11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €
Von künstlicher Intelligenz bis Hollywood: Wo China inzwischen den Takt vorgibt
China-Kenner Frank Sieren schildert aus erster Hand, was China so erfolgreich macht. Und warum Europa, ja selbst Deutschland, dabei ist, den Anschluss zu verlieren. Das Reich der Mitte ist ehrgeizig, schnell, innovativ, gut organisiert und lässt sich von uns nichts mehr vorschreiben. Erstmals seit Jahrhunderten wird ein asiatisches Land wieder Weltmacht, mit den USA ist ein Handelskrieg entbrannt. Auf allen Kontinenten investieren Chinesen in Bodenschätze, Infrastruktur und Industrie – auch bei uns kaufen sie sich ein. Frank Sieren zeigt, wie China uns direkt herausfordert und was die neue Supermacht für uns bedeutet: sowohl Chance als auch Gefahr.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 558
ZUM INHALT
Das neue China: wichtigster Partner und härtester Wettbewerber
China-Kenner Frank Sieren schildert aus erster Hand, was China so erfolgreich macht. Und warum Europa, ja selbst Deutschland, dabei ist, den Anschluss zu verlieren, wirtschaftlich wie politisch. Das Reich der Mitte ist ehrgeizig, schnell, innovativ, gut organisiert und lässt sich von uns nichts mehr vorschreiben. Inzwischen stellt es sogar unsere Werte infrage, die wir für universell halten. Erstmals seit Jahrhunderten wird ein asiatisches Land wieder Weltmacht. Auf allen Kontinenten investieren Chinesen in Bodenschätze, Infrastruktur und Schlüsselindustrien – auch bei uns kaufen sie sich ein. Frank Sieren zeigt, wie China uns direkt herausfordert und was die neue Supermacht für uns bedeutet: sowohl Chance als auch Gefahr.
ZUM AUTOR
Frank Sieren ist einer der führenden China-Experten Deutschlands. Der Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer lebt seit 1994 in Peking – länger als jeder andere westliche Wirtschaftsjournalist. Er hat den Aufstieg der neuen Weltmacht hautnah miterlebt. Lange schrieb Sieren für die Wirtschaftswoche und die Zeit, heute ist er der China-Experte des Handelsblatts. Sieren hat bereits mehrere China-Bestseller veröffentlicht.
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
FRANK SIEREN
ZUKUNFT?
CHINA!
Wie die neue Supermacht unser Leben,
unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2018 Penguin Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Heike Gronemeier, München
Karten: Peter Palm, Berlin
Covergestaltung: Bürosüd
nach einem Entwurf von Büro Jorge Schmidt, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-23453-9 V004
www.penguin-verlag.de
Für Leo und Tim,
die ihre Namen schon lesen können,
das Buch jedoch noch nicht.
INHALT
VORWORT
KAPITEL 1
CHINA, RUSSLAND UND EUROPA: NERVIGE NACHBARN
Wie Peking Europa schleichend aushöhlt und wir Putin in die Arme der Chinesen treiben.
KAPITEL 2
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND ANDERE ZUKUNFTSTECHNOLOGIEN: DRAMATISCHE DIGITALISIERUNG
Wie China neue Tech-Weltmacht wird und damit auch unsere Standards setzt.
KAPITEL 3
DAS NEUE AUTO: AUTONOME ANDERSDENKENDE
Wie China die Autoindustrie revolutioniert und dabei die mächtigen deutschen Hersteller in Schwierigkeiten bringt.
KAPITEL 4
CHINAS REFORMER: RADIKALE RUNDERNEUERUNG
Wie Präsident Xi die Zivilgesellschaft drangsaliert und China erfolgreich reformiert.
KAPITEL 5
ERFINDERGEIST: INTUITIVE INNOVATION
Wie Chinesen aus Not wieder erfinderisch werden und es Deutschland kalt erwischt.
KAPITEL 6
DIE NEUE SEIDENSTRASSE: GESCHICKTER GÜRTEL
Wie Peking das größte Infrastrukturprojekt der Welt durchzieht und Europa seine Rolle dabei nicht finden will.
KAPITEL 7
ASIENS KRISE & CHINAS NACHBARN: SPEZIELLER SPIELRAUM
Wie Peking Asiens Krisenherde nutzt und sich Chinas Nachbarn einverleibt.
KAPITEL 8
CHINA UND DIE USA: HALTLOSE HANDELSVERTRETER
Wie China die USA immer besser ausspielt und Deutschland damit in eine Zwickmühle bringt.
KAPITEL 9
AFRIKA: ALTERNATIVLOSER AUFBRUCH
Wie wir den letzten großen Wachstumsmarkt verschlafen und Peking sich einen Kontinent zum Partner macht.
