Zonenkinder - Jana Hensel - E-Book

Zonenkinder E-Book

Jana Hensel

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Beschreibung

«Ein Bericht aus einem Land, fremder als der Mond.» (Elke Heidenreich) Jana Hensel war dreizehn, als die Mauer fiel. Von einem Tag auf den anderen war ihre Kindheit zu Ende. Die vertrauten Dinge des DDR-Alltags verschwanden gleichsam über Nacht – plötzlich war überall Westen, die Grenze offen, die Geschichte auch. Eine ganze Generation machte sich daran, das veränderte Land neu zu erkunden. Jana Hensel erzählt von ihrem Leben in der Schwebe zwischen Ost und West. «Jana Hensel hat der ersten gesamtdeutschen Generation schon jetzt ein kleines Denkmal gesetzt – mit sprachlicher Lakonie, Leichtigkeit und einer Transparenz, die leuchtet.» (Der Spiegel) «Eine Kindheit vor dem Verschwinden zu retten und somit das kollektive Gedächtnis der ‹Wendekinder› zu archivieren, das ist die große Leistung dieses Buches. Eindringlich und poetisch, mit kühlem Kopf und warmem Herzen geschrieben.» (Emma) «Das Buch schafft etwas, was zum Überwinden eines großen Missverständnisses der deutschen Einheit beitragen könnte.» (Angela Merkel)

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Seitenzahl: 160

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Jana Hensel

Zonenkinder

Inhaltsverzeichnis

1. Das schöne warme Wir-Gefühl

Über unsere Kindheit

2. Sonnenuntergang im Mauerpark

Über die Heimat, die schöne

3. Die hässlichen Jahre

Über den guten Geschmack

4. Schulter an Schulter, Zahn um Zahn

Über unsere Eltern

5. Ja, das geloben wir!

Über unsere Erziehung

6. Die Welt als Alltag

Über Liebe und Freundschaft

7. Mach mit, mach’s nach, mach’s besser!

Über Körperkultur und Sport

8. Go West!

Über unsere Zukunft

Glossar

Bildnachweis

Dank

meiner Mutter, meiner Schwester

Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten.

Wir fanden uns ganz schön bedeutend.

Die Sterne

1.Das schöne warme Wir-Gefühl

Über unsere Kindheit

Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Haus. Es war bereits dunkel, man sah den Atem vor dem Gesicht, Nieselregen fiel vom Himmel. Ich musste hohe Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemand wollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straßenbahn, den wir immer liefen, um in die Leipziger Innenstadt zu kommen, mussten wir über ein Bahngelände, und ich weiß nicht mehr, ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatsächlich keinem Menschen begegnet sind und ob ich damals schon dachte, dass der Regen, den man nur im gelben Licht der Laternen erkennen konnte, sehr schön aussah, wie er da so ruhig und gleichmäßig vor sich hin fiel.

In der alten Straßenbahn, deren Türen man mit der Hand aufziehen musste und die sich nie richtig schließen ließen, sodass der Wind eiskalt hereinpfiff, während man sich auf den beheizten Ledersitzen den Hintern verbrannte, waren alle Leute so komisch dick angezogen, als gäbe es an diesem Abend ein Fußballspiel oder ein Feuerwerk. Ein paar Frauen hatten Ohrenschützer, die man seit kurzem auch in unseren Läden kaufen konnte, über den Kopf gezogen, andere selbst gestrickte Stulpen an den Füßen, und seltsamerweise hatte niemand eine Tasche bei sich. Als nach einigen Stationen der Fahrer die vorderste Tür des Wagens aufzog und rief, dass die Bahn jetzt hier halten und nicht mehr weiterfahren würde, stiegen alle aus und liefen, ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte, weiter in die Innenstadt, so als hätten heute Abend alle dasselbe Ziel.

Später, am Ziel, das mir immer noch niemand wirklich nennen konnte, waren viele Leute dicht zusammengedrängt und strebten zur Nikolaikirche und vor die Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate ausmachen konnte und dass sich alle, als gäbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den Ring entlangzogen und dass das der Anfang vom Ende war, das kennt man aus dem Fernsehen. Ich weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah. Fest eingeprägt allerdings habe ich mir – und das weiß ich vielleicht deshalb noch, weil ich es nie jemandem erzählt habe–, dass ich den Studenten, der ziemlich lange neben mir lief, gern an der Hand gefasst hätte und die Soldaten, die am Straßenrand auf uns aufpassen mussten, gern gefragt hätte, ob sie nicht mit zu uns rüberkommen wollten, wir seien doch viel mehr als sie.

Stattdessen lief ich brav zwischen dem Studenten und meiner Mutter den Ring entlang und dachte wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mit dem Land, das immer meine Heimat gewesen war, gerade etwas geschah, von dem ich gar nicht wusste, was es war, und dass gewiss kein Erwachsener mir erklären konnte, wohin es führen würde. Hätte der Student neben mir gesagt: Dies hier sei erst der Anfang, künftig würden von Montag zu Montag mehr Leute auf den Straßen zu finden sein, und all das würde dazu führen, dass die Mauer fallen und unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen werde, sodass nichts mehr von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn bestimmt verwundert angeschaut und im Stillen bei mir gedacht, unser Land könne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es das schaffen.

Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht leicht, uns an diese Märchenzeit zu erinnern, denn lange wollten wir sie vergessen, wünschten uns nichts sehnlicher, als dass sie so schnell wie möglich verschwinden würde. Es war, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zu trennen. Eines Tages schlossen sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich war sie weg, die alte Zeit.

Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit, und auf einmal, wo wir erwachsen sind und es beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die verlorenen Erinnerungen. Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden.

Als nach dem Mauerfall zuerst die Bilder von Erich Honecker und Wladimir Iljitsch Lenin aus den Klassenzimmern verschwanden, gab es lange kein anderes Gesprächsthema. Tagein, tagaus hatten wir die Männer angeguckt wie das Testbild im Fernsehen, doch erst als sie nicht mehr da waren, fielen sie uns plötzlich auf. Wann der Milchdienst ging, wann jeder seine Milchtüte allein beim Hausmeister kaufen und nicht wie früher den ganzen Monat im Voraus bezahlen musste, weil das marktwirtschaftlich betrachtet uns Neukunden eher hätte abschrecken können, habe ich dann schon gar nicht mehr bemerkt. Ich weiß noch, dass es ein Ritterschlag gewesen war, wenn man es zum ersten Mal hinbekommen hatte, so in der zweiten oder dritten Klasse, den glibberigen, immer leicht stinkenden Beutel hinter dem Rücken der Lehrer lässig mit zwei Zähnen aufzureißen und direkt aus der Öffnung zu trinken, während die anderen noch ihren Kindergartenstrohhalm benutzen mussten.

Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. Nachdem die meisten Mitschüler es vorgezogen hatten, mit ihren Eltern in den Westen zu fahren, um das Begrüßungsgeld abzuholen, und bestenfalls noch die halbe Klasse in die Schule kam, hatten irgendwann auch die Lehrer die Nase voll und wollten endlich ihre 100DM abholen. Da musste man die Samstage gar nicht erst abschaffen; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden. Mittwochs um 16Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, der Milchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter und die Pionierleiterin auch.

Die Bedeutung der Zipfel des Halstuchs habe ich vergessen. Die drei roten Streifen an ihrem Ärmel lassen jedenfalls auf eine sehr hohe Amtsträgerin schließen.

Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nur aus Terminen bestanden hatte. Es passierte nicht mehr, dass wir morgens vor der ersten Stunde eine Exkursion, einen Feueralarm oder einen Fahnenappell auf dem Tagesplan vorfanden. Die Reihenuntersuchung hatte man abgeschafft, und geschlossen im Klassenverband, wie unsere Lehrer immer sagten, ging niemand mehr mit uns zum Zahnarzt in den Schulkeller. Er hatte seine Praxis mit den langen Turnbänken und den endlosen Kleiderhakenbrettern im Wartezimmer längst verlassen, und ich war ganz froh, dass ich nun die ständigen Bohrgeräusche nicht mehr hörte oder wegen der antiseptischen Gerüche mit zugehaltener Nase durch das Treppenhaus hetzen musste.

Niemand sagte uns, wohin man die schweren schwarzen Turnhallenboxen brachte, aus deren Lautsprechern frühmorgens olympische Hymnen verkündet hatten, dass der große Tag der Spartakiade gekommen war. Immer gegen sieben Uhr, die Sonne war noch gar nicht richtig aufgegangen und der Sportplatz ziemlich kalt, hatten wir in Reih und Glied gestanden und es kaum erwarten können, uns für die Stadtbezirksspartakiade im Schlagballweitwurf, im Dreisprung oder im 60-m-Lauf zu qualifizieren. Den Turnbeutel drückte ich da, wo die warme Teeflasche lag, ein bisschen fester gegen den Bauch, dachte an Heinz Florian Oertel, und die anderen schlugen ihre Hände kraftvoll gegen die Oberarme, so wie sie es bei den Friedensfahrern im Fernsehen gesehen hatten.

Nun war Leistungssport zum Schimpfwort geworden. Keiner von uns ging mehr nach der letzten Unterrichtsstunde zum Training. Das war gar nicht so schlecht, denn es hatte uns immer ein bisschen geärgert, dass das Training so früh begann und wir, nach der Schule gerade zu Hause angelangt, stets nur den ersten Teil von Unsere kleine Farm oder Fury gucken konnten, weil wir schon wieder losmussten. Ich kam auch nicht mehr abends nach sechs Uhr geschlaucht und fertig nach Hause, trank meine Flasche Milch nicht mehr im Stehen aus und erledigte nicht mehr allzu rasch meine Hausaufgaben. Das freute unsere Mütter, endlich hätten wir genug Zeit gehabt, Medizin nach Noten, Jockey Monika oder Das Krankenhaus am Rande der Stadt bis zum Schluss zu gucken. Aber die gab es ja auch nicht mehr.

Nach und nach waren die ABC-Zeitungen der Kleinen von den Schulhöfen verschwunden und damit nicht nur Rolli, Flitzi und Schnapp, sondern auch Manne Murmelauge, unser Freund mit Halstuch und Käppi, der uns auf der dritten Seite immer Tipps gab, wie wir den Timurtrupp besser organisierten, wie die Wandzeitung zur Woche der Waffenbrüderschaft noch besser würde und was die drei Zipfel des Halstuches zu bedeuten hatten. Er rief uns nicht mehr dazu auf, für den inhaftierten Nelson Mandela und die Sandinisten in Nikaragua Altpapier und leere Schnapsflaschen zu sammeln oder in der zweiten großen Pause einen Kuchenbasar im Eingangsbereich unserer Schule zu veranstalten. Am besten vor dem Zimmer des Direktors, an dem man vorbeimusste, wenn man auf den Hof wollte, und wo man die DDR-, die Pionier-, die FDJ- und die Fahne der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gut sehen konnte. Falls wir den Schulausscheid gewinnen sollten, würden wir vor der ganzen Schule einen Wimpel überreicht bekommen, und der nett aussehende, schwarze alte Mann würde aus dem Gefängnis freigelassen.

Ein klarer Vorteil allerdings war, dass Manne Murmelauge mich mit seinen Aufgaben nun nicht mehr in brenzlige Situationen bringen konnte: Natürlich hatte ich so oft wie möglich Altstoffe gesammelt, schließlich war es eine der wenigen Möglichkeiten gewesen, durch den SERO-Altstoffhandel – pro Kilo zahlte der ein paar Pfennige – das Taschengeld aufzubessern. Wenn ich nun aber immer mehr Zeitungen in die Schule tragen sollte und dort kein Geld dafür bekam, musste ich es schaffen, die doppelte oder dreifache Menge zu organisieren, um trotz des höheren Solls noch immer ausreichend Sekundärrohstoffe an die Annahmestellen verklingeln zu können. Leider waren die Reviere abgesteckt, und es konnte böse enden, klingelte man mit den Worten: «Guten Tag, wir sind Junge Pioniere und sammeln Flaschen und Altpapier» an Türen in jenen Straßen, durch die die Jungs aus der Siebten immer zogen. Heute ahne ich, warum Ronnys Mutter bei solchen Gelegenheiten den blauen Rollfix nie gern herausgab; heute weiß ich, dass derjenige, der unten allein vor dem Haus saß und aufpasste, auf ganz schön verlorenem Posten war, wenn die Jungs aus der Siebten von unserem unerlaubten Vorstoß Wind bekommen hatten und ihr Revier verteidigen wollten.

Korbine Früchtchen aus der FRÖSI ging nicht mehr mit mir in den Wald, um zu erzählen, welche Beeren wir essen durften und welche nicht. Sie erklärte uns nicht mehr, warum es für die Forstwirtschaftsbetriebe wichtig war, dass wir Kastanien und Eicheln sammelten, Heilkräuter im Schulgarten anbauten und auf diese Weise halfen, die Erträge zu steigern. Statt Otto & Alwin-Bildchen sammelten wir Überraschungseier, statt Puffreis aßen wir Popkorn, die ‹Bravo› ersetzte die ‹Trommel›, und statt an verregneten Sonntagnachmittagen Kastanienmännchen zu basteln, Bierdeckel zwischen die Speichen unserer Fahrräder zu montieren oder Mau-Mau zu spielen, saßen wir nun vor Monopoly oder lasen Mickymaus.

Überhaupt waren sie auf einmal verschwunden, diese ganzen pädagogischen Berufsgruppenspiele, die aus uns eine sozialistische Persönlichkeit machen sollten und mit denen wir uns in unseren Kinderzimmern als Konstrukteure, Ingenieure, Kosmonauten, Lehrer oder Verkehrshelfer auf eine ziemlich klare Zukunft vorbereitet hatten.

Ich sehe mich noch auf alten Fotos: Die Sanitasche schräg über den Bauch gehängt, die weiße Haube mit dem roten Kreuz auf dem Kopf und die Hand auf den Lenker meines grünen Rollers gelegt, schaue ich in die Kamera und wirke ein bisschen wie von der Kindereinsatztruppe der Polizei. Aber das ist mehr als zehn Jahre her. In dieser Zeit ist aus unserer Kindheit ein Museum geworden, das keinen Namen und keine Adresse hat und das zu eröffnen kaum noch jemanden interessiert. Gehe ich manchmal, nicht oft, allein und wie im Traum in den verdunkelten Räumen umher, treffe ich viele alte Bekannte und freue mich, sie wieder zu sehen. Im selben Augenblick aber bemerke ich, wie übel sie es uns genommen haben, dass wir uns damals so plötzlich von ihnen abwandten, ohne uns zu verabschieden, und je näher ich mit meinem Gesicht an die Vitrinen herangehe, desto weiter weichen sie zurück. Ein bisschen sehen sie unter dem Glas wie Tote aus, und auf einmal bin ich nicht mehr ganz sicher, ob sie jemals unsere Freunde und wir mit ihnen am Leben gewesen sind.

Die Kaufhalle hieß jetzt Supermarkt, Jugendherbergen wurden zu Schullandheimen, Nickis zu T-Shirts und Lehrlinge Azubis. In der Straßenbahn musste man nicht mehr den Schnipsel entlochen, sondern den Fahrschein entwerten. Aus Pop-Gymnastik wurde Aerobic, und auf der frisch gestrichenen Poliklinik stand eines Morgens plötzlich «Ärztehaus». Die Speckitonne verschwand und wurde durch den grünen Punkt ersetzt. Mondos hießen jetzt Kondome, aber das ging uns noch nichts an.

Statt ins Pionierhaus ging ich jetzt ins Freizeitzentrum, unsere Pionierleiter waren unsere Vertrauenslehrer, und aus Arbeitsgemeinschaften wurden Interessengemeinschaften. In den Läden gab es alles aus der Reklame zu kaufen. Auf den Straßen saßen überall Hütchenspieler. Und Mitschüler, die vor der Wende in den Westen gemacht hatten, wie das damals hieß, tauchten plötzlich auf dem Schulhof auf, als seien sie nie weg gewesen, redeten so komisch betont und sahen aus wie aus der Medi&Zini.

Zu den Fidschis durfte ich nicht länger Fidschis sagen, sondern musste sie Ausländer oder Asylbewerber nennen, was irgendwie sonderbar klang, waren sie doch immer da und zwischendurch nie weg gewesen. Für die Kubaner und die Mosambikaner hatte es kein Wort gegeben. Keins vorher und keins hinterher. Sie waren sowieso auf einmal alle verschwunden. Nicht anders als die Knastis, die die Flaschen und Gläser in den SERO-Annahmestellen entgegengenommen, nach Farbe und Größe sortiert und darauf aufgepasst hatten, dass wir abends nicht heimlich durch das Loch im Zaun in die großen Zeitschriftencontainer stiegen, um Westzeitschriften ihrer volkswirtschaftlich sinnvollen Zweitverwertung zu entreißen.

Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben. Schalter hießen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen, Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Overheadprojektor und der Türöffner in der Straßenbahn zum Fahrgastwunsch. Assis zu sagen habe ich mir schnell abgewöhnt, und Assikinder, mit denen wir in Lernpatenschaften Mathe und Rechtschreibung lernten und auf die wir ein Auge haben sollten, damit sie nicht geärgert wurden, und die wir besuchen gingen, wenn sie nicht zur Schule kamen, die gab es auch nicht mehr.

Die Olsenbande dagegen, über die wir uns an vielen Sonntagvormittagen in einer Art sozialistischer Kinderkinomatinée ohne Sekt für 35Pfennig halb zu Tode gelacht hatten, die gab es noch; und genau das brachte mein Weltbild endgültig zum Einsturz: Generationen von Kindern hatten diesen leider ziemlich einfältigen Dänen bei ihren Taschenspielertricks zugesehen und geglaubt, die große Welt ließe sie, zumindest ein wenig, teilhaben und hätte sie nicht ganz vergessen. Als nach der Wende dann jedoch kein Mensch im Westen je von Egon, Benni und Kjeld gehört hatte, dafür aber jeder Karel Gott kannte, den Prager, von dem wir nun wirklich glaubten, er habe nur für uns Deutsch gelernt und gehöre uns, uns ganz allein, da verstand ich gar nichts mehr.

Wenn mir heute Freunde aus Heidelberg oder Krefeld sagen, sie hätten lange gebraucht, sich daran zu gewöhnen, dass Raider nicht mehr Raider, sondern irgendwann Twix hieß, und wie sehr sie es lieben, in den Ferien für ein paar Tage nach Hause zu fahren, weil man es da zwar nicht lange aushalte, aber alles noch so schön wie früher und an seinem Platz sei, dann beneide ich sie ein bisschen. Ich stelle mir in solchen Momenten heimlich vor, noch einmal durch die Straßen unserer Kindheit gehen zu können, die alten Schulwege entlangzulaufen, vergangene Bilder, Ladeninschriften und Gerüche wieder zu finden. In Gedanken lege ich mich still und von niemanden bemerkt, wie zwischen zwei Pausenklingeln, auf den verstaubten Matratzenberg in der hinteren Ecke der Turnhalle und halte meine Nase ganz dicht an die großen, schweren Medizinbälle. Ich sehe hinüber zu den langen Turnbänken aus Holz, streiche mit dem Handrücken darüber und erinnere mich an unsere Angst vor den Splittern, zogen wir auf dem Bauch liegend, mit weit ausholenden Armbewegungen über sie hinweg. Nur wenn die eigene Mannschaft am Rand stand und einen lautstark anfeuerte, verlor sich die Angst für Sekunden.

Lieber waren mir da die knöchelhohen Turnbänke beim Völkerball, wo sie als Spielfeldmarkierungen den Völkermann von der gegnerischen Mannschaft trennten. Seine große Stunde schlug, wenn alle Mitspieler ausgeschieden waren und die Ungelenken und Dicken oft längst in der Umkleidekabine warteten, gleichgültig, welche Gruppe den Sieg nach Hause tragen sollte. Leider sahen sie auf diese Weise nie, wie ein guter Völkermann eine längst verloren geglaubte Mannschaft wieder ins Spiel bringen konnte und wie wir anderen, vor Aufregung glühend, unseren Völkermann dafür liebten. In den darauf folgenden Unterrichtsstunden habe ich mich heimlich zu meinem Völkermann umgedreht und ihn betrachtet, zufrieden und ohne Neid. Doch unsere Helden von damals leben schon lange nicht mehr, und weil unsere Kindheit ein Museum ohne Namen ist, fehlen mir die Worte dafür; weil das Haus keine Adresse hat, weiß ich nicht, welchen Weg ich einschlagen soll, und komme in keiner Kindheit mehr an.