Ostsee, Klönschnack und ein Mord - Inga Schneider - E-Book
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Ostsee, Klönschnack und ein Mord E-Book

Inga Schneider

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Beschreibung

Die Flensburger Förde: Möwengeschrei, Ostseeluft und Sonnenschein. Doch das spurlose Verschwinden zweier Unternehmer trübt die Urlaubsidylle. Die Gerüchteküche brodelt: Sind die beiden Männer entführt worden – oder ist ihnen etwas noch Schrecklicheres zugestoßen? Anni Gade ist die Letzte, die die beiden lebend sah. Seit ihrem erfolgreich abgebrochenen Studium hält Anni sich mit Stadtführungen über Wasser und erlebt dabei viel Skurriles. Doch damit, in einen Kriminalfall verwickelt zu werden, hat sie nun wirklich nicht gerechnet. Die Ermittlungen des arroganten Kommissars Jan Christiansen scheinen in eine völlig falsche Richtung zu gehen. Also beschließt Anni, auf eigene Faust zu ermitteln. Mit ihrer Schnüffelei geht sie Christiansen nicht nur gehörig auf die Nerven, sondern stolpert auch noch über eine Leiche … Beste Cosy-Crime Unterhaltung für Fans von Krinke Rehberg und Dora Heldt; als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Die Flensburger Förde: Möwengeschrei, Ostseeluft und Sonnenschein. Doch das spurlose Verschwinden zweier Unternehmer trübt die Urlaubsidylle. Die Gerüchteküche brodelt: Sind die beiden Männer entführt worden – oder ist ihnen etwas noch Schrecklicheres zugestoßen?

Anni Gade ist die Letzte, die die beiden lebend sah. Seit ihrem erfolgreich abgebrochenen Studium hält Anni sich mit Stadtführungen über Wasser und erlebt dabei viel Skurriles. Doch damit, in einen Kriminalfall verwickelt zu werden, hat sie nun wirklich nicht gerechnet. Die Ermittlungen des arroganten Kommissars Jan Christiansen scheinen in eine völlig falsche Richtung zu gehen. Also beschließt Anni, auf eigene Faust zu ermitteln.

Mit ihrer Schnüffelei geht sie Christiansen nicht nur gehörig auf die Nerven, sondern stolpert auch noch über eine Leiche …

»Ostsee, Klönschnack und ein Mord« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei Saga Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Inga Schneider hat »Hygge« im Blut. Sie arbeitet als Journalistin in Dänemark und Schleswig-Holstein. Seit 2021 veröffentlichte sie bereits mehrere erfolgreiche Cosy-Crime- sowie Liebes- und Feel-Good-Romane.

Die Website der Autorin: https://www.inga-schneider.de/

Die Autorin bei Facebook: ingaschneider.autorin/

Die Autorin auf Instagram: @ingaschneider.autorin

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Rosenborg-Saga sowie ihren Cosy-Crime-Roman »Ostsee, Klönschnack und ein Mord«. Alle Titel sind bei Saga-Egmont auch als Hörbuch- und Printausgabe erhältlich.

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eBook-Ausgabe Februar 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 Inga Schneider und Saga Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von A. Savin / wikipedia sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-409-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Inga Schneider

Ostsee, Klönschnack und ein Mord

Kriminalroman

dotbooks.

Widmung

Für meine Oma Anni, die dieses Buch bestimmt gerne gelesen hätte.

Kapitel 1

Moin, Moin

»Entschuldigung! Kann ich mal durch?«

Anni raffte den knöchellangen Rock ihres dunkelblauen Kleides und schob sich durch die johlende Menge, die sie von allen Seiten umzingelt hatte.

Natürlich musste sie ausgerechnet heute Abend spät dran sein. Und natürlich war sie vorhin im Bus so in ihren Liebesroman vertieft gewesen, dass sie ihre Haltestelle verpasst hatte und am Südermarkt statt am ZOB aussteigen musste. Und jetzt hatte sie den Salat. Auf dem Marktplatz vor der St. Nikolaikirche war die Hölle los.

Der gesamte Platz war in ein blau-weiß-rotes Farbenmeer getaucht, da Tausende Handballfans zusammen mit ihrer SG Flensburg-Handewitt den Gewinn der Champions League feierten. Sie hüpften und jubelten dicht gedrängt auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster, was das Zeug hielt. Glitschig deshalb, weil es natürlich noch bis vor einer halben Stunde wie aus Eimern geschüttet hatte, sodass Anni sich nicht nur beeilen, sondern auch höllisch aufpassen musste, dass sie auf den schmierigen Steinen nicht ausrutschte und sich am Ende noch den Hals brach. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, würde aber durchaus zu dem Pech passen, das sie seit einigen Monaten verfolgte. Immerhin darin war sie gut.

»Sorry. Darf ich …?«, rief Anni erneut und quetschte sich durch eine Gruppe singender Fans. »Tut mir leid. Ich muss da leider durch.«

Sie schob und drängte sich an den schwitzenden Leuten vorbei, bemüht, das Lächeln auf ihren Lippen zu wahren, während der SG-Fansong mit voller Lautstärke aus den aufgestellten Lautsprechern oberhalb der Empore, auf der die Mannschaft stand, dröhnte.

Flensburg-Handewitt, Flensburg-Handewitt

Ja wohin du gehst, wir kommen mit …

Ob du Meister wirst

Oder zur Hölle fährst,

Flensburg-Handewitt, wir kommen mit …

»Dürfte ich?« Sie zwängte sich durch eine erneute Ansammlung hüpfender und singender Fans und wollte auf keinen Fall unhöflich sein. Um ehrlich zu sein, hätte sie am liebsten selbst mitgefeiert, aber sie hatte einen Job zu erledigen und – die Glocke der Uhr oben im Kirchturm von St. Nikolai ertönte. Mist! Sie würde definitiv zu spät kommen.

Anni beschleunigte ihr Tempo und hatte weder ein Auge für die gut gebauten Handballer, die oben auf der Empore nun stolz einen riesigen silbernen Pokal in die Luft hielten, noch für die wunderschönen Treppengiebelhäuser, die zu allen Seiten des großen Platzes aufgereiht nebeneinanderstanden, als würden sie den Marktplatz umarmen.

»Na, tu siehsja auus?«, lallte einer der SG-Anhänger, der ihr mit einem Becher Bier in der Hand vor die Nase taumelte. Als es überschwappte, machte Anni einen Schritt zur Seite und sah ihn aus ihren moosgrünen Augen strafend an.

»Isses nich n bissel warm in sonm Aufzug?« Er musterte ihr Outfit, das dunkelblaue Kleid, den feinen Hut auf dem Kopf und den weißen Spitzenschal, den sie sich um die Schultern gelegt hatte.

In seinem Gesicht konnte sie ablesen, was ihm durch das biergetränkte Gehirn ging.

»Bist du eine …?«, fragte er, während ihm der rot-weiß-blaue Stoff-Wikingerhelm ins Gesicht rutschte.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit dem Fuß auf das Kopfsteinpflaster. »Was meinst du, wer ich bin?«, fragte sie, während die Kirchturmuhr ihren letzten Glockenschlag tat.

»Ne Beduh-dande?«, lallte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht, als sei er stolz darauf, ihre Kostümierung erkannt zu haben.

»Verdammt richtig. Und wenn du mir nicht gleich aus dem Weg gehst, komme ich zu spät zu meinem Job. Verstanden?!«, sagte sie zwar energischer als beabsichtigt, aber mit Erfolg.

Der SG-Fan trat beiseite und machte eine Verbeugung. »Bidde sehr, die Dame.«

Anni lächelte ihm zu und nickte, als sie mit durchgedrücktem Kreuz an ihm vorbeischritt. »Danke.«

Sobald sie die grölende Menge hinter sich gelassen hatte und das Kopfsteinpflaster durch normale Pflastersteine abgelöst wurde, begann Anni zu laufen. Sie sprintete die Fußgängerzone, den Holm, entlang, vorbei an den farbenfrohen Häusern mit Boutiquen, Buchhandlungen und Cafés, bis sie an der Holmnixe, einem kleinen Brunnen, nach rechts abbog. Vor der Touristinformation angekommen, hielt sie an, stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich leicht nach vorne. Himmel, sie musste dringend an ihrer Kondition arbeiten …

Sie hatte noch gar nicht richtig Luft geholt, da trat ein kleiner schlaksiger Mann mit Glatze und Schnurrbart aus der Tür des Hauses, vor dem sie stand.

»Anni Gade«, hörte sie ihn sagen. »Wie immer spät dran.« Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Sobald er stehen geblieben war, tippte er ungeduldig mit dem Fuß auf den Bürgersteig. Warum musste er sich nur immer so wichtig nehmen?

»Moin Gunnar.« Anni verkniff sich ein Augenrollen, wischte sich eine ihrer rotblonden Locken aus dem Gesicht und klemmte sie sich provisorisch hinter das Ohr, wohl wissend, dass die Locke gleich wieder vor ihrem Auge herumtanzen würde. Dann richtete sie sich auf, drehte sich zu ihm und senkte ihren Blick. Was die Körpergröße betraf, hatte der liebe Gott Gunnar Hansen nicht gerade üppig ausgestattet. Er reichte Anni gerade einmal bis zur Nasenspitze, mit gutem Willen und wenn sie, so wie jetzt gerade, keine hohen Absätze trug, vielleicht bis zum unteren Wimpernansatz. Eine Tatsache, die dazu führte, dass der Flensburger Tourismuschef sich Frauen, die größer waren als er, stets auf Zehenspitzen näherte. Und wenn er neben ihnen stand, wippte er immer von einem Bein auf das andere. Wie ein Kapitän, der auf einem schwankenden Schiff versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»Also«, sagte der wankende Tourismuschef, die Hände vor der Brust gefaltet, offenbar auf eine Erklärung wartend.

Die konnte er haben. Anni schenkte ihm einen entschuldigenden Augenaufschlag und entschloss sich zu einer kleinen Notlüge. »Ich weiß, Gunnar, aber ich musste Hugo noch …«

»Was kümmert mich dein Erpel, Anni?«, unterbrach er sie barsch.

Anni schloss die Augen und pustete durch. Irgendwie hatte sie geahnt, dass sie mit Hugo als Entschuldigung nicht weit kommen würde. Gunnar hatte kein Herz für Tiere. Und genau genommen auch nicht für Menschen. Aber sie brauchte diesen Job, und sie brauchte ihre Wohnung. Bei ihren Eltern einzuziehen war nun wirklich keine Option. Die würden sich bedanken, wenn sie mit einem Koffer in der Hand und Hugo unter dem Arm plötzlich bei ihnen vor der Tür stünde.

Anni hatte schon einmal versucht, wieder in ihrem ehemaligen Kinderzimmer unterzukommen, nachdem sie das Studium geschmissen hatte. Schon damals war sie kläglich gescheitert und schließlich lieber in die kleine Einliegerwohnung unter dem Dach von Frau Lorenzens Kapitänshaus auf dem Land eingezogen, als eine weitere Nacht mit ihrem Vater unter einem Dach zu verbringen. Einen weiteren Versuch würde sie daher nicht unternehmen. Niemals.

In diesem Moment hallten die Schlachtgesänge der SG-Fans über den Holm und rissen Anni aus ihren Gedanken. Ein lauter Knall ertönte, als habe jemand auf dem Marktplatz eine überdimensional große Konfettikanone gezündet. »Der Südermarkt ist voller Leute. Ich bin kaum durchgekommen.«

»Ach, kann es sein, dass die SG die Champions League gewonnen hat?« Er zog eine Grimasse, die Anni nicht ganz deuten konnte. Machte er sich etwa über sie lustig? »Was erwartest du, Anni? Die feiern dort drüben die Party des Jahres! Niemand möchte das verpassen. Ich wäre auch bereits dort, aber ich habe auf meine Petuhtanten-Stadtführerin gewartet.« Jetzt machte er ein böses Gesicht und zeigte auf die Uhr an seinem Handgelenk, wohl auch, um Anni ein schlechtes Gewissen einzujagen. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Natürlich nicht.

Es brauchte Anni nur jemand vorwurfsvoll anzuschauen, und schon regte sich dieses blöde schlechte Gewissen, das sich wie ein Kloß in ihren Hals legte, ihr das Atmen erschwerte und ihren Bauch ganz schwer werden ließ.

Anni seufzte ein weiteres Mal und schluckte schließlich den Kloß in ihrer Kehle herunter. Dieser Kloß hatte hier nichts zu suchen. Hier ging es um ihren Job, nicht um ihr Privatleben und nicht um ihre Kindheit. »Es tut mir leid, Gunnar. Kommt nicht wieder vor.«

»Das will ich hoffen.« Gunnar hörte auf zu schwanken, machte einen Schritt beiseite und ging an Anni vorbei. Bevor er sie gänzlich passiert hatte, blieb er noch einmal stehen und legte ihr die knochige Hand auf die Schulter. »Du bist eine gute Stadtführerin, vielleicht die beste, die wir haben. Unsere Gäste lieben dich und deine Inszenierung. Aber deine Unpünktlichkeit kann ich auf Dauer nicht tolerieren.« Er sah sie an. »Das verstehst du doch, oder?«

Anni nickte bedröppelt. Er hatte ja recht, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen wollte. Unpünktlichkeit war ein Problem, das sie ebenfalls schon seit Jahren mit sich herumtrug. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke gewesen. Schon zu ihrer eigenen Einschulung war sie beinahe zu spät gekommen, weil sie sich beim Spazierengehen mit einer Freundin verquatscht hatte. Ihre Eltern hatten sie damals eine Stunde lang gesucht, und es hatte riesigen Ärger gegeben, als sie wieder aufgetaucht war.

»Ist die Gruppe schon da?« Sie drehte sich zum Eingang der Touristinfo um und blinzelte gegen die Sonne in den Innenhof, der sich direkt daneben verbarg.

»Was glaubst du wohl, Anni Gade? Natürlich ist die Gruppe schon da. Im Gegensatz zu dir waren sie ja pünktlich.« Gunnar schenkte ihr ein bissiges Lächeln zum Abschied, legte sich seinen Pullover um die Schulter, als sei er ein stinkreicher, aufgeblasener Sylt-Tourist, und zog von dannen. Anni sah ihm nach, bis er an der Holmnixe um die Ecke verschwunden war. Memo an sie selbst: Endlich pünktlich sein!

*

Der rechteckige Innenhof neben der Touristinformation war von hohen, efeubewachsenen Häuserwänden umgeben, was ihm eine angenehme Kühle verlieh. Eine kleine Gruppe von zehn Leuten hatte sich in der Mitte des Hofes versammelt und war so in Gespräche vertieft, dass sie Anni gar nicht bemerkte.

Ihr war es ganz recht. Sie nutzte die Zeit, sich ein Bild von den Leuten zu machen, mit denen sie die kommenden zwei Stunden verbringen würde.

Es war eine gemischte Gruppe, sowohl vom Alter als auch von den Geschlechtern her. Wobei die Frauen in der Überzahl waren. Anni stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen genaueren Blick auf die Leute zu erhaschen. Sie liebte es, Menschen zu beobachten, auch wenn sie wusste, dass es sich nicht gehörte. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts dagegen tun. Es machte einfach zu viel Spaß.

Zwei ältere Damen, die grau-violetten Haare in Wellen gelegt, standen in der Nähe der einen Efeuwand und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Die eine war deutlich kräftiger gebaut als die andere. Worüber sie sich wohl unterhielten? Anni folgte ihren Blicken, die förmlich an einem Pärchen klebten, das sich fest umschlungen hielt und mit einem älteren Mann sprach, der einen schwarzen Labrador mit sich führte, der beinahe so groß war wie ein halbjähriges Kalb und dem Mann deutlich über das Knie reichte. Wahrscheinlich hatten die beiden Golden Girls den gleichen Gedanken wie Anni: Einen solch großen Hund hatte sie lange nicht mehr gesehen.

Annis Blick schweifte weiter zu einer Familie, deren Kinder sich gerade buchstäblich in die Haare bekommen hatten und über irgendetwas stritten, was Anni nicht mitbekommen hatte. Sie sah nur, dass das kleinere der beiden Mädchen die langen dunklen Haare ihrer größeren Schwester festhielt und nicht müde wurde, daran zu ziehen. Sehr zum Missfallen der Mutter, die mit Engelszungen auf ihre kleine Tochter einredete, jedoch ohne wirklich erfolgreich zu sein. Immer wieder schaute die Mutter sich hilfesuchend nach ihrem Mann um, von dem sie jedoch offenbar keine Hilfe erwarten durfte. Der Vater stand etwas abseits, einen Kinderrucksack auf der rechten Schulter baumelnd, und studierte, ein wenig zu angestrengt für Annis Geschmack, einen der zahlreichen Flyer, die er sich wohl aus der Touristinfo mitgenommen hatte. Man hätte meinen können, er würde ein wirklich interessantes Buch lesen, so vertieft schien er zu sein, und Anni hätte ihm das bestimmt auch abgenommen, hätte er nicht ab und zu aufgesehen und zu seiner Frau hinübergeschielt, nur um den Kopf erneut blitzschnell zu senken, sobald diese sich in seine Richtung drehte.

Männer! Anni verkniff sich ein Lächeln. Auf ihren Stadtführungen erlebte sie immer wieder das Gleiche: Die Mütter kümmerten sich um die Kinder, wenn’s stressig wurde, und hatten kaum Zeit, ihren Ausführungen zu lauschen, während die Väter entspannt durch die Gassen und Kaufmannshöfe schlenderten und so taten, als hätten sie die Zeit ihres Lebens. Vielleicht hatten sie das auch … und vielleicht sollte sie sie einfach mal danach fragen?

Anni drehte sich nach links und betrachtete ihr Outfit in einem der bodentiefen Fenster der Touristinfo. Prüfend drehte sie sich in alle Richtungen, rückte sich den Hut zurecht und umklammerte ihren dunklen Regenschirm, den sie augenblicklich in die Höhe hob, als sie sich umdrehte und schnellen Schrittes auf die Gruppe zuging. Jetzt war sie bereit, in ihre Rolle zu schlüpfen.

»Szo«, sagte sie mit einem betont scharfen S, dessen spitzer Laut die Gespräche der Gruppe abrupt beendete. »Dann woll’n wir mal szehn un kommen los.«

Prompt hatte Anni die ganze Aufmerksamkeit der buntgemischten Truppe. Alle drehten den Kopf in ihre Richtung und lächelten, vielleicht auch ein wenig amüsiert, aufgrund der Erscheinung, die sich ihnen bot.

»Ich bin Frau Møller mit dänischem Ø. Die Leute sagen, ich bin eine Petuhtante. Wisst ihr, was das ist?« Sie stellte sich zu der Gruppe und sah in die Runde, die – erwartungsgemäß – den Kopf schüttelte. »Gut, gut«, sagte Anni und stemmte die Hände in die Hüften. »Dann werde ich euch das in den kommenden Stunden mal vertellen, also er-zäh-len.«

Anni lachte und stellte sich nun so hin, dass sie direkt vor ihrer Gruppe stand, die sich daraufhin im Halbkreis um sie herum verteilte und lauschte.

»Folgt einfach mir und meinem Paraplü.« Sie reckte ihren Regenschirm noch ein wenig höher in die Luft, um zu verdeutlichen, dass der Schirm mit diesem Wort gemeint war. Die Gruppe nickte.

»Prima, dann kann ja nix schiefgehen.«

Jetzt lachten alle und reihten sich hinter Anni und ihren Paraplü ein, als sie schnellen Schrittes den Innenhof verließ, nach rechts abbog und in Richtung Holm marschierte. Dabei begann sie von den glanzvollen Zeiten Flensburgs zu erzählen, damals, als die Schiffe noch unter dänischer Flagge segelten und Flensburg eine der wichtigsten Handelsstädte des dänischen Königreichs gewesen war. Sie machte Abstecher in die Kaufmannshöfe, hielt vor den großen Kornspeichern, die aus dieser Zeit übrig geblieben waren, und erzählte Geschichten von früher.

»Ihr müsst wissen: Bis 1864 war Flensburg hinter Kopenhagen die zweitgrößte Stadt des dänischen Königreichs. Dann gab es den großen Deutsch-Dänischen Krieg, den Dänemark 1864 mit der Schlacht bei Dybbøl verlor. Als Folge fielen Schleswig-Holstein und damit auch Flensburg an Preußen. Doch die Staatsgrenze, so wie wir sie heute kennen, wurde erst 1920 festgelegt.«

Sie gingen weiter über den Holm, durch den Hof des Borgerforeningen und dann die Schiffbrücke entlang in Richtung Hafen. Vor dem Salondampfer »Alexandra«, einem weiteren Relikt aus vergangener Zeit, blieb die Gruppe stehen.

»Ach Jott, ach Jott«, sagte Anni und schlug übertrieben die Hände über dem Kopf zusammen. »Heute fährt die Alex ja gar nicht, sondern erst am Sonnabend wieder. Das hab ich bei dem ganzen Gesappel ganz vergessen.«

Sie erzählte noch ein wenig über den schwimmenden Kohledampfer, der auch heute noch unter Dampf über die Flensburger Förde schipperte und seit seiner Renovierung zu einer Art schwimmendem Wahrzeichen der Fördestadt geworden war.

Petuhtanten, wie sie eine war, hatten den Butterdampfern, wie die Schiffe damals von den Flensburgern liebevoll genannt wurden, ihren Namen zu verdanken.

»Szo feine Damen wie ich lieben nichts mehr, als mit unserem Partout-Billet …« Wieder schaute sie in rätselnde Gesichter. »Das heißt Hin- und Rückfahrt auf Neudeutsch«, flüsterte sie, worauf ein Schmunzeln durch die Gruppe ging. »Wir lieben es einfach, auf diesen Dampfern rüber bis nach Dänemark zu schippern. Das is’n Spaß, sag ich euch. Ihr müsst das unbedingt auch mal ausprobieren. Am Sonnabend, wenn die Alex wieder unter Dampf steht.« Sie blickte in die Runde, die mittlerweile seit einer knappen Stunde gebannt an ihren Lippen hing. »Ihr versteht jetzt auch, warum die Flensburger mich so nennen, oder? Partout?« Anni zwinkerte der Gruppe zu und wartete, ob der Groschen von allein fiel. Als niemand darauf kam, löste sie nach einer kurzen Weile dann doch auf. »Böse Zungen behaupten, wenn wir, also feine Damen wie ich, Partout sagen, klingt es immer ein wenig nach Petuh. Daher nennen sie uns Petuhtanten.«

Jetzt lachten alle, während Anni in die Hände klatschte und irgendetwas von »Frau Szörensen und szies neue Hut« erzählte. »Ohaueha watt’n Aggewars, bis wir diesen ollen Federhut endlich wieder auf ihrem Kopf hatten …«

»Ein Agge-was?«, fragte die stämmigere der beiden Golden Girls und trat einen Schritt näher.

Anni nickte und grinste, als habe sie nur auf diese Frage gewartet. Spätestens an dieser Stelle hakten alle Touristen nach. »Ag-ge-wars«, wiederholte sie noch einmal betont, nur um dann die deutsche Übersetzung ihres Petuhschnacks gleich mit einem erneuten Augenzwinkern mitzuliefern. »Stress.«

Jetzt nickte die ältere Dame ebenfalls und schmunzelte, während eines der beiden Mädchen ihrer Mutter in die Seite kniff, mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Anni zeigte und flüsterte: »Warum redet die so komisch?«

»Komisch?« Anni tat gespielt entsetzt. Jetzt war sie vollkommen in ihrem Element. »Dat kann ok nur n Buten-Flensburger sagen.«

Wieder lachten alle, außer dem kleinen Mädchen, das ihr Gesicht beschämt gegen die Hüfte ihrer Mutter presste. Das hatte Anni nun nicht beabsichtigt.

»Na, na, kleines Fräulein, das muss dir nicht peinlich sein«, beschwichtigte Anni postwendend im schönsten Petuhtanten-Deutsch und zauberte aus der Tasche, die sie am Handgelenk trug, einen Lolli hervor, den sie der Kleinen überreichte. »Wir Flensburger schnacken manches Mal schon ein wenig merkwürdig. Da muss ich dir zustimmen.« Sie zwinkerte dem Mädchen zu und richtete sich wieder auf.

»Das nennt man Petuh. Und das gibt’s nur bei uns in Flensburg.« Anni spannte ihren Regenschirm auf, als die ersten Tropfen auf ihre Nasenspitze fielen. Die anderen taten es ihr nach, hüllten sich entweder in ihre Regenjacken oder drängten sich unter ihren Schirmen zusammen.

»Mistwetter«, schimpfte der alte Mann mit dem riesigen Labrador, der laut zu bellen begann, als wolle er seinem Herrchen zustimmen. »Und das Petuh kommt also von den feinen Damen damals?«

Anni nickte dieses Mal so heftig, dass die dunkelblauen Federn auf ihrem Hut zu wippen begannen. »Ganz genau. Feine Damen, wie ich eine bin.« Sie stupste ihn von der Seite an und lächelte.

»Das glaub ich gerne«, murmelte der Mann und verkniff sich ein Lächeln. »Aber wo kommt diese Sprache her?«

»Das Flensburger Deutsch hat Einschläge aus Plattdeutsch und dänischer Syntax. Es ist eine bunte Mischung aus den Sprachen und Dialekten, die hier im Laufe der Jahrhunderte gesprochen wurden – und auch immer noch gesprochen werden. Dänisch, Deutsch, Plattdeutsch, Sønderjysk, Friesisch –  eine Art Deutsch mit dänischer Satzstellung«, erklärte sie, so wie sie es immer auf ihren Stadtführungen machte.

Damals, als sie mit den Führungen begonnen hatte, musste sie sich erst daran gewöhnen, Petuh zu sprechen – oder vielmehr zu schnacken. Als Flensburgerin war sie es natürlich gewohnt, das eine oder andere Petuh-Wort zu benutzen, ohne großartig darüber nachzudenken – schließlich gehörten Wörter wie Feudel (Bodenwischtuch) und Froster (Gefrierschrank) hier zum sprachlichen Alltag. Auch war es in Flensburg vollkommen normal, dass man, wenn einen jemand fragte, was er am Abend vorhatte, antwortete: »Ich soll tanzen gehen.« Woraufhin Leute, die nicht aus Flensburg kamen, meist ganz entsetzt fragten: »Warum sollst du denn?«

Sollen hatte in Flensburg eine ganz andere Bedeutung als im Rest der Republik. Denn wer in Flensburg etwas sollte, tat dies durchaus aus freien Stücken und nicht etwa, weil er dazu gezwungen wurde. Wieder etwas, was die Flensburger vom Dänischen übernommen hatten.

»Faszinierend«, murmelte der alte Mann unter seinem Regenschirm, während sich die Gruppe erneut in Bewegung setzte.

Sie gingen vorbei am Flensburger Schifffahrtsmuseum, vor dem eine riesige rote Boje vom Boden schräg-steil in die Luft ragte, warfen einen Blick auf den gegenüberliegenden Museumshafen mit seinen historischen Segelschiffen und dem Bohlwerk, auf dem früher eifrig Handel betrieben wurde, bevor sie sich über Flensburgs einstige »Sündige Meile«, den Oluf-Samson-Gang, auf den Rückweg machten.

»Früher gingen hier Seefahrer und Geschäftsleute ein und aus, um sich mit den Damen einen netten Abend zu machen. Es war quasi die Reeperbahn von Flensburg …«

»Also ein Puff!«, quiekte eine der beiden älteren Damen vergnügt. Erst jetzt bemerkte Anni, dass sie sich eine Regenhaube über das weiß-violette Haar gestülpt hatte. Das ergab durchaus Sinn, denn die dünne, geblümte Regenjacke, die sie trug, besaß aus irgendeinem Grund, den Anni nicht nachvollziehen konnte, keine Kapuze.

Anni seufzte und zeigte mit dem Kopf in Richtung der beiden Kinder, die mit ihren Gummistiefeln in eine tiefe Pfütze sprangen und ganz offensichtlich, zum Glück, nicht mitbekommen hatten, wovon die Erwachsenen gerade sprachen. Die ältere Dame hielt sich entschuldigend die Hand vor den Mund und nickte verständnisvoll.

»Es war eine Vergnügungsmeile für Erwachsene, vorwiegend Seeleute, die nach ihren langen Reisen endlich wieder an Land kamen, ganz genau«, betonte Anni daraufhin nochmal und zwinkerte der Frau zu. »Aber heute sind diese kleinen, teils sehr schiefen Häuser von Familien bewohnt oder dienen als Ferienwohnungen. Ist das nicht fantastisch?«

»Eine zauberhafte, kleine Straße. Auch wenn das Pflaster verdammt holprig ist. Man merkt, wie alt das alles hier ist, und spürt die Geschichte dieses Ortes förmlich.« Die zierlichere der beiden Golden Girls trat an Anni heran und geriet auf der unebenen, rutschigen Kopfsteinpflastergasse prompt ins Stolpern. Reflexartig schoss Annis Arm nach vorne. Sie schaffte es gerade noch, die Seniorin aufzufangen, bevor sie vollends ihr Gleichgewicht verlor.

Die alte Dame taumelte kurz und schnaufte ein, zwei Mal kräftig durch, während sich ihre Finger fest in Annis Arm krallten. Es kostete Anni einiges an Mühe, nicht selbst ebenfalls ins Straucheln zu geraten, und sie versuchte, das Ungleichgewicht mit ihrem Regenschirm in der anderen Hand auszubalancieren. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass in einer solch kleinen, ja, beinahe mageren Person so viel Kraft steckte. Es dauerte einen Moment, bis die alte Frau sich von ihrem Beinahesturz gefangen hatte.

»Helga, wat machst du denn da?« Golden Girl Nummer zwei, die lange in ein Gespräch mit dem Hundebesitzer vertieft gewesen war, kam zu ihr nach vorne geeilt, wobei sie penibel darauf achtete, nicht ebenfalls ins Rutschen zu geraten, und umfasste den anderen Arm ihrer Freundin. »Immer schön vorsichtig, das hab ich dir doch gesagt.« Resolut klemmte sie sich Helgas Arm unter ihre Achsel und stand schließlich wie ein Fels in der Brandung neben den beiden.

»Sie hat erst vor Kurzem eine neue Hüfte bekommen. Ich hab ihr noch gesagt, dass diese Lauferei hier vielleicht zu viel für sie wird, aber …«, flüsterte sie über Helgas Kopf hinweg, was ihrer Freundin gar nicht zu gefallen schien.

»Zu deiner Information: Ich kann dich hören, Edda«, murmelte Helga, vielleicht sogar ein wenig eingeschnappt, richtete sich auf und straffte die knochigen Schultern. »Es liegt nicht an meiner Hüfte, dass ich gestolpert bin, sondern an diesem Pflasterstein dort.« Sie zeigte auf einen Stein hinter sich, der deutlich höher lag als die anderen gepflasterten Steine um ihn herum.

»Tz, als ob«, machte Edda und verzog das Gesicht. Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass Helga ihr Paroli bot.

Anni versuchte, die angespannte Situation zwischen den beiden zu entschärfen. »Es ist ja alles nochmal gut gegangen«, beschwichtigte sie und ließ Helga los. »Diese Steine sind wirklich kleine Stolperfallen. Und bei dem Regenwetter kann das schon mal passieren.« Sie lächelte Helga aufmunternd zu, die ihrerseits Annis Antwort nutzte und Edda einen dieser Na-siehst-du-Blicke zuwarf, der sich gewaschen hatte.

Edda rümpfte daraufhin die Nase, zuckte kurz mit den Schultern und sagte für die nächsten zehn Minuten keinen Ton mehr.

Sie marschierten durch die Norderstraße, bewunderten die baumelnden Schuhe, die zwischen den Häuserreihen über Wäscheleinen hingen, und hielten am Nordermarkt. Wo sich auch Edda wieder zu Wort meldete.

»Eine sehr schöne Stadt«, murmelte sie so leise vor sich hin, dass Anni sie erst gar nicht richtig verstand.

»Bitte?«, fragte sie daher höflich, legte ihren Regenschirm leicht schräg und wandte sich Edda zu.

»Eine schöne Stadt ist das hier, in der Sie leben«, wiederholte Edda und lächelte. Ihre schlechte Laune schien sich, zum Glück, in Luft aufgelöst zu haben.

»Und wenn das Wetter mitspielt, ist sie gleich noch schöner.« Anni lachte, erklärte kurz etwas über den Brunnen, auf dessen mittiger Säule eine kleine Neptunfigur mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und einem Dreizack in der Hand stand. »Dieser Brunnen ist etwas ganz Besonderes, denn, man mag es kaum glauben, einmal im Jahr wird er zu einer Art Swimmingpool, und das, obwohl der Hafen nur einen Steinwurf entfernt liegt.« Anni zeigte die Schiffbrückstraße hinunter, an deren Ende man die Hafenspitze und ein paar Segelboote sehen konnte.

»Darin kann man doch nicht baden«, meinte der Familienvater, der schon gleich zu Beginn der Stadtführung seine Flyer eingepackt und Anni die ganze Zeit über aufmerksam zugehört hatte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Rand des Brunnens zu sehen. Beim Blick auf das dunkle, vielleicht dreißig Zentimeter tiefe Wasser, das sich darin befand, kratzte er sich am Hinterkopf und legte die Stirn in Falten.

»Oh, erzählen Sie das mal unseren dänischen Abiturienten.« Anni stellte sich auf eine der Stufen des Brunnens. »Traditionell feiern die Abiturienten der Duborg Skolen, des dänischen Gymnasiums hier in Flensburg, in diesem Brunnen ihren Schulabschluss. Nachdem sie ihren Hut aufgesetzt bekommen haben, gehen alle hier runter in die Stadt und springen in den Brunnen. Das ist vielleicht ein Spektakel, sag ich Ihnen.« Anni lachte und drehte sich zum Brunnen. Sie legte die Hand auf den Rand und strich darüber.

»Ich bin damals auch in diesen Brunnen geklettert. In weißen Klamotten und mit einem rot-weißen Studentenhut auf dem Kopf. Und das Wasser war so kalt. Aber es hat verdammt viel Spaß gemacht.« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund und drehte sich zu ihrer Gruppe um. »Ohauaha, jetzt hab ich aber geflucht. Und eine feine Dame flucht ja nicht. Ssie müssen das entschuldigen.« Sie schenkte allen ein aufrichtiges Lächeln, das die Gruppenteilnehmer erwiderten, und zuckte mit den Schultern. Dann warf sie einen kritischen Blick in Richtung der dunklen Wolken am Himmel, die sich heute wahrscheinlich nicht mehr verziehen würden. »Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam ein Bier trinken gehen?« Sie sah in die Runde, woraufhin die Männer eifrig zu nicken begannen. »Oder eine Limonade?« Jetzt nickten auch die Kinder, und alle schienen glücklich. »Perfekt. Dann folgen Sie mir.« Anni stieg von der Stufe des Brunnens herab, raffte ihren Rock und ging voran.

Auf Höhe des Neptunhofs blieb sie noch einmal stehen. »Einen wunderschönen Hof hab ich noch für Sie, und zwar einen ganz besonderen. Kommen Sie mit«, sagte sie und trat durch eine hohe, dunkelgrüne Tür, die bereits zur Hälfte geöffnet war.

Endlich war es trocken. Wenn auch nur für einen Moment. Der Weg in den Hof ging nämlich direkt durch das große, dreigeschossige Kaufmannshaus Hansen mit roter Klinkerfassade hindurch und führte vorbei an mehreren Schaufenstern.

»Reizend«, jauchzte Helga, als sie als eine der Ersten den Gang durchquert hatte und nun – wenn auch immer noch mitten im Regen – in dem malerischen Kaufmannshof stand. »Und diese kleinen Boutiquen. Edda, schau mal, hier müssen wir morgen unbedingt noch einmal hin, wenn alles geöffnet hat.« Sie sah sich suchend nach Edda um, die zwar ein wenig abseits von ihr stand, ihrer Freundin aber liebevoll zulächelte.

»Machen wir, Helga, versprochen.« Sie sah in eines der beleuchteten Schaufenster, in dem es Marken-Secondhand-Mode gab. »Das machen wir auf jeden Fall. Schau mal, was für tolle Sachen sie in diesem Laden haben.«

Anni musste zugeben, dass es sie beruhigte, dass Helga und Edda ihre zwischenzeitige Eiszeit beendet hatten. Es war ihr ungemein wichtig, dass die Harmonie in der Gruppe, die sie durch die Stadt führte, stimmte. Die Teilnehmenden sollte in den knapp zwei Stunden, die sie miteinander verbrachten, eine tolle Zeit haben. Sie sollten in eine andere Welt eintauchen, den Alltag hinter sich lassen und die Stadtführung genießen. Und miese Stimmung, sei es auch nur von einer Person, konnte das Erlebnis für alle trüben.

Anni lächelte und erzählte ein wenig über den Neptunhof und das Kaufmannshaus Hansen, wer es gebaut und wem es gehört hatte, als plötzlich …

»Verzieh dich, Jebsen!«

Eine dunkle, viel zu laute Stimme, die von den hohen Hauswänden widerhallte, erlangte die Aufmerksamkeit der Gruppe.

Anni drehte sich um und erblickte am Rand einer Kellertreppe zwei Männer, die in einen heftigen Streit verwickelt waren und von der Gruppe gar keine Notiz zu nehmen schienen. Denn der eine, der dem Baulöwen und Investor Blumberg ähnelte – sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können –, hatte den anderen, Jebsen, gerade leicht gegen die Schulter geschubst. Ohauaha!

Anni machte zwei, drei Schritte auf die beiden Männer zu und hielt ihren Regenschirm ein wenig schräg, um die beiden Streithähne besser erkennen zu können.

Blumberg, der Lautere von beiden, trug eine weiße Jeans, Segelschuhe und ein hellblaues Hemd, das er sich um den runden Bauch herum in die Hose gesteckt hatte. Seine Haare leuchteten in einem viel zu gelben Trump-Blond. Jetzt schubste er den anderen Mann, Erik Jebsen, den Besitzer der hiesigen Brauerei, erneut nach hinten. Dieser verlor das Gleichgewicht, es machte Plumps, und er landete auf dem beigen Hosenboden.

»Michael, lass uns doch über alles reden. In Ruhe und vernünftig«, antwortete Erik, während er sich mühsam wieder auf die Beine kämpfte und sich den Dreck von seiner hellen Jeans klopfte.

»Tz, reden. Findest du nicht, wir haben genug geredet? Jetzt müssen endlich Taten folgen. Beweise, dass ein Mann und kein Waschlappen in dir steckt!« Michael Blumberg, einer der Unternehmer, die Flensburg in den vergangenen Jahren im Sturm erobert und nahezu alles an Immobilien aufgekauft hatten, was sie in die Finger bekommen konnten, stemmte die Hände in die Hüften und tat so, als würde ihm die Welt gehören.

Anni mochte ihn nicht. In ihren Augen war er nichts weiter als ein mit Goldketten behangener Angeber. Schade nur, dass es nicht alle so sahen. Sein Ruf in der Fördestadt war gut. Wahrscheinlich, weil er so viel investierte, was wiederum Arbeitsplätze in der ansonsten wirtschaftlich so gebeutelten Region schuf.

»Aber Michael«, machte Erik Jebsen einen weiteren Versuch, der von seinem Gegenüber jedoch sofort im Keim erstickt wurde.

Anni hörte, wie die Gruppe hinter ihr zu tuscheln begann, und seufzte. So gerne sie den beiden auch noch zugehört hätte – denn der Streit der beiden Männer hatte Anni neugierig gemacht –, so klar erkannte sie auch, dass es sie definitiv nichts anging, worüber sich Jebsen und Blumberg unterhielten. Vielmehr sollte sie sich um ihre Gruppe kümmern, mit ihnen ein Bier trinken gehen und ihren Job zu Ende bringen.

»Ich hab dir alles dazu gesagt, Erik. Und jetzt lass mich in Ruhe. Bevor du deine Meinung nicht geändert hast, brauchst du bei mir nicht mehr anzukommen.« Michael Blumberg drehte sich um und verschwand in dem Keller, aus dem er vor wenigen Minuten gekommen war. Erik Jebsen folgte ihm. Dann fiel krachend die Tür ins Schloss. Im Hof war es still. Nur der Regen, der sich in den Regenrinnen sammelte und durch die Fallrohre in Richtung Kanalisation rauschte, war noch zu hören.

»Na, die beiden werden wohl keine Freunde mehr, was?« Edda trat an Annis Seite und schaute in die Richtung des Kellers, in dem Jebsen und Blumberg verschwunden waren.

Anni nickte. »Sieht ganz danach aus.« Sie zuckte mit den Schultern, lächelte Edda an und drehte sich zur Gruppe um, die sich großteils bereits in den überdachten Eingang des Hofes zurückgezogen hatte. »Also gut, wer von Ihnen hat noch Durst?«

Alle streckten eine Hand nach oben. »Und Hunger hab ich auch«, sagte der Familienvater und rieb sich mit der Hand über seinen Bauch.

»Und wir erst«, stimmten seine Kinder ihm zu, während ihre Mutter Anni beinahe flehend ansah. Ob sie auf Erlösung hoffte?

Anni lachte. Am Ende einer Führung war es meist immer das Gleiche: Sosehr jeder von ihnen die Führung auch genossen hatten, alle sehnten sich nach einer kühlen Erfrischung und leckerem Essen.

»Das trifft sich gut, denn das Lokal, das ich mir für unseren Abschluss ausgesucht habe, hat eine hervorragende Küche. Also, los geht’s.« Sie klatschte ein weiteres Mal in die Hände und marschierte voran in Richtung Hafen.

Kapitel 2

Szo schön und szehen Szie

»Dat lütte Brauhuus« war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Anni und ihre buntgemischte Truppe wenig später dort eintrafen. Glücklicherweise hatte sie vorgesorgt, wie immer, wenn sie eine Stadtführung hatte, und einen Tisch reserviert. Ansonsten hätten sie gleich wieder umkehren können.

»Ist das urig hier«, raunte Edda und sah sich um, während sie sich neben Anni an den vollbesetzten Tischen und Bänken vorbeischob. Zwischendurch blieb sie vor einer der unzähligen Schwarz-Weiß-Fotografien stehen, die den rechten Teil des Lokals zierten. Sie zeigten berühmte Persönlichkeiten, die im Laufe der Jahre dem Brauhaus einen Besuch abgestattet hatten.

Eine Fotografie betrachtete sie etwas länger, kniff die Augen zusammen und trat noch näher an die Wand heran, als wolle sie bis ins kleinste Detail erkennen, was auf dem Foto zu sehen war. »Ist das Beate Uhse?« Sie schaute zu Anni, die ihr zulächelte und nickte.

»Ja, das ist sie.«

»Wir Frauen haben ihr viel zu verdanken. Sie muss eine tolle Frau gewesen sein. Unfassbar mutig, wenn man bedenkt, in was für einer Zeit sie groß geworden ist.« Eddas Stimme war voller Bewunderung.

Anni konnte Edda gut verstehen. Sie selbst hatte kaum Erinnerungen an die Flensburger Erotik-Ikone, die die Stadt bundesweit bekannt gemacht hatte. Als Beate Rothermund, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, starb, war Anni erst ein Schulkind gewesen. Das Einzige, das sich ihr ins Gedächtnis gebrannt hatte, waren die traurigen Gesichter der Menschen, als sie von ihrem Tod erfahren hatten.

»Edda, schau mal!«, rief Helga und zeigte aufgeregt auf ein weiteres Bild an der Wand. »Das sind doch die Klitschkos, oder?«

Edda löste sich von Beate Uhses Foto und eilte zu ihrer Freundin. »Ja, das sind sie. Was machen die denn hier?«

Anni stellte sich zu den beiden und wartete, bis der Rest der Gruppe sich dazugesellte. »Die Klitschkos«, begann sie schließlich, »haben hier in Flensburg ganz am Anfang ihrer Karriere geboxt.«

»Ach, das ist ja interessant.« Der Familienvater schob sich nun in den Vordergrund und betrachtete die Fotografie an der Wand aufmerksam. »Toll, was man von Ihnen für Infos bekommt. Flensburg scheint doch nicht so langweilig zu sein, wie einige angenommen haben.« Er lächelte zunächst Anni zu, woraufhin auch alle anderen zustimmend nickten, und drehte sich dann mit einem breiten Grinsen zu seiner Frau, die daraufhin eine Grimasse zog.

»Das ist der Vorteil, wenn man eine Petuhtante ist. Ich hab meine Ohren und Augen überall.« Anni zwinkerte ihm und der Gruppe zu, die daraufhin zu lachen begann. »Wie wäre es mit einer Fahrt mit der Straßenbahn?«

Wieder schaute sie in gespannte Gesichter.

»Ich dachte, wir wollten etwas essen und trinken.« Eines der Kinder drängte sich dicht an seine Mutter und schniefte leise.

»Das werden wir auch, aber ich habe für uns einen Tisch in einem der letzten Straßenbahn-Waggons reserviert, die es in Flensburg gibt.« Anni streckte den Kopf über die Gruppe hinweg und zeigte in Richtung des hinteren Teils des Lokals, in dem tatsächlich ein Waggon der Straßenbahn stand. Linie 1, stand groß vorne an dem rot-weißen Waggon.

»Ist ja der Wahnsinn!« Das junge Pärchen, das sich die ganze Führung über zurückgehalten hatte und mehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, meldete sich zu Wort. »Das haben wir ja noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht.« Der Familienvater stellte sich daneben und schaute vorsichtig in den Waggon. »Bitte sagen Sie uns, dass wir den Tisch dort hinten im Rondell haben.« Er zeigte auf einen runden Tisch im hinteren Teil des Waggons.

Anni nickte, schob sich an ihm vorbei und trat auf die erste Stufe des Einstiegs. »Folgen Sie mir.«

Es zeigte sich, dass die beiden Mädchen einen riesigen Spaß daran hatten, den Straßenbahnwaggon zu erkunden. Sie hüpften im Fahrerstand herum, drückten Knöpfe, taten, als würden sie Fahrkarten kontrollieren, und waren so sehr mit dem Spiel und sich selbst beschäftigt, dass sie beinahe vergaßen, ihre Bratwürstchen zu essen, hätte ihre Mutter sie nicht rechtzeitig zum Essen gerufen.

»Das ist das Beste an der ganzen Führung«, jauchzte die Größere der beiden mit vollem Mund und lächelte zufrieden.

»Psst«, machte die Mutter und warf Anni einen entschuldigenden Blick zu.

»Ach, ist schon gut. Wäre ich Kind, wäre dies auch mein persönliches Highlight gewesen.« Anni winkte ab und nippte an ihrem Bier, das herrlich erfrischend auf ihrer Zunge prickelte. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sie war müde, und ihre Armmuskeln schmerzten vom Herausreißen der Thujas am Nachmittag. Trotzdem war sie zufrieden, denn die Führung heute Abend hätte auch schlimmer verlaufen können. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Helga vorhin gestürzt und sich verletzt hätte! Doch alles war gerade nochmal gut gegangen.

Helga und Edda saßen auf der anderen Seite des runden Tisches ihr schräg gegenüber und schnackten angeregt mit dem älteren Mann, dessen Hund nun unter dem Tisch ein Nickerchen hielt. Das verliebte Paar hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt, und Anni war sich ziemlich sicher, dass sie nicht mehr allzu lange hier verweilen würden. Sie machten den Eindruck, als könnten sie es gar nicht abwarten, wieder für sich allein zu sein. Immer wieder warfen sie sich verschwörerische Blicke zu, als schienen sie nur darauf zu warten, dass Anni die Veranstaltung auflöste.

Sie tat ihnen den Gefallen, nachdem auch der Familienvater den letzten Knochen seines halben Hähnchens, das er sich bestellt hatte, abgeknabbert und zurück auf den Teller gelegt hatte.

Anni räusperte sich und erhielt sofort die Aufmerksamkeit ihrer Gruppe. »Nun, da wir alle satt sind, möchte ich mich bei Ihnen für den schönen Abend bedanken. Es war mir eine große Freude, Ihnen ein wenig von meiner Heimatstadt zu zeigen und Ihnen zu erzählen, wie wir hier so leben bzw. gelebt haben.«

»Oh, wir bedanken uns bei Ihnen, Anni. Es hat sehr viel Spaß gemacht. Wir werden Sie auf jeden Fall weiterempfehlen.« Edda klatschte in die Hände, während die anderen Gruppenteilnehmer anerkennend auf das dunkle Holz der Tischplatte klopften.

Anni legte den Kopf schräg und lächelte leicht verlegen. Natürlich freute sie sich über das Lob, dennoch war es ihr irgendwie ein wenig unangenehm. Sie machte doch nur ihren Job. »Danke.« Sie legte die Hand auf die Brust und beugte sich leicht nach vorne. »Es hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht. Aber ich werde mich jetzt verabschieden. Eine Petuhtante, wie ich es bin, braucht ihren Schlaf.«

Anni rutschte ans Ende der halbrunden Bank, die um den Tisch herumgebaut war, und stand auf. »Kommen Sie alle gut nach Hause, und haben Sie noch ein paar schöne Tage hier bei uns in Flensburg.« Sie lächelte ein weiteres Mal, dieses Mal weniger verlegen, und klopfte zum Abschied auf den Tisch. Dann drehte sie sich um und ging.

*

Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Endlich. Die Luft war zwar immer noch feucht, dafür war es aber deutlich abgekühlt, was auch daran lag, dass der Wind gedreht und aufgefrischt hatte. Eine leichte Brise wehte vom Hafen zu ihr herüber und streifte über ihren Nacken. Sie schloss die Augen, atmete die salzige Meeresluft ein und genoss die Ruhe, die sie umgab. Lediglich ein paar Möwen zogen kreischend über ihren Kopf hinweg, doch Anni ignorierte sie. Es tat so gut, einfach mal nicht reden zu müssen.

Eine Weile blieb sie so stehen, dann öffnete sie die Augen wieder und ging ein paar Schritte in Richtung Hafenkante. Auf einer frei gewordenen Parkbank setzte sie sich und raffte den langen Rock bis kurz unters Knie, sodass ihre langen Beine zum Vorschein kamen. Sie streckte sie weit von sich und war für einen Moment versucht, sich ihre Ballerinas abzustreifen, doch sie blieb standhaft. Stattdessen machte sie sich anderweitig Luft. Sie griff nach oben, zog zwei Hutnadeln aus ihrem Haar, nahm den Hut ab und legte ihn zusammen mit ihren Handschuhen neben sich auf die Bank. Hinter ihr hupten zwei Autos, von der anderen Seite des Hafens hallte das Martinshorn eines Rettungswagens, dessen blinkende Blaulichter sich auf der Wasseroberfläche spiegelten, zu ihr herüber.

Hier, inmitten dieser modernen, städtischen Kulisse, umgeben von Menschen mit Handys vor der Nase, iPods in den Ohren und hupenden Autos, sah sie wahrhaftig aus, als sei sie einer anderen Zeit entsprungen.

Sie schmunzelte. Wer hätte gedacht, dass sie in dieser Rolle mal so aufgehen würde?

Nachdem sie ihr Studium abgebrochen und aus Kiel zurück nach Flensburg gezogen war, hatte sie Geld verdienen müssen. Das wenige Bafög, das sie bekommen hatte, war ihr schneller wieder entzogen worden, als sie gucken konnte. Und auf die Unterstützung ihrer Eltern konnte sie nicht bauen – weder damals noch heute. Daher hatte sie sich darauf konzentriert, das zu machen, worin sie schon immer gut gewesen war: Schauspielerei, wenn auch im weitesten Sinne.

»Eine brotlose Kunst«, wie ihr Vater, ein erfolgreicher Chirurg, ihr in ihrer Jugend immer und immer wieder eingebläut hatte.

Trotzdem hatte es Anni nicht davon abgehalten, wenn auch heimlich, eine kleine Theaterschule im Stadtteil Mürwik zu besuchen. Dort hatte sie sich immer wohlgefühlt. Es war ein Ort gewesen, an dem sie ganz sie selbst hatte sein können. Was paradox klang, wenn man bedachte, dass die Schauspielerei darin bestand, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Doch dort in der kleinen Theaterschule hatte man keine Erwartungen an sie gehabt. Es war ein Ort, an dem ihre Zukunft noch nicht vorherbestimmt war und ihr alle Türen offenstanden. Zumindest hatte sie das damals so empfunden. Es war ein befreiendes Gefühl gewesen, der Last der Erwartungen, die ihre Eltern stets in sie gesetzt hatten, entfliehen zu können. Wenn auch nur für eine begrenzte Zeit.

»Für die Tochter eines Professorenehepaares ziemt es sich nicht, auf einer Bühne nach Beifall zu betteln«, hatte ihr Vater gesagt, als sie eines Tages vom Schauspielkurs nach Hause gekommen war. Anschließend hatte er sie noch mehr als zuvor im Auge behalten. Und als sie ihr Abitur endlich in der Tasche hatte, hatten ihre Eltern sie gar nicht schnell genug auf die Uni schicken können.

Pharmazie … Es war nicht so, dass sie das nicht interessiert hätte. Im Gegenteil, sie war medizinischer Forschung gegenüber nicht abgeneigt, aber die Aussicht darauf, vier Jahre lang für unzählige Stunden in einem überfüllten Hörsaal sitzen zu müssen, hatte bei ihr einen Fluchtreflex ausgelöst, dem sie nach vier Semestern nur zu gerne nachgegeben hatte.

Es war womöglich unüberlegt und für ihre Eltern definitiv ein Schock gewesen, aber es hatte sie hierher geführt …

Anni sah zur Seite, nahm ihren Hut in die Hand und ließ die Federn, die sich darauf befanden, zwischen ihre Finger gleiten.

Die Arbeit als Stadtführerin in Flensburg war nicht ihr Traumjob gewesen. Und hätte sie nach ihrer Rückkehr eine Wahl gehabt, würde sie bestimmt nicht einen Großteil des Tages damit zubringen, in historischen Gewändern Touristen durch die Fördestadt zu führen. Doch nachdem ihre Eltern ihr auf ihre gewohnt uncharmante Art mitgeteilt hatten, wie enttäuscht sie von ihrer Tochter waren und dass sie keinerlei finanzielle Unterstützung von ihnen erwarten könnte, hatte für Anni der Knüppel quasi beim Hund gelegen.