AUSBLICK: DAS JAHRHUNDERT DER GLOBALEN GLEICHHEIT
DANK
VORWORT
»Wir haben jetzt die Stärke, unseren rechtmäßigen Platz in der Welt einzunehmen.«
Xi Jinping, Chinas Staats- und Parteichef
»Wir müssen nun selber für unsere Zukunft kämpfen, als Europäer, für unser Schicksal.«
Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin
„Ich will meine Soldaten aus Asien zurückholen.“
Donald Trump, US-Präsident
Als ich im August 1994 in Peking eintraf, kam ich in ein Land, das bereits von der Öffnungspolitik des Reformers Deng Xiaoping geprägt war. Dennoch war es unvorstellbar, in welch atemberaubender Geschwindigkeit sich China entwickeln würde. Hätte ich vor 15 oder 20 Jahren aufgeschrieben, wie China im Jahr 2018 aussehen wird – man hätte mich für einen Spinner gehalten, der jede Bodenhaftung verloren hat. Kaum jemand im Westen hat die erfolgreiche Entwicklung Chinas so vorhergesehen, wie sie sich vollzogen hat. Zu lange schien China ein Koloss auf tönernen Füßen. Doch nun strotzt das Land nur so vor Kraft. 2017 konnte es Produkte im Wert von 420 Milliarden US-Dollar mehr verkaufen, als es importieren musste.
Die Palette der Produkte reicht von Jeans über Smartphones bis hin zu Flugzeugen. China ist längst nicht mehr nur die Werkbank der Welt. Inzwischen haben sie auch die weltbesten Hochgeschwindigkeitszüge, und die meisten Elektroautos und E-Busse weltweit fahren auf den Straßen des Landes. China ist gemeinsam mit den USA führend bei der Zukunftstechnologie der künstlichen Intelligenz (KI), die unsere gewohnte Welt auf den Kopf stellen wird. Im Onlinehandel und beim Bezahlen per Smartphone sind die Chinesen bereits Weltspitze. Und bei den Start-ups liegen die Investitionen schon höher als in den USA. Das teuerste »Einhorn« der Welt, so nennt man Start-ups mit einem Wert von über einer Milliarde US-Dollar, kommt aus China: Es widmet sich der Gesichtserkennung, noch so ein Bereich, in dem China inzwischen weltweit führend ist.
Gleichzeitig investiert China erstmals in seiner 3500-jährigen Geschichte auf allen Kontinenten: Es geht um Schlüsselindustrien, Bodenschätze und Infrastruktur. Peking baut Eisenbahnlinien, Staudämme und Kraftwerke inzwischen in einer Qualität, die selbst die strenge Weltbank überzeugt, in der nach wie vor der Westen das Sagen hat. Das alles überstrahlende Projekt ist die weltumspannende Neue Seidenstraße, die bis nach Deutschland, Panama oder Senegal reicht. Es ist das größte Infrastrukturprojekt der Welt seit dem Bau der Großen Mauer, mit dem im 7. Jahrhundert vor Christus begonnen wurde.
Immer mehr Länder schlagen sich auf die Seite der Chinesen, weil die großzügig bei ihnen investieren, aber auch, weil diese Länder so werden wollen wie China: selbstbestimmt und unabhängig. China ist ein Land, das sich vom Westen nichts vorschreiben lässt, seinen eigenen Weg geht, in seiner eigenen Geschwindigkeit, mit seinem eigenen politischen System. Ein Land, das nun die Welt neu austarieren möchte und, wenn das mit den bestehenden globalen Institutionen nicht möglich ist, inzwischen machtvoll genug ist, neue zu schaffen. Wie die Asiatische Infrastruktur-Investmentbank (AIIB), das Gegengewicht zur US-amerikanisch dominierten Weltbank. So bildet China neue Allianzen mit anderen aufstrebenden Ländern, die hoffen, sich im internationalen Konzert der Mächtigen endlich Gehör verschaffen zu können. Dazu gehört auch, dass sie frei entscheiden können, in welcher Währung sie ihren Handel abwickeln. Der Yuan ist inzwischen Weltreservewährung, neben dem US-Dollar und dem Euro. Aus den guten alten Zeiten sind auch noch das britische Pfund und der japanische Yen dabei.
Bemerkenswert an Chinas Aufstieg ist auch die Tatsache, dass das Land keine Auslandsschulden hat. Und: Peking verfügt über ein Sparbuch mit den größten Devisenreserven der Welt. Das Riesenreich ist, an der Kaufkraft gemessen, schon seit einigen Jahren die größte Volkswirtschaft der Welt. Das BIP ist, nominal gemessen, noch kleiner, aber in der folgenden Grafik sieht man, was für ein Potenzial in China steckt:
Während Peking also selbst penibel darauf achtet, sich finanziell nicht in Abhängigkeiten zu begeben, ist es gleichzeitig der größte Gläubiger der Amerikaner. Im Handelsstreit mit den USA ist das ein nicht zu unterschätzendes Instrument.
Mittlerweile setzt China auch nicht mehr nur auf Wachstum um jeden Preis, sondern ist zum größten Umweltschützer der Erde aufgestiegen. Die größten Wasserkraftwerke und die meisten Windmühlen der Welt stehen in China. 2017 hat China fast zehnmal so viele Gigawatt an Solarzellen installiert wie ganz Europa zusammen. Außerdem setzt China Maßstäbe in der Industrie 4.0 – mit voll automatisierten, selbst lernenden Fabriken. Technologieunternehmen wie Alibaba, Tencent und China Mobile geben die Richtung vor und gehören inzwischen zu den weltgrößten Aktiengesellschaften.
Und selbst was die Soft Power angeht, holt China auf. Den teetrinkenden Meister Wu gibt es schon als Lego-Figur. Die Art Basel Hongkong ist inzwischen wichtiger als ihr Pendant in Miami. Und der ehemalige Louvre-Direktor Henri Loyrette räumte kürzlich ein: »In Wahrheit ist der Louvre kein universelles Museum.« Es sei ein Museum des Westens. Doch nun ändern sich die Zeiten. Das 2500 Jahre alte, aus China stammende Go-Spiel macht dem Schachspiel Konkurrenz. Die größten Filmstudios der Welt stehen mittlerweile in China. Die meisten Kinos weltweit gehören einem Chinesen, darunter sogar sehr viele amerikanische. Auch eines der großen Hollywood-Studios ist bereits in chinesischer Hand. Schon heute lässt sich kein Hollywood-Film mehr ohne die Einnahmen aus chinesischen Kinos kalkulieren. Ein Topschauspieler wie Matt Damon spielt heute in einer chinesisch-amerikanischen Hollywood-Produktion einen Söldner, der demütig bei klugen chinesischen Kämpfern in die Lehre geht.
Selbst was die Armutsbekämpfung betrifft, stellt China den Westen in den Schatten. Kein großes Land in der Weltgeschichte hat seine Menschen so schnell aus der Armut befreit wie China. Das muss man erst einmal hinkriegen. Und es hat sich zuvor aus einer Krise herausgewunden, an der die meisten anderen Länder zerbrochen wären. Noch im 18. Jahrhundert hatte China einen Anteil von 30 Prozent an der Weltwirtschaft, zur Zeit der Kulturrevolution unter Mao waren es nur mehr zwei Prozent. Nun sind es wieder 15 Prozent. China ist wieder da, hat aber noch viel Spielraum nach oben: Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen liegt erst bei knapp 9 000 US-Dollar. In den USA sind es über 60 000. Nichts spricht dagegen, dass China eines Tages dieses Niveau erreichen wird. Und wenig spricht dagegen, dass das chinesische BIP in Zukunft doppelt so hoch sein wird wie das amerikanische. Das verfügbare Haushaltseinkommen wächst jedes Jahr im Schnitt um rund sechs Prozent. Und das wird noch eine ganze Weile anhalten.
Dieses Wachstum und die vielen neuen Chancen, die sich vor allem durch die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz und die E-Mobilität ergeben, macht es für einen Großteil der Bevölkerung vergleichsweis leicht, über die Einschränkung persönlicher Freiheiten, die Menschenrechtslage und die fehlende demokratische Mitbestimmung hinwegzusehen. Die Mehrheit der Chinesen steht hinter dem autoritären System, mag es uns auch suspekt erscheinen. Und dieses System gewinnt gerade in den Entwicklungsländern der Welt immer mehr Anhänger. In vielen Regionen Asiens oder Afrikas erscheinen den Menschen Stabilität und Prosperität zunächst wichtiger als umfassende Mitbestimmung und eine vielfältige Zivilgesellschaft. Die großen Vorzüge der Demokratie, wie wir sie sehen, erschließen sich ihnen nicht. Zumal ein Blick nach Europa zeigt, wie gelähmt die Demokratien dort sind und wie stark die politischen Ränder werden, sprich: wie instabil dieses als so sicher geltende System geworden ist. Und der Blick nach Amerika zeigt, dass Wahlen die seltsamsten Rüpel an die Macht spülen können – weil die Menschen unzufrieden sind und auf einfache Lösungen in komplizierten Zeiten setzen, auch wenn es die de facto nicht geben kann.
Weil wir im Westen zunehmend mit uns selbst beschäftigt sind, entsteht ein Vakuum, in das China nur allzu gerne vorstößt. Engagiert und entschlossen erschließen die Chinesen neue Märkte, investieren in Infrastrukturprojekte und Bodenschätze und machen so nicht nur geopolitisch und wirtschaftlich Nägel mit Köpfen, sondern verschieben systematisch das alte, das gewohnte Machtgefüge. Vorbei die Zeiten, in denen der Westen die Maßstäbe setzte und den Rest zur Folklore erklärte.
Zukunft? China!
Natürlich hat China auch Probleme, und zwar nicht zu knapp. Das Rechtssystem ist intransparent, agiert teils politisch kontrolliert. Noch immer sitzen Menschen im Gefängnis, die nicht einmal ihren Anwalt sehen dürfen. Es werden Urteile verkündet, die schon vor dem Prozess feststanden. Menschen werden wegen ihrer politischen Meinung abgehört, verfolgt oder gleich eingesperrt. Die Medien können nicht schreiben und senden, was sie wollen. In jedem Unternehmen, auch in westlichen, müssen Parteizellen installiert werden. Schon seit Jahren kündigt Peking die Öffnung seiner Märkte an, öffnet sich aber tatsächlich nur im Schneckentempo. In manchen Bereichen hat der Protektionismus sogar zugenommen. Ganze Industriebereiche sind vor ausländischer Konkurrenz geschützt. In anderen werden westliche Unternehmen zu Technologietransfers gezwungen, damit sie überhaupt auf dem chinesischen Markt vertreten sein dürfen. Piraterie und Patentverletzungen gibt es immer noch.
Dazu kommen Korruption und Skandale wie jüngst im Juli 2018. Hunderttausende Säuglinge erhielten wirkungslose, möglicherweise sogar schädliche Schutzimpfungen. Das Pharmaunternehmen räumte ein, aus Profitgier gehandelt zu haben. Der eigentliche Skandal war jedoch, dass die Aufsichtsbehörde die Panscherei zwar entdeckt, aber die Öffentlichkeit erst fast ein Jahr später darüber informiert hat. China müsse sich dieses »Gift endlich von den Knochen kratzen«, forderte selbst Präsident Xi. Doch das ist leichter gesagt als getan. Manche Parteikader sehen in der Öffnung des Landes das Grundübel: Die Verlockungen des Kapitalismus – selbst jenes Kapitalismus nach chinesischer Prägung – würden hier ihr hässliches Gesicht zeigen.
Auch an anderen Fronten gibt es Schwierigkeiten: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, da ist China keine Ausnahme. Das Wasser im Land ist knapp und sehr verschmutzt, die Regierung muss um jeden Liter kämpfen. Das ist teuer und aufwendig. Das 1,4-Milliarden-Volk muss ernährt werden, die Urbanisierung mit Augenmaß betrieben und der Energie- und Ressourcenverbrauch gesenkt werden. Peking ist sich all dieser Herausforderungen bewusst. Und geht sie mit einer Entschlossenheit und Konsequenz an, wie das nur in einem so autoritär ausgerichteten System möglich ist.
Mit ähnlicher Entschlossenheit und teils auch erschreckender Arroganz agiert es etwa beim Kräftemessen im Südchinesischen Meer oder im Umgang mit den Nachbarn. Selbst die Regierungen, die unter Chinas Zumutungen leiden, bewundern gleichzeitig die Stärke Pekings. Denn es geht ein Riss durch die Welt, was die Einschätzungen der Stärken und Schwächen Chinas betrifft. Während im Westen, aber auch bei den asiatischen Rivalen Indien und Japan die Schwächen eher überbewertet werden (das kann nicht gut gehen, der Ressourcenraubbau, die Menschenrechte, was ist mit dem Demokratisierungsprozess, der wirklichen Marktöffnung …), spielen in der übrigen Welt die Stärken eine viel größere Rolle (wir wollen dabei sein, China ist unser Vorbild). Sind die einen womöglich lebensklug und weitsichtig, die anderen naiv und kurzsichtig? Auch das soll dieses Buch herausfinden.
Offensichtlich ist bereits: Der Westen spielt eine immer geringere Rolle in der Welt. Die Regierenden in Peking, aber auch die Führung der Länder, mit denen China zusammenarbeitet, sind uns längst keine Rechenschaft mehr schuldig. Sie müssen sich nicht einmal mit uns absprechen. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, wie die Welt in Zukunft aussehen soll. Im Westen liest man denn auch, die Weltordnung sei durch den Aufstieg Chinas aus den Fugen geraten. Die Weltordnung, in der wir den Ton angaben. Von Chinesen höre ich hingegen, endlich komme alles in Ordnung. Die Welt werde neu ausbalanciert, gerechter werden. Ähnliches hört man in Afrika oder Zentralasien.
Tatsächlich geht China nicht nur immer selbstbewusster seinen eigenen Weg, sondern bestimmt zunehmend die globalen Spielregeln. Beim Schreiben dieses Buches ist mir noch klarer geworden, dass der direkte Einfluss Chinas auf unser Leben schon viel größer ist, als ich gedacht habe. China ist einerseits eine Chance für die Welt, sich zu erneuern. Aber es ist auch eine Gefahr für uns, wenn wir die Herausforderung nicht annehmen. Wenn wir glauben, wir müssten uns nicht verändern, sondern immer nur die anderen.
Um es schon mal vorwegzunehmen: Dass China zur Weltmacht aufsteigt, können wir nicht ändern. Selbst wie China aufsteigt, können wir kaum beeinflussen. Aber wir können uns darauf einstellen und eine geschickte Strategie wählen, mit der wir in der Lage sind, unsere Interessen zu vertreten. Das ist nicht einfach. Angenehm schon gar nicht, denn wir haben stets geglaubt, wir könnten auf Dauer als Minderheit, die der Westen nun einmal ist, die Spielregeln der Welt bestimmen. So demokratisch wir in unserem Land sind, so sehr neigen wir dazu, bei den internationalen Beziehungen uns undemokratisch zu verhalten. Wettbewerb ist unverzichtbar, haben wir den Chinesen lange gepredigt. Nun treten sie in Wettbewerb mit uns. Und nun passt uns das nicht mehr. Ebenso lange haben wir von China eine Öffnung gefordert, politisch, aber vor allem wirtschaftlich. Wir wollten diesen riesigen Markt für uns erschließen und reagieren nun verstimmt, wenn die Chinesen mit ihren Produkten den unseren fluten und uns auf den Emerging Markets in vielen Bereichen längst abgehängt haben.
Das sind nur zwei Beispiele von vielen, bei denen der Westen mit zweierlei Maß misst. Und damit vor allem eines sichtbar macht: die Angst vor dem Machtverlust. Wir haben ein massives Problem damit, dass die Richtung zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren von einer nichtwestlichen Macht vorgegeben wird. Das zu akzeptieren oder sich ein Konzept zum Gegensteuern zu überlegen, ist eine große Herausforderung. Niemand kann in die Zukunft schauen. Aber nach allem, was sich schon jetzt abzeichnet, wird kein anderes Land der Welt in den kommenden Jahrzehnten unsere Zukunft – die Zukunft Deutschlands und Europas – mehr bestimmen als China.
Und, ja: China wird auch global den Einfluss der gesamten westlichen Hemisphäre zurückdrängen. Das bedeutet, wir müssen Kompromisse machen, ein Stück Macht abgeben. Es bedeutet auch, dass wir uns mehr anstrengen und geschickter vorgehen müssen, wenn es darum geht, unsere Vorstellungen global zu verankern. Und das wollen wir doch, oder? Unsere Werte sind uns wichtig. Sie sollen Bestand haben in der globalen Ordnung.
China hat sich jedoch in vielen Bereichen längst von seiner einstigen Abhängigkeit vom Westen befreit. Unser erhobener Zeigefinger verliert an Überzeugungskraft. Unser Know-how können wir kaum noch an Bedingungen knüpfen. Denn wir brauchen den chinesischen Markt dringender als die Chinesen unser Know-how. Trotz mancher Schwächen hat Peking bisher den Aufstieg alles in allem klug gemanagt und stellt nun Schritt für Schritt die nächsten Weichen auf dem Weg zum Big Player auf der Weltbühne.
Dass China nicht kollabieren würde, davon war ich immer überzeugt. Die Fakten sprachen dagegen. Das Bauchgefühl auch. Was die Geschwindigkeit und den Erfolg des Aufstiegs betrifft, war ich in meiner Einschätzung allerdings viel zu vorsichtig. Warum war das so? Wahrscheinlich hat mich das, was ich in der Schule zu Zeiten des Kalten Krieges über den Kommunismus gelernt habe und was sich nach dem Fall der Mauer zu bestätigen schien, mehr geprägt, als mir im Nachhinein bewusst ist. Denn eine Botschaft wurde in der Schule gebetsmühlenartig wiederholt: Der Kommunismus ist dem Kapitalismus weit unterlegen, und Diktaturen haben kurze Beine. Auf Dauer lassen die Menschen sich das nicht gefallen. Das stimmt ja auch alles. Es hat mit China jedoch nur bedingt zu tun.
Meinen Blick zusätzlich getrübt haben spezifisch chinesische Klischees, die sich, wie wir inzwischen wissen, als falsch erwiesen haben: Mehr als kopieren können die nicht; sie können gehorchen, aber nichts entwickeln; eine gleichförmige Masse, wenn auch eine sehr große, ohne kreative Köpfe; zu mehr als zur Fabrik der Welt reicht es nicht. Doch es war dann eben nicht alles zentral gesteuert. Peking ist es tatsächlich gelungen, den Ehrgeiz und die Eigeninitiative vor allem der jungen Menschen zu wecken. In dieser Hinsicht war die Regierung offensichtlich überzeugend. Denn dass die Menschen neugierig und kreativ sind, schnell, erstaunlich gut organisiert und bereit, hart zu arbeiten, gelingt nur, wenn sie der Politik vertrauen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren. Dass Peking dies gelingen könnte, habe ich lange nicht geglaubt.
Es sind also eher unsere eigenen ideologischen Prägungen, die unseren Blick trüben und tief sitzende Vorurteile hervorbringen. Auch deshalb können wir kaum fassen, dass das lange Unvorstellbare heute längst Alltag ist. Und auch deshalb tun wir uns immer noch so schwer, darauf angemessen zu reagieren.
Die chinesischen Kommunisten haben sich in den letzten Jahren weitgehend nicht nur als machtvoll, sondern auch als friedliebend, weitsichtig und pragmatisch erwiesen. Fast widerstrebt es mir, einen solchen Satz aufzuschreiben. Alles, was ich gelernt habe, wehrt sich dagegen. Richtig ist der Satz trotzdem. Sie haben das Land mit seinem riesigen Marktpotenzial geöffnet – mit Einschränkungen zwar –, sie haben Wachstum und steigenden Wohlstand für die Bevölkerung gebracht, und darüber sollten wir uns erst einmal freuen. Für die Menschen dort und für uns. Deutschland profitiert als Exportnation wie kaum ein anderes Land davon. Knapp 40 Prozent der Gewinne der deutschen Autoindustrie werden in China erwirtschaftet. Dafür sage ich: Danke, China!
Dennoch bin ich noch immer davon überzeugt, dass unser politisches wie auch unser gesellschaftliches Wertesystem viele Vorteile und Stärken hat, die wir über Jahrhunderte hinweg entwickelt und verfeinert haben. Und ich möchte nicht, dass sie im Zuge des chinesischen Aufstiegs unter die Räder kommen. Unsere individuelle Freiheit, die Vielfalt der Zivilgesellschaft mit ihren Bürgerinitiativen und ihrer Mitbestimmung sowie unser Rechts- und Sozialsystem, zumindest in seiner ursprünglichen Idee. Ja, die Mitbestimmung ist umständlich, langatmig und kann unglaublich nerven, aber daran kann man arbeiten. Dazu kommen die Religionsfreiheit, die Pressefreiheit, der Umweltschutz und der Datenschutz, der zumindest versucht, unsere Privatsphäre zu bewahren. Stärken, die wir noch längst nicht zu Ende entwickelt haben. Und sie brauchen tägliche Pflege. Diese Werte sollten ein integraler Bestandteil der neuen Weltordnung sein. Doch leider passiert das nicht von selbst. Wir brauchen Macht, um sie durchzusetzen. Schaffen wir das noch?
Wir erleben nicht nur im Kern von Europa, sondern auch an dessen Rändern eine Erosion der Demokratie, die unter anderem befeuert wird durch einen Nationalismus, der inzwischen leider zum festen Bestandteil der europäischen Politik gehört. Wir erleben mit Donald Trump an der Spitze der USA die systematische Zersetzung jener gewachsenen Strukturen und Institutionen, auf denen der Westen jahrzehntelang fußte. Viel zu langsam erkennen wir, dass wir es uns vielleicht ein wenig zu bequem gemacht haben.
Wie sonst konnte es passieren, dass allein im südchinesischen Shenzhen bereits 16 000 Elektrobusse fahren, während wir in Deutschland, dem Land der Energiewende, nicht in einer einzigen Stadt eine nennenswerte E-Bus-Flotte hinbekommen? Um mal ein vergleichsweise simples Beispiel zu nennen. Wie sonst konnte es passieren, dass wir bei der E-Governance selbst in Europa ganz weit hinten rangieren? Vom flächendeckenden Breitbandausbau gar nicht zu reden. Warum unsere Politiker in Berlin und Brüssel nur noch »auf Sicht fahren« und keine langfristigen Strategien mehr entwickeln? Wie wettbewerbsfähig unsere Gesellschaftsordnung tatsächlich noch ist, auch darum wird es in diesem Buch gehen.
Lauscht man manchen Chinakritikern, fühlt man sich an das Lied des 68er-Politaktivisten Franz Josef Degenhardt erinnert: »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brüder.« Dass diese Schmuddelkinder die globale Oberschicht von morgen sein werden – und zum Teil schon sind –, können wir uns kaum vorstellen. Und wir wollen es auch nicht. Eigentlich ist es ja nicht nur eine kaufmännische Tugend, den Wettbewerber eher zu überschätzen als zu unterschätzen. Diese Tugend haben wir verlernt, und China hat seine Chance genutzt. Inzwischen sind die Chinesen so selbstbewusst und stark wie noch nie. Sie sind von ihrem Weg überzeugt. Man kann sogar sagen, dass das in gewissem Maß für ganz Asien gilt.
60 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Asien. Wir hingegen, die Deutschen, die Europäer, ja der Westen insgesamt, bringen es nur auf 15 Prozent der Weltbevölkerung (davon leben in der EU rund sieben Prozent), Tendenz fallend. Die Chinesen allein wiegen mit gut 18 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung den gesamten Westen mehr als auf.
Wie bereits erwähnt, haben wir als Minderheit lange die Spielregeln der Welt bestimmt. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das galt für uns. Für Asiaten, Südamerikaner und Afrikaner hatten wir lange Zeit nur einen Knüppel, eine Peitsche oder gar eine Gewehrkugel übrig. Wir kamen in ihre Länder, um sie auszubeuten. Wir haben ihre Arbeitskraft ausgenutzt und ihnen ihre Bodenschätze geraubt. Die brutale Kolonialzeit hinterließ vielerorts Länder, die politisch und wirtschaftlich taumelten und über die Entwicklungshilfe am oft nur spärlich rinnenden Tropf des Westens hingen.
Glückliche historische Umstände gaben dem Westen die Möglichkeit, auch China zu unterdrücken. Die Chinesen begingen im 18. Jahrhundert einen großen Fehler, der uns heute eine Warnung sein sollte. Sie hielten sich für den Nabel der Welt. Als die Briten höflich anfragten, ob China nicht gewillt sei, seinen Handelsbilanzüberschuss mit England abzubauen, schlugen sie ihnen die Tür vor der Nase zu und schotteten sich ab. Dass die Europäer dank der industriellen Revolution inzwischen viel fortschrittlicher waren als China, hatten die Chinesen in ihrem Hochmut übersehen. Sie dachten tatsächlich, sie spielten außer Konkurrenz. Die brüskierten Briten kamen im Jahr 1839 mit Kanonenbooten zurück und kolonisierten die wichtigsten chinesischen Häfen. Die Franzosen, die Portugiesen und Amerikaner, ja, sogar die Deutschen folgten ihnen. Eine große Demütigung für China.
Es sollte 110 Jahre dauern, bis es dem Kommunistenführer Mao Zedong gelang, die Kolonialmächte Anfang der 1950er-Jahre wieder vom chinesischen Festland zu vertreiben. Der endgültige Rückzug ist allerdings erst gut 20 Jahre her: Die Briten gaben 1997 Hongkong zurück, Portugal 1999 Macau. Bis heute richten die Amerikaner vom Nachbarstaat Südkorea aus Waffen auf China. Und noch immer glaubt der Westen, die Kernkompetenz zu besitzen, Menschen in anderen Ländern zu sagen, wie sie leben sollen. Unser vermeintlich überlegenes System soll Wohlstand, Freiheit und Demokratie bringen, notfalls mit militärischem Nachdruck. Wir Deutschen tun uns mit Letzterem historisch bedingt etwas schwerer, sehen uns aber moralisch in umso größerer Verpflichtung, die Werte der westlichen Welt zu hüten. Die Begründung dafür scheint naheliegend: Weil wir unter Hitler moralisch versagt haben, sind wir nun doppelt wachsam und beschützen auch die, die gar nicht beschützt werden wollen. Das ist aus unserer Sicht ein hohes Gut, nicht umsonst wurde Kanzlerin Merkel von den westlichen Medien zur letzten Hüterin der freien Welt geadelt. In anderen Ländern stößt diese Einmischung jedoch durchaus auf Skepsis. »Wieso ausgerechnet bei uns?«, lautet die Gegenfrage. Die Menschen wollen selbst entscheiden, was sie für richtig und was für falsch halten. Auch das ist eine Vorstellung von Freiheit. Einer Freiheit, der wir uns noch allzu gerne in den Weg stellen, wenn sie uns nicht nützt.
Nur ein Beispiel: »Warum ist Chinas Umwelt so verschmutzt?«, müssen sich Chinesen von Westlern immer wieder anhören. Inzwischen antworten sie selbstbewusst: »Weil wir Chinesen uns nicht zu schade waren, als Fabrik der Welt die Drecksarbeit für den Westen zu machen.« Wir wollten doch so wenig wie möglich für unsere Jeans bezahlen. Dass Farbstoffe und Chemikalien ungeklärt in chinesische Flüsse geleitet werden, wen von uns kümmerte das? Das war ja weit weg. Die Chinesen haben den schmutzigen Job dennoch übernommen, weil es für sie die einzige Möglichkeit war, zu Wohlstand zu kommen. Deshalb haben sie zugelassen, dass wir »unsere« Umweltverschmutzung sozusagen auslagern.
Dass wir nun mit dem Finger auf China zeigen und die Umweltschäden kritisieren, werden sich die Chinesen nun nicht mehr gefallen lassen. Gut möglich, dass die Regierung eines Tages eine Umweltsteuer erheben wird. Den ersten Schritt in diese Richtung hat Peking schon gemacht: Seit Januar 2018 kauft China keinen ausländischen Müll mehr auf, um ihn zu recyceln. Die Müllkippe der Welt ist nun geschlossen. Die Versuche der EU-Kommission, eine mehrjährige Übergangsfrist auszuhandeln, wurden von Peking abgeschmettert. Nun haben wir ein großes Problem. Knapp 90 Prozent des europäischen Plastikmülls ging nach China. So sieht sie auch aus, die neue globale Gerechtigkeit.
Die Chinesen haben längst eigene Vorstellungen entwickelt, wie globale Interaktion in Zukunft aussehen könnte. Zu wissen, was Peking will, ist hilfreicher denn je, wenn es darum geht, ein Wörtchen mitzureden. Bis heute gehen viele im Westen davon aus, sie könnten Schiedsrichter und Spieler zugleich sein. Nun stellen sie erstaunt und auch ein wenig verärgert fest, dass die anderen Spieler darauf keine Lust mehr haben. Auch darum geht es in diesem Buch.
In Kapitel 1 sehe ich mir an, wie Peking unzufriedene EU-Länder für sich gewinnt und damit Europa aushöhlt. Schon heute ist Brüssel nicht mehr in der Lage, China gegenüber mit vereinter Stimme zu sprechen. Und während wir mit immer strengeren Sanktionen die Russen nicht wirklich schwächen können, treiben wir sie gleichzeitig immer weiter in die Arme der Chinesen. In Peking ist man amüsiert über so viel europäische Kurzsichtigkeit.
In Kapitel 2 werden wir sehen, mit welcher Geschwindigkeit China immer innovativer wird. Die künstliche Intelligenz ist dabei der größte Schwerpunkt. Die vierte industrielle Revolution, bei der sich die Chinesen anschicken, den Westen abzuhängen, wird die Welt dramatisch verändern. Und wer da vorne mitspielt, wird maßgeblich die Spielregeln der neuen technologischen Weltordnung mitbestimmen. Auch in Deutschland.
In Kapitel 3 beschreibe ich, wie sich diese neue technologische Weltordnung auf uns, das Land der Autokonzerne, und die deutschen »Hidden Champions« auswirkt. Mit der Entwicklung des Elektroautos übernehmen die Chinesen nun erstmals in einer deutschen Schlüsseltechnologie die Führung. Nun steht die deutsche Autoindustrie vor der größten Herausforderung in der Geschichte der Bundesrepublik. Weil China es so will, bleibt in Deutschland nichts, wie es war.
In Kapitel 4 analysiere ich, wie Chinas Präsident Xi Jinping als Schlüsselfigur gleichzeitig Chinas Wirtschaft öffnet und die Zivilgesellschaft drangsaliert, die Korruption mit aller Härte bekämpft und seine Machtfülle ausbaut, den Umweltschutz vorantreibt und die Überwachung der Massen perfektioniert. Ob uns das passt oder nicht: Xi prägt nicht nur die Zukunft Chinas. Während wir ihn analysieren und kritisieren, verändert er auch Deutschland.
In Kapitel 5 erkläre ich, wie China ganz grundsätzlich von der Werkbank der Welt zur Erfinderwerkstatt werden konnte. Die Zeiten des Kopierens klingen aus, die Fortschritte bei Kreativität und Innovationen, bei Forschung und Entwicklung sind enorm. Damit greifen die Chinesen den Kern des deutschen Wirtschaftswunders an. China ist wieder auf dem Weg zu der Innovationsweltmacht, die es vor Jahrhunderten schon einmal war. Ein mächtiger neuer Wettbewerber macht dem deutschen Mittelstand das Leben schwer.
In Kapitel 6 reise ich entlang der Neuen Seidenstraße. Peking will mit diesem Projekt mit Europa, dem restlichen Asien und mit Afrika enger zusammenrücken und natürlich systematisch neue Wachstumsmärkte erschließen – auf Kosten der USA. Doch Brüssel ergreift die ausgestreckte Hand nicht.
In Kapitel 7 geht es um den Nordkoreakonflikt und Chinas Provokationen im Südchinesischen Meer. Mehr noch als Syrien und die Ukraine ist Nordkorea einer der größten Krisenherde der Welt, auch wenn sich dort die Lage überraschenderweise vielleicht doch noch entspannt. Ohne China geht dort nichts mehr. Das gilt auch für die umstrittenen Inseln im Südchinesischen Meer. Nirgendwo zeigt Peking seine neue Macht unverhohlener als dort. Doch obwohl Chinas Nachbarn unter Druck geraten, rufen sie uns nicht zur Hilfe, sondern haben ihre eigenen Vorstellungen, wie sie im Schatten Chinas bestehen können.
In Kapitel 8 geht es darum, wie China als aufsteigende Weltmacht die noch amtierende Weltmacht USA immer geschickter ausspielt. Es ist der große geostrategische Machtkampf des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wurden früher Kriege geführt, um die Kämpfe auszutragen, werden die Konflikte heute im Bereich der Wirtschaft ausgefochten: mit Handels- und Patentkriegen, Firmenübernahmen, Währungsrivalitäten und dem Bieterkampf um Bodenschätze. Erstaunlich ist, dass die Chinesen längst einen guten Plan und alle Zeit der Welt haben, während der Westen hektisch und planlos agiert.
In Kapitel 9 geht es um nichts Geringeres als den letzten großen Wachstumsmarkt der Welt: Afrika, dessen wirtschaftlicher Aufschwung maßgeblich von China befeuert wird. Während wir noch ans Brunnenbauen denken und nach dem Gießkannenprinzip Entwicklungshilfe verteilen, sieht China einen Kontinent auf dem Sprung ins 21. Jahrhundert. Klar ist schon jetzt: Für Europa wird es eng ohne Afrika.
Eines musste ich in den Jahren in China lernen – und mir ist erst langsam klar geworden, wie wenig selbstverständlich das im Westen ist: Jedes Land blickt aus einer anderen Perspektive auf die Welt. Jeder Blickwinkel hat seine Berechtigung. Von Peking aus gesehen ist es offensichtlich: China und der Westen haben viel weniger fraglose Gemeinsamkeiten, als wir im Westen glauben.
Frank Sieren, September 2018
KAPITEL 1
CHINA, RUSSLAND UND EUROPA
NERVIGE NACHBARN
Wie Peking Europa schleichend aushöhlt und wir Putin in die Arme der Chinesen treiben.
»Wir müssen etwas haben, wir müssen etwas können, was China braucht.«
Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender BASF
Aus der Ferne sieht die Xing Guang aus, als sei sie im Hafen von Piräus gesunken. Nur die haushohen weißen Aufbauten und der ultramarine Bug schauen noch aus dem Wasser. Der lange Rumpf und das Heck schimmern schwach grün unter den Wellen. Dahinter erhebt sich die malerische Kulisse von Piräus. Doch das Schiff ist nicht etwa havariert. Die Xing Guang ist ein Schwertransporter. Der größte der Chinesen und der zweitgrößte weltweit. Ein Schiff, das selbst ganze Schiffe trocken transportieren kann, aber auch Ölplattformen oder – wie in diesem Fall – ein Schwimmdock aus China mit zwei leuