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Als Bea ihren Auftraggeber, den Bauunternehmer Dehning, tot in seinem Büro auffindet, flieht sie aus dem Haus. Damit will sie nichts zu tun haben. Doch ihre Vergangenheit holt sie ein, selbst in Holle, wo sie sich sicher fühlte. Sie muss sich entscheiden: fliehen oder kämpfen? Für die Hildesheimer Kommissare und ihren Holler Kollegen Nils deutet alles darauf hin, dass Dehnings Tod mit dem Bau des Autobahnkreuzes oder der Stromtrasse zusammenhängt. Doch wie passen die gestohlenen Kunstwerke und der tote Angler ins Bild?
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2018
Zu spät schon tot
Holle Krimi
Sabine Hartmann
Hottenstein Buchverlag
Hottenstein Buchverlag
An der Höhe 15
D-31079 Sibbesse
Tel. +49 5065 - 1781
Fax +49 5065 - 1824
www.hottenstein.de
verlag@hottenstein.de
ISBN 978-3-935928-91-5
Bearbeitung und Satz: MS Hartmann und Andreas Hartmann
Umschlaggestaltung: Martin Hartmann
Umschlagbild: Volker Witteczek
SW-Illustration: openclipart.com
1 - Freitag, 25. Mai 2018 - Bea. 2
2 - Nils. 5
3 - Montag, 28. Mai 2018 - Der Apotheker. 9
4 - Bea. 11
5 - Nils. 14
6 - Dienstag, 29. Mai 2018 - Bea. 17
7 - Nils. 20
8 - Der Apotheker. 24
9 - Mittwoch, 30. Mai 2018 - Bea. 25
10 - Nils. 29
11 - Bea. 34
12 - Nils. 36
13 - Bea. 39
14 - Donnerstag, 31. Mai 2018 - Nils. 42
15 - Bea. 46
16 - Nils. 48
17 - Der Apotheker. 50
18 - Bea. 52
19 - Nils. 53
20 - Bea. 56
21 - Freitag, 1. Juni 2018 - Der Apotheker. 58
22 - Bea. 60
23 - Samstag, 2. Juni 2018 - Nils. 63
24 - Bea. 66
25 - Nils. 67
26 - Sonntag, 3. Juni 2018 - Bea. 70
27 - Montag, 4 Juni 2018 - Nils. 73
28 - Bea. 75
29 - Der Apotheker. 80
30 - Nils. 81
31 - Dienstag, 5. Juni 2018 - Bea. 84
32 - Nils. 86
33 - Bea. 89
34 - Nils. 91
35 - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Bea. 93
36 - Der Apotheker. 96
37 - Nils. 97
38 - Bea. 100
39 - Nils. 102
40 - Der Apotheker. 104
41 - Bea. 106
42 - Nils. 108
43 - Der Apotheker. 111
44 - Donnerstag, 7. Juni 2018 - Nils. 113
45 - Der Apotheker. 116
46 - Nils. 117
47 - Bea. 120
48 - Nils. 122
49 - Der Apotheker. 125
50 - Bea. 127
51 - Nils. 128
52 - Freitag, 8. Juni 2018 - Bea. 130
53 - Nils. 132
54 - Mittwoch, 12. Juni 2018 - Nils und Bea. 134
55 - Freitag, 14. Juni 2018 - Bea. 135
Danksagung. 136
Entschlossen radierte sie die Spitzen weg, die sie eben gezeichnet hatte. Es sah mehr nach einer Kiwi in der Mauser aus als nach einer Sonne. Bea seufzte und sah aus dem Fenster – Bahnschienen und weiter hinten eine Häuserfront, nicht erfreulich, aber schön hell. Sie sollte Geschenkpapier entwerfen, klischeefreies, gegendertes Geschenkpapier.
„Sie verstehen schon“, hatte ihr Auftraggeber, der Chef der Geschenkpapierfirma persönlich, gesäuselt, „die jungen, kaufkräftigen Mütter von heute sind durchaus bereit, ein wenig mehr zu investieren, um gendergerechtes Geschenkpapier verwenden zu können. Schließlich sollen weder das Geschenk noch die Verpackung tradierte Rollenkonzeptionen vermitteln.“ Dann hatte der Mann eine kurze Pause eingelegt, bevor er sich geräuspert und etwas weniger schwungvoll fortgesetzt hatte: „Natürlich muss subjektiv trotzdem wahrnehmbar bleiben, dass es sich um Geschenkpapier für Jungs oder für Mädchen handelt.“ Er lachte gekünstelt. „Schließlich müssen wir verhindern, dass sich Prinz Luis laut schreiend am Boden wälzt, weil er Mädchenpapier bekommen hat. Sie verstehen schon?“
Nein, Bea verstand nicht. Wer zum Teufel brauchte gegendertes Geschenkpapier für Kleinkinder? Was war falsch an Rennautos und Dinosauriern für Jungen? Oder Einhörnern und Prinzessinnen für Mädchen? Und wie sollte Geschenkpapier aussehen, das objektiv klischeefrei war, subjektiv aber eindeutig Jungs ansprach? In diesem Zusammenhang waren selbst Farben verdächtig. Sie scannte ihren Ständer mit den Markern. Rosa war ein absolutes No-Go.
Sie hatte den Auftrag trotzdem angenommen. So jung war sie zwar nicht mehr, aber sie brauchte das Geld.
Dringend.
Sie versuchte gerade, das Sonnensystem zu zeichnen, so Manga-Style. Das Sonnensystem war unverdächtig, oder? Die großen Klimperaugen blickten sie schon erwartungsvoll an, aber als sie die Sonnenstrahlen gezeichnet hatte, hörte sie sofort die näselnde Stimme ihres Auftraggebers. „Merken Sie sich: keine phallischen Symbole für Kinder. Verstanden? Die wirken unbewusst.“
Genervt schob Bea den Block zur Seite. Ein paar Tage blieben ihr noch bis zum Abgabetermin. Jetzt musste sie zum Glück erst einmal zur Arbeit.
Zu Fräulein Wiese.
Sie ließ die Jalousien in ihrem Arbeitszimmer ein Stück herunter. Den Warmwasserboiler unter der Spüle stellte sie ab. Anschließend nahm sie noch einen Stapel Druckerpapier aus dem Vorratsraum. Fräulein Wiese hatte sie darum gebeten.
Bea stellte ihren Aygo in die Einfahrt des weißen Einfamilienhauses, dessen Garten noch immer ein Schmuckstück war, obwohl Fräulein Wiese inzwischen 79 Jahre alt war. Sie stand bereits neben der Eingangstür und wartete. Sobald Bea sie erreicht hatte, zeigte sie nach links. „Gucken Sie mal, meine Liebe, meine Sarah Bernhardt blüht schon, genau wie die weiße Bowl of Cream. Wunderbar, nicht wahr?“
Bea war froh, dass Fräulein Wiese eine Farbe erwähnt hatte, so ahnte sie zumindest, wer Sarah Bernhardt sein konnte. „Sie meinen die … äh … Pfingstrosen, oder?“
Die alte Lehrerin lächelte fröhlich. „Genau, keine besonderen Sorten, aber sehr robust.“
„Soll ich ein paar Blüten für die Vase schneiden?“, fragte Bea.
Sofort stemmte Fräulein Wiese beide Fäuste in die Hüften und sagte in entsetztem Tonfall: „Niemals, was soll ich mit Blumenleichen in der Wohnstube?“ Dann seufzte sie. „Auf Ideen kommen diese jungen Leute.“ Kopfschüttelnd hielt sie sich am Türrahmen fest, um die eine Stufe ins Hausinnere zu überwinden.
Bea folgte ihr in den dunklen Flur.
Wie jede Woche hatte Fräulein Wiese einen Zettel mit den Aufgaben vorbereitet, die Bea erledigen sollte. Die kleine, drahtige Frau, die mindestens zwei Köpfe kleiner war als Bea, beobachtete sie sehr genau, während sie las. Ob sie wohl befürchtete, dass Bea etwas nicht verstehen könnte? Vorsichtshalber wiederholte sie, was sie tun sollte. „Badezimmer wischen, Wohnzimmer saugen, Getränke besorgen, Altpapier wegbringen, das Gästezimmer vorbereiten – kommt Ihre Tochter zu Besuch?“
„Mira kommt heute Abend und bleibt das ganze Wochenende, deshalb werde ich jetzt gleich noch ein paar Kräuter pflücken gehen. Ich werde Frankfurter grüne Soße zubereiten. Kennen Sie die?“
Bea räusperte sich. „Schon mal von gehört, isst man zu Eiern, oder?“
Fräulein Wiese tätschelte ihre Wange. „Sie machen sich, das wird schon noch mit Ihnen.“
Bea verstand nicht so ganz, was sie damit meinte, wollte sich aber nicht in eine Diskussion über gesunde Ernährung einlassen. Da hätte sie gegenüber der alten Biolehrerin immer schlechte Karten. „Fräulein Wie… ah Frau Dr. Meyerhoff …“
„Zu spät, ich hab’s gehört!“ Fräulein Wiese grinste über das ganze Gesicht, „Sie schulden mir eine Runde Scrabble, und wehe Sie legen das Wort Wiese.“
Bea grinste zurück. Sie mochte die alte Dame und spielte gern Scrabble mit ihr, obwohl sie jedes Mal haushoch verlor. „Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich mehr einkaufen soll als nur Getränke?“
„Würden Sie das tun? Ich schreibe Ihnen eine Liste.“
„Gut, dann fange ich mal mit dem Gästezimmer an, falls Ihre Tochter früher kommt.“
Während sie das Bett neu bezog, dachte Bea daran, wie sie damals, vor zwei Jahren mit dem ersten Geld, das sie in diesem Haus verdient hatte, zum Silliumer Friseurstübchen gefahren war. Überaus stolz hatte sie berichtet, dass sie eine Stelle bei Frau Dr. Hannelore Meyerhoff ergattert habe, dreimal die Woche, mit Hilfe im Garten.
Im ersten Augenblick hatte der verständnislose Blick der Friseurin im Spiegel sie irritiert. „Frau Dr. wer?“
„Sie wohnt in Heersum, winzige Frau, weiße Haare, toller Garten.“
„Ach so, du meinst Fräulein Wiese.“
„Fräulein wie?“
„Wiese, ehemalige Oberstudienrätin für Biologie und Chemie. Die hat diesen Spitznamen schon seit mindestens hundert Jahren. Sie soll als Junglehrerin gleich in der ersten Woche einen Antrag auf Einrichtung einer Schmetterlingswiese gestellt haben. Da hatte sie den Namen weg. Alle nennen sie so. Bis heute.“
„Hat sie nichts dagegen?“
„Im Gegenteil, ich glaube, dass ihr der Spitzname heimlich gefällt. Natürlich protestiert sie, wenn sie damit angesprochen wird, aber richtig sauer ist sie nicht.“
Bea stellte das Fenster auf Kipp und schaute in den Garten. Die alte Dame schnitt mit einer winzigen Schere Kräuter aus einem Hochbeet und legte sie behutsam in ein Körbchen.
Das war ihre Gelegenheit.
Leise ging Bea über den Flur in der ersten Etage ins Arbeitszimmer der pensionierten Lehrerin. Ohne lange zu zögern, zog sie einen ledergebundenen Folianten aus dem Regal. Deutschlands Flora von Jakob Sturm, Originalausgabe von 1796. Geschickt schnitt sie mit einem Cutter, den sie in einem schmalen Etui bei sich trug, die kolorierte Zeichnung des Zimbelkrauts heraus. Als zweites trennte sie das Gemeine Pfaffenhütchen heraus. Sie schob beide Blätter in einen Umschlag und deponierte diesen in dem Karton mit Altpapier, den Fräulein Wiese bereitgestellt hatte.
Schon erstaunlich, dass man für einzelne Seiten mehr Geld bekam als für ein ganzes Buch.
Prüfend schaute sie aus dem Fenster. Die Frau befand sich noch immer im Garten. Jetzt unterhielt sie sich mit jemandem, den Bea nicht sehen konnte.
Sollte sie?
Die Gelegenheit war günstig.
Hoffentlich quietschte die Klappe nicht.
Vorsichtig zog sie die Treppe zum Boden herunter und stieg die schmalen Stufen hinauf. Diesen Schatz hatte sie entdeckt, als sie im Frühjahr die Federbetten ausgetauscht hatte. Zwischen den dilettantischen Zeichnungen von Fräulein Wieses Oma. Gleich beim ersten Durchblättern hatte Bea den Unterschied zwischen dem billigen Aquarellpapier und dem Pergament gespürt. Trotzdem hatte sie sorgfältig ein Blatt nach dem anderen betrachtet und zur Seite gelegt, bis endlich dieses Kunstwerk vor ihr gelegen hatte. Von allen lebenden Menschen vergessen ruhte es in einem alten Vertikow, das völlig verstaubt am Schornstein lehnte.
Maria Sibylla Merian, Buschrose mit Miniermotte, Larve und Puppe, aus dem Jahr 1679, Aquarell auf Pergament. Bea hatte das kaum A4 große Blatt nun schon mehrmals in der Hand gehabt, hatte es fotografiert und geprüft. Ein beinahe gleich aussehendes Bild wurde in Frankfurt im Städel Museum aufbewahrt. Diese Buschrose hier wirkte dunkler, unüblich dunkel. Vielleicht war das der Grund, warum die Merian sie noch einmal gezeichnet hatte. Bea musste das Pergament unbedingt bei Sonnenlicht betrachten und vor allem reinigen.
Es half alles nichts.
Das Bild musste heute mit.
Sie packte es und stieg die schmalen, hölzernen Stufen hinunter. Dabei musste sie sich ein Niesen verkneifen. Hoffentlich konnte sie die Bodentreppe wieder einklappen, bevor Fräulein Wiese sie fragen konnte, was sie da oben zu suchen hatte. Sie musste sich beeilen. Allzu lange würde Ihre Arbeitgeberin nicht mehr draußen bleiben. Schließlich wollte sie für ihre Tochter kochen.
Versehentlich schob Bea die Klappe über der Treppe zu heftig zu, sodass ein lautes Quietschen durch den Flur hallte. Sie erstarrte, lauschte. Nichts zu hören. Offensichtlich hatte Fräulein Wiese nichts bemerkt.
Bea trug das Pergament, das sie zwischen zwei unbenutzte Aquarellblätter gelegt hatte, ebenfalls zum Altpapierbehälter und beschloss dann, diesen gleich in ihren Kofferraum zu laden. Damit nicht noch etwas dazwischen kam.
Sie erledigte die notwendigen Einkäufe und kehrte auf dem schnellsten Weg zu Fräulein Wiese zurück.
Sie fühlte sich beobachtet, kritisch beobachtet, während sie das Fleisch auf die Spüle legte und die Getränke in die kleine Kammer stellte. Ahnte die alte Damen etwas?
Beas Herz schlug heftig, während sie das Badezimmer wischte, und auch das Scrabble Spiel bereitete ihr heute keine Freude. Sie befürchtete nicht, dass Fräulein Wiese überprüfte, welches Altpapier sie in ihren Aygo gepackt hatte. Trotzdem spürte sie irgendwie ein schlechtes Gewissen. Weil sie das Vertrauen der alten Dame ausnutzte? Quatsch mit Soße, die wusste doch gar nicht, welche Schätze sich da in ihren Regalen und Schränken angesammelt hatten. Stammte alles von ihren Eltern und Großeltern, aus Sentimentalität aufbewahrt. Wenn sie die Sachen mitnahm, erfüllten sie wenigstens einen guten Zweck.
„Müde?“, fragte die alte Dame. „Oder fällt Ihnen partout nichts ein?“
Sie musste aufpassen, Fräulein Wiese schaute sie schon wieder so prüfend an.
„Kopfschmerzen“, murmelte Bea. „Muss das Wetter sein.“
„Nachtkerzenöl hilft immer.“
„Ha, doppelter Wortwert und das Z verarbeitet. Danke für die Kerze.“
Schwungvoll klappte Fräulein Wiese das Brett zusammen und ließ die Steine in den Beutel rutschen. „Dann ab mit Ihnen an die frische Luft. Wir sehen uns am Montag.“
Erleichtert verließ Bea das Haus.
Nils Meyer saß zufrieden in seinem Schreibtischsessel und lauschte dem Gesang der Vögel vor dem Bürofenster. Sein Chef hatte Urlaub. Eine Vertretung existierte nicht. Also war er nun der Chef, sein eigener Chef, und der Chef der Sekretärin natürlich und, wenn man es genau nahm, der Chef der Reinigungskraft und des Hausmeisters. Zugegeben, Susa, die Putzfrau kam nur zweimal die Woche, und den Hausmeister, der darauf bestand Herr Wagner genannt zu werden, hatte er im ganzen Monat noch nicht gesehen. Trotzdem war er der Chef von drei Leuten, ganz ordentlich, oder?
Nils räusperte sich und überlegte, welche Aufgabe er Irmhild, seiner Sekretärin, übertragen sollte. Kaffeekochen betrachtete sie als unter ihrer Würde, jedenfalls für ihn. Für den Chef kochte sie ständig Kaffee, schäumte ihm sogar die Milch auf. Aber jetzt war er der Chef, er hatte hier das Sagen.
Obwohl die Tür zum Nachbarzimmer geschlossen war, konnte er Irmhild telefonieren hören. Mit wem sprach sie da? Klang ganz nach einem privaten Telefonat.
Sollte er hinüber gehen und sie bitten, etwas für ihn zu recherchieren?
Ach nee, lieber nicht.
Darauf wollte er es nicht ankommen lassen.
Er sah deutlich ihre hochgezogenen Augenbrauen vor sich, mit denen sie überdeutlich signalisierte, wenn sie unzufrieden war. Sie brauchte nichts zu sagen. Nur das Ding mit ihren Augenbrauen machen, und alle wussten Bescheid. Auch der Chef.
Andererseits ging es nicht an, dass sie nichts zu erledigen hatte. Auf die Dauer wurde das ziemlich langweilig. Schließlich hatte er alsChef da auch eine Verantwortung. Personalfürsorge.
Allerdings hatte er selbst ebenfalls nicht wirklich einen Fall zu bearbeiten. Er zog die Schublade auf, nahm eine Lakritzschnecke aus der Tüte und rollte sie genüsslich ab, bevor er das erste kleine Stückchen abbiss.
Nils rollte mit seinem Stuhl zum Fenster und sah hinaus auf die Straße. Die Kastanien standen in voller Blüte. Der Platz vor der neuen Tanksäule für Elektrofahrzeuge war, wie fast immer, leer. Dahinter stand sein Dienstfahrzeug. Auf dem Edekaparkplatz gegenüber knüdelten sich die Fahrzeuge. Gab`s heute ein besonderes Angebot? Zwei Jungs überquerten mit ihren Skateboards die Straße, das klappte nicht wirklich gut. Der Kleinere musste absteigen und das Board in die Hand nehmen, während mehrere Autos anhalten mussten. Aus einem Wagen klang laute Musik bis zu ihm hinauf. Er kannte die Melodie, kam aber nicht drauf, von wem das Lied stammte. Jetzt rollte der Verkehr wieder.
So liebte er sein Holle. Geschäftig, aber friedlich. Das bewies eindeutig, wie gut die Polizei, dein Freund und Helfer, ihre Arbeit hier versah. Idyllisch, beschaulich ging es zu. Gelegentlich mal eine Geschwindigkeitsübertretung, Raufereien, wenn jemand zu viel getrunken hatte. Okay, er hatte schon mal einen Fall von häuslicher Gewalt schlichten müssen. Das war ihm schwer gefallen. Schließlich kannte er die beiden Beteiligten aus der Schule. Zwei Jahrgänge über ihm waren sie gewesen, schon in der Abschlussklasse ein Paar. Nils schüttelte sich. Da blieb er lieber Single. Gedankenverloren steckte er sich das letzte Stück Laktritzschnecke in den Mund.
Er könnte eine Runde gehen, sich dem Bürger zeigen, für seine Nöte da sein, bei Café Engelke eine Tasse Kaffee trinken und dazu vielleicht ein Croissant. Vertrauensbildende Maßnahmen nannte sich das. Vorsichtshalber fühlte er in seiner Hosentasche, ob er die kleine Dose eingesteckt hatte, in der er seine Lakritzration für unterwegs mit sich führte. Heute hatte er Lakritzkatzen dabei. Lecker. Sollte er losgehen?
Natürlich könnte er ebenso den Dienstwagen nehmen. Mit dem schnittigen Passat mal eben die Autobahn inspizieren. Präsenz zeigen. War ja eigentlich nicht sein Aufgabenbereich. Aber die Kollegen aus Hildesheim wären bestimmt froh, wenn er ihnen ein wenig unter die Arme griff. Dabei brauchte er gar nichts Besonderes zu tun. Sobald er im Rückspiegel auftauchte, fuhren alle automatisch langsamer. Erzieherische Wirkung. Das gefiel ihm.
Ein Telefonklingeln nebenan riss ihn aus seinen Gedanken.
„Polizeistation Holle. Sie sprechen mit Frau Dunst. Wie können wir Ihnen helfen?“
Nils rollte zum Schreibtisch zurück, klappte einen Block auf, begann eifrig, etwas zu notieren.
„Da gebe ich Ihnen am besten mal unseren Kommissar. Bitte warten Sie, ich stelle durch.“
Nils‘ Telefon hustete einmal und schwieg dann. Wie so oft. Irmhild klopfte an, riss die Tür auf und hielt ihm das schnurlose Telefon hin.
„Herr Dehning, seine Bagger wurden beschmiert.“
Nils nickte ihr zu. „Danke.“ Er kannte Michael Dehning. Der Bauunternehmer hatte auch das Einfamilienhaus seiner Eltern gebaut und die Blöcke mit den Mietwohnungen, wo Nils jetzt lebte. Ob er ihm sagen sollte, dass die Wände viel zu dünn waren und er immer mit anhören musste, wie Frau Finke ihren Sohn die Englisch-Vokabeln abfragte. Nee, war wohl nicht der richtige Zeitpunkt.
„Oberkommissar Meyer, Herr Dehning, was kann ich für Sie tun?“
„Ist dein Chef nicht da?“
„Abwesend. Sie sprechen mit dem diensthabenden Beamten.“
„Spuck nicht so große Töne. Beweg deinen Hintern hierher und vergiss den Fotoapparat nicht.“
„Sie wollen also eine Straftat anzeigen?“
„Schlauer Junge. Ich warte.“
„Wo?“
„Luttrum, ich stehe an der Zufahrt zum Moor, du weißt schon, wo das Zeug für Bad Salzdetfurth abgebaut wird. Spute dich. Ich habe nicht den ganzen Tag lang Zeit.“
„Aufgelegt“, flüsterte Nils und wunderte sich über den Bauunternehmer. So barsch kannte er ihn gar nicht. Was war dem denn über die Leber gelaufen? Eine Laus oder ein Elefant? Je länger er darüber nachdachte, umso mehr ärgerte er sich. Musste er sich so herumkommandieren lassen? Nils seufzte. Dehning war eben Geschäftsmann. Zeit war bekanntlich Geld.
Er war bereits aufgestanden und hatte nach seiner Mütze gegriffen, als ihm etwas Entscheidendes einfiel. Zuerst sollte er einen Fall anlegen. Also startete er den Computer, öffnete die aktuelle Tagebuchseite und erzeugte einen neuen Eintrag.
Das konnte man selbstverständlich ebenso gut hinterher erledigen, aber Dehning brauchte die Vorgangsnummer garantiert für seine Versicherung. Es war zwar nicht üblich, aber Nils wollte dem Kerl nicht noch mehr Anlass geben, sich aufzuregen.
Andererseits sollte der gar nicht zu glauben, dass Nils angerannt kam wie ein Welpe, wenn Dehning ihn herbeizitierte.
Er notierte die Nummer in seinem Notizbuch, ergänzte das heutige Datum, Uhrzeit und den Namen des Anrufers. So konnte er vor Ort immer noch entscheiden, ob er sie Dehning sofort mitteilte oder ihn später im Sekretariat nachfragen ließ. Dann erst verließ er sein Büro.
„Ich fahre nach Luttrum.“
Irmhild tippte gelassen weiter. „Okay, ich mache heute zwei Stunden früher Schluss. Überstunden abbummeln. Verlängertes Wochenende. Nimm den Schlüssel mit.“
Nils grummelte.
Na toll, wenn sie weg war, musste er den Bericht nachher selbst tippen. Wie sonst auch. Und Dehning würde die Tagebuchnummer frühestens am Montag erfahren.
„Haste was Schönes vor?“, fragte er.
„Zum Friseur und `n bisschen einkaufen“, sagte sie, ohne das Tippen zu unterbrechen. „Ich mach nur noch die Pressemitteilung fertig, danach bin ich weg.“
„Viel Spaß“, sagte er und schluckte das „Gib nicht so viel Geld aus“, das ihm schon ganz vorne an der Zungenspitze geklebt hatte, herunter.
Noch schlimmer als mit den hochgezogenen Augenbrauen wurde es, wenn sie einen ihrer auffallend langen Finger anklagend auf einen richtete und flötete: „Du, pass auf was du sagst“.
Nicht nur Nils fühlte sich sofort wie ein kleiner Schuljunge, der ganz böse gewesen war und die Lehrerin enttäuscht hatte. Er hatte oft genug gesehen, wie selbst gestandene Kollegen rot geworden waren und sich hastig bei ihr entschuldigt hatten. „War nicht so gemeint. Sorry.“
Daraufhin lächelte Irmhild meist gnädig und raunte: „Dachte ich mir.“
Was die Kollegen dazu brachte, sich mit dem Gefühl, gerade noch einmal davon gekommen zu sein, abzuwenden und möglichst schnell irgendeine immens wichtige Aufgabe irgendwo anders zu erledigen.
Nils genoss die kurze Fahrt von Holle nach Luttrum. Die Sonne schien, am Himmel waren einige weiße Wölkchen zu sehen und Nils bedauerte mal wieder, dass sein Dienstwagen kein Cabrio war oder wenigstens so ein tolles Schiebedach hatte. Die Felder dufteten um diese Jahreszeit immer so frisch, aber in seinem Passat duftete nur das olle grüne Duftbäumchen, das ihm seine Oma geschenkt hatte.
Er sah Dehning auf der schmalen Straße, die zum Moorgebiet führte, auf und ab gehen. In der Ferne flitzten Fahrzeuge über die Autobahn. Rechter Hand, das wusste Nils, befand sich ein See mit einer Hütte, die wohl früher mal als Jagdhütte genutzt wurde. Heute fanden dort Parties statt. Links wurde Material für die Moorbäder in Bad Salzdetfurth abgebaut. Dehnings Baumaschinen standen am Rande eines Feldweges, der auf die in der Ferne zu sehende Autobahn zuzuhalten schien.
Nachdem Nils seinen Wagen abgestellt hatte, ging er zu ihm. Lächelnd begrüßte er den Mann, der gut einen Kopf größer war als er.
„Die Baumaschinen stehen hier schon länger?“
„War die zweite Nacht. Heute kommt noch ein Container. Wir wollen Montag früh anfangen.“
„Kein Bauzaun?“
Dehning winkte ab. „Lohnt sich bei schwerem Gerät nicht. Wer das klauen will, der kommt mit einem Tieflader, und dann lässt er sich nicht von einem Bauzaun aufhalten.“
„Verstehe.“ Nils ging langsam um den Bagger herum und kam sich winzig vor. Krakelige, weiße Buchstaben, auf dem gelben Lack kaum zu sehen. „Verpis dich!!!“
„Da fehlt ein S“, sagte er nachdenklich.
„Dafür gibt`s drei Ausrufezeichen. Die kann er offensichtlich gut. Davon sind jede Menge da.“
Nils begann, die einzelnen Schmierereien zu fotografieren. „Da hatte aber einer viel Zeit“, murmelte er.
„Dabei ist es hier nachts stockfinster. Nicht eine Laterne in der Nähe.“
„Der Täter hatte vermutlich eine Taschenlampe dabei“, schlug Nils vor.
„Das wäre bestimmt jemandem aufgefallen.“
„Ist ganz schön weit bis zu den ersten Häusern.“
„Irgendwer ist immer unterwegs, Hundeausführer, Katzensucher, Liebespärchen.“ Dehning beobachtete genau, was Nils tat. „Werden Sie sich im Dorf erkundigen, ob jemand etwas bemerkt hat?“
„Sicher“, antwortete Nils. Er war erleichtert, dass Dehning ihn jetzt siezte. Dann dachte er daran, dass er bei der Gelegenheit bestimmt von irgendjemandem auf eine Tasse Kaffee eingeladen wurde.
Er zählte 18 Schmierereien. „So richtige Drohungen sind das nicht, oder?“
„Bestimmt Gegner von der Stromtrasse.“
„Oder Autobahnkreuzgegner?“
Dehning nickte. „Auch möglich. Gibt immer Gegner. Gegen alles. Ich bin dafür, dass wir dagegen sind. Denen wäre es am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es gerade ist. Nur, dass sie ihre verdammten Handys nicht hätten, wenn vor zwanzig Jahren alles so geblieben wäre, darüber denken sie nicht nach. Oder Erdbeeren im Winter oder Pizza. Meine Oma kannte noch keine Pizza. Und, ging es ihr deswegen schlechter? Ja, verdammt noch mal.“
Nils war verwirrt. „Wegen der Pizza?“
„Pizza? Quatsch. Herzschrittmacher. Den gab es noch nicht, als sie einen gebraucht hätte. Da kam der Fortschritt zu spät. Kann man nix machen.“
„O-kay ... ich notiere mal: Sie erstatten Anzeige gegen Unbekannt. Bedroht fühlen Sie sich nicht.“
„Aber belästigt. Schreiben Sie das.“
„Bleibt Sachbeschädigung. Ich nehme an, Sie melden den Schaden Ihrer Versicherung?“
Dehning wackelte mit dem Kopf und schürzte die Lippen. „Weiß ich noch nicht. Treibt die Prämien in die Höhe. Die Bagger funktionieren ja einwandfrei. Die müssen arbeiten. Ich kann es mir nicht erlauben, die jetzt zum Lackieren in die Werkstatt zu schaffen. Die machen mir die Hölle heiß, wenn wir Montag nicht anfangen. Kommunale Auftraggeber sind die Pest, sage ich dir. So, ham was? Ich muss los.“
„Alles klar so weit. Ich melde mich, falls ..., sobald ich etwas herausgefunden habe.“
„Davon gehe ich aus. Mach`s gut.“
Nils schaute zu, wie Dehning in seinen nachtschwarzen SUV stieg und davon brauste. Jetzt brauchte er erst einmal eine Lakritzkatze.
Er blickte erneut auf die größte Schmiererei: „Dehning = Verrätersau“ stand da.
Nils wusste nicht, was er davon halten sollte. Wen konnte Dehning verraten haben? Missmutig, weil er keine zündende Idee hatte, fuhr er durch den Ort.
Nils trieb sich noch eine gute Stunde in Lutrum herum, erfuhr aber nichts, was mit den Baumaschinen zu tun hatte. Er hörte, dass die Toblers sich scheiden ließen, Minja vermutlich schwanger war, mit siebzehn! Und jemand den Lack an Ewald Schröders Mercedes zerkratzt hatte.
Schließlich fuhr er genervt nach Holle zurück, schrieb seinen Bericht und schloss damit wenigstens im PC den Tag ab.
Zurück in seiner Wohnung gelang es ihm nicht, zur Ruhe zu kommen. Von nebenan hörte er alle 20 Sekunden ein kurzes Summen. Vermutlich erhielt Jonas Finke wahnsinnig wichtige witzige WhatsApp-Nachrichten von seinen Kumpels. Nils verdrehte die Augen. Jetzt fing Mutter Finke auch noch an, Staub zu saugen. Vielleicht sollte er noch einmal nach Lustrum fahren. Es konnte eigentlich nicht sein, dass überhaupt niemand etwas mitbekommen hatte.
Deswegen stand Nils nun, zwei ergebnislose Stunden und etliche unergiebige Gespräche später, in den Kutscherstuben am Tresen und trank ein Alkoholfreies.
Er unterhielt sich gerade mit dem Wirt und zwei Landwirten, die er nicht näher kannte, als es hinter ihm laut wurde.
„Mein Land kriegt keiner, da könnt ihr euch drauf verlassen. Verdammtes Lumpenpack.“
Nils fuhr herum und erkannte Peter Zillich.
Der Mann klammerte sich mit der linken Hand an der Tür zum Saal fest, schwankte leicht hin und her. Mit der rechten wedelte er durch die Luft. „Alles Verrbecher, äh Verbrescher, sage ich euch. Traut keinem.“
„Zillich, geh nach Hause, du nervst“, sagte einer, den Nils vom Tresen aus nicht sehen konnte.
„Ich mach was ich will. Sackgesicht“, antwortete Zillich.
„Ja, ja!“
„Jaja, heißt leck mich am Arsch. Komm her. Ich geb dir am Arsch“, brüllte Zillich und wankte offensichtlich auf den Sprecher zu.
Nils wollte eingreifen. Da spürte er die Hand des Wirts auf seinem Arm. „Lass, ich mach das.“
„Wenn du meinst.“
„Ist ja nichts passiert.“
Mit einem frisch gezapften Bier in der Hand ging der Wirt zu Zillich. Tatsächlich gelang es ihm, den Mann an einen leeren Tisch zu bugsieren und ihm das Glas in die Hand zu drücken. „Geht aufs Haus. Scheidebecher.“
Zillich wollte aufbegehren, überlegte es sich aber offenbar anders.
Der Wirt kehrte hinter den Tresen zurück. „Oliver holt ihn gleich ab.“
Nils nickte. Er kannte Oliver. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Freunde waren sie nicht gewesen. Oliver hatte niemanden an sich herangelassen, nachdem das mit seiner Mutter passiert war.
Nach der Schule hatte er ihn aus den Augen verloren.
„Wohnt er noch hier?“
Der Wirt nickte. „Arbeitet in der Gärtnerei.“
„Bei seinem Vater?“
„Wenn Peter nichts getrunken hat, ist er ein feiner Kerl. Gelegentlich trinkt er einen über den Durst und dann packt ihn der Weltschmerz. Passiert jedem mal.“
„Vermutlich hast du Recht“, gab Nils zu. „Ist trotzdem nicht schön.“
„Da ist er schon!“
In dem Moment hatte Oliver den Schankraum betreten. Er grüßte den Wirt und die Gäste mit einem Nicken, bevor er sich neben seinen Vater an den Tisch setzte. Nils konnte nicht hören, was er ihm erzählte, aber offenbar gelang es ihm, die Aufmerksamkeit seines Vaters zu wecken. ‚Er sieht beinahe genauso aus wie sein Vater‘, dachte Nils. Die gleichen dunklen Locken, die scharf geschnittene Nase und die eindeutig zu kurzen Beine. Während Peter Zillich eine ausgewaschene Cordhose und ein Flanellhemd, also seine übliche Arbeitskleidung trug, war Oliver vermutlich vom Fußballtraining gekommen. Nils erinnerte sich, dass er in der Schulmannschaft gespielt und als überragender Torwart gegolten hatte.
Oliver hatte seinen Vater untergehakt und ging gemeinsam mit ihm in Richtung Ausgang. Als er an Nils vorbeiging, nickte er ihm zu. „Alles gut bei dir?“
Überrascht lächelte Nils zurück. „Könnte nicht besser sein.“
„Du siehst gequält aus. Zu viel Arbeit?“
„Nee, kein Problem. Halt die Ohren steif.“
„Mach ich. Man sieht sich.“ Dann wandte er sich an den Wirt. „Bin ich noch was schuldig?“
„Alles bezahlt. Schönen Abend noch und ... danke.“
„Ich danke dir.“
Damit verschwand er, und Nils fühlte sich plötzlich so müde, dass er auf der Stelle in sein Bett wollte.
Kaum saß er im Auto, stellte er fest, dass er noch genug Power hatte, um einen kleinen Umweg über Luttrum zu fahren. Vielleicht versuchte sich heute Nacht noch mal jemand als Grafitti-Künstler.
„So’n Pech! Alles ruhig.“
Erst nach Mitternacht fuhr Nils nach Holle zurück.
Das dauerte viel zu lang. Der Apotheker pilgerte unentschlossen durch seine Wohnung. Die beiden Waren vergällten ihm schon seit Tagen das Leben. Bisher hatte er nur zwei Angebote erhalten, und die lagen viel zu niedrig.
Er schaute auf die Uhr im Bücherregal. Eine gute Stunde stand ihm noch zur Verfügung, bevor er den ersten Termin hatte. Wen sollte er anrufen? Schließlich wollte er nicht aufdringlich wirken und seine Kunden vergrätzen.
Er versuchte es zuerst in Kent.
„Barkley.“
„Hello, Jim, this ist your Chemist speaking. How do you do?“
„Excellent, what about you?“
„Fine, fine. Might you be interested in some fine piece of art? A manuscript dating from the 16th century and a drawing by Georg Baselitz.“
„You know, I’m more into paintings ...“
Der Apotheker hörte schon am Tonfall, dass er kein Geschäft machen würde, versuchte es aber trotzdem noch mal. „These are extraordinary indeed.“
„Thank you. I’m in a meeting. See you.“
Bevor der Apotheker sich ebenfalls verabschieden konnte, hatte Barkley die Verbindung getrennt. Mist. Na, dann würde er es eben in Berlin versuchen.
„Hülsenbusch!“
Es hatte kaum geklingelt, da hatte Hülsenbusch sich schon gemeldet. „Der Apotheker hier, ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Nur ganz kurz. Ihr Angebot für die beiden Kunstwerke liegt leider deutlich unter zwei anderen, die ich erhalten habe. Ich wollte Sie nur informieren ...“
„Ach, Sie sprechen von der Handschrift und den Skizzen, oder?“
„Genau. Ich ...“
„Die Skizzen würden mich wirklich sehr interessieren. Meinen Sie, dass Sie mir da weitere beschaffen könnten. Eine Serie, dafür könnte ich mich erwärmen.“
„Wir sind dran, ganz nah dran. Kann nicht mehr lange dauern. Sie könnten diese beiden sozusagen als Auftakt ...“
„Schicken Sie mir noch einmal Fotos auf mein Handy. Ich melde mich heute Nachmittag. Ach, was sagten Sie, wie hoch sind die beiden anderen Angebote?“
„Zweihundert müssten Sie noch drauflegen, für jede. Sie verstehen ...“
Hülsenbusch seufzte. „So richtig verstehe ich das nicht. Sie wissen, dass ich Baselitz sammele, also sollten Sie mir die Ware exklusiv anbieten.“
„Das würde ich, aber mein Lieferant besteht darauf, dass wir meistbietend verkaufen. Schließlich trägt er das größere Risiko.“
„Ihr Lieferant interessiert mich nicht. Unglücklicherweise sind Sie momentan der Einzige, der Baselitz besorgen kann. Ich nehme die Skizzen.“
„Das freut mich, da kommen Sie in gute Hände.“
Höre Sie auf herum zu sülzen. Schicken Sie die Stücke wie immer postlagernd.“
„Meine Kontoverbindung kennen Sie ja.“
„Selbstverständlich.“
„Immer nett, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Herr Staatsanwalt.“
„Dito, Herr Apotheker. Ich warte auf weitere Angebote von Ihnen.“
Der Apotheker rieb sich die Hände. Die beiden Skizzen war er losgeworden, nur diese Handschrift lag wie Blei bei ihm herum.
In Gedanken ging er seine Kunden durch. Das Antiquariat in Lüneburg bediente gelegentlich anspruchsvolle Kunden. Vielleicht konnte er den Inhaber für das Stück begeistern. Aber dessen Angebote waren immer extrem geizig.
Nur als allerletzte Möglichkeit.
Wer kam noch infrage?
München? Zu heiß. Da stammte die Handschrift her.
Hätte er sie bloß nicht angenommen. Wirkte wie ein gutes Geschäft, auf den ersten Blick.
Schuster bleib bei deinen Leisten. Mit Handschriften kannte er sich nicht aus und seine Kunden offenbar ebenfalls nicht.
Beinahe hätte er das Handy fallen lassen, als es klingelte. Er fasste sich und nahm das Gespräch an.
„Der Apotheker.“
„Hardy, hi.“
„Hallo.“ Was wollte der von ihm?
„Ich habe einen Kunden, der dringend Jugendstil sucht. Er hat sich eine Jugendstilvilla in Görlitz gekauft und braucht nun dringend passende Deko. Heinrich Vogeler wäre cool. Der hat doch da bei dir in der Nähe gelebt, oder?“
„Vogeler? In Worpswede. Das ist nicht sonderlich nah.“
„Haste was aus dem Jugendstil? Porzellan? Bilder? Skulpturen? Irgendwas?“
„Da muss ich passen.“
„Schade, dann bis zum nächsten Mal.“
„Warten Sie, eine Handschrift hätte ich.“
„Aus dem Jugendstil?“
„Nee, Mittelalter.“
„Ist mir zu alt. Sorry. Hau rein, Alter.“
„Äh, ja, auf Wiederhören.“
Auf Wiederhören? Hatte er das eben wirklich gesagt? Er hasste es, von diesem Jungspund ohne Manieren geduzt zu werden, aber dass er sich dermaßen aus dem Konzept bringen ließ. Der Apotheker schüttelte den Kopf, verschlüsselte das Handy, schaltete es aus, nahm den Akku heraus und versteckte es hinter der losen Leiste im Wohnzimmer. Den Akku legte er in die Küchenschublade, hinter den Besteckkasten. Nicht für umsonst hatte er sich ein Xiaomi Mobiltelefon aus China besorgt. Da das Handy in Deutschland nicht angeboten wurde, gab es weder Ladekabel noch Akku hier zu kaufen. Keine Chance für Langfinger. Seine Daten waren sicher.
Jetzt konnte er beruhigt zu seinem Termin fahren.
Bea liebte Dehnings Kaffeemaschine. Wobei vermutlich das Wort Kaffeemaschine an dieser Stelle nicht das richtige war. Er handelte es sich um so ein Luxusteil. Offizielle Bezeichnung: Kaffeevollautomat. Doch dieser trockene Begriff traf es nicht einmal annähernd. Vom winzigen Espresso, der so stark war, dass ein Löffel quasi darin stand, bis zum Latte Macchiato mit süßem Schaum, den man mit der Gabel essen konnte, so dick war der, erzeugte diese Maschine unter Pfeifen, Quietschen, Zischen und Dampfen alle Getränkevariationen, die man sich nur vorstellen konnte. Es war Bea bisher allerdings noch nicht gelungen, eines dieser großen, dickwandigen Gläser nur mit Milchschaum zu füllen. Dafür gab es Caffee latte, Café au lait und Milchkaffee. Bea hatte alle drei Variationen ausprobiert. Einen Unterschied hatte sie nicht festgestellt. Allerdings hatte sie auch nicht damit gerechnet, denn übersetzt bedeuteten alle drei Bezeichnungen exakt das gleiche. Vermutlich bräuchte man Laborgeräte um die Rezeptur unterscheiden zu können.
Das Beste an der Maschine aber war, dass Dehning ihr ausdrücklich erlaubt hatte, sie ganz nach Belieben zu benutzen, ohne sie putzen zu müssen. Dieses Vergnügen gönnte er sich ganz allein und zelebrierte es jeden Samstag ausführlich. Selbstverständlich hatte Bea das noch nie beobachten können, aber, immer wenn sie sich begegneten, erzählte er davon. Daher wusste sie auch, dass diese Maschine drei verschiedene Bohnensorten verarbeitete, die er sich persönlich in Bremen rösten ließ.
Wenn Sie morgens das Haus betrat, - sie besaß einen eigenen Schlüssel – hatte Dehning es schon verlassen. Vorher hatte er gefrühstückt, davon kündeten nicht nur das gebrauchte Geschirr und Besteck in der Spüle, sondern vor allem der schwere Duft nach Kaffee, der ihr entgegen waberte, sobald sie die Haustür öffnete.
So verhielt es sich auch heute. Allerdings hatte Dehning seinen Kaffee diesmal nicht ausgetrunken. Auf dem Küchentisch stand eine halb volle Tasse Cappuccino. Der Milchschaum war eingetrocknet. Sehr ungewöhnlich. Vermutlich hatte ihn ein Anruf früher aus dem Haus gelockt. Um das schmutzige Geschirr und die Brötchnkrümel konnte sie sich später kümmern. Jetzt würde sie sich erst einmal selbst ein Glas mit möglichst viel Milchschaum füllen und einen ganzen Löffel braunen Zucker darauf verteilen. Sie trank das Glas im Stehen aus und schaute dabei aus dem Fenster. Der Rasen sah aus wie ein englischer Golfplatz. Auf der Straße bewegte sich nichts, kein Spaziergänger, kein Hund, kein Vogel. Wie ausgestorben.
Nachdem sie die Küche komplett geputzt hatte - da Dehning allein lebte, war hier nie besonders viel zu erledigen – gönnte sie sich das zweite Getränk. Diesmal entschied sie sich für einen Kakao.
Im Wohnzimmer saugte sie den Fußboden und kontrollierte, ob sich Staub auf den Regalen mit den vielen Fachbüchern abgelagert hatte. Die Fensterfront, die direkt auf den großen Garten hinausging, war zum Glück noch nicht wieder an der Reihe. Nachdem sie alles erledigt hatte, schaute sie sich noch einmal um, prüfte, dass sie nichts übersehen hatte. Das Wohnzimmer gefiel ihr nicht. Die Möbel sahen sehr steif aus und wirken nicht, als ob man sich darin abends vor dem Fernseher herumlümmeln konnte, vom Krümeln mit Kartoffelchips einmal ganz zu schweigen.
Ansonsten existierten in der unteren Etage nur noch ein kleines Bad, eine Abstellkammer und ein Zimmer, in dem ein Bett stand, das allerdings mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen, Kartons und abgelegten Kleidungsstücken zugedeckt war. Dies war das einzige Zimmer, um das sie sich nicht zu kümmern brauchte. Trotzdem lüftete sie es gelegentlich.
Um das Toilettenpapier in dem kleinen Bad nachlegen zu können, musste sie in den Keller hinabsteigen. Da sie schon einmal hier unten war, konnte sie gleich prüfen, ob Dehning gestern die Sauna benutzt hatte. Nein, sah nicht danach aus. Die Tür war geschlossen, und es lagen keine Handtücher herum.
Bevor sie in die obere Etage hinaufstieg, sorgte sie dafür, dass Dehnings Kaffeemaschine heißes Wasser für sie produzierte. Dann wählte sie einen der Tees aus, die aufgereiht am hinteren Rand der Arbeitsfläche standen. Grüner Jasmin Tee, lecker. Sie nahm die Tasse mit nach oben, stellte sie auf das kleine Tischchen, das direkt neben der Treppe stand und begab sich in das Schlafzimmer. Sie schüttelte das Bett auf und legte die gebrauchten Kleidungsstücke in den Wäschekorb. Das reichte noch längst nicht für eine ganze Maschine.
Offensichtlich hatte Dehning gestern Abend im Bett noch ein Glas Wein getrunken. Rotwein. Er hatte Ränder auf dem Holz des Nachttisches hinterlassen. Sie stellte das Glas auf das Tischchen neben die Treppe, damit sie es später mit hinunter nehmen konnte, und machte sich daran, die Flecken zu entfernen.
Jetzt musste sie sich noch um das Bad kümmern, das an Dehnings Schlafzimmer angrenzte. Da er meistens duschte, war auch hier nicht allzu viel zu tun. Trotzdem war ihr Tee schon deutlich erkaltet, als sie wieder an ihm vorbei kam und einen Schluck trank.
Als Letztes blieb noch das Arbeitszimmer. Dehning hatte ihr eingeschärft, auf keinen Fall seine Papiere durcheinander zu bringen. Staub wischen durfte sie. Saugen auch. Den Mülleimer ausleeren auf jeden Fall, aber niemals Papiere verschieben. Daran hielt sie sich im Allgemeinen. Da er ihr jedoch nicht verboten hatte, zu lesen, was auf den Blättern stand, wusste sie eine ganze Menge über seine Geschäfte, kannte seine Geschäftspartner und Kunden. Auf diesem Weg hatte sie schon so einige neue Putzstellen gefunden.
Im Moment war sie komplett ausgebucht, brauchte keine weiteren Auftraggeber, aber man konnte ja nie wissen.
Schwungvoll schob sie die recht schwere Holztür auf und erschrak. Dehning lag auf dem Boden. Neben dem Schreibtisch. Der flauschige Teppich hatte fast alles Blut aufgesogen, das offensichtlich aus der Kopfverletzung ausgetreten war. Bea stürzte zu ihm, legte ihm zwei Finger an den Hals. Kein Puls. Er musste schon länger hier liegen. Die Haut war kalt und wirkte sehr bleich.
Sie musste um ihn herum gehen, um das Telefon zu erreichen, das auf dem Schreibtisch stand. Sie hielt es schon in der Hand und wollte eben den Notruf wählen, als sie bemerkte, dass im Regal gegenüber eine der großen hölzernen Statuen fehlte. Sie fuhr herum. Tatsächlich, da lagen zwei dunkle Holzsplitter auf dem Boden, neben Dehnings Kopf, den sie eigentlich lieber nicht genauer betrachten wollte.
Sie war natürlich keine Ärztin, hielt es aber dennoch für wahrscheinlich, dass jemand Dehning erschlagen hatte. Am Schreibtisch befand sich jedenfalls kein Blut, weder an der Ecke, noch an der Kante des Beins.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Bea biss sich auf die Lippen. Was sollte sie jetzt tun? Sie wollte auf gar keinen Fall mit einem Mordopfer in Verbindung gebracht werden. Das konnte sie sich nicht erlauben.
Sie durfte ihn aber auch nicht einfach so liegen lassen. Wer weiß, wann er sonst gefunden wurde? Obwohl, einem Toten dürfte das eigentlich egal sein.
Bea gab sich einen Ruck. Sie ging andersherum um den Schreibtisch zu den Aktenschränken, die unter dem Fenster standen. Sie zog die unterste Schublade auf, wählte eine Mappe und blätterte die Stiche vorsichtig durch. Momentan hingen hier im Arbeitszimmer und draußen auf dem Flur mehrere Studien von Baselitz. In dieser Schublade bewahrte Dehning Aquarelle, Stiche, limitierte Drucke und ein paar Porträts in Rötel auf, die er abwechselnd hier oder in seinem Büro in der Firma ausstellte.
Bea wählte drei Stiche, die mit Jahr und Signatur des Künstlers gekennzeichnet waren. Die ließen sich leichter verkaufen.
Dann eilte sie zurück ins Schlafzimmer, kramte drei Hemden aus dem Wäschekorb, legte sie ordentlich zusammen und schob die Blätter dazwischen. Sie würde diese Hemden, wie so oft, morgen oder übermorgen in die Reinigung bringen. Vorsichtig nahm sie die Teetasse in die Hand. Kurz überlegte sie, ob sie das Weinglas zurück auf den Nachttisch stellen sollte, befürchtete aber, dass es ihr nicht gelingen würde, ihre Fingerabdrücke darauf abzuwischen, ohne auch die von Dehning selbst zu entfernen. Was für ein verdammter Mist. So etwas konnte auch nur ihr passieren.
Sie stolperte, als sie auf die Treppe trat.
„Ganz ruhig“, redete sie sich selbst zu.
Das fehlte noch, dass sie stürzte und unten mit gebrochenem Bein lag, wenn die Polizei eintrudelte.
Ihre Hände zitterten unangenehm, als sie die Küche betrat. Sie wusch ihre Tasse und das Weinglas ab, stellte beides in den richtigen Schrank zurück und sah sich um. Ihre Jacke, die sie gleich nach ihrer Ankunft ausgezogen hatte, lag auf dem Küchenstuhl. Ansonsten entdeckte sie nichts, das darauf hinwies, dass sie sich heute hier aufgehalten hatte.
Die Polizisten würden nicht wissen, wie ordentlich oder unordentlich es aussah, wenn Dehning das Haus normalerweise verließ.
Und dass sich ihre Fingerabdrücke überall im Haus finden ließen, lag eben einfach daran, dass sie bereits seit mehr als neun Monaten für Dehning arbeitete.
Blöd war allerdings, dass sie sich vermutlich auch auf Gegenständen, sprich Kunstwerken oder Dokumenten befinden würden, die sie eigentlich nicht anfassen sollte.
Ziemlich dämlich, wenn sich herum spräche, dass sie in den Schränken ihrer Arbeitgeber herum schnüffelte.
Mein Gott, Bea! Der arme Dehning liegt da oben und ist tot, und du machst dir Gedanken über so einen Mist. Wie kann man nur so herzlos sein?
Was soll das? Eben, der ist tot, und ich, ich hab noch ein paar Jahre und muss zusehen, wie ich zurechtkomme. Und eine Verantwortung habe ich auch. Das ist ja wohl nicht von Hand zu weisen.
Oh Kacke, jetzt führte sie schon Selbstgespräche. Das konnte ja heiter werden.
Sie wickelte sich ein Geschirrhandtuch um die Hand, ging ins Wohnzimmer, nahm das Mobiltelefon von der Ladestation und wählte 112. Sie legte ihre Jacke über das Telefon und sagte langsam und deutlich, ohne sich von dem Mann am anderen Ende unterbrechen zu lassen: „Hören Sie mir zu, ich sage das nur einmal. Michael Dehning, Holle, ist schwer verletzt. Er liegt in der oberen Etage in seinem Arbeitszimmer. Kommen Sie schnell. Ich lege jetzt auf.“
Inzwischen klopfte ihr Herz so schnell, dass sie befürchtete, gleich keine Luft mehr zu bekommen. Sie atmete tief durch, richtete sich auf und kehrte noch ein letztes Mal in die Küche zurück.
Sie hängte das Geschirrhandtuch an seinen Platz und verließ das Haus, nachdem sie geprüft hatte, ob jemand auf der Straße vorbeiging.
Alles leer.
Sie lehnte die Haustür an, damit die Sanitäter ins Haus konnten.
Welch ein Glück, dass sie ausgerechnet heute weiter hinten im Wendehammer geparkt hatte. So würde sich kein Zeuge daran erinnern können, dass ihr Auto an diesem Morgen vor dem Haus eines Mordopfers gestanden hatte.
Sie versuchte, unverdächtig langsam zu ihrem Wagen zu schlendern, beschleunigte aber unversehens immer wieder. ‚Bloß nicht rennen‘, dachte sie panisch. ‚Mach langsam. Du willst doch nicht auf den letzten Metern noch auffallen.‘
Sie ließ sich auf den Sitz fallen, schob die Hemden mit ihrer wertvollen Füllung vorsichtig unter den Beifahrersitz und fuhr los.
Sie war gerade in die Hauptstraße eingebogen, als sie die Sirene des Notarztwagens hörte.
Zu spät – schon tot. Zu spät – schon tot. Zu spät -
Offensichtlich hatte Irmhild ihr Wochenende auch nach hinten verlängert. Bisher war sie jedenfalls noch nicht im Büro aufgetaucht. Deshalb musste Nils aufspringen, als das Telefon in ihrem Zimmerchen läutete.
„Einsatzleitstelle Hameln, Jürgensen, bei uns ist ein eher ungewöhnlicher Notruf eingegangen. Eine vermutlich verfremdete Stimme hat einen Rettungswagen zu einem Michael Dehning in Holle bestellt. Kennen Sie den? Gibt‘s den bei Ihnen?“
„Ja, der Mann lebt hier, in Grasdorf, einem Ortsteil.“
„Vermutlich handelte es sich um ein Fake, da will uns einer verarschen, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber wie heißt es so schön? Vorsicht ist besser als Nachsicht. Vielleicht fahren Sie mal nachgucken. Rückmeldung vom Rettungswagen habe ich noch nicht, der ist noch unterwegs. Schönen Tag noch.“
Nils legte das Telefon weg, holte seine Jacke und verließ im Laufschritt das Gebäude. Mit quietschenden Reifen wendete er. Es kümmerte ihn nicht, dass einige Passanten den Kopf schüttelten. Er hatte es echt eilig.
Als er in Dehnings Straße einbog, sah er den Rettungswagen vor dem Grundstück stehen. Die beiden Sanitäter befanden sich vor dem Haus und schienen zu telefonieren.
Nils stellte seinen Wagen direkt hinter ihrem ab, ging zu ihnen und begrüßte sie kurz.
Die Männer stellten sich als Benni und Ivor vor.
„Was ist das Problem?“, fragte Nils.
„Die Tür ist nur angelehnt. Auf unser Klingeln reagiert aber niemand. Da wir nicht wissen, ob wirklich Gefahr im Verzug ist, dürfen wir da nicht so ohne Weiteres hineingehen.“
Nils sah sich um. „Dann ist es vermutlich das Beste, wenn ich vorausgehe.“ Er schob die Tür auf und betrat den kleinen Flur. Sollte er seine Waffe ziehen?
Gefahr im Verzug? Er wusste nicht genau, wann der Anruf eingegangen war, vermutete aber nicht, dass sich ein etwaiger Täter bzw. der Anrufer noch im Haus befand.
Seine Hand schwebte über der Waffe in seinem Holster, als er die Küche betrat. Alles makellos. Auch das Wohnzimmer wirkte unbewohnt. Selbst die langen Fasern des Teppichs schienen in Habachtstellung zu stehen.
„Unten ist nichts. Ich gehe in die obere Etage“, rief Nils den beiden Sanitätern zu, die inzwischen den Flur betreten hatten.
Im Schlafzimmer fand er nichts, das Badezimmer schien heute noch niemand benutzt zu haben.
Die Tür zum nächsten Raum war nur angelehnt. Schon bevor er sie weiter aufgeschoben hatte, wusste er, dass er den richtigen Ort gefunden hatte.
„Der Mann liegt hier oben“, schrie Nils den Sanitätern zu, die sofort zu ihm hinauf hasteten. Er hockte sich zögernd neben Michael Dehning und erkannte sofort, dass sie zu spät kamen. Trotzdem ließ er es zu, dass einer der beiden Sanitäter ihn ebenfalls untersuchte, ermahnte ihn aber, möglichst wenig zu verändern. Der zweite wartete auf dem Flur. Trotzdem schüttelten sie gleichzeitig den Kopf. „Da können wir nichts mehr machen. Rufen Sie den Arzt oder sollen wir?“
Nils hatte die Gelegenheit genutzt, sich in dem kleinen Arbeitszimmer umzuschauen. „Ich denke, ich werde bei der Inspektion in Hildesheim anrufen. Das sieht mir nicht nach einem Unfall aus.“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde ihm ein wenig schwindlig. Gestern noch hatte er sich über den Mann geärgert, heute war er tot. Und wer hatte die ganze Verantwortung? Er, Nils Meyer.
Er stockte.
Seine erste Leiche.
Er spürte, wie ihm flau wurde. Gut, dass er nicht so üppig gefrühstückt hatte.
Ausgerechnet jemand, den er kannte.
Was für ein Scheiß!
Nachdem ihm der Zuständige der Polizeiinspektion Hildesheim bestätigt hatte, dass man sofort ein kompetentes Team schicken würde, begann Nils, zu fotografieren. Zwar hatte er nur sein Handy dabei, aber das müsste fürs Erste reichen. Er schätzte, dass er eine gute halbe Stunde Zeit hatte, bevor die Kollegen ihn erreichten.
Besonders die beiden hölzernen Splitter am Boden neben der Leiche hatten es ihm angetan. Interessiert betrachtete er die Skulpturen, die gegenüber dem Schreibtisch in einem in die Wand eingelassenen Regal standen. Wenn Dehning irgendein Gefühl für Proportionen gehabt hatte, dann fehlte in der Mitte eine Figur. Er besah sich die Stelle genauer und verfluchte die Putzfrau. Vermutlich war der Ring, den er im nicht vorhandenen Staub auf dem Regalbrett zu sehen glaubte, pure Einbildung. Das müsste die Spurensicherung klären.
Er berührte nichts und bewegte sich langsam durch das Zimmer.
Er hatte es sowieso betreten, um erste Hilfe zu leisten, das bedeutete, dass Spuren von ihm auf jeden Fall den Tatort kontaminiert hatten. Er fand, auf ein paar mehr oder weniger kam es nicht an.
Nils versuchte, sich vorzustellen, wie der Schlag ausgeführt worden war. Warum hatte sich Dehning mit seinem Angreifer in diesem Zimmer, in der ersten Etage aufgehalten? Sie mussten sich gekannt haben. Er nahm sich vor, unbedingt herauszufinden, ob Dehning sich gelegentlich mit Kunden in seinem Privathaus traf? Vielleicht für Absprachen zu Schwarzarbeit? Das wäre doch ein gutes Motiv. Schließlich gab es für Schwarzarbeit keine Garantie. Zweifellos ein unzufriedener Kunde!
Andererseits dachte Nils sofort an die Schmierereien an den Baumaschinen, die er gestern aufgenommen hatte. Waren es doch um ernst gemeinte Drohungen gewesen?
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