9,99 €
Jetzt zugreifen: Der Sammelband von Inga Schneider | 2-in-1-Bundle
Zwei Feel Good Romances mit gemütlichem cosy Setting
Annis kleines Café am Meer
Lotte Christiansens heile Welt wird erschüttert, als sie ihren Freund Paul beim Fremdgehen erwischt. Kurzerhand folgt sie dem Hilferuf ihrer Tante Anni aus Flensburg, die sich beim Fensterputzen die Schulter gebrochen hat und dringend Hilfe in ihrem Café braucht. Schnell findet Lotte heraus, dass das Café zwar für seine dänischen Æbleskiver berühmt ist, Tante Anni von Finanzen jedoch keine Ahnung hat und kurz vor der Pleite steht. Mit neuem Konzept, viel Liebe und noch mehr Hygge möchte Lotte dem Café neues Leben einhauchen. Unterstützung bekommt sie dabei von dem charmanten Fischbrötchenverkäufer Kasper, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Doch dann kommt Lotte bei den Renovierungsarbeiten einem langgehüteten Familiengeheimnis auf die Spur – und die Karten werden noch einmal neu gemischt.
Die kleine Bäckerei in der Old Wish Road
Kate Lacey steht vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern bleibt ihr nichts anderes übrig, als die kleine Familienbäckerei in der Old Wish Road in Eastbourne zu verkaufen. Doch das entpuppt sich als echte Herausfoderung, denn auf der Bäckerei lastet ein hoher Schuldenberg, den ihre Eltern verheimlicht haben. Kate beschließt, nach der Ursache der Schulden zu suchen und muss dafür tief in ihre eigene Familiengeschichte eintauchen. Zum Glück erklärt sich ihre attraktive Sandkastenliebe Charles bereit, ihr zu helfen. Schnell wird Kate allerdings klar, dass die Geheimnisse der Vergangenheit viel größer sind als sie dachte und sie eine Entscheidung treffen muss, die ihr ganzes Leben verändern wird …
Erste Leser:innenstimmen
„Man kann förmlich den Duft von frisch gebackenem Brot und die salzige Meeresbrise spüren, während man in diese Feelgood-Romances eintaucht!“
„Eine absolute Empfehlung für alle, die sich nach berührenden Liebesgeschichten sehnen!“
„Die Kombination aus Spannung, Romantik und der Suche nach familiären Geheimnissen macht diese gemütliche Romanze zu einem Pageturner.“
„Die Mischung aus dänischem Flair und deutscher Gemütlichkeit macht dieses Buch zu einem echten Wohlfühl-Leseerlebnis!“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 754
Annis kleines Café am Meer
Lotte Christiansens heile Welt wird erschüttert, als sie ihren Freund Paul beim Fremdgehen erwischt. Kurzerhand folgt sie dem Hilferuf ihrer Tante Anni aus Flensburg, die sich beim Fensterputzen die Schulter gebrochen hat und dringend Hilfe in ihrem Café braucht. Schnell findet Lotte heraus, dass das Café zwar für seine dänischen Æbleskiver berühmt ist, Tante Anni von Finanzen jedoch keine Ahnung hat und kurz vor der Pleite steht. Mit neuem Konzept, viel Liebe und noch mehr Hygge möchte Lotte dem Café neues Leben einhauchen. Unterstützung bekommt sie dabei von dem charmanten Fischbrötchenverkäufer Kasper, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Doch dann kommt Lotte bei den Renovierungsarbeiten einem langgehüteten Familiengeheimnis auf die Spur – und die Karten werden noch einmal neu gemischt.
Die kleine Bäckerei in der Old Wish Road
Kate Lacey steht vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern bleibt ihr nichts anderes übrig, als die kleine Familienbäckerei in der Old Wish Road in Eastbourne zu verkaufen. Doch das entpuppt sich als echte Herausfoderung, denn auf der Bäckerei lastet ein hoher Schuldenberg, den ihre Eltern verheimlicht haben. Kate beschließt, nach der Ursache der Schulden zu suchen und muss dafür tief in ihre eigene Familiengeschichte eintauchen. Zum Glück erklärt sich ihre attraktive Sandkastenliebe Charles bereit, ihr zu helfen. Schnell wird Kate allerdings klar, dass die Geheimnisse der Vergangenheit viel größer sind als sie dachte und sie eine Entscheidung treffen muss, die ihr ganzes Leben verändern wird …
Erstausgabe Juni 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-235-2
Dieses Bundle enthält die Romane Annis kleines Café am Meer (ISBN 978-3-96817-462-4) und Die kleine Bäckerei in der Old Wish Road (ISBN 978-3-98637-209-5), die 2021/2022 im dp Verlag, einem Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienen sind.
Covergestaltung: Larissa Siepmann unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Gabriele Maltinti , © Pawel Kazmierczak, ©Resul Muslu stock.adobe.com: © fotografci , © Anton Gvozdikov , © Katja Xenikis Lektorat: Claudia Steinke, Stephanie Schilling
E-Book-Version 31.07.2024, 17:18:08.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
TikTok
YouTube
Für Emma. Ich hab dich lieb.
Flensburg. Ausgerechnet Flensburg. Theoretisch sollte sie gar nicht hier sein. Nicht jetzt. Sie sollte in München über den Viktualienmarkt schlendern, erste Weihnachtseinkäufe tätigen und sich auf die Glühwein-Saison und die ersten Schneeflocken freuen. Doch stattdessen war sie hier. Im Norden. Im Regen.
Lotte nahm ihre Brille ab und warf einen misstrauischen Blick gen Himmel, als sie am Bahnhof aus dem Zug stieg. Sie hasste Regentropfen auf den Brillengläsern und ärgerte sich, dass sie sich heute Morgen gegen Kontaktlinsen entschieden hatte. Seit sie Hamburg verlassen hatte, hatte sich der Himmel mehr und mehr zugezogen. Kurz vor Flensburg hatte es angefangen wie aus Kübeln zu schütten und seitdem nicht mehr aufgehört.
„Was soll’s“, seufzte sie, schnürte ihren Mantel enger und zog den Trolley über den nassen Bahnsteig in Richtung Ausgang. Ihre schwarzumrandete Brille verstaute sie in der Manteltasche. Zum Glück war sie nicht schwer kurzsichtig und hatte keine Probleme den Weg in Richtung Ausgang zu finden. Außerdem würde sie ja nicht lange im Regen stehen. Anni hatte versprochen, dass sie jemand vom Bahnhof abholen würde.
Der Bahnhof hatte schon bessere Tage erlebt. Über mehrere Treppen gelangte Lotte in einen dunklen, grottenähnlichen Tunnel, dessen Wände mit Graffitis beschmiert waren, und der die beiden Bahnsteige mit der Eingangshalle verband. Es roch muffig und ein wenig nach Urin, als sie an den öffentlichen Toiletten vorbeiging.
Lotte schüttelte sich, sodass ihr blonder Pferdeschwanz nach links und rechts wippte. Im Tunnel setzte sie die Brille wieder auf und wünschte sich im gleichen Augenblick, sie hätte es nicht getan. Der Anblick gefiel ihr ganz und gar nicht. Der Flensburger Bahnhof war zwar noch nie eine Schönheit gewesen, aber so schrecklich hatte sie ihn nicht in Erinnerung gehabt. Oder hatte sie einfach nur einen schlechten Tag erwischt? Immerhin war es mehr als 15 Jahre her, seit sie das letzte Mal einen Fuß in die Stadt gesetzt hatte. War sie damals überhaupt mit dem Zug gekommen? Oder hatten sie ihre Eltern gefahren? Lotte kramte in ihrer Erinnerung, kam jedoch zu keinem Ergebnis.
Der Weg durch die Eingangshalle war kurz. Nach wenigen Metern erreichte sie den Ausgang und stand mitten im strömenden Regen. Links und rechts von ihr huschten andere Reisende in bereitstehende Taxen, doch von Lottes Chauffeur war weit und breit nichts zu sehen.
Sie verharrte vor dem Eingang und sah sich um. Sie sollte doch abgeholt werden oder? Langsam leerte sich der Bereich vor dem Eingang, Taxen und Busse brausten davon, Menschen verschwanden mit ihren Familien und Freunden in Richtung Parkplätze. Nur Lotte blieb allein im Regen zurück. Auf ihrer Brille sammelten sich immer mehr Regentropfen. Lotte nahm sie erneut ab und steckte sie genervt zurück in die Manteltasche.
Bei ihrem letzten Aufenthalt in Flensburg war Lotte fast noch ein Kind gewesen. Damals als Teenager hatte sie einen Großteil der Sommerferien bei Tante Anni verbracht. Anni war die Schwester von Lottes Mutter Doris. Die beiden waren zusammen in Flensburg aufgewachsen und als Kinder ein Herz und eine Seele gewesen. Doch irgendetwas hatte die beiden entzweit und zwischenzeitlich waren sie getrennte Wege gegangen. Lottes Mutter hatte in München studiert und dort auch Lottes Vater Maximilian kennengelernt. Über Anni und den Flensburger Teil der Familie war jahrelang kaum gesprochen worden. Erst als Lotte mit der Grundschule fertig war, hatten die beiden Schwestern wieder Kontakt und Lotte verbrachte viele Sommer an der Flensburger Förde. Jetzt war sie zurück. Anfang 30, kinderlos und immer noch – oder sollte sie besser sagen wieder – Single.
Im gemeinsamen Mallorca-Urlaub hatte Lotte ihren Freund Paul beim Fremdvögeln mit der drallen Blondine aus der Nachbars-Finca erwischt. Das war vor zwei Monaten gewesen. Richtig begriffen hatte sie das Geschehene immer noch nicht. Kurz vor ihrer Abreise in die Ferien hatten beide Zukunftspläne geschmiedet, wollten im kommenden Jahr zusammenziehen, vielleicht sogar heiraten und Kinder kriegen. Und jetzt?
Es sei ein hormonell bedingter Ausrutscher gewesen, hatte Paul gesagt, nachdem Lotte ihn und die Nachbarin beim Stelldichein auf dem Küchentisch erwischt hatte. Die Bilder verfolgten sie noch heute.
Hals über Kopf hatte Lotte ihn und die Finca daraufhin verlassen und war in ein Hotel in Cala Millor gezogen. Drei Tage und zwei Nächte hatte sie es in dem Bettenbunker ausgehalten und sich durchs All Inclusive-Buffet geschlemmt. Am vierten Tag war sie zurück nach München geflogen und hatte mit ihrem bisherigen Leben kurzen Prozess gemacht.
Sie hatte ihren gut bezahlten Job in der stadtbekannten Werbeagentur „Wolkenträume“ gekündigt. Nur so konnte sie sicher sein, ihrem fremdgehenden Ex-Lover nicht mehr über den Weg zu laufen. Paul war nicht nur Lottes Freund gewesen, sondern auch Miteigentümer der Werbeagentur. Eine unglückliche Konstellation, wenn man das Ende der Beziehung betrachtete. Aber wer denkt schon an so etwas, wenn man frisch verliebt ist?
Lotte hatte ausgezeichnete Referenzen und zählte zu den Top-Köpfen von „Wolkenträume“. Sie hatte angenommen, andere Agenturen würden sie mit Kusshand empfangen, jetzt wo sie dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stand.
Doch Lotte hatte die Rechnung ohne den Münchener Arbeitsmarkt und, was noch schwerwiegender war, ohne Paul gemacht. Dieser hatte die Zeit, die er alleine in der Finca auf Mallorca saß, dazu genutzt, Lottes Ruf in der Branche zu ruinieren. Sie habe nur Karriere machen wollen und sei von Anfang an auf sein Geld aus gewesen, hatte er die Branchenriesen wissen lassen. Paul hatte jegliches Klischee bedient und nichts ausgelassen, um dafür zu sorgen, dass die Agenturen Lotte mieden wie Katzen das Wasser. Es war alles wie in einem schlechten Film.
Zu allem Übel hatte Lottes Vermieterin davon Wind bekommen, dass Lotte kein regelmäßiges Einkommen mehr hatte und ihr nahegelegt, sich entweder einen neuen Job oder eine andere Wohnung zu suchen. Da beides in München nahezu unmöglich war, schien Lottes Schicksal besiegelt. In Gedanken sah sie sich schon auf der Parkbank oder unter der Brücke nächtigen.
Doch dann hatte Tante Anni angerufen. Ihre Lieblingstante hatte sich beim Sturz von der Leiter die Schulter gebrochen und brauchte dringend Hilfe in ihrem Café. Da sie Annis einzige Verwandte war, die noch in Deutschland lebte – und da sie München auf Deutsch gesagt mal kreuzweise konnte – hatte Lotte sich kurzerhand auf den Weg gemacht.
Und jetzt war sie hier. Am Arsch der Welt. Am Ende von Deutschland. Am Anfang von Dänemark. Wer wusste das in Flensburg schon so genau?
Lottes Magen knurrte. Seit sie heute früh in München in den Flieger nach Hamburg gestiegen war, hatte sie außer einem Croissant und einer Tüte Salzlakritz kaum etwas Vernünftiges gegessen. Sie warf einen hastigen Blick auf die Uhr über dem Eingang und anschließend auf ihr Handy. Es war kurz vor vier. Wer auch immer sie abholen wollte, hatte mittlerweile fast eine Viertelstunde Verspätung oder sie schlichtweg vergessen.
„Frechheit“, fluchte Lotte und wollte sich gerade in Richtung Taxistand umdrehen, als jemand wild gestikulierend auf sie zustürmte. Lotte kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können. Meinte der Typ im Friesennerz wirklich sie?
„Lotte? Lotte Christiansen?“, rief der Fremde, während er über das rutschige Kopfsteinpflaster lief. „Bist du Lotte?“
Lotte betrachtete ihr Gegenüber. Der Mann hatte die Kapuze seines gelben Regenmantels tief ins Gesicht gezogen. Die Jeans steckten in dunkelblauen Gummistiefeln und unter der halb geschlossen Regenjacke lugte ein blau-weiß gestreiftes Fischerhemd hervor. Es schien, als hatte sie es mit einem waschechten Einheimischen zu tun.
„Bist du Lotte?“, wiederholte der Mann seine Frage.
Lotte nickte. „Und du bist …?“
„Großartig. Super, dass du gewartet hast. Menschen aus der Großstadt sind doch normalerweise nicht so geduldig“, lachte er. Lotte konnte sehen, wie seine weißen Zähne kurz aufblitzten.
„Scherzkeks, was?“ Lotte betrachtete ein paar Regentropfen, die sich in den Bartstoppeln des Fremden verfangen hatten und auf- und abtanzten, während er den Kopf zur Seite legte.
„Nein, Kasper. Dein Chauffeur für heute. Anni hat mich beauftragt, dich zum Haus zu bringen.“ Er reichte Lotte die Hand und schüttelte sie kräftig. „Schön, dich kennenzulernen. Wollen wir uns ein trockenes Plätzchen suchen? Mein Wagen steht die Straße runter.“ Kasper deutete auf die Kastanienallee, die vor ihnen lag, und bemerkte Lottes skeptischen Blick. „Kommst du mit oder soll ich mit dem Wagen vorfahren? Scheint, als hättest du keine Regenklamotten dabei“, schlussfolgerte er und warf einen Blick auf Lottes Outfit.
Ihr karamellfarbener Wollmantel war durchnässt und in ihren dunkelbraunen Pumps sammelte sich das Wasser zu einer Pfütze. Sie hatte nicht einmal an Regen gedacht, als sie gestern in München die Koffer gepackt hatte.
„Wird schon gehen“, murmelte Lotte kleinlaut. „Nass bin ich jetzt ja eh schon.“
„Nichts wie los!“ Kasper griff nach Lottes Trolley und ging vorweg. Lotte folgte ihm. Das konnte ja heiter werden.
Kasper hatte seinen Lieferwagen unter einer großen Kastanie am Ende der Bahnhofstraße geparkt. Als sie dort ankamen, war Lotte vollends durchnässt und einzelne Regentropfen, die durch das Blätterdach der Kastanien tropften, rannen ihren Nacken herunter über den Rücken bis zum Po. Sie griff in ihren Pferdeschwanz und wrang ihn aus. Das Wasser rann ihre blonden Strähnen entlang. Es fühlte sich beinahe so an, als wäre sie gerade aus der Dusche gestiegen.
„Setz dich.“ Kasper öffnete die Tür des Beifahrersitzes und schob einen Stapel Zeitschriften beiseite.
Lotte stieg ein, klappte die Sonnenblende herunter und wünschte sich im nächsten Augenblick, sie hätte es nicht getan. Die Person, die ihr aus dem Spiegel entgegensah, glich in keinster Weise der perfekt geschminkten Frau, die noch vor wenigen Minuten aus dem Zug gestiegen war. Ihr Lidstrich war verlaufen und die Wimperntusche rann seitlich die Wange hinab. Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht und versuchte so, weiteren Schaden zu verhindern.
„Wird auch nicht besser“, sagte sie leise und seufzte einmal mehr an diesem Tag. Sie klappte die Sonnenblende wieder hoch, setzte ihre Brille auf und … was stank hier eigentlich so? Sie atmete ein paar Mal kurz ein und hätte sich beinahe übergeben. Es roch nach … Fisch. Zuerst dachte Lotte, unter dem Zeitschriftenstapel würde ein vergessenes Thunfischsandwich liegen. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden, spürte allerdings nichts Weiches, was einem Sandwich gleichen könnte. Suchend sah sie sich um. Sie konnte beim besten Willen nicht die Ursache des Gestanks ausmachen. Der Geruch kam nicht von einer bestimmten Stelle, sondern erfüllte den ganzen Raum der Fahrerkabine.
Die Tür zur Fahrerseite öffnete sich und Kasper stieg ein. Er streifte die Kapuze ab und seine dunklen, verstrubbelten Haare kamen zum Vorschein. Flüchtig sah er zu Lotte herüber. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hatte die Hände unter ihre Oberschenkel gesteckt.
„Ist dir kalt?“, fragte Kasper und startete den Wagen.
Lotte nickte.
„Ich stell die Heizung an.“ Er drehte an den Knöpfen der Lüftung und fuhr rückwärts aus der Parklücke. Im nächsten Moment pustete Lotte ein kühler Luftstrom ins Gesicht, der nicht nur dafür sorgte, dass sie zunächst noch mehr fror, sondern auch den unangenehmen Geruch weiter verteilte.
Lotte rümpfte die Nase. Der Fischgeruch war wirklich überall.
„Ich weiß, es ist kein Porsche oder Ferrari, aber immerhin sitzt du im Trockenen“, kommentierte Kasper die Geste seiner Beifahrerin und stellte das Radio laut. Schlaues Kerlchen, so musst du dich wenigstens nicht mit mir unterhalten, dachte Lotte.
„Wird gleich warm“, murmelte er und konzentrierte sich dann auf den einsetzenden Feierabendverkehr.
Lotte beobachtete Kasper aus dem Augenwinkel. Er war voll und ganz auf das Autofahren konzentriert und verzog keine Miene. Ab und zu summte er leise ein Lied aus dem Radio mit. Seine großen, maskulinen Hände lagen lässig und entspannt auf dem Lenkrad. Er trug keinen Ring, aber das musste nichts heißen. Ob er trotzdem eine Frau oder Freundin hatte? Lotte fragte sich, in welcher Beziehung er zu Tante Anni stand. Und woher um alles in der Welt dieser entsetzliche Fischgeruch kam.
„Woher kennst du Anni?“ Lotte sah aus dem Fenster. Sie steckten mitten im Feierabendverkehr. Die roten Rücklichter der Autos vor ihnen verschwammen hinter den Regentropfen, die sich auf der Frontscheibe gesammelt hatten. Auf dem Bürgersteig huschten Menschen in dicken Regenjacken und unter großen bunten Regenschirmen an ihnen vorbei.
„Sie ist eine Freundin“, antwortete Kasper wie selbstverständlich und reihte sich in die Schlange auf der rechten Abbiegespur ein. „Wir haben den Stau voll erwischt. Dauert ne Weile bis wir da durchkommen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare.
„Und woher kennt ihr euch? Ich meine, ihr seid wohl kaum zusammen in die Tanzschule gegangen.“
Kasper sah sie mit einem breiten Grinsen an.
„Ist nicht wahr …“, stammelte Lotte. Tante Anni und Kasper kannten sich aus der Tanzschule?
„Erwischt“, lachte Kasper.
„Hältst dich wohl für einen Komiker, was?“ Lotte rollte mit den blauen Augen und sah wieder aus dem Fenster. Was für ein Spinner. Wie konnte Anni nur mit jemandem wie ihm befreundet sein? Vom Altersunterschied mal ganz abgesehen.
„Komm, sei nicht eingeschnappt. Das war doch nur ein Scherz“, bemühte sich Kasper um Wiedergutmachung. „Wir sind Nachbarn. Seit ein paar Jahren hab ich außerdem eine Fischbrötchenbude neben ihrem Café.“
„Du machst also in Fisch? Das erklärt den …“, Lotte biss sich auf die Zunge.
„… den Geruch?“, Kasper lachte erneut. „Tut mir leid. Ich hatte vorhin noch ne Auslieferung und hab’s nicht mehr geschafft, durchzulüften. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel?“
„Ich bin nur froh, dass du nicht irgendwo ne Leiche im Auto versteckt hast.“ Lotte hielt sich demonstrativ die Nase zu.
„So schlimm?“
„Fisch ist nicht so mein Ding. Ich bin sehr empfindlich, was den Geruch angeht. Wahrscheinlich ist es für andere Leute gar nicht so schlimm.“ Gerade trieb eine weitere Duftwolke durchs Fahrerhäuschen. Lotte überlegte kurz, ob sie das Fenster öffnen sollte.
„Du isst keinen Fisch?“ Ungläubig starrte Kasper in Lottes Richtung.
„Nein“, antwortete Lotte. „Was ist so schlimm daran?“
„Hast du Fisch schon mal probiert?“
„Bei uns zu Hause wurde kein Fisch gegessen.“ Lotte hasste es, sich immer dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie – offenbar als einzige mit norddeutschen Wurzeln – keinen Fisch aß. Dabei war es gar nicht so ungewöhnlich. Schon ihre Mutter weigerte sich beharrlich, Fisch zu essen. Sie begründete ihre Abneigung immer damit, dass sie als Kind dazu gezwungen worden war, jeden Morgen einen Löffel Fischlebertran zu nehmen. Dieser Geschmack sei so prägend gewesen, dass sie sich später einfach nicht dazu überwinden konnte, Fisch zu essen.
„Also hast du Fisch noch nie probiert?“ Kasper bohrte weiter.
„Der Geruch reicht mir.“ Lotte fächelte sich mit der Hand Luft zu. Mittlerweile hatte sie große Mühe, sich von dem Gestank, der ihre Nase umnebelte, nicht zu übergeben.
Kasper kurbelte das Fenster ein Stück runter. „Besser?“
Ein Hauch frischer Luft drang ins Wageninnere und vermischte sich mit der feucht-warmen Luft im Cockpit.
„Ja, danke.“
„Du bist ganz blass um die Nase geworden. Ich dachte schon, du müsstest dich übergeben.“
Lotte lächelte gequält.
Die Fahrt zu Annis Wohnhaus zog sich. Im Stau ging es nur langsam voran. Viel zu früh sprang, nach Lottes Empfinden, die grüne Ampel wieder auf Rot um. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging es für sie endlich weiter. Kasper bog nach rechts ab und fuhr weiter am Hafen entlang. Viele Segelschiffe hatten Lichterketten über die Toppen gezogen und sorgten für ein stimmungsvolles Bild.
Nach weiteren fünf Minuten Fahrzeit lenkte Kasper den Lieferwagen in eine Auffahrt und bremste abrupt.
„Wir sind da!“ Er stellte den Motor ab, kurbelte das Fenster hoch und stieg aus. Im Rückspiegel sah Lotte, wie Kasper um den Wagen herumlief und kurz darauf die Beifahrertür öffnete.
„Bitte sehr, gnädige Frau“, sagte er und lächelte. „Du hast Glück und kommst sogar trockenen Fußes ins Haus. Es hat aufgehört zu regnen.“
Wie um zu prüfen, ob Kasper auch die Wahrheit sagte, streckte Lotte erst eine Hand aus der Tür. Als diese trocken blieb, schwang sie ihre Beine zur Seite und stieg aus.
„Es ist so dunkel. Ist meine Tante nicht zu Hause?“ Die große blaue Villa lag nahezu in völliger Dunkelheit vor ihnen. Lediglich ein Teil der Außenbeleuchtung brannte und warf ein schwaches, gelbliches Licht auf die Auffahrt und den schmalen Weg, der zum Haus führte.
„Anni ist in der Reha und kommt erst im Laufe der Woche nach Hause.“ Kasper öffnete die hintere Luke des Kofferraums und holte Lottes Trolley heraus. „Hat sie das nicht erzählt?“
Lotte dachte nach. Möglich, dass Tante Anni es ihr gesagt hatte. Aber sie hatte ihre Entscheidung, nach Flensburg zu kommen, so schnell gefällt, dass sie kaum eine Möglichkeit gehabt hatte, alle Informationen, die sie bekommen hatte, in ihrem Kopf zu speichern.
„Aber wie komme ich denn jetzt ins Haus?“ Lotte sah ihr Gegenüber an und wirkte verzweifelt.
„Keine Panik. Anni hat mir ihren Schlüssel gegeben.“ Kasper kramte in seiner Hosentasche und reichte Lotte den Schlüsselbund, an dem ein silbrig-glänzender Katzenanhänger baumelte. „Der große Schlüssel mit der roten Haube ist für das Café. Der kleine silberne Schlüssel ist für die Wohnung“, erklärte er.
„Klein für die Wohnung, rot fürs Café“, wiederholte Lotte und seufzte. Irgendwie hatte sie sich ihre Ankunft in Flensburg anders vorgestellt. Sie hatte sich so sehr auf ihre Tante gefreut und sich ausgemalt, wie sie bei leckerem Essen und warmem Tee heute Abend zusammensitzen und über alte Zeiten plaudern würden. Doch daraus wurde jetzt nichts.
Wenn Lotte in den Sommerferien bei Tante Anni zu Besuch war, hatten sie oft abends in der Stube beieinander gesessen und Erdbeer-Sahne-Tee mit Kluntjes getrunken. Sie hatten sich Kerzen angezündet und es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Manch einem mochte es komisch vorkommen, im Sommer heißen Tee zu trinken. Aber die Sommer in Flensburg konnten launisch sein, mal war es heiß und die Sonne schien wochenlang, mal zeigte sie sich kaum und es regnete. Und an diesen trüben Tagen schmeckte Erdbeer-Sahne-Tee zumindest nach Sommer.
„Ich werd dann mal. Danke fürs Abholen.“ Lotte griff nach ihrem Trolleys und drehte sich zum Gehen um.
„Gern geschehen. Falls du was brauchst, meine Bude ist gleich nebenan.“ Kasper deutete auf eine Hütte links neben der Villa.
„Du schläfst in dieser Bretterbude?“
„Nein, das ist Annis Gartenhäuschen. Ich schlafe in dem Haus neben der Hütte. Also, auf dem Nachbargrundstück. Es ist zwar nicht so eine große Villa wie Annis Haus. Aber für mich reicht’s. Warte ab, bis es morgen hell ist. Dann sieht alles anders aus.“ Kasper klatschte in die Hände, schloss die Beifahrertür und den Kofferraum und stieg zurück in den Lieferwagen. Kurz bevor er losfuhr, kurbelte er noch einmal das Fenster herunter. „Noch n schönen Abend. Schlaf gut.“
Mit einem gutmütigen Lächeln verabschiedete er sich, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam die Auffahrt runter. Er bog nach links ab, gab kurz Gas und fuhr die nächste Einfahrt wieder hoch.
„Siehst du, quasi gleich nebenan“, rief Kasper zu Lotte herüber, nachdem er seinen Lieferwagen geparkt hatte und ausgestiegen war. Er winkte ihr noch einmal zu und verschwand im Haus.
Lotte atmete durch. Langsam verdrängte die frische Luft den penetranten Fischgeruch aus ihrer Nase. Sie spielte mit der silbernen Katze in ihrer Hand und überlegte. Zum Café würde sie heute Abend nicht mehr fahren. Das konnte bis morgen warten. Wahrscheinlich war es eh längst geschlossen. Sie schnappte sich den Griff ihres Trolleys und stapfte den steilen Weg der Auffahrt hoch, bis sie vor der dunkelroten Eingangstür stehen blieb. Sie steckte den kleinen Schlüssel ins Schloss und drehte am messingfarbenen Türknauf. Knarrend öffnete sich die Tür.
Im weitläufigen Flur tastete sie rechts an der Wand nach dem Lichtschalter. Als sie ihn endlich fand, atmete sie erleichtert aus und schloss die Tür hinter sich. Sie hasste es, dunkle, fremde Räume zu betreten. Vom Flur aus gingen mehrere Türen ab. In der Mitte der Diele führte eine mahagonifarbene Holztreppe in die obere Etage zu den Schlaf- und Gästezimmern sowie ins Bad.
Lotte ging geradeaus ins Wohnzimmer. Im Vorbeigehen registrierte sie den glänzenden Parkettboden, auf dem drei große, buntgemusterte Perserteppiche lagen, zwei große Fenster, durch die das Licht der Straßenlaterne fiel, und verschiedene plüschige Möbelstücke, die mit dunkelrotem und grünem Samt bezogen waren. Hier hatte sich nichts verändert. Sogar die Fotos, die einen Großteil von Lottes Familie zeigten, standen wie vor 15 Jahren noch am gleichen Platz. Sie sah ein Hochzeitsbild ihrer Großeltern, ein Foto, das Anni und Doris in feinen Kleidern zeigte, ein Bild von Lotte und ihrer Schwester, die eine Sandburg am Strand bauten. Und … ihr Blick fiel auf einen leeren Bilderrahmen, der abseits der anderen stand. Vermutlich hatte Anni ein Foto entfernt und vergessen, ein neues hineinzutun. Lotte zuckte mit den Achseln und ging weiter.
„Wenn mir die Erinnerung keinen Streich spielt, müsste hier die Küche sein.“
Lotte öffnete die Tür neben einer wuchtigen Vitrine aus dunklem Eichenholz. Volltreffer! Sie schaltete das Licht an und betrachtete die hellblauen Einbauschränke, die in den 1960er Jahren modern gewesen waren. Sie konnte sich daran erinnern, dass ihre Eltern lange Zeit ein ähnliches Modell im Haus gehabt hatten. Allerdings in Lindgrün.
Lotte ging zum Küchenschrank und suchte nach etwas Essbarem. Außer Reis, Nudeln und einer Dose Erbsen und Wurzeln konnte sie jedoch nichts finden. Egal. Sie hatte einen Bärenhunger und keine Lust auf Pizzaservice. Sie holte einen Topf aus einer der Schubladen, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf. Morgen würde sie einkaufen, heute war sie dafür einfach zu müde.
Als Lotte am nächsten Morgen erwachte, war es noch nicht hell. Immerhin hatte der Regen aufgehört. Zumindest hämmerte er nicht mehr gegen die Fenster. Die halbe Nacht hatte Lotte trotz bleiernder Müdigkeit mit offenen Augen im Bett gelegen und den fremden Geräuschen um sie herum gelauscht. Dem Rauschen in den Heizungsrohren, dem brummenden Kühlschrankgenerator unten in der Küche und dem an die Scheiben klopfenden Regen, der einfach nicht enden wollte.
Sie wälzte sich im Bett auf die Seite und warf einen Blick auf den Wecker. Es war erst sieben Uhr morgens! Gähnend zog sie sich die Decke über den Kopf, schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Vielleicht würde es ihr nochmal gelingen wenigstens für ein Stündchen einzuschlafen. Es nützte nichts. Sie war hellwach.
Lotte drehte sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke, in deren Mitte eine sündhaft teure Poul Henningsen Lampe hing. War es tatsächlich die PH5? Lotte legte den Kopf schräg. Sie erinnerte sich daran, wie Paul sich eben diese Lampe von ihr letztes Jahr zu Weihnachten gewünscht hatte. In Orange. Sie wusste noch genau, wie sie im vergangenen November auf der Suche nach dieser Lampe durch die Münchener Fußgängerzone geirrt war. Gefunden hatte sie sie letztlich in einem Online-Shop. Ihr ganzes Weihnachtsgeld war dafür draufgegangen. Hätte sie damals gewusst, was sie heute wusste, hätte sie bestimmt nicht über 700 Euro für eine Lampe ausgegeben!
Lotte schloss die Augen. Sie hasste es, wenn ihre Gedanken zu kreisen begannen. Erinnerungen aus den vergangenen zwei Jahren, in denen sie versucht hatte, sich eine gemeinsame Zukunft mit Paul aufzubauen, schossen ihr durch den Kopf.
Nein. Schluss! Lotte schüttelte sich heftig und öffnete ruckartig die Augen. Sie wollte es auf keinen Fall zulassen, dass sich Paul zurück in ihre Gedanken kämpfte. Für ihn gab es keinen Platz mehr.
Stattdessen legte sie sich im Kopf eine To-Do-Liste für den heutigen Tag zurecht. Aufstehen. Duschen. Auspacken. Frühstücken. Das Café besuchen. Einkaufen.
Es gab jede Menge zu tun. Am besten sie würde gleich damit anfangen.
Lotte schwang die Beine aus dem Bett. Die breiten Dielen des Holzbodens begrüßten sie mit einem ächzenden Knarren. Sie ging zum Fenster und riskierte einen Blick in die einsetzende Morgendämmerung. Es war zwar immer noch dunkel, aber sie konnte sehen, dass Kasper im Nachbarhaus bereits wach war. Im Obergeschoss brannte Licht. Lotte öffnete das Fenster. Sofort füllte sich der Raum mit kalter, frischer Luft. Sie streckte sich und atmete tief ein. Eine Weile blieb sie stehen und genoss die Kühle, die sie umschloss. Sie konnte sehen, wie Kasper sich hinter den Rollos bewegte. Sein Schatten war deutlich zu erkennen. War er etwa im Badezimmer? Lotte beobachtete, wie die Gestalt sich drehte, streckte und mit einem Handtuch über den Kopf wuschelte. Plötzlich schnellte das Rollo nach oben und Kasper stand, wie Gott ihn schuf, am Fenster. Lediglich ein graues Handtuch hatte er um seine Hüften geschwungen. Als er Lotte erblickte, hob er einen Arm, winkte ihr zu und lächelte. Peinlich berührt darüber, dass er sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn beobachtete, verschwand Lotte hinter der smaragdfarbenen Samtgardine. Konnte ein Morgen peinlicher beginnen?
Lotte ging ins Badezimmer, schlüpfte aus ihrem Nachthemd und huschte unter die Dusche. Sofort lief das warme Wasser ihren nackten Körper entlang und durchtränkte ihre langen, blonden Haare. Sie drehte sich im Wasserstrahl und genoss wie das Wasser über ihren runden Busen und flachen Bauch lief. Mit geschlossenen Augen griff sie zum Shampoo, nahm einen kleinen Klecks davon und wusch sich die Haare. Mit sanften Bewegungen massierte sie ihre Kopfhaut, während ihre Haare unter einer hellen Schaumhaube verschwanden. Dann griff sie zum Duschgel und seifte sich ein. Der zarte Geruch von Wasserlilien erinnerte sie an Zuhause.
In München hatte Lotte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Nähe der Theresienwiese gewohnt. Eine Zeitlang hatte sie das zweite Zimmer untervermietet, wenn in München Oktoberfest war. So hatte sie ihr anfangs mageres Einstiegsgehalt bei „Wolkenträume“ aufgefrischt. Doch ihr Vater war strikt dagegen gewesen. Dies sei viel zu gefährlich, hatte er geschimpft und Lotte stattdessen monatlich einen kleinen Betrag überwiesen. Später, als sie in der Gehaltsgruppe gestiegen war, hatte sie sich für die Unterstützung ihrer Eltern bedankt und Doris und Maximilian einen Urlaub auf Rhodos spendiert. Das waren noch Zeiten …
Sie stand weitere fünf Minuten unter der Dusche und genoss, wie das Wasser über ihren Körper strömte. Sanft perlte es über ihre Haut. Lotte holte tief Luft und drehte den Wassertemperaturregler ruckartig auf kalt. Sie kreischte laut, als statt warmes plötzlich eiskaltes Wasser über sie plätscherte. Jetzt war sie definitiv wach.
Lotte stellte das Wasser ab, trat aus der Dusche und griff nach ihrem Handtuch. Sie hüllte sich in das flauschige Badetuch und wickelte ein kleineres Handtuch zu einem Turban um ihren Kopf. Sie ging zum Waschbecken und wischte den beschlagenen Badezimmerspiegel frei, als … Sie hielt inne. Waren das etwa Schritte? Um besser hören zu können, hob sie das Handtuch auf ihrem Kopf ein kleines Stück an und lauschte. Ganz deutlich konnte sie hören, wie im Untergeschoss der Dielenboden knarrte. Einmal, zweimal … Das Knarrgeräusch kam näher. Oh Gott, ein Einbrecher! Sie konnte deutlich hören, wie jemand die Treppen hinaufging. Im ersten Augenblick verharrte Lotte wie gelähmt vor dem Spiegel. Dann griff sie zum nächstbesten Gegenstand, den sie finden konnte, und schlich zur Tür. Schritte näherten sich und wurden lauter. Lottes Herz klopfte unruhig in ihrer Brust. Sie zwang sich rational zu denken. Noch einmal knarzte eine Diele und die Schritte verstummten. Im Augenwinkel sah sie, wie die Türklinke zum Badezimmer langsam nach unten gedrückt wurde. Lotte hielt den Atem an, bereit, den Einbrecher in die Flucht zu schlagen, als sich die Tür öffnete.
„Lotte?“ Kasper steckte den Kopf zur Tür herein und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, als Lotte zum Schlag ausholte. „Stopp, Gnade. Lotte ich bin’s.“ Er packte Lottes Arm und nahm ihr den Lockenstab aus der Hand.
Sie zitterte am ganzen Körper und brauchte eine Weile um zu kapieren, wer da vor ihr im Badezimmer stand.
„Kasper? Bist du irre?“, schrie sie, als sie sich wieder gefangen hatte.
„Das gleiche könnte ich dich fragen. Immerhin wolltest du mich gerade mit einem Vibrator niederstrecken.“
„Lockenstab.“
„Wie bitte?“
„Das ist ein Lockenstab und kein Vibrator.“ Lotte deutete auf den schmalen, pinken Stab, den Kasper zwischen seinem Daumen und Zeigefinger hielt.
„Auch gut“, sagte er und legte den Stab auf die Anrichte neben der Tür.
„Was machst du hier?“ Lotte starrte Kasper mit großen Augen an. Sie war genervt. Und wütend. Und unter ihrem Handtuch splitternackt. Instinktiv zog die das Badetuch enger um ihren Körper und hielt es mit ihren Händen fest.
„Ich wollte fragen, ob du Lust auf Frühstück hast. Als ich vor dem Haus stand, hab ich einen lauten Schrei gehört …“ Kasper hielt inne, um sich zu versichern, dass Lotte seinen Ausführungen folgte. „Ich dachte, dir sei etwas passiert.“
Lotte dachte an den Schrei, den sie ausgestoßen hatte, nachdem sie die Dusche auf kalt gestellt hatte.
„Ich habe Wechselduschen gemacht, und das Wasser war kälter als angenommen.“ Sie verdrehte die Augen und wippte leicht mit dem Kopf, sodass der Handtuchturban in Schräglage geriet.
„Ach so.“ Kasper verstummte.
„Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Hast du die Tür eingetreten?“
„Das musste ich gar nicht. Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Scheint, als hättest du gestern vergessen, ihn mit reinzunehmen.“ Kasper konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Oh.“ Lotte biss sich auf die Unterlippe. Wie peinlich war das denn?
„Ehrlich, Lotte. Das hätte auch schiefgehen können. Stell dir vor, jemand anderes hätte den Schlüssel im Schloss entdeckt.“ Die kleine Rüge hätte er sich ruhig verkneifen können, dachte Lotte.
„Ich war doch bewaffnet.“ So recht Kasper auch hatte, Lotte wollte ihm diesen Triumph auf keinen Fall gönnen.
„Mit einem Lockenstab?“ Er sah verwirrt aus.
„Es ist ja nichts passiert.“ Lotte zurrte den Turban auf ihrem Kopf zurecht. „Es ist wirklich lieb von dir, dass du mich retten wolltest. Aber wie du siehst, es geht mir gut. Und wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich jetzt gerne weiter fertig machen. Mir wird kalt.“
Erst jetzt schien Kasper zu bemerken, dass Lotte lediglich in ein Handtuch gehüllt war. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und starrte auf den Boden.
„Ja, klar. Natürlich. Bin schon weg.“ So schnell wie er gekommen war, drehte sich Kasper einmal um die eigene Achse und lief links den Flur in Richtung Treppenaufgang hinab.
„Kasper?“ Lotte trat aus der geöffneten Badezimmertür in den Flur.
„Ja.“ Er blieb stehen und legte seine Hand auf das Treppengeländer.
„Hattest du nicht was von Frühstück gesagt?“ Sie lächelte und freute sich, als Kasper erleichtert nickte.
„Richtig.“
„Ich würde dein Angebot gerne annehmen. Tante Anni hat nur Nudeln und Reis im Haus. Die Erbsen und Möhren hab ich gestern Abend schon gegessen.“ Beim Gedanken an ihr ungewöhnliches Essen gestern Abend musste sie grinsen.
„Super. Wie lange brauchst du, bis du fertig bist?“ Er sah auf seine Uhr.
„Gib mir ne halbe Stunde.“
„Perfekt. Dann können wir in Annis Café frühstücken. Treffen wir uns um halb neun auf der Auffahrt?“
„Gute Idee.“ Lotte steckte den Daumen in die Höhe. „Legst du den Schlüssel bitte auf die Kommode im Flur?“
„Schon passiert.“ Kasper drehte sich um und ging die Treppe runter.
„Danke. Bis gleich“, rief Lotte ihm hinterher und hüpfte zurück ins Bad.
Tante Annis Café lag nur wenige Kilometer von ihrem Wohnhaus entfernt. Zwar ein wenig außerhalb der Stadt, dafür aber in bester Wasserlage. Lotte genoss die Fahrt dorthin. Der unangenehme Fischgeruch, der ihr gestern auf dem Weg vom Bahnhof unerträglich erschienen war, hatte sich verzogen. Stattdessen lag der köstlich herbe Duft von Kaspers Aftershave in der Luft. Es war ein sehr maskuliner Duft aus holzig-würzigen Nuancen, der ihn umhüllte. Kasper trug einen dicken Norwegerpullover und hatte den Friesennerz von gestern gegen eine dunkelblaue Wolljacke mit Kapuze getauscht. In den Taschen seiner blauen Cargo-Hose steckten mehrere Kugelschreiber und die braunen Lederboots, die er trug, schienen frisch geputzt zu sein. Sie glänzten leicht im hellgelben Licht der Morgensonne.
„Wie weit ist es bis zum Café? Ich kann mich an den Weg kaum noch erinnern“, gab Lotte zu, während sie in Richtung Stadtgrenze fuhren.
Sie betrachtete die bunten Fassaden der Ein- und Mehrfamilienhäuser, die vor ihrem Autofenster vorbeizogen. Häuser mit dem typischen norddeutschen gelben und roten Klinker wechselten sich ab. Einige Häuser hatten große Sprossenfenster, andere wiederum hatten neben der Eingangstür ein Fenster, das einem Bullauge glich.
In Lottes Erinnerung war Annis Café mehr im Zentrum gelegen. Dass es so weit vom Hafen und der Fußgängerzone entfernt lag, überraschte sie.
„Wir sind gleich da“, sagte Kasper und bog nach links in eine kleine Seitenstraße ein, die sich einen Hügel hinunterschlängelte und zum Ende hin immer schmaler wurde.
„Wenn uns jetzt ein Auto entgegenkommt, müssen wir den Rückwärtsgang einlegen.“ Kasper drückte auf die Hupe, als die Straße eine scharfe, enge Kurve machte. Lotte schloss instinktiv die Augen. Sie konnte gar nicht hinsehen.
„Zum Glück haben wir Winter, da ist hier nur wenig Verkehr. Aber im Sommer ist die Hölle los. Es ist der direkte Weg zum Strand.“ Er sah zu Lotte rüber, die immer noch mit zusammengekniffenen Augen auf dem Beifahrersitz seines Transporters saß, und schmunzelte. „Du kannst die Augen wieder aufmachen, sonst verpasst du das Beste.“
Lotte blinzelte gegen die Sonne. Während sie weiter den Hang hinunterfuhren, konnte sie zwischen den kahlen, blätterlosen Bäumen, die rechts und links der Straße standen, das Meer entdecken.
„Wow“, entfuhr es ihr. „So hatte ich es gar nicht in Erinnerung.“
Kasper lächelte und lenkte seinen alten Citroen Typ H auf einen Parkplatz.
„So, da wären wir.“ Er klatschte mit den Händen auf seine Oberschenkel und stellte den Motor ab. „Annis Café liegt gleich da drüben.“ Kasper streckte seinen Arm aus und zeigte auf einen achteckigen roten Backsteinpavillon am anderen Ende des Parkplatzes.
Lotte stieg aus. Von der Straße aus war der Pavillon kaum zu sehen. Bei der Anfahrt hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Die Rückseite des Cafés lag abgeschirmt und umgeben vom angrenzenden Wald, während die Vorderseite zum Meer hin offen war. Von der Sonnenterrasse vor dem Pavillon führte ein kleiner Holzsteg direkt zum Strand.
Lotte ging ein Stück auf das Café zu. Es hatte zweifellos seinen Charme. Der rote Backsteinbau war ungewöhnlich für einen Pavillon dieser Art und verlieh dem Gebäude etwas Standfestes. Ein großer Teil der Sprossenfenster reichte bis zum Boden, sodass die Gäste von nahezu überall einen freien Blick auf die Natur und das Meer hatten. Lediglich der hintere, dem Wald zugewandte Teil des Pavillons war komplett gemauert.
Lotte erkannte schnell, dass der Zahn der Zeit an dem Gebäude genagt hatte. Tante Anni musste schon seit Jahren nicht mehr saniert haben. Zwischen den Terrassenfugen wucherte das Unkraut, die weißen Kunststoffmöbel waren lieblos in einer Ecke zusammengestellt worden und die zusammengeklappten Sonnenschirme waren mit Grünspan überzogen.
„Wollen wir reingehen? Finja müsste schon da sein. Es brennt Licht.“ Kasper war Lotte über den Parkplatz gefolgt und stand nun dicht hinter ihr. Der Duft seines Aftershaves umschwirrte ihre sommersprossige Nase. Sie wusste nicht warum, aber Kaspers Nähe sorgte seltsamerweise für ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch.
„Finja?“ Lotte sah Kasper fragend an und versuchte das plötzlich auftretende Trommeln ihres Herzens zu ignorieren.
„Die Aushilfe und gute Seele des Cafés, wenn Anni nicht hier ist“, antwortete Kasper und schritt voran. Vom Meer wehte eine eisig-feuchte Luft über den Parkplatz, sodass Lotte froh war, als Kasper die Tür des Pavillons öffnete und sie ins Warme treten konnten.
So wenig sich Lotte an das Äußere des Cafés erinnern konnte, umso bekannter kam ihr die Inneneinrichtung vor. Als sie durch die Eingangstür ging, war ihr, als würde sie eine andere Welt oder eine andere Zeit betreten. Weitläufige Dielen erstreckten sich über die gesamte Fläche des Innenraums. Die Einrichtung des Cafés erinnerte sie an das gemütliche Wohnzimmer bei Tante Anni zu Hause. Dunkle, schwere Eichentische standen in verschiedenen Größen im Raum verteilt. Durchgesessene, mit rotem und grünem Samt bezogene Sofas und Sessel dienten als Sitzgelegenheiten. In der einen Ecke des Cafés stand ein dänischer Bollerofen, in dem ein wohlig warmes Feuer brannte. Es war genau wie vor 15 Jahren, als Lotte das letzte Mal zu Besuch gewesen war. Nur die unzähligen von der Decke herabhängenden Leuchttürme, Fische, Herzen und Seesterne aus Holz und Metall, die dem Caféinneren wohl einen maritimen Look verleihen sollten, waren damals noch nicht da gewesen.
„Kasper, Moin. Ich hab dich gar nicht kommen gehört.“
Eine Frau Anfang Sechzig, mit hörbarem norddeutschen Dialekt, trat durch die hintere Tür, die zur Küche führte, und kam auf die beiden zu. „Ich war gerade dabei, das ganze Wasser aufzufeudeln, das bei dem Regen heute Nacht wieder durch die Scheiben gelaufen ist. Es wird Zeit, dass Anni einen Fensterbauer kommen lässt. Oder kannst du dir die Fenster nochmal anschauen?“ Die Frau stellte Wischmopp und Eimer beiseite. Erst jetzt bemerkte sie, dass Kasper nicht alleine gekommen war.
„Hast du einen Gast mitgebracht?“ Finja lächelte und wischte sich die Hände an ihrer rot-weißen Schürze ab. Dann wandte sie sich Lotte zu. „Möchten Sie frühstücken?“
Lotte nickte freundlich. „Moin, sehr gerne.“
„Finja, das ist Lotte Christiansen, Annis Nichte. Sie wird sich um das Café kümmern bis Anni wieder gesund ist“, erklärte Kasper und setzte sich an einen Tisch in der Nähe des Tresens.
„Wo war ich nur mit meinen Gedanken. Anni hat Sie angekündigt, Liebes. Ich dachte nur, Sie kommen erst nächste Woche.“ Finja lächelte, ließ Lotte aber keine Chance zu antworten. „Also wieder kein zahlender Gast. Dabei hätten wir den gerade gut gebrauchen können“, murmelte Finja und seufzte kaum hörbar. „Setzen Sie sich, Lotte. Das heißt ja nicht, dass Sie verhungern müssen. Ich bringe Ihnen gleich einen Kaffee. Oder lieber Tee?“
„Kaffee wäre großartig“, antwortete Lotte und setzte sich in den freien Sessel gegenüber von Kasper. Der Sessel war so durchgesessen, dass sie tief in ihm versank und das Gefühl hatte, als würde sie mit dem Kinn sehr nah an der Tischplatte sitzen. Selbst Kasper, der deutlich größer war als sie, wirkte im Verhältnis zu Sessel und Tisch nahezu winzig.
Lotte sah sich um. Außer Kasper und ihr war niemand im Café. Die Tische waren leer, nicht einmal die Teelichter, die auf ihnen standen, waren angezündet. Alles wirkte verwaist. So, als ob hier lange kein Gast mehr gesessen hatte.
„Ziemlich leer für ein Café“, suchte Lotte das Gespräch mit Kasper, der sich wortkarg gab.
„Ist halt Winter.“ Kasper zuckte mit den Achseln und streifte sich den Schal ab.
„Aber es ist Frühstückszeit und hier ist nichts los.“
„Lotte, es ist Winter“, Kasper machte eine kurze Pause und flüsterte: „Und zum Frühstücken sind die Leute hier noch nie hergekommen.“
„Warum flüsterst du?“, fragte Lotte und beugte sich über den Tisch, um Kasper besser verstehen zu können.
„Muss ja nicht jeder mitkriegen.“
Erneut sah Lotte sich um. Hatte sie verpasst, dass Gäste gekommen waren? Der Raum war immer noch leer.
„Aber hier ist doch keiner“, antwortete sie ebenso leise.
„Lass uns später drüber reden“, meinte Kasper und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Tresen, hinter dem Finja mit der Kaffeemaschine kämpfte.
„Blödes Ding“, fluchte sie, „ausgerechnet jetzt.“
„Brauchst du Hilfe, Finja?“ Kasper schob den Sessel nach hinten, stand auf und ging zum Tresen.
„Alles gut, min Jung. Das Ding spinnt mal wieder. Ich setze schnell einen Filterkaffee auf.“ Sie griff unter den Tresen und zauberte eine Kaffeekanne sowie einen Porzellanfilter hervor. Dann ging sie in die Küche und kam wenig später mit einem Wasserkocher in der Hand zurück. Nach und nach goss sie das Wasser auf das Kaffeepulver im Filter. Schon bald lag ein angenehmer Kaffeeduft in der Luft.
„So, das hätten wir erledigt. Habt ihr entschieden, was ihr essen wollt? Ich könnte euch Rührei und Speck machen.“
„Klingt nach nem perfekten Frühstück. Du wirst uns schon was zaubern.“ Kasper lächelte Finja an, die daraufhin in die Küche verschwand.
Lotte sah Kasper skeptisch an, als dieser zurück zu ihr an den Tisch kam.
„Was?“, fragte er.
„Rührei und Speck?“
„Passt es dir nicht? Ich könnte ein Brötchen aus meinem Truck da hinten holen.“ Kasper deutete auf einen großen silbernen Foodtruck am anderen Ende der Strandpromenade. Lotte hatte ihn bei ihrer Ankunft am Parkplatz gar nicht bemerkt. Sie kniff die Augen zusammen, um den Truck besser sehen zu können.
„Das ist deine Fischbude da drüben?“
„Mhm.“ Kasper nickte und spielte mit zwei Bierdeckeln herum. „Überrascht?“
„Ich hab’s mir ganz anders vorgestellt“, gestand Lotte. Offensichtlich steckte Kasper voller Überraschungen.
Kasper nickte erneut und lächelte. „Und wie?“
„Ich weiß auch nicht. Vielleicht wie so einen Fischbrötchenstand auf dem Jahrmarkt. Weißt du, mit großen Plastikfischen links und rechts und nem riesigen Leuchtturm auf dem Dach …“ Lotte stoppte, während Kasper die Stirn in Falten legte und den Kopf schüttelte. Er machte den Eindruck, als könne er ihren Ausführungen nicht ganz folgen. Lotte nahm ihre Arme zur Hilfe und zeichnete einen imaginären Leuchtturm in die Luft. „Weißt du, was ich meine? Diese klassischen Fischbuden auf dem Jahrmarkt … mit blinkendem Leuchtturm auf dem Dach …?“
Kasper drehte einen der Bierdeckel auf dem Tisch herum. Der Bierdeckel rotierte eine Zeitlang zwischen seinem Zeigefinger und der Tischplatte und kippte schließlich um.
„Du hast ja Vorstellungen.“ Kasper gähnte und rieb sich mit der Hand über die Augen. Dann schwieg er.
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Lotte lauschte den klappernden Geräuschen aus der Küche. Es klang, als würde Finja nach einer geeigneten Pfanne suchen. Wenig später hörte Lotte, wie Finja mit dem Schneebesen Milch und Eier zu Rührei aufschlug und in die Pfanne goss.
„Ich frage mich nur, was gewesen wäre, wenn heute tatsächlich Gäste zum Frühstück gekommen wären.“ Lotte konnte nicht glauben, dass das Café augenscheinlich nicht auf Frühstücksbesuch vorbereitet war.
„Dann wäre Finja bestimmt etwas eingefallen. Sie ist eine Meisterin im Improvisieren.“
„Schön, dass dich das Ganze offensichtlich überhaupt nicht zu stören scheint.“ Lotte rückte sich in ihrem Sessel zurecht und versuchte, so gerade wie möglich zu sitzen, was ihr angesichts des durchgesessenen Polsters sichtlich schwer fiel. Als Kind hatten sie und ihre Schwester Marie Ballettunterricht bekommen. Haltung, Haltung, Haltung, hatte die strenge russische Lehrerin immer gesagt und dabei Lottes Schultern straff nach hinten gedrückt, während sie penibel darauf achtete, nicht zu sehr ins Hohlkreuz zu geraten. Seitdem achtete Lotte immer darauf, eine gute Figur zu machen.
„Lotte, es ist Winter“, wiederholte Kasper, stand auf und holte zwei geblümte Becher aus dem Regal hinter dem Tresen. Wenig später kam er mit einer geblümten Kaffeekanne, einem Milchkännchen und einer Zuckerdose zurück an den Tisch.
„Kasper, hier stimmt doch was nicht. Warum sind hier keine Gäste?“ Lotte sah ihr Gegenüber fragend an, während dieser mit stoischer Ruhe die beiden Kaffeebecher füllte und einen über den Tisch zu ihr rüber schob.
Kasper setzte sich und holte tief Luft.
„Und sag jetzt nicht wieder, es sei Winter“, fiel Lotte ihm ins Wort.
Kasper schmunzelte und rührte in seinem Kaffee. „Gut. Es ist November.“
Lotte hob eine Augenbraue und sah ihn strafend an.
„Du verstehst wohl überhaupt keinen Spaß, was? Dabei hast du eben noch gemeint, ich hätte einen Leuchtturm auf meiner Fischbude …“
Lottes Blick wurde intensiver. Ihre blauen Augen funkelten gefährlich. Sie war verärgert. Nichts, aber auch gar nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte angenommen, Annis Café würde gut laufen und sie müsse ihrer Tante lediglich ein wenig unter die Arme greifen. Der Eindruck, den sie allerdings heute Morgen vom Café bekommen hatte, beunruhigte sie sehr. In Annis Café herrschte gähnende Leere und es machte nicht den Anschein, als sei dieser Morgen eine Ausnahme. Hinzukamen Finjas Aussage, dass man dringend zahlende Gäste benötigte und Kaspers vehementes Schweigen. Irgendetwas war hier faul.
Kasper nippte an seinem Kaffee und lehnte sich erneut in seinem Sessel zurück. Er war die Ruhe selbst. Genoss er es etwa, sie im Unklaren zu lassen? Seine haselnussbraunen Augen ruhten auf Lotte. Ab und zu neigte er den Kopf leicht zur Seite, so als wolle er erraten, was Lotte dachte.
Schließlich beugte er sich nach vorne und holte tief Luft.
„Ich gebe dir Recht damit, dass der Winter nicht allein die Erklärung dafür ist, dass hier so wenige Gäste sind. Ich meine, sieh dich um. Das Café hat seine besten Tage hinter sich. Der Lack ist ab – und zwar nicht nur von den Tischen. Alle wissen das. Finja, ich, sogar Anni hat es längst erkannt“, sprudelte es aus ihm heraus. Auf einmal hielt er jedoch inne und biss sich auf die Lippen. „Ich finde, ich bin der falsche Ansprechpartner. Wenn du etwas zum Zustand des Cafés wissen möchtest, musst du schon selbst mit Anni darüber reden.“
Lotte hörte Kasper aufmerksam zu und nickte. Er hatte recht. Er war nicht ihr Ansprechpartner, wenn es darum ging, herauszufinden, warum das Café kaum noch Gäste hatte.
„Ich bin nur verwundert. In unseren Telefonaten hat Anni nie etwas erwähnt. Kein Wort darüber, dass es mit dem Café Schwierigkeiten geben würde. Ich hab gedacht, der Laden würde laufen.“
„Sprich mit ihr. Sie wird es dir bestimmt erklären. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück und können das Weihnachtsgeschäft noch retten.“ Kasper setzte sich auf, als Finja mit zwei großen Tellern mit Rührei, Schinken und Toastbrot in der Hand an den Tisch zurückkehrte.
„So, Frühstück“, sagte sie und stellte die Teller ab. „Na, worüber habt ihr beide gesprochen?“ Finja zauberte einen Becher aus ihrer Tasche und setzte sich wie selbstverständlich zu Kasper und Lotte an den Tisch.
„Darüber, dass ich dringend mit meiner Tante sprechen muss. Nach dem Frühstück rufe ich sie gleich an“, antwortete Lotte und griff beherzt zur Gabel. Sie hatte einen Bärenhunger.
Während Lotte nach dem Frühstück Tante Anni angerufen hatte, hatte sich Kasper in seinen Foodtruck am anderen Ende der kleinen Strandpromenade zurückgezogen, um das Mittagsgeschäft vorzubereiten, wie er sagte. Nach dem Telefonat schlenderte Lotte hinüber, um sich Kaspers Kombüse genauer anzuschauen. Außerdem wollte sie ihm erzählen, was sie von Anni erfahren hatte.
Kaspers Foodtruck war ein alter, umgebauter amerikanischer Wohnwagen, Modell Airstream, dessen silberne Verkleidung in der Novembersonne glitzerte. Auf dem Dach des Trucks prangte zwar kein Leuchtturm, dafür aber ein großes Stück Holz, das an Treibgut erinnert, auf dem in kritzeliger Schrift „Kaspers Kombüse“ stand.
Zu Lottes Überraschung hatte sich vor dem Truck bereits Kundschaft eingefunden. Sieben Männer und Frauen standen in der Schlange und warteten darauf, bedient zu werden. Die anderen Gäste aßen an den Stehtischen oder saßen der kalten Novembersonne zugewandt und in dicke Wolldecken eingewickelt in den Strandkörben, die rechts neben dem Truck standen.
Lotte wollte sich nicht vordrängeln, stellte sich in die Schlange und wartete, bis Kasper alle Kunden bedient hatte und sie an der Reihe war.
„Was kann ich für Sie tun?“ Kasper beugte sich aus seiner Verkaufsluke hervor und zwinkerte Lotte zu.
„Hey“, sie machte eine kurze Pause und seufzte. „Es sieht düsterer aus, als ich befürchtet habe.“ Lotte konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. Am Telefon hatte sie keine Sekunde gezögert und Tante Anni direkt auf die Misere im Café angesprochen. Auch Tante Anni hatte kein Blatt vor den Mund genommen und ihrer Nichte erzählt, wie es um das Café stand. „Anni sagt, sie hat eines der schlimmsten Geschäftsjahre überhaupt hinter sich. Durch den ganzen Regen im Frühjahr und den verregneten Sommer sind die Strandgäste ausgeblieben. Dadurch fehlt offenbar ein großer Teil der Jahreseinnahmen.“ Lotte machte eine Pause und trat einen Schritt zur Seite, als hinter ihr ein Kunde auftauchte, um sich ein Krabbenbrötchen zu bestellen. Kasper nahm die Bestellung auf und begann sogleich mit der Zubereitung.
Lotte sah ihm dabei zu, wie er mit routinierten Handgriffen zuerst das Weizenbrötchen aufschnitt, mit einem Salatblatt belegte, mit Remoulade beschmierte und letztlich die Krabben darauf verteilte und das Brötchen in Papier wickelte.
„Guten Appetit“, sagte er, reichte dem Kunden das Brötchen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Lotte.
„Sie hat Recht. Diesen Sommer konnte man in die Tonne treten. Aber trotzdem“, er legte die Stirn in Falten und dachte nach.
„Was?“
„Das mit Annis Café geht ja schon eine ganze Weile“, platze es auf ihm heraus.
„Ach ja?“ Lotte war erstaunt. Davon hatte Anni am Telefon kein Wort gesagt.
„Ihr Café entspricht nicht mehr der Zeit. An warmen Tagen holen sich die Strandgäste bei Anni einen Kaffee, ein Eis oder nen Kuchen und in der Adventszeit trinken sie hier ihren Punsch und essen Æbleskiver, weil sie am Wasser spazieren gehen. Aber in den Monaten dazwischen ist schon seit langer Zeit nichts mehr los.“
Kasper begann damit, Zwiebeln in Ringe zu schneiden und in eine Schale zu legen. Der beißende Geruch der frischen Zwiebeln zog über den Tresen bis in Lottes Nase. Automatisch musste sie niesen.
„Prosit. Gesundheit.“
„Danke.“
Lotte lächelte verlegen und warf einen Blick auf den schwarzen Aufsteller, der neben dem Truck stand und den Kunden einen Teil der Speisekarte präsentierte. Kaspers Angebot des Tages war eine Räucherlachs-Rolle im Baguettebrötchen mit Salat und Meerrettichsoße.
„Du machst jedes Fischbrötchen selbst?“
„Natürlich. Und sie werden frisch gemacht. Ich hasse Brötchen, die schon pappig oder matschig sind, weil sie zu lange in der Auslage gelegen haben. Bei mir bekommt jeder Kunde ein frisch zubereitetes Brötchen. Sogar die Brötchen backe ich selber.“ Kasper wirkte ein wenig stolz und deutete auf einen Korb, der bis zum Rand mit Weizen- und Vollkornbrötchen gefüllt war.
Lotte nickte. Wann um alles in der Welt hatte er die Brötchen gebacken?
„Ich würde dir gerne eines machen, aber du isst ja keinen Fisch.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Das hast du dir gemerkt?“
„Glaub mir, noch nie hat jemand so eine Schnute gezogen, als er bei mir im Auto saß. Ich hatte wirklich Angst, dass du dich übergibst“, gestand er und zog eine Grimasse.
„Das tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Lotte überkam ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken daran, wie offensichtlich sie ihre Abneigung gegenüber Fisch zur Schau gestellt hatte.
„Schon gut. Du hast dich ja nicht übergeben. Unhöflich wäre es gewesen, wenn du es getan hättest.“ Kasper schmunzelte und konzentrierte sich wieder auf seine Zwiebeln.
Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach. Lotte schaute auf das Meer, das sich in hellen Grautönen vor ihr erstreckte. Auf der anderen Seite der Förde, rund vier Kilometer von Lotte entfernt, lag Dänemark. Die Hänge des Ufers waren teils dicht bewaldet, teils bebaut. Sie kniff die Augen zusammen und konnte vereinzelt größere und kleinere Häuser sowie Autos, die auf der Straße am Meer entlangfuhren, erkennen. Wenn sie nach links blickte, konnte sie die Flensburger Schiffswerft und einen Teil der Stadtwerke sehen. Rechts von ihr lagen die Ochseninseln, zwei kleine, meist unbewohnte Inseln, die zu Dänemark gehörten.
Was für ein schönes Fleckchen Erde das hier war. Die Aussicht, das Meer, der Strand. Die Lage von Annis Café war perfekt. Eine kleine Strandpromenade, auf der Besucher flanieren und spazieren gehen konnten, führte direkt am Pavillon vorbei. Es gab einen großen Parkplatz und sogar eine Bushaltestelle. Warum in aller Welt hatte Anni es nicht geschafft, aus ihrem Café eine Goldgrube zu machen? Dass es mit dem richtigen Konzept kein Problem war, schien Kasper zu beweisen. Es war ein gewöhnlicher Wochentag, und doch herrschte großer Andrang an seinem Foodtruck. Obwohl Lotte nicht klar war, woher genau die Kunden kamen. Es schien, als würden sie aus dem Nichts hinter dem Wagen auftauchen und genau dorthin auch wieder verschwinden.
„Bei dir ist das nicht so.“ Lotte ließ der Gedanke an Annis Situation nicht los.
„Hm …?“ Kasper blickte kurz auf.
„Dein Laden. Du hast Kundschaft. Bei dir ist was los, während im Café tote Hose ist.“ Lotte drehte sich um und warf einen prüfenden Blick in Richtung des Pavillons, der verwaist am anderen Ende der Promenade lag. Durch die Scheiben konnte sie Finja sehen, die an einem der Tische saß und in der Zeitung blätterte.
„Ich meine, es ist Mittagszeit. Da müsste der Laden doch brummen.“ Sie hielt kurz inne. „Wo kommen sie her?“
„Bitte?“ Kasper sah Lotte irritiert an. Mit der Frage hatte er offenbar nicht gerechnet.
„Deine Kunden. Wo kommen deine Kunden her?“
„Ach so, das meinst du.“ Er wirkte beruhigt und deutete mit dem Messer nach links. „Den Hang hoch links sind mehrere Bürogebäude. Ein Medienhaus, das KBA, eine Bank und zwei Versicherungen. Eine Treppe führt von dort hierher. Ich schätze, viele Büroleute nutzen ihre Mittagspause für einen kleinen Spaziergang und verbinden das mit einem Snack bei mir am Truck.“
„Warum essen die Leute nicht bei Anni zu Mittag?“
„Weil Anni keinen Mittagstisch anbietet. Es lohnt sich einfach nicht“, erklärte Kasper.
„Weil du ihr die Kundschaft wegnimmst“, schlussfolgerte Lotte.
„Ich mache was?“ Kasper legte das Messer beiseite und stemmte sich mit beiden Armen auf dem Tresen ab.
„Dieser Abschnitt ist zu klein für zwei Gastroangebote, das sieht doch jedes Kind. Und da der Pavillon schon vor dir hier stand, ist ja wohl klar, wer wem die Kundschaft geklaut hat“, machte Lotte ihrem Ärger Luft.
„Lotte, ich kenne Anni seit Jahren. Wir sind Freunde, und ich helfe ihr, so gut ich kann. Ich hole sogar Kaffee bei ihr, wenn ich Kunden habe, die etwas Warmes trinken wollen. Aber die Kunden wollen einfach nicht ins Café. Es braucht dringend eine Renovierung, ich sage Anni das schon seit Jahren. Aber sie möchte davon nichts wissen. Auf dem Ohr ist sie taub.“ Kasper hielt kurz inne und pustete durch. Er wirkte wütend. Oder hatte Lotte ihn mit ihrer Vermutung gekränkt? „Aber jetzt bist du ja in der Stadt. Und vielleicht hast du als Nichte mehr Glück bei ihr. Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muss weiterarbeiten.“ Kasper zwang sich zu einem Lächeln, ging zum Kühlschrank und tat so, als sei er zu beschäftigt, um weiter mit Lotte zu diskutieren.
„Ich werde mein Glück versuchen. Darauf kannst du dich verlassen“, schnaubte Lotte, drehte sich um und lief zum Café zurück.
Den Rest des Tages verbrachte Lotte damit, eine Bestandsaufnahme des Cafés zu machen. Wenn man erst einmal genauer hinsah, merkte man, dass es in einem erbärmlichen Zustand war. Die Fenster waren undicht, es zog an allen Ecken und an einigen Stellen löste sich die Tapete von der Wand. Der Dielenboden musste dringend abgeschliffen und neu versiegelt werden, vom abgeblätterten Lack der Tische und Möbel ganz zu schweigen. Immerhin funktionierte der Kamin einwandfrei und auch die Küchengeräte seien, bis auf die Kaffeemaschine, in einem guten Zustand, versicherte Finja, die sich als gute Seele des Hauses erwies. Wie hatte Tante Anni das Café nur so herunterwirtschaften können?
Das Schlimmste aber war, dass bis zum frühen Nachmittag kein einziger Gast einen Fuß ins Café gesetzt hatte. Erst um 15 Uhr verirrte sich ein kleine Gruppe Spaziergänger in den Pavillon, nachdem diese vom wieder einsetzenden Regen überrascht worden war und sich aufwärmen wollte. Zum Glück zauberte Finja frische Waffeln mit heißen Kirschen und Vanilleeis aus dem Hut, sodass sie den Gästen wenigstens etwas zu essen anbieten konnte.
„So, geschafft!“ Lotte legte den Kugelschreiber beiseite und schaute zufrieden auf die Liste, die sie den Nachmittag über gemacht hatte. Sie hatte aufgeschrieben, welche Arbeiten am dringendsten erledigt werden mussten. Ganz oben standen die undichten Fenster, gefolgt von Maler- und Tapezierarbeiten.
„Die Liste ist ganz schön lang.“ Die vergangene halbe Stunde hatte Finja damit verbracht, den Dielenboden zu fegen und zu feudeln. Jetzt hatte sie Besen und Feudel beiseitegelegt und warf einen Blick auf Lottes Liste.
„Das ist sie. Ich hab schon befürchtet, ich würde nie fertig werden.“ Lotte sah sich um und nahm einen großen Schluck aus ihrer geblümten Kaffeetasse.
„Und was machst du jetzt damit?“ Finja setzte sich zu Lotte an den Tisch.
„Sobald ich zu Hause bin, rufe ich Anni an. Es muss doch eine Möglichkeit geben, das Café wieder in Schwung zu bringen.“ Lotte stoppte, als sich die Tür öffnete und ein älterer Mann das Café betrat.
Er war groß und schlank. Seine Haut war fahl und unter seinem schwarzen Hut blitzten silbergraue Locken hervor. Als Finja ihn sah, erhob sie sich umgehend von ihrem Stuhl und ging ihm aufgeregt entgegen.
„Herr Petersen. Was verschafft uns die Ehre?“, fragte sie und kam kurz vor ihm zum Stehen.
„Ihre Chefin? Ist sie aus der Reha wieder entlassen?“
Lotte beobachtete erschrocken und fasziniert zugleich, dass sich die Lippen des Mannes beim Sprechen kaum bewegten.
„Sie kommt übermorgen wieder. Wird dann wohl aber noch nicht gleich wieder im Café anzutreffen sein. Kann ich ihr etwas ausrichten?“ Finja verschränkte die Arme vor ihrem Bauch.
„Führen Sie so lange die Geschäfte, Finja?“ Der Mann sprach mit einer solchen Arroganz, dass Lotte sich automatisch davon eingeschüchtert fühlte.
„Nein, das bin ich“, sagte sie zögerlich und stand auf.
„Und Sie sind wer?“ Der Fremde sah herablässig zu Lotte rüber. Der kalte Blick seiner eisblauen Husky-Augen jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
„Lotte Christiansen. Ich vertrete meine Tante in ihrer Abwesenheit.“ Lotte fröstelte. Sie hatte in ihrem Berufsleben schon oft Kontakt mit unangenehmen Kunden gehabt. Menschen, die allein durch ihr selbstsicheres Auftreten versuchten, ihr Gegenüber einzuschüchtern. Um besser auf solche Situationen vorbereitet zu sein, hatte Lotte erst im vergangenen Frühjahr einen Workshop zum Thema Kundenmanagement besucht. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte damals besser aufgepasst.
„Dann wissen Sie bestimmt auch, wie es um diesen Laden hier steht?“ Herr Petersen sah sich abfällig im Café um. Sein Blick blieb genau in der Ecke hängen, in der sich die Tapete von den Wänden löste.
Lotte nickte. Worauf wollte er hinaus?
„Ihre Tante ist mit ihren Zahlungen im Verzug. Sollte sie ihre Schulden bis zum Jahresende nicht beglichen haben, wird das alles hier zwangsversteigert …“, er machte bewusst eine kleine Pause, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. „Aber ich denke, dass wird Ihnen Ihre Tante sicher erzählt haben.“
Seine Worte bohrten sich wie Messerstiche in Lottes Körper. Hatte er eben wirklich von Zwangsversteigerung gesprochen? Einen Moment war es, als würde der Boden unter ihren Füßen wanken. Lotte fing Finjas Blick ein, die sich hilfesuchend im Raum umsah.
„Einen schönen Abend noch die Damen.“ Herr Petersen griff sich an die Hutkrempe und nickte Finja und Lotte zu.
„Wiedersehen“, antwortete Lotte kaum hörbar.
Der Fremde drehte sich um und verschwand ebenso lautlos wie er wenige Minuten zuvor ins Café gekommen war.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, sank Lotte in den weichen roten Samtsessel zurück und legte den Kopf gegen die Rückenlehne.
„Wer war das?“
„Das war Ingolf Petersen. Annis Banker.“ Finja trat an Lottes Tisch und setzte sich in den freien Sessel gegenüber.
„Was für ein unangenehmer Mensch.“ Lotte schüttelte sich instinktiv. „Hast du davon gewusst?“
Finja schüttelte den Kopf. „Nein, von einer drohenden Zwangsversteigerung hat Anni nie etwas gesagt. Wieso hat sie mir das nur verheimlicht?“ Mit der Küchenschürze wischte sich Finja eine Träne aus dem Augenwinkel und begann leise zu schluchzen.