine zierliche Frau Anfang dreißig mit zerzausten dunklen Haaren trat an unseren Tisch.
»Valerie, wir trinken auf die Männer, das Leben, die Liebe und das Meer und darauf, dass es irgendwo anständigere Kerle gibt als die, die hier herumlaufen. Komm, setz dich zu uns. Du siehst aus, als könntest du auch ein Glas vertragen«, sagte Henrieke und gestikulierte wild mit ihrem Sektglas.
»Na, du bist ja in prächtiger Stimmung«, murrte Valerie und rutschte in die Mitte der Sitzbank.
Valeries dunkle Haare lagen gekräuselt auf ihren Schultern. Draußen nieselte es, und ihrer Frisur nach zu urteilen, hatte es offenbar auch angefangen zu stürmen.
»Hallo, Mia, schön dich zu sehen.« Valerie drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Wie geht‘s dir? Du siehst aus, als hättest du mit einem Fön gekämpft.« Ich deutete auf Valeries zerzauste Frisur.
»Und verloren, ich weiß«, erwiderte sie lachend, während sie versuchte, rein haartechnisch zu retten, was noch zu retten war. Letztlich, so schien es, gab sie sich geschlagen und kramte in der Handtasche nach einem Haargummi.
»Tada«, rief sie schließlich triumphierend und band sich die Haare zum Zopf zusammen.
»Also, warum trinkst du nun schon wieder auf bessere Männer? Bist du nicht vergeben? Wie geht‘s Kim? Habt ihr am Wochenende etwas Schönes vor?«
Offensichtlich hatten sich die Neuigkeiten vom Vormittag noch nicht bis zur Ostseite der Stadt, wo Valerie wohnte, herumgesprochen.
Henrieke verschluckte sich an ihrem Sekt und hüstelte. Dann setzte sie das Glas ab und drehte sich zu Valerie.
»Ehrlich gesagt, Valerie, weiß ich nicht, wie es Kim gerade geht. Ich gehe aber davon aus, dass er Schmerzen hat, nachdem ich ihm heute Morgen einen auf die Nase gegeben habe.« Henrieke ballte die Faust und schlug sich theatralisch gegen die Nase.
»Du hast was?«, platzte es aus mir heraus. »Schau mich nicht so an, Valerie. Diese Info ist auch für mich neu!«
»Warum hast du das gemacht?« Valerie schüttelte den Kopf und starrte Henrieke mit weit aufgerissenen Augen an.
»Weil er mich betrogen hat. Und zwar nicht nur einmal.«
»Woher weißt du das?«, fragte Valerie.
»Weil ich ihn und diese junge Studentin heute Morgen in flagranti erwischt habe«, zischte Henrieke zurück.
»Und da ist dir nichts Besseres eingefallen, als ihm die Nase zu brechen?«
»Ich habe sie ihm ja nicht gebrochen! Dass du immer so übertreiben musst. Glaub mir, Schätzchen, mir sind noch ganz andere Dinge eingefallen, die ich diesem untreuen Mistkerl gerne angetan hätte«, sagte Henrieke, während ihre blauen Augen gefährlich funkelten und ihre Wangen glühten.
»Aber das ist doch keine Art und Weise. Du solltest wissen, dass Gewalt nie eine Lösung ist. Konntet ihr denn nicht miteinander reden?«
Valerie hatte direkt nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und anschließend mit einem Pädagogikstudium begonnen. Dies war ihr aber schon bald zu langweilig geworden, sodass sie das Studium abgebrochen und durch Europa getrampt war. Seit ein paar Monaten war sie nun wieder in der Stadt und hatte eine Ausbildung zur Psychotherapeutin begonnen, was zur Folge hatte, dass jede noch so kleine Konfliktsituation von ihr akribisch unter die Lupe genommen und analysiert wurde.
»Glaub mir, Valerie, hätte ich reden wollen, hätte ich es getan. Aber mit diesem Idioten kann man eben nicht reden. Er hat mich betrogen und belogen.« Henrieke war resolut und ließ sich im Leben nicht viele Vorschriften machen. Sie war eine knallharte PR-Frau, die bislang allerdings weitgehend gewaltfrei durchs Leben marschiert war. Mal abgesehen von dem Bein, das sie Melanie Meyer in der neunten Klasse auf dem Schulhof gestellt hatte, nachdem diese ihr vor versammelter Mannschaft den BH zerrissen hatte. Melanie Meyer war daraufhin so unglücklich gestolpert, dass sie sich die vorderen Schneidezähne ausgeschlagen hatte und eine Zeit lang nicht zur Schule kommen wollte. Henrieke war mit einem Tadel belegt worden und musste sich bei Melanie Meyer entschuldigen. Erst als diese die neuen Zähne bekommen hatte, die zudem noch weißer als die Originale waren, war der alte Frieden wiederhergestellt.
»Am meisten aber ärgert mich, dass ich nicht auf Mia gehört habe. Du hattest von Anfang an den richtigen Riecher«, sagte sie, doch ich winkte ab.
»Ich hab nur gesagt, was ich gehört habe. Sein Ruf ist eindeutig. Aber es hätte ja durchaus sein können, dass er sich ändert. Für so eine tolle Frau wie dich.«
»Lass mal gut sein. Ich hätte es wissen müssen. Anfangs sollte es ja auch bloß ein bisschen Spaß sein, doch dann hab ich dumme Kuh mich in ihn verliebt, und als sich die Zeichen dafür mehrten, dass ich nicht die einzige Frau in seinem Leben bin, hat es ganz schön wehgetan. Er hat mir gestern Abend erzählt, dass er auf einem Kundentermin ist. Ich hab ihm natürlich nicht geglaubt und bin zu seiner Wohnung gefahren. Und ich hatte recht. Es brannte Licht. Als ich heute früh noch mal hin bin, hab ich ihn dabei erwischt, wie sein Kopf zwischen den Beinen irgendeiner Trulla steckte. Er hat sie geleckt. Vor meinen Augen«, schoss es aus Henrieke heraus.
»Zu viele Informationen für mich.« Angewidert verzog ich das Gesicht und nippte an meinem Glas.
»Wie bist du überhaupt in die Wohnung gekommen? Hattest du einen Schlüssel?«, fragte Valerie.
»Ich bin über den Balkon geklettert. Das ist das Gute bei Erdgeschosswohnungen. Die Tür zum Balkon war nur angelehnt, vermutlich weil es heute Nacht so heiß war. Also bin ich in die Wohnung gegangen. Im Schlafzimmer hab ich die beiden dann gesehen. Das war ein Anblick, sag ich euch. Widerlich!« Angewidert streckte Henrieke die Zunge heraus.
»Das ist wirklich eklig. Also, ich meine, dass er eine andere und nicht dich geleckt hat. Nicht der Umstand des Leckens an sich«, stammelte Valerie und musste lachen.
»Und er ist so gut darin.« Henrieke geriet ins Schwärmen. »Ob ich ihn doch noch mal anrufe und frage, wie es seiner Nase geht? Ich meine, Abschiedssex wäre doch wohl drin nach dieser heißen Zeit, die wir hatten …«
»Oh, nein, das lässt du schön bleiben. Mir scheint, der Alkohol hat deine Sinne vernebelt. Bitte leg Kim zu den Akten und konzentriere dich darauf, einen besseren Mann zu finden. Um es mal mit deinen Worten zu sagen.« Ich wedelte mahnend mit dem Zeigefinger vor Henriekes Gesicht und hoffte, dass mein Ablenkungsmanöver Erfolg haben würde.
»Na, Ladies, wie wäre es mit einer Schwarzen Sau? Ich hab den Lakritzschnaps gestern frisch angesetzt.«
Bo, der Inhaber der Bar, trat an den Tisch. Er trug ein Tablett, auf dem viele kleine Schnapsgläser mit einer tiefschwarzen Flüssigkeit standen.
»Hm, lecker. Gerne. Du kommst genau zur rechten Zeit.«
Ich nahm ihm drei kleine Schnapsgläser ab und verteilte sie auf dem Tisch. »Trinkst du einen mit?«
»Nein, Mia, nicht im Dienst. Aber vielleicht nachher, wenn ich die Bar schließe? Wir beide könnten doch mal zusammen was trinken gehen und es uns gemütlich machen. Nur du und ich«, sagte Bo und strich mir sanft über die Wange.
Ich wich zurück und rückte näher an Valerie heran.
»Das ist wirklich ein verlockendes Angebot, Bo, aber so lange halte ich heute nicht durch. Und auch sonst stecke ich bis zum Hals in Arbeit. Ich kann wirklich nicht.«
Es tat mir leid, Bo eine Abfuhr zu erteilen. Er war wirklich ein lieber Kerl, aber absolut nicht mein Typ. Er war deutlich kleiner als ich, seine rot gelockten Haare trug er meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und seine grünen Augen funkelten stets gewaltig. Außerdem war er oft verschwitzt, vor allem wenn er arbeitete, sodass das weiße T-Shirt an seinem Rücken klebte. Aber er war zweifellos ein lieber Mann, der das Herz am rechten Fleck hatte. Und er hatte Humor.
»Du weißt nicht, was du verpasst«, konterte Bo, wackelte mit der Hüfte und ging weiter.
»Da hast du recht.«
»Mia, du bist viel zu wählerisch«, mischte sich Valerie ein, als Bo den nächsten Tisch erreicht hatte.
»Wie meinst du das?«
»Na, du kannst doch Bo nicht immer wieder einen Korb geben. Er ist ein netter Kerl und scheint ein gutes Herz zu haben. Er versucht es außerdem nun schon so lange bei dir. Aber du weißt das gar nicht zu schätzen«, tadelte Valerie.
»Doch, das tue ich. Und es tut mir auch unendlich leid, dass ich nichts für Bo empfinde, aber ich kann da einfach nicht aus meiner Haut. Ich möchte Mr Perfect und nicht Mr Es-war-gerade-nichts-anderes-in-der-Nähe!«
»Dann musst du dich aber auch nicht darüber wundern, dass du noch Single bist. Und schon gar nicht darüber beschweren. Mr Perfect gibt es nämlich genauso wenig wie Mr Big oder Prince Charming«, raunte Valerie und fügte hinzu: »Hätte ich mich vor ein paar Monaten nicht auf Morten eingelassen, dann wäre ich jetzt ganz bestimmt nicht kurz davor, eine Hochzeit zu feiern. Dann wäre ich auch noch alleine und verbiestert und würde mich nur auf die Arbeit konzentrieren. Du bist eine richtige Karrierefrau geworden …«
Valerie wollte gerade Luft holen, um weiterzureden, doch ich kam ihr zuvor.
»Was möchtest du damit sagen? Ich bin eine Karrierefrau geworden? Heißt das, ich habe keinen Spaß mehr am Leben?«
Ich kippte die Schwarze Sau mit einem Schluck runter. Es schmeckte nach Türkisch Pfeffer, strengem Lakritz, gemischt mit einem guten Schuss Wodka.
»Wenn du mich so fragst – ja! Du bist nicht mehr offen für die schönen Dinge des Lebens. Und das seit wie vielen Jahren nun schon? Du hast nur dich und deine Arbeit. Dabei täte dir ein Mann ganz gut – auch wenn er vielleicht nicht deiner Idealvorstellung entspricht«, sagte Valerie bestimmt und tunkte mit dem Finger in die Schwarze Sau.
»Oh, bitte, Valerie. Nicht schon wieder. Ich kann es nicht mehr hören. Ich freue mich wirklich sehr darüber, dass du mit Morten offensichtlich das große Glück gefunden hast. Das ist wunderbar für dich. Vor allem, weil ihr euch erst ein paar Monate kennt. Aber nur, weil du dich mit dem Durchschnitt zufriedengibst, heißt das nicht, dass ich es auch tun muss. Ich werde schon einen Mann finden, aber alles zur rechten Zeit.« Ich setzte mich aufrecht hin und drückte den Rücken durch.
»So, Mädels, jetzt wollen wir uns mal wieder entspannen. Wir hatten alle einen anstrengenden Tag …«, versuchte Henrieke zu beschwichtigen, doch gesagt war gesagt und das Kind in den Brunnen gefallen.
»Lass gut sein, Henrieke. Wenn Mia, unsere Miss Perfect, es so sieht, werde ich jetzt wohl besser gehen.«
Valerie leerte ihr Sektglas in einem Zug, kippte den Schnaps hinterher, stand auf und griff nach ihrer Jacke.
»Valerie, sei bitte nicht kindisch. Wir sind heute alle ein wenig gereizt. Ich, weil Kim jetzt eine andere leckt, Mia, weil sie keine Alleinherrscherin bei der Arbeit mehr ist und schon lange nicht mehr geleckt wurde. Du, weil du vielleicht heute Abend noch geleckt werden möchtest. Nenn es, wie du willst. Die Nerven liegen einfach blank. Nimm das bitte nicht so ernst«, unternahm Henrieke einen zweiten Versuch, Valerie zum Bleiben zu überreden, allerdings ohne großen Erfolg.
»Ich muss ohnehin los. Morten ist auf einer Betriebsversammlung und kommt bald zurück. Da möchte ich schon zu Hause sein. Also werde ich jetzt in meine Wohnung fahren und auf meinen Durchschnittsfreund warten. Wir schnacken«, sagte Valerie schnippisch, legte einen Geldschein auf den Tisch und verschwand, ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen.
»Valerie, bitte bleib doch. Ich möchte wirklich nicht streiten.« Ich wollte ihr hinterhergehen, doch Henrieke hielt mich fest.
»Lass sie. Sie beruhigt sich schon wieder. Setz dich lieber wieder zu mir und lass uns noch etwas trinken. Morgen ist Sonnabend, und wir können ausschlafen«, meinte Henrieke und winkte Bo, der schon mit der nächsten Runde Schwarze Sau an unseren Tisch eilte.
Die Nacht verlief unruhig. So schlecht geschlafen hatte ich lange nicht mehr. Die Ereignisse des Tages hallten noch nach. Die Neuordnung in der Redaktion, das Gespräch mit Frida, der Streit mit Valerie. Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Was war, wenn Valerie recht hatte? Was war, wenn ich die besten Männer in meinem Leben passieren ließ, nur weil ich einem Phantom hinterherlief? Einer Fantasie oder einer Vision, die sich tief in mir festgesetzt hatte?
Ich hatte immer daran geglaubt, irgendwann den Mann fürs Leben zu finden. Den einen, der mich im Sturm erobert und nicht mehr loslässt. Ich war eine hoffnungslose Romantikerin. Aber Prince Charming kommt nun einmal immer auf einem Pferd angeritten, und so mancher Mann, den ich in mein Leben lassen wollte, scheiterte bereits an der Hürde, reiten zu können.
Am nächsten Morgen sah die Welt zum Glück schon ganz anders aus. Noch vor dem Frühstück erreichte mich eine Nachricht von Valerie.
Freundinnen?
Ich hatte nicht lange gefackelt und zurückgeschrieben. Mir taten der Streit und die Worte, die ich am Abend zuvor zu ihr gesagt hatte, unendlich leid. Valerie hatte Verständnis dafür und gab ihrerseits zu, sich im Ton vergriffen zu haben. Während ich mit ihrem plötzlichen Liebesglück zu kämpfen hatte, war sie es, die neidisch auf meine Karriere war.
Es ist wohl so, dass jeder im Leben etwas hat, auf das ein anderer neidisch ist. Lass uns den Streit begraben und heute etwas Schönes unternehmen.
Nach einigen WhatsApp-Nachrichten hatte ich zum guten alten Telefonhörer gegriffen und Valerie kurzerhand angerufen. So ließen sich viele Dinge doch um einiges leichter klären.
»Was hast du denn Schönes im Sinn?«, fragte ich.
»Ich brauche noch Dessous für meine Hochzeitsnacht und wollte ins Desire. Lust mitzukommen?«
»Na, und ob ich Lust habe. Das wird ein Spaß. Gegen Mittag?«
»Passt perfekt. Wir treffen uns da!«
Ich legte auf und kuschelte mich zurück in mein Sofa. Die Sonne schien durch die Jalousien der tiefen Fenster und zeichnete verwunschene Muster auf die Wände des Wohnzimmers. Ich lauschte den Geräuschen um mich herum. Draußen im Hof spielten Kinder, ihre Rufe vom Fangenspielen drangen leise zu mir hoch. Der Nachbar rechts von mir übte auf seiner Geige und versemmelte einen Ton nach dem anderen, während die Nachbarin unter mir damit beschäftigt war staubzusagen.
Bis zum Mittag hatte ich noch ausgiebig Zeit. Also schaltete ich den Fernseher ein und ließ mich von meiner Lieblingsserie auf Netflix berieseln. Zwei Folgen, eine erfrischende Dusche und ein schnelles Frühstück später machte ich mich gegen Mittag gut gelaunt auf den Weg in die Stadt.
Das Desire war der angesagteste Dessousladen der Stadt – und zweifellos auch der teuerste. Schon als Teenager hatten wir uns an der Fensterscheibe die Nase platt gedrückt und über die verschiedenen Modelle von BHs, Korsetts, Strings und Slips gestaunt. Inzwischen waren wir den Pubertätsstiefeln zwar entwachsen, aber auch heute noch übte das Geschäft eine große Anziehungskraft auf mich aus.
Ich liebte es, mit den Händen über die sündhaft teuren Stoffe zu streichen, Seide und Spitze zu fühlen und träumte davon, einmal einen dieser Büstenhalter zu kaufen, ohne groß über den Preis nachdenken zu müssen. Obwohl ich inzwischen recht anständig bei Hygge & Meer verdiente, war ich dennoch zu geizig, weit mehr als hundertfünfzig Euro für Unterwäsche auszugeben.
Valerie wartete bereits vor dem Eingang, als ich um die Ecke bog. Sie sah schön aus in ihrem roten Sommermantel, den roten Pumps und der schwarzen Hose im Marlene-Dietrich-Stil.
»Hallo, da bist du ja.« Valerie hatte mich entdeckt und kam mit großen Schritten auf mich zu.
»Na, was sagst du?« Sie drehte sich um und deutete auf ihre neue Frisur.
»Wow, das ist echt schick!«
Valerie war nach unserem Telefonat am Vormittag kurzerhand zum Friseur gegangen und hatte ihre langen braunen Haare abgeschnitten. Statt Pferdeschwanz und Kräuselfrisur trug sie nun einen frechen Pixie-Cut, der ihrem Gesicht schmeichelte und ihre Augen betonte. Sie sah aus wie Demi Moore in »Ghost«. Fehlte nur noch Patrick Swayze.
»Mutig, so kurz vor der Hochzeit!« Ich nickte anerkennend, und Valerie drehte sich erneut im Kreis.
»Ist das nicht toll? Ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, Valerie, so kann das nicht weitergehen. Seit Jahren trägst du die gleiche Frisur. Jetzt willst du heiraten, und passend dazu kannst du auch deine Haare verändern. Wir haben kürzlich erst darüber in Psychologie gesprochen. Veränderungen sind gut und müssen auch äußerlich sichtbar sein.«
»Sagt man doch immer: Bekommt eine Frau einen anderen Haarschnitt, steckt meist ein neuer Mann dahinter?« Ich versuchte, einen Blick in Valeries Augen zu erhaschen, aber sie drehte sich weg.
»Komm, lass uns reingehen. Ich bin ja so aufgeregt!« Sie verschwand in Richtung Tür. Ich folgte ihr.
Das Desire war ein magischer Ort. Es duftete nach teurem französischen Parfüm. An den Wänden hingen Dutzende BHs in den unterschiedlichsten Farben. Rot, Pink, Rosa, Weiß, Schwarz. Mit Blüten, ohne Blüten, mit Spitze, ohne Spitze, aus reinem Satin, Samt oder Seide. Für jeden Geschmack und für jeden Anlass war das Passende dabei. Ich sah mich um und blieb in der Mitte des Raumes neben einer goldenen Schaufensterpuppe ohne Gesicht stehen. Von hier aus hatte man den besten Blick und konnte die Boutique auf sich wirken lassen.
»Kann ich Ihnen helfen?«