Zufällig ich - Bettina Messner - E-Book

Zufällig ich E-Book

Bettina Messner

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Beschreibung

Ist alles Zufall oder gibt es einen höheren Plan im Leben? Eine ungeborene Seele hat sich auf der Erde verirrt und sucht ihre Familie. Wird sie bei Henrietta fündig? Doch plötzlich verschwindet diese nach einem Streit mit ihrem Freund Joe. Und sie bleibt nicht die Einzige. Wie soll die Seele es jemals schaffen, geboren zu werden? Eine Begegnung im Theater scheint alles zu verändern ... In dieser fantastisch-realistischen Geschichte verflechten sich Schicksale und Realität(en) verschiedener Menschen überraschend und turbulent.

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Sämtliche Handlungsabläufe, sowie alle Personen der Handlung und deren Namen und Daten sind völlig frei erfunden!

Jedwede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, sowie Ereignissen und Zusammenhängen wäre rein zufällig und ist von der Autorin in keiner Weise beabsichtigt!

ProtagonistInnen:

HS — die innere Stimme, das Höhere Selbst von Ich

Lotti — ein Wesen

Henrietta (Henry) — eine Bibliothekarin

Joe — ihr Lebensgefährte

Gabriel — Regisseur, Exfreund von Henrietta

Em — seine Frau

Ann — eine Autorin

Paul — ein Fotograf

Beggs — ein Landstreicher

Lump — sein Hund

Sandra — eine Schauspielerin

Dino und Su — zwei Obdachlose

Vielen Dank an Claudia Hannemann, Nora Edelsbacher, Katrin Jessner, Sonja Winnecker, und alle Freunde, die an diese Geschichte und an mich geglaubt haben.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1.

Kapitel

2.

Kapitel

3.

Kapitel

4.

Kapitel

5.

Kapitel

6.

Kapitel

7.

Kapitel

8.

Kapitel

9.

Kapitel

10.

Kapitel

11.

Kapitel

12.

Kapitel

13.

Kapitel

14.

Kapitel

15.

Kapitel

16.

Kapitel

17.

Kapitel

18.

Kapitel

19.

Kapitel

20.

Kapitel

21.

Kapitel

22.

Kapitel

23.

Kapitel

24.

Kapitel

25.

Kapitel

Es gibt keinen Zufall.

PROLOG

ES will unbedingt geboren werden. ES will nicht mehr länger universelle Energie sein. ES will in dieser kleinen irdischen Welt sein, die ES immer so gerne beobachtet. Das ist zwar eine banale, ja beinahe einfältige Welt, aber ES findet es interessant, dort und da mitspielen zu können. ES möchte endlich wieder so tun dürfen, als wäre jede kleinste Nebensächlichkeit ein großes Drama. Und Spaß haben. Mit echten Augen sehen und mit echter Haut spüren. Und überhaupt. Viele Geschichten erleben. Auf der Energieebene ist ja alles ohne Spannungen, immer harmonisch, easy, gleich, konfliktund hindernisfrei. Das ist wunderbar. Aber auch öde.

Die Beschränkung des irdischen Lebens stellt sich ES interessant vor. Man könnte sich in dieser Begrenztheit, innerhalb dieser Enge des menschlichen Horizonts treiben lassen und ein wenig Verantwortung abgeben. Oder das Gegenteil tun: Selbst die Führung übernehmen und eventuell auch Lehrer sein. Alles wäre möglich. Zumindest stellt ES es sich so vor. Nur wüsste man leider als Mensch gar nicht, was alles möglich wäre. Aber man hätte andererseits auch Zeit, es herauszufinden. Mehrere Leben Zeit dazu auch noch, sollte ein Leben nicht reichen. Und ein Leben reicht ja selten. ES will wieder zurück in diesen Kreislauf.

ES will endlich nicht mehr alles wissen, alles können und vor allem alles sein. Ein neues, banales Menschleben in einem überschaubaren Radius zu leben, das wäre doch mal wieder etwas ganz Anderes. Es ist so ähnlich wie Theater spielen oder eine Romanfigur sein. Agieren in einem vordefinierten, festgesetzten Rahmen. ES will wieder ein Teilchen im Raum sein, ein Splitter, ein Mosaikstückchen. Und andere entdecken. Mit ihnen interagieren. Sich an ihnen reiben, sogar streiten, anderer Meinung sein. Kontraste und Unterschiedlichkeiten erfahren. Und all die mit dem Menschsein verbundenen Illusionen haben! Das wäre doch mal wieder fein. Aber wie könnte ES geboren werden? Könnte ES das irgendwie selbst initiieren?

ES ist klar, dass ES sich dafür eine Zeit und einen Ort aussuchen muss. Die Erde als Planet wäre spannend, das steht schon mal fest. Dort ist noch eine turbulente Entwicklung im Gange, die ES gut beobachten kann. Ein interessanter Flecken, dieser blaue Ball. Fast ein wenig abenteuerlich. Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wären eine mögliche Wahl, denn ES gefällt diese Zeit sehr. Vielleicht in Berlin oder Paris in den Tag hineinleben. Schließlich wird diese Phase von den Menschen als eine „goldene“ bezeichnet. ES hat ein wenig in den Geschichtsenergien des Planeten herumgestöbert und diese in sein Feld aufgenommen. ES ist überzeugt, auf einer guten Fährte zu sein.

„Ach geh, Fährte“, mischt sich eine Stimme ein. „HS“, wie ES diese Stimme nennt, die von innen zu kommen scheint, mischt sich selten ein, aber es scheint jetzt notwendig zu werden. „Wir wissen genau, dass wir uns damit viel zu sehr fokussieren. Das ist nicht unsere Sache.“

„Aber ich will ein Mensch sein und das gehört dazu.“ ES besteht immer stärker auf seine baldige Verdichtung.

Meine Güte, jetzt sagt ES schon ICH, reflektiert HS, meldet aber gleichzeitig: „Also gut“, und versucht eine andere Taktik. „Wir wissen aber auch, was nach den Zwanziger Jahren in Europa passiert ist, nicht? Wollen wir das wirklich?“

„Oh je.“ ES flackert ein wenig unsicher. „Das kann unschön werden. Ich will ja ein schönes Leben.“

HS hätte jetzt gerne signalisiert, dass es schließlich in jeder Phase um Entwicklung gehe und gerade die schwierigen Zeiten dabei sehr hilfreich seien, aber hält sich zurück, um ES nicht noch mehr zu verwirren. Vor allem um ES in keiner Weise zu bestärken, Mensch werden zu wollen. Was für eine Idee! So gestrig! Wo man doch geglaubt hat, Zeiten, das enge chronologische Konzept überhaupt, längst hinter sich gelassen zu haben, nein, darüber hinaus zu sein. Ach, jetzt ist auch HS schon von dem Zeitkonstrukt infiziert.

„Dann nehme ich die Sechziger!“, glüht ES jetzt begeistert und pulsiert auch ein wenig dabei. Das Jahrzehnt gefällt ES besonders. Bunt und lässig soll es sein. Ein bisschen Bewusstseinserweiterung in menschlichem Rahmen kann nicht schaden. ES lässt all seine Energiefarben gleichzeitig strahlen. „Anfang der Sechziger oder Ende? Wie soll ich mich entscheiden?“

„Fragen wir das wirklich?“, brummt HS. „Wir wissen es und wissen es nicht. Eine Entscheidung muss getroffen werden, sonst geht gar nichts.“

„Ja, ok, Ende der Sechziger. Und wie mach ich das?“ ES funkelt mittlerweile wie eine Diskokugel. HS verdunkelt ES ein wenig und dimmt die Stimmung runter: „Wir müssen das Potenzial doch längst erkennen können. Das Potenzialfunkeln. Wir müssen auf das Potenzialfunkeln achten. Dann in die Spirale. Und wenn wir weiter so zögern, dann verpassen wir den nächsten Rundlauf.“

„Diese Zeit scheint ein wenig vernebelt.“ ES übergeht die Irritation darüber und weitet seine Energiebahnen aus, um sich ein bisschen besser im Raum-Zeit-Kontinuum einzufühlen. Dabei fokussiert ES sich ein wenig zu sehr. Fast schwebt ES dabei auf einzelnen Wolken, anstatt das große Ganze im Feld zu behalten.

„Hallo, träumen wir?“, blitzt HS nach einer Weile. „Verlieren wir uns? Da ist gar kein Nebel. Alles Fassade.“

„Jetzt habe ich etwas gespürt!“ ES ist jetzt hellwach und offen. „Da ist etwas und ich tauche mal kurz hinein.“

HS gefällt das nicht so sehr, aber das liegt eben daran, dass Zeitlinien HS im Grunde immer schon suspekt waren. Zu menschlich. Zu irreal. Das Universum aber surrt und schnurrt und mäandert und wandert, und kümmert sich nicht um menschliche Konstruktionen. Aber auch nicht um seine einzelnen Teile. Auch nicht um HS. Schon gar nicht um ES. Genau in dem Moment nämlich, wo ES sich einer bestimmten Raum-Zeit nähern will, macht das Universum jetzt eine Schleife oder eine Falte oder beides, jedenfalls bewegt es sich weiter.

„Das gibt es doch nicht“, flackert ES und schrillt dabei gleichzeitig in den höchsten Tönen. „Da war doch grad noch so ein Funkeln, ein Potenzialfunkeln, und wo ist es jetzt? Und warum ist jetzt plötzlich das Jahr 2000 da? Das ist doch ... Wo sind die Sechziger hin?“

„Wir sind zu tief in den irdischen Konzepten verstrickt. Entspannen wir uns. Lassen wir uns fließen“, sagt HS betont ruhig, ohne auf die Fragen einzugehen. Für Fragen hat HS keinen Sinn. Schließlich müsste ES im Grunde alles selbst wissen. So ist das in der freien Energie und nicht anders. Es macht HS im Grunde aber schon unruhig, dass ES das alles nicht mehr zu wissen scheint. Ein Zeichen, dass ES schon zu nah im Irdischen Feld ist? Färbt das Unwissen schon ab? Das kann ja wohl nicht sein, ohne das richtige Potenzial …

„Ja, ja.“ ES bewölkt sich ein wenig, findet aber nicht so richtig ins Fließen. Irgendwie geht jetzt gar nichts mehr. Da blockiert etwas! Das ist ES nicht gewöhnt. „Was ist da los, HS? Ich kenne mich nicht aus. Muss das nicht anders laufen?“

HS aber antwortet nicht. ES wird noch ungeduldiger und sogar launisch. Schon wieder ein neues Verhalten bei ES. Verhalten? Hat ES ein Verhalten? Vermutlich tatsächlich aufgrund der starken Nähe zu den irdischen Energien. „Übrigens vielleicht ist mir Europa doch zu belastet, wie wäre es mit Hawaii? Endlich wieder nach Hause zurück? Am blauen Pazifik sitzen und auf den Horizont schauen? Wäre doch nett.“

„Oh je, wir verstreuen in dieser Sprunghaftigkeit gerade unsere Energiepotenziale in alle Richtungen und Zeiten. Haben wir vergessen, dass alles Konsequenzen hat? Wohin wir denken, hinterlassen wir Gefühlspartikelchen! Passen wir besser auf!“ HS ist jetzt alarmiert.

ES aber hört gar nicht zu. „Sollte da jetzt nicht irgendwo irgendwann ein helles Licht sein? Ein Sog? Warum ist da nichts? Ich muss mir das genauer ansehen und noch weiter hinein. Ich muss da hin. Ganz nah. Direkt.“

„Wir sollten das nicht tun!“ warnt HS. „Die Energie ist dort und dann zu niedrig. Wir sollten auf das richtige Potenzial warten. In uns hinein fühlen. Ach! Wissen wir nicht mehr, was passiert ist, als wir das letzte Mal zu früh eintauchten? Haben wir das auch schon vergessen? Wir sollen fließen und nicht forcieren. Auf die Energiespirale warten, die uns aufnimmt. Auf die richtige! Wir werden es genau fühlen, wenn es soweit ist. Wir müssen uns darauf einlassen und warten! Erinnern wir uns! Erinnern wir uns!“

ES aber hört immer noch nicht zu, jubiliert nun fast, sprüht noch ein wenig mehr und schaltet den Turbo mit Richtungsstrahlern ein. „Ich fühl mich schon viel menschlicher. Und irgendwie ist es plötzlich aufregend und prickelnd! Wow! Was für ein Gefühl! Das ist doch ein Zeichen! Das muss ein Zeichen sein! Muss! Ich werde einmal ein bisschen Gas geben und losstarten!“

HS versucht zu bremsen. „Das haben wir auch damals in Atlantis gedacht und uns zu früh eingemischt! Man muss allem seinen Lauf lassen. Go with the Flow! Nichts forcieren! Nichts forcieren! Wir wissen doch noch, was das letzte Mal passiert ist?“

ES zuckt uninteressiert. „Das war nicht meine Schuld! Glaube ich jedenfalls. Oder? Ich vergesse grad so viel. Egal. Jetzt geht’s los! Juhu! Huiiiiiii!“

ES blitzt und donnert und fühlt sich wie ein Komet, während ES auf die Erde zu-fällt.

1.

(Ich)

Was ist das?

Wo bin ich?

Oder besser: Was oder wer bin ich?

Wo HS nur steckt? HS — melde dich bitte!

Bin ich allein?

Werde ich bald Mensch sein?

Irgendetwas verändert sich. Irgendetwas durchbricht die Dunkelheit und bewegt sich.

Hallo?

Hallo!

Bist du meine Mama?

(Henrietta)

„Es gibt keinen Zufall.“

Es fing an, als ich mir den ersten Satz überlegte. Natürlich hatte ich die Liebesgeschichte des Quartals — Joe nennt sie ja heimlich Schmonzetten und er weiß nicht, dass ich das weiß — schon fertig geschrieben, aber ich hatte die Angewohnheit, den ersten und den letzten Satz ganz am Ende hinzuzufügen. Das wurde allmählich zu einem Zwang für mich, ohne den ich keine Geschichte mehr schreiben konnte. Erst danach konnte ich gedanklich abschließen und mich auf eine neue Story einstellen. Gewisse Rituale erleichterten mir die strukturierte Schreiberei, die im Grunde nicht so meiner Natur entsprach. Es war schon ein seltsamer Tag. Rückblickend erinnere ich mich sehr deutlich an meine Angespanntheit, Nervosität, an das Chaos, das in mir tobte.

Natürlich war zu einem großen Teil Gabriel daran schuld, also indirekt. Meine Gedanken kreisten um unser Treffen, welches er nach fünfzehn Jahren Funkstille initiiert hatte und das gleich nach Dienstschluss stattfinden sollte. Die Kontaktaufnahme kam überraschend und sehr plötzlich für mich. Ich hatte all die Jahre gar nicht daran gedacht, dass wir uns wiedersehen würden, hatte es wohl verdrängt, denn er war ja nicht aus der Welt. Nur aus meiner verschwunden. Das Konzentrieren auf den ersten Satz sollte eine Ablenkung sein, denn das Neusortieren der „Klassischen Meisterwerke“ in der Sonderabteilung der Bibliothek war dafür nicht gerade ideal. Zu viele Möglichkeiten, um in Gedanken an die Verabredung mit Gabriel abzuschweifen.

Der erste Satz ist der wichtigste Satz in einem Roman, denn er soll den Leser, die Leserin ins Buch ziehen, einen Einstieg schaffen, nach dem man sich das Weiterlesen ersehnt. Dann der erste Absatz, das erste Kapitel. Meine Lektorin Nike war da sehr darauf fokussiert. „Du musst erst mal unbändiges Interesse wecken!“, sagte sie immer wieder, „zack, zack, ich will ein Einstiegsfeuerwerk!“ Und es gelang mir meistens, eines zu zaubern. Bis auf den ersten Satz. Der fiel mir immer noch schwer.

Ich war allein an jenem Tag in der Bibliothek mit meinen Gedanken kurz vor Dienstschluss, der Dämmerung und einem Wolkenbruch. Ich schrieb wie automatisiert in mein Notizbuch: „Es gibt keinen Zufall.“ Und dachte dabei, dass ich mir ein bisschen mehr spielerische Leichtigkeit wünschte, überraschende Geschehnisse, die einfach so passieren, ohne Sinn und Grund. Aber ich dachte dabei an mein Leben und gar nicht mehr an den Roman.

(Ich)

„Unsinn!“

Wer oder was hat das gesagt? Habe ich das wirklich gehört? Kann ich hören?

„Wer bist du?“, frage ich und sehe ein transparentes weißliches Etwas.

„Wenn ich das wüsste!“

Das Etwas nähert sich und wird immer sichtbarer. Seine Transparenz wird dichter und formt sich zu einer Art weißen Fleck. Oder nehme ich das nur so wahr? Kann ich überhaupt sehen?

„Du sprichst?“

„Keine Ahnung. Vermutlich. Scheint so.“

„Vielleicht höre ich dich nur in mir drin? Bist du mein HS?“

„Hm. Das glaube ich nicht. Aber es ist im Grunde egal, findest du nicht?“

Ich finde das Etwas oder diesen weißen Fleck seltsam. Aber ist nicht die ganze Situation seltsam? Und ich weiß ja nicht einmal, wer ich selber bin und wo und warum. Bin ich ein Ich?

„Und du weißt auch nicht, wer oder was du bist? Das ist interessant, denn ich weiß auch nicht, was ich bin.“

Der weiße Fleck blinkt ein wenig. „Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich weiß sehr wohl, wer ich nicht bin. Ich bin nicht deine Mama. Und ein HS bin ich auch nicht. Was auch immer das ist. Aber wer ich bin? Hm. Ich bin eventuell, hm, möglicherweise, ach, nenn mich Lotti.“

Das Wesen flattert jetzt etwas und scheint dabei Konturen anzunehmen. „Und? Siehst du mich? Wie schaue ich für dich aus?“, fragt dieses Lotti-Wesen jetzt und bewegt sich hin und her.

„Also Lotti. Du siehst aus wie ein weißes Etwas“, sage ich. Mehr fällt mir nicht ein.

„Und ich? Wie sehe ich für dich aus? Kannst du mich überhaupt sehen?“ Ich bin sehr gespannt.

„Sehen oder wahrnehmen. Was auch immer. Hm. Wolkenhaft irgendwie, eher transparent. Aber mit vielen Farben wie ein Regenbogen. Und Lichtern. Aha, ich bin also weiß? Hm. Ich bin also doch eine Energieform. Irgendeine. Aber weiblich bin ich, denn der Name ist weiblich. Lotti ist doch weiblich?“

Ich habe keine Ahnung, was „weiblich“ sein soll. Die ganze Situation überfordert mich. Mir fällt etwas ein. „Du könntest mein Zwilling sein. Und wir sind im Bauch unserer Mama. Vielleicht ist das so.“ Ich finde diesen Gedanken tröstlich, fast schön. Dann würde ich mich nicht mehr so verloren fühlen. Aber dieses Lotti-Wesen macht ein seltsames Geräusch, das wie „Hahaha“ klingt. Was soll das?

„Du bist ein komisches Ding. Und hast noch komischere Einfälle“, sagt Lotti. „In einem Bauch? Eines Menschen? Sicher nicht.“

Lotti dreht sich herum, jedenfalls kommt es mir so vor. „Mir scheint, das ist ein Raum.“

„Ja und? Alles ist ein Raum. Alles besteht aus Räumen.“ Da bin ich mir in aller Unsicherheit wieder ganz sicher.

Ach wäre nur HS hier, das wüsste Bescheid.

„Das ist ein Raum voll mit … Zeug. Menschliches Zeug. Das sind ... Bücher!“ Das Lotti-Wesen klingt jetzt triumphierend, als hätte es etwas entdeckt. „Ja, ich weiß es. Wir sind in einer Bibliothek!“

„Bücher? Was ist das? Ach, du meinst mit Buchstaben bedruckte Blätter?“

Es fällt mir wieder ein, was ich darüber weiß. Immer mehr fällt mir jetzt ein. All das Materielle in der Welt. Ich kann wohl immer noch meine Chronik anzapfen. Das ist beruhigend. Moment mal, was ist eine Chronik? Egal jetzt. Ich sage mein altes, irgendwo irgendwann angesammeltes Wissen auf: „Eine Bibliothek ist eine Sammlung von Büchern in einem Raum. Ja, ich weiß das wohl. Ich weiß das noch. Aber was tu ich da? Wo ist HS? Und wo ist Mama?“

Lotti scheint zu überlegen. „Okay“, sagt sie, „Klingt ganz so, als wärst du eine ungeborene Seele oder so was.“ Sie macht eine kleine Pause und sagt dann, etwas lauter: „Wow, ich bin ja ziemlich clever!“ Sie macht irgendein Geräusch dazu, das ich nicht einordnen kann. „Du bist ein ICH, das ist schon mal klar“, sagt Lotti, „du bist eindeutig ein Wesen, du hast Gedanken. Wir haben beide Gedanken und — wie mir scheint — auch Verstand. Das ist ein gutes Zeichen. Wir sind also keine im Raum herum wabernden Energiefelder, nicht? Wir sind jeweils etwas Konkretes. Und wir bestehen unabhängig voneinander. Sind zwei selbstständige Wesen. Du für dich. Ich für mich. Soweit so gut.“

Lotti macht eine Gedankenpause. Ihre Weißheit schimmert. „Die Frage ist, warum wir hier sind. Und ob das alles einen Sinn hat oder nicht.“

(Henrietta)

Nachdem ich den ersten Satz geschrieben hatte, dachte ich wieder an Gabriel. Meinen Gabby. An den ehemaligen, lang nicht gesehenen Gabby. Und dann wollte er dieses Treffen noch so kurzfristig, dass ich mich gar nicht darauf einstellen konnte. Ich grübelte, was dahinterstecken konnte. Warum wollte er sich treffen? Natürlich hatte ich auch Joe nichts von der Verabredung gesagt. Es war ja nur auf einen Kaffee nach der Arbeit. Ein Wiedersehen von alten Freunden. Oder? Ich hatte beschlossen, Joe erst gar nicht damit zu belästigen. Er war ohnehin immer mit seinen Dingen beschäftigt. Vielleicht hätte er es gar nicht zur Kenntnis genommen, vielleicht hätte er einfach gesagt: Viel Spaß! In diesem ihm eigenen gleichgültigen Ton, den er für freundlich hielt. Warum also ihm überhaupt davon erzählen?

Ich schlichtete also die klassische Literatur. Es war eine vorwiegend haptische Arbeit, nicht sehr fordernd. Nicht, dass die anderen Tätigkeiten in der Bibliothek anspruchsvoller für meinen Geist gewesen wären: die Arbeit bestand hauptsächlich in der Eingabe von Daten und Zahlen in eine Datenbank und zwischenzeitliches Herumsitzen, was man Aufsicht nannte. Todlangweilig. Man konnte dabei aber innerlich abschweifen, in Fantasiewelten zum Beispiel. Meist beschäftigte ich mich während solcher Tätigkeiten mit Handlungssträngen für die aktuelle Liebesgeschichte, etwas, das immer mühseliger wurde, je mehr Geschichten ich schrieb.

Liebesgeschichten sind im Grunde für das, was ich vertraglich verpflichtet war, alle drei Monate abzuliefern, etwas großzügig ausgedrückt. Die Plots der dünnen Heftchen, manche nennen sie Groschenromane, mit den ewig gleichen Pseudo-Verwicklungen und den Happy Ends waren nicht unbedingt eine literarische Herausforderung für mich. Sehr wohl aber war es herausfordernd, es jedes Mal so aussehen zu lassen, als würde es sich nicht um dieselbe Geschichte handeln. Die Herausforderung war die kunstvolle Verschleierung der Tatsache, dass es in diesem Metier nichts Neues geben konnte und dass das im Grunde auch nicht gewünscht war. Man wollte das ewig Gleiche in verschiedenen Tarnmäntelchen lesen und sich vorstellen, es wäre immer wieder neu. Die ewige Wiederholung des zentralen Märchens für Erwachsene, hauptsächlich für Frauen. Es ging bei den Heftchen um die einstmals genormte und immer wieder gleich konstruierte, 08/15-Liebesgeschichte, die genau dann aufhören musste, wenn es im wirklichen Leben eigentlich spannend und vielschichtig werden könnte: Beim sogenannten Happy End. Das hat uns Hollywood eingebrockt und ich löffle es nun aus. Aber ich löffelte im Grunde gerne, auf alle Fälle lieber, als mich allein durch meinen Bibliothekars-Job durch die Tage und über die Monate tragen zu lassen.

Jede halbwegs intelligente Leserin durchschaut natürlich gleich, dass wir dieselbe Geschichte wieder und wieder schreiben und verkaufen, aber um Intelligenz geht es dabei ja nicht. Es geht um die bewusste Illusion, in die man sich einkuscheln, von der man träumen, durch die man der Realität entfliehen kann. Es ging darum, dass sich jede Leserin damit identifizieren, oder besser gefühlsmäßig infizieren konnte, damit die Leserinnen in der ständigen Hoffnung blieben, etwas Ähnliches könnte sich auch in ihrem eigenen Leben irgendwann ereignen oder — noch perfider — damit die Leserinnen sich in eine Traumwelt begaben und ihr eigenes Leben schön träumten. Eigentlich verachtete ich mich dafür, aber es war ein einfacher Weg, um irgendetwas Kreatives zu tun und natürlich, um gut zu verdienen. Erst wollte ich ja Krimis oder Science Fiction schreiben, mit der Masche ist heutzutage das meiste Geld zu machen, und es ist im Grunde auch dort immer der gleiche Plot, aber dann kam ich so einfach und spielerisch in die Liebeskitschromanwelt und das war es dann. Ich kam aufgrund eines Zufalls zu diesem Verlag, und machte einfach immer weiter. So wie meine Lektorin Nike es wollte. Es ist mit mir passiert. Wie alles bisher in meinem Leben mit mir passierte. Besonders an jenem Tag.

(Ich)

Lotti und ich denken nach.

„Ich weiß nicht, wo mein HS ist“, sage ich, „ich weiß, es war vorher da. Bevor ich an diesen Ort kam. Obwohl ich es anscheinend allmählich vergesse.“

„Was ist denn eigentlich nun ein HS? Du fragst schon wieder danach,“ sagt Lotti.

„Das weißt du nicht? Eine Stimme. Im Inneren. Wir alle haben sie und sie leitet und begleitet uns. Sie oder Es ist im Grunde immer da. Also bis jetzt war es immer so. Und jetzt fehlt HS plötzlich. Was unheimlich ist. Nicht normal. Das weißt du gar nicht?“

Lotti scheint zu zweifeln. „Hm“, sagt sie, „Ich kenne kein HS und kann mich an keines erinnern. Überhaupt, ich erinnere mich an fast überhaupt nichts. Wo ich vorher war. Keine Ahnung. Ich bin einfach hier aufgetaucht und da warst du. Gleich neben mir.“

Sie kommt näher und scheint mich zu berühren. Ich spüre nichts.

„Ich auch nicht“, sagt Lotti, offenbar wieder meine Gedanken lesend. Ich kann ihre Gedanken aber nicht hören. „Wir spüren nichts“, sagt Lotti und schwebt zu einer Bücherwand, in ein Regal hinein. „Schau, wir können alle Dinge in diesem Raum durchdringen.“

Die Bücher scheinen durch ihren Körper, scheinen in ihrem Körper zu sein. Sie kichert. „Ich bin jetzt zur Hälfte im Nebenzimmer. Auch lauter Bücher hier übrigens.“

Ich will das auch versuchen und nähere mich dem Regal. Das geht erstaunlich leicht. Ich merke, ich kann tatsächlich ein bestimmtes Ziel ansteuern. Ich kann mich durch den Raum bewegen. Das beflügelt mich regelrecht. Ich kann fliegen! Huiiiii!

„Au!“

„Was ist?“, ruft Lotti.

„Ich habe mich am Regal gestoßen. Glaube ich.“ Ich habe den Widerstand der Bücher und des Holzregals gefühlt. Ich rücke dieser Art von Materie jetzt langsamer etwas näher. Die Dinge sind kühl und hart. Ich nehme auch Temperatur wahr. In mir pocht es aufgeregt. Habe ich ein Herz? Was bin ich für ein seltsames Energiefeld, wenn ich doch nichts durchdringen kann. Was bin ich denn nun, zum Teufel?

„Du solltest nicht fluchen, wer weiß, ob wir nicht Engel sind“, sagt Lotti.

„Hast du schon wieder meine Gedanken gehört?“

„Entschuldigung.“

„Ich frage mich…“

„Was?“

„Wenn ich mich an Büchern stoßen kann, dich spüre: wie bin ich dann hergekommen? Durch dieses Ding da, das die Räume miteinander verbindet?“

Lotti setzt sich auf die Fensterbank. Kann sie sitzen? Es scheint so.

„Ich glaube nicht, dass du einfach durch die Tür gekommen bist. Auch nicht durch dieses Glasding namens Fenster. Wo warst du denn dann vorher? Irgendwo muss ja alles angefangen haben. Alles sehr merkwürdig, aber auch sehr interessant. Es handelt sich um ein Rätsel, das wir entschlüsseln müssen. Das liebe ich.“

„Ein Rätsel? Was ist das? Seltsames Wort.“

„Wir werden schon herausfinden, was da los ist. Wo wir sind, was wir sind und warum eigentlich. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Oder auch nicht.“ Sie scheint sich zu vergnügen. Sie wirkt jetzt heller.

„Ich wünschte, ich könnte auch durch diese Wand hindurchfliegen. Was soll ich denn für eine Energiewolke sein, wenn ich nicht einmal materielle Dinge überwinden kann?“

Lotti schaut jetzt verändert aus. Ihre Augen, sind das Augen?, treten deutlich hervor.

Jetzt macht sie ein Geräusch. „Ooohhh!“ Es klingt seltsam.

„Was hast du?

„Sei jetzt nicht überrascht, aber schau mal, wo du bist.“

Ich schaue mich um. Um mich sind Bücher in verschiedenen Größen und Farben. Sie sind überall. Auch in mir drin. In mir drin? Was?

Lotti macht wieder diese „Haha“-Töne, es ist Lachen, ja sie lacht.

„Du bist mitten im Regal. Du kannst es also doch! Na also. Es hat nur eine Weile gedauert. Als hättest du es eben erst das erste Mal gemacht. Vielleicht. Hm. Ja.“

Ich fliege wieder aus dem Regal. Ich kann also doch etwas! Oder habe es gerade gelernt. Das ist ja sagenhaft.

Lotti sagt: „Vielleicht sind wir Geister. Aber unterschiedliche Spezies, wie es scheint. Engelhaft bin ich nicht, denke ich. Aber wer weiß, wie es überhaupt ist, ein Engel zu sein. Ich habe ja nur die Bilder im Kopf, die sich die Menschen so ausdenken. Ganz viel Mythologie und alte Geschichten und vermutlich irgendwelche Projektionen.“

Während Lotti so vor sich hin sinniert, fällt mir etwas auf. „Du hast Bilder und Geschichten, die Menschen gemacht haben, im Kopf? Echt? Ich nicht.“

„Ah, das ist interessant. Gar keine?“

„Nein. Alles ist irgendwie unklar. Da sind keine Bilder und Geschichten in mir. Nein. Ich weiß alles nur über die Chronik, über die Menschen und das ganze irdische Zeug. Nur, wie heißt das? Ach ja, theoretisch.“

Ich versuche mich zu Lotti auf das Fensterbrett zu setzen, aber falle immer durch. Wie geht das jetzt, sich so zu bündeln, dass man die materiellen Dinge bewusst benutzen kann, die so herumstehen? Das kann ich also nicht. Ich bleibe in der Luft stehen.

Lotti sagt in die Stille. „Wir merken uns das alles. Jedes Detail könnte uns weiterhelfen. Es klingt, als wäre das ein Abenteuer. Und da stehe ich drauf.“

Ich weiß wirklich nicht, ob ich Abenteuer mag. Ich weiß noch nicht einmal, was das ist, ein Abenteuer. Es erscheint mir alles irgendwie konfus und anstrengend. Aber ich will zu meiner Mama kommen. Ich will meine Familie finden. Das ist das Wichtigste. Glaube ich jedenfalls. Aber wie soll das gehen in diesem „Zustand“?

„Wir werden es herausfinden“, sagt Lotti.

2.

(Henrietta)

Irgendetwas irritierte mich. Jedenfalls hatte ich kurz das Gefühl, dass ich nicht allein in der Bibliothek war. Aber das war Blödsinn. Ich war überspannt. Angespannt. Nervös. Alles zusammen. Alles wegen Gabby, der schon lange nicht mehr mein Gabby war. Gabriel Dengelmann, er nannte sich jetzt de Angelo, war inzwischen ein berühmter Theaterregisseur geworden.

Wie sehr er sich wohl verändert hatte? Ach, Gabby. Das Paradoxe am Schreiben der Groschenliebesromane war, dass sich mein Zweifel immer mehr in eine sarkastische Distanz zur Liebe überhaupt wandelte. Mochten Frauen auf der ganzen Welt auch daran glauben, zu einem großen Teil durch Medien manipuliert, ich hatte in meinem ganzen Leben, und das währte nun schon vierzig Jahre, noch nie einen einzigen Mann getroffen, der auch nur in die Nähe dieser Idealtypen kam. Es war noch schlimmer: Die realen Männer, die ich kannte, waren meist das genaue Gegenteil dieser ins Blaue fantasierten Helden. Bis auf Gabby ... Aber ich verzerrte sicher die Erinnerung und färbte sie mir schöner, als sie gewesen war. Wir waren sehr jung gewesen damals. Und nun sollte ich ihn nach all den Jahren endlich wieder treffen.

Wieder irritierte mich etwas im Raum und durchbrach meine Gedankengänge. Während ich die klassische Literatur schlichtete, waren da plötzlich diese Lichtpünktchen seitlich in meinem Sichtfeld. Sie blitzten immer wieder auf. In undefinierbaren Abständen. Wie Morsezeichen, Signale. Ich drehte mich um, aber hinter mir war nichts. Es muss der Anfang von meinem Nervenzusammenbruch gewesen sein.

Begann mir mein Leben zu entgleiten? Oder war alles biologisch erklärbar? Waren die Lichtblitze Zeichen einer beginnenden Migräne? Ich spürte auch überall ein Kribbeln auf der Haut, als wären da Ameisen. Aber ich war allein. Und ich selbst war die Ameise, das war mir klar. Eine Ameise, die täglich ihr Werk tut, von Hügelchen zu Hügelchen rennt, von zuhause in die Bibliothek und wieder zurück. Und während sie ihre kleinen Ameisenarbeiten verrichtet und parallel in ihren Fantasiewelten versunken ist, passiert um sie herum so viel, das ganze Leben und sie bemerkt es nicht, weil sie gerade noch auf ihren Pfad zwischen den Häufchen, die sie macht, achten kann. Ob Ameisen Fantasien haben, weiß ich allerdings nicht. Ich habe einen besseren Vergleich: Es ist, als würdest du Text sein und zwischen den Zeilen würde sich etwas abspielen, was du nie bemerkt hattest, und plötzlich aber wahrnimmst. Als spränge ein Zug aus dem Gleis. Nur davor wusstest du nicht, dass es außerhalb des Gleises etwas gibt, und danach weißt du nicht, was das alles bedeuten soll. Du kennt ja bis dato nur das Im-Gleis-sein. Nur was hat dich aus dem Gleis springen lassen?

Ich hätte am liebsten Joe angerufen. Aber mit Verrücktheiten konnte ich ihm nicht kommen. Außerdem steckte er wie immer mit beiden Ohren und allen restlichen Sinnen in einem seiner wichtigen Projekte, dass seine ganze Aufmerksamkeit forderte. In solchen Zeiten sah er mich zwar an, aber sah dabei durch mich hindurch, weil er an sein Projekt dachte, immer, sogar nachts. Ich hatte schon oft mit ihm darüber geredet und er versprach dann, mir mehr Aufmerksamkeit zu schenken, mir zuzuhören. Aber das Vorhaben hielt leider meist nicht lange. Ich wünschte, er wäre noch so aufmerksam wie am Beginn unserer Beziehung. Ach. Aber konnte ich etwas von ihm verlangen, mir wünschen, was ich selbst nicht im Stande war zu geben? Ich mit dem Kopf in den Wolken? Joe war im Grunde ein guter Mensch und deshalb schätzte ich ihn ja. Aber er ignorierte mich schon seit Jahren. Ich dachte oft daran, an diesem Tag, wie es gewesen wäre mit Gabby … nein, wie es wäre. Nein, ich verklärte die Erinnerungen. Ganz sicher.

Während ich beschloss, einfach vernünftig zu bleiben und mich zu beruhigen, war es dunkel geworden und ich schaltete das Licht ein. Die Lichtblitze oder Zeichen waren fort. Ich atmete auf. Nervös war ich dennoch. Und das Prickeln war auch noch da. Aber ich schenkte dem keine Aufmerksamkeit mehr, sondern konzentrierte mich ganz darauf, nicht durchzudrehen. Aus heutiger Sicht war es vielleicht eine Vorahnung auf all die merkwürdigen Dinge, die dann geschahen und die ich noch immer nicht verstehen kann.

(Ich)

„Verdammt! Was ist das? Ich kann nichts mehr sehen, bin geblendet! Ist ein Stern explodiert oder verlöscht?“

„Du sollst doch nicht fluchen.“

„Lotti, Lotti, wo bist du?“

„Hier gleich neben dir, du Dummerchen.“

„Ich kann dich nicht sehen. Ich kann überhaupt nichts mehr sehen. Nur helle Blitze!“

„Nun werde nicht gleich hysterisch. Es ist nur das Licht aufgedreht worden.“

„Das Licht aufgedreht? Was soll das heißen?“

„Du hast wirklich keine Ahnung von Leben auf der Erde, oder? So ein Wesen wie dich habe ich ja noch nie kennengelernt. Scheint mir. Denke ich. Hm. Ach, was weiß ich schon. Geht es schon besser?“ Ihre Stimme klang beruhigend in meinem Kopf, in mir.

Ich versuche, mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Es gelingt allmählich. Ich erkenne die Bücherreihen im Hintergrund. Vor mir taucht das Gesicht von Lotti auf. Das Gesicht? Was ist ein Gesicht? Etwas zum Ansehen, etwas, das schaut und redet. Etwas Menschliches. Woher weiß ich das? Was ist menschlich? Keine Ahnung. Doch ist da eine Ahnung.

Ja, Lotti hat ein deutliches Gesicht, nicht nur Augen. Sie verzieht den Mund freundlich. Ist das Lächeln? Ja, ich denke schon. Hinter ihr ist aber noch etwas. Noch ein Wesen?

„Und wer ist das?“

„Wer ist wer?“

„Na, die Gestalt da hinter dir. Die war doch vorher noch nicht da. Noch ein Geist?“

Lotti schaut sich um und wirkt verwundert: „Na so was. Das ist ein Mensch. Da bin ich mir sicher. Ich habe ihn bisher nicht bemerkt. Seltsam.“

Ich spüre, wie etwas in mir klopft und zittert. Es muss Aufregung sein. Ah ein Mensch, ein Wesen aus Materie. Woher weiß ich das? Sicher aus der Chronik.

„Der Mensch steht da und schaut. Was, wenn er uns sieht?“

„Ok, dann soll sie kommen und sich vorstellen“, antwortet Lotti fast ein wenig hoffnungsvoll. „Es ist eine Frau, ein weiblicher Mensch.“

„Das erkennst du? Was bedeutet das?“

„Ach, das ist jetzt zu kompliziert. Schauen wir uns die Frau doch genauer an. Vielleicht sieht sie uns auch. Dann hättest du endlich den Beweis, dass auch andere uns sehen. Dass Menschen uns sehen. Das wolltest du doch. Hm. Man sollte aufpassen, was man sich wünscht. Sie könnte ja auch gefährlich sein.“

„Ja. Du hast Recht. Du meinst, sie könnte uns etwas tun?“

„Nein, das ist Blödsinn. Gefährlich! Was rede ich! Was soll ein Mensch einem Energiewesen denn schon tun?“ Lotti klingt forsch, wirkt aber verunsichert. Sie flackert.

„Wir warten eine Weile und beobachten“, sagt Lotti.

Der Mensch schaut nicht böse aus. Oder mächtig. Oder angsteinflößend. Und ich merke, dass ich mir wünsche, sie würde mich sehen. Egal, was die Konsequenzen sein mögen. Ich will, dass sie mich sieht. Bitte. Die Gestalt rührt sich aber nicht, steht, als sei sie erstarrt. „Sie bewegt sich nicht.“

„Warum flüsterst du?“, fragt Lotti ziemlich laut.

„Ich habe keine Ahnung.“ Ich bin mir ja immer noch in nichts sicher. „Ich folge meinem Instinkt. Übrigens das erste Mal, dass ich mir sicher bin, dass ich einen habe.“

Lotti lächelt wieder. „Aber das ist kein Grund, anzunehmen, dass er einen in die richtige Richtung führt.“ Dann zuckt sie zusammen. „Mein Gott, ich bin ja zynisch. Du, ich habe wirklich etwas zutiefst Menschliches in mir.“

Ich nehme meinen Mut zusammen, der mir übrigens in diesem Moment auch neu ist, und schwebe in Richtung dieses Menschen zu, ohne darauf zu achten, was Lotti davon hält. Ich sehe sie mir genau von der Nähe an. Aha, so schaut also ein Mensch aus. Bunt, fest, mit klaren Konturen. Der Mensch hat rotes Haar und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Er riecht auch. Ich kann den Geruch nicht zuordnen, er ist noch zu neu. Der Körper strahlt Wärme ab, das kann ich fühlen. Er ist wärmer als ich.

„Ich denke, es ist wirklich ein Mensch“, sage ich zu Lotti, die mir nicht folgt, sondern einfach nur aus der Distanz beobachtet. Sie wirkt unruhig und flatterig.

Ich rücke noch näher an den Menschen heran, taste mich voran und schließlich stößt meine Außenhülle auf die des Menschen. „Fühlt sich eigenartig an. Sehr warm.“

Lotti ist jetzt ganz aufgeregt. „Ach, du liebe Zeit. Das ist aber sehr dicht. Pass bloß auf!“

Ich weiche ein wenig von dem Menschen ab. Nichts geschieht. Der Mensch steht immer noch so da, wie in dem Moment, als ich ihn das erste Mal sah.

„Ich glaube, er kann uns doch nicht wahrnehmen“, rufe ich Lotti zu und merke, dass mich die Erkenntnis doch enttäuscht.

Lotti, die in einiger Distanz unruhig hin- und hergezuckt hat, setzt sich jetzt wieder auf die Fensterbank. „Irgendetwas ist seltsam, weißt du. Also abgesehen von der ganzen Situation. Ich meine en detail. Ich weiß, dass Menschen sich bewegen, gehen, reden, Krach machen und so weiter, all das, was sie Leben nennen. Aber dass sie so steif stehen und nichts dergleichen tun, ist nicht normal.“

„Du musst es wissen“, sage ich, ziehe mich langsam von dem Menschen zurück.

„Waah!“

„Was ist denn nun wieder? Du bist ganz schön schreckhaft.“

„Jetzt schaut er zu uns, zum Fenster herüber. Der Mensch hat sich gedreht. Siehst du?“

Lotti schaut mich skeptisch an und beobachtet dann wieder den Menschen, diese Frau.

Nach einiger Zeit sagt sie: „Du hast Recht, die Frau hat sich leicht gedreht und schaut zu uns her. Ob das Zufall ist? Und wir wissen noch immer nicht, warum sie so langsam ist ... Warte mal. Lass mich nachdenken.“

Lotti grübelt vor sich hin. Dann springt sie abrupt auf, ruft: „Ich komme gleich wieder!“ und fliegt zum Fenster hinaus.

Mir ist nicht ganz wohl in der Situation, ohne Lotti in diesem Raum zu bleiben, aber ich konzentriere mich auf die Frau, beobachte sie weiter. Sie steht und schaut herüber, als ob sie mich sähe. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich schau zurück. Ich sehe sie wirklich. Glaube ich. Sie ist irgendwie schön. Aber ich weiß ja gar nicht, was das ist: Schönheit. Jedenfalls habe ich ein angenehmes Gefühl. Es fühlt sich warm an. Sie schaut zu mir her, aber auch irgendwie durch mich hindurch. Das finde ich schade. Ein wenig enttäuschend.

Lotti kommt wieder durch das geschlossene Fenster geflogen und lässt sich neben mir nieder. „Ich habe etwas herausgefunden“, ruft sie triumphierend und lacht ganz breit. Ihr Gesicht ist jetzt konturiert, wenn auch immer noch weiß und ein wenig transparent. Sie macht eine gewichtige Pause.

Ich werde ungeduldig.

„Zappel nicht so“, sagt sie, „ich erzähle es dir gleich. Aber du darfst dich nicht aufregen, versprochen?“

„Wie kann man so etwas versprechen? Ich weiß ja noch nicht einmal, was du mir sagen wirst. Wo warst du überhaupt?“

„Das ist der springende Punkt“, grinst Lotti stolz, „ich war draußen im Freien.“ Sie macht eine theatralische Pause.

„Nun sag es mir endlich. Ich werde es verkraften. Schließlich musste ich schon sehr viel verkraften, seit ich hier bin.“

„Also: Draußen auf diesem großen Platz vor dem Haus gibt es eine Uhr. Du weißt doch, was eine Uhr ist?“

Ich überlege. „Ja, ich glaube schon. Ein Gerät, das die Menschenzeit anzeigt.“

„Die Zeit, die die Menschen verwenden, ja. Also hör zu: Die Uhr zeigt in diesem Moment immer die gleiche Zeit. Sagt dir das etwas?“

Ich muss überlegen. Dann sage ich: „Vielleicht ist die Uhr kaputt?“

„Natürlich, das könnte sein. Aber ich vermute etwas ganz Anderes. Es könnte doch sein, dass wir eine andere Zeit haben als sie dort.“ Sie zeigt zur Frau, die sich immer noch starr im Raum befindet. Sich jetzt wieder leicht von uns weggedreht hat. „Im Konkreten vergeht für sie und wahrscheinlich für alle Menschen hier auf der Erde die Zeit anders als für uns. Sie wirkt starr und eingefroren, weil ihre Zeit anders ist als unsere. Ist doch einleuchtend, oder? Wir sind nicht in der gleichen Zeit. Während wir hier miteinander agieren oder wie man das auch immer nennen mag, vergeht für sie kaum Zeit. Schau sie doch an, sie atmet doch auch ziemlich langsam. Und beobachte das Blinzeln. Genauso langsam. Schau.“

Wir beobachten die Frau und ich begreife allmählich, dass Lotti Recht haben muss.

„Aber das ist ja schrecklich!“, rufe ich. Ich spüre, wie mein Wunsch, Mensch zu sein, geboren zu werden hier auf dieser Welt, immer mehr in weite Ferne rückt. „Das bedeutet doch, dass ich keinen Kontakt zu Menschen bekommen werde! Dass ich keine Chance habe, ein Mensch zu werden! Wie soll das denn gehen? Sie sehen mich nicht und sind noch nicht einmal in meiner Zeit.“

Ich bin verzweifelt und wenn ich gewusst hätte, wie Weinen funktioniert, hätte ich es getan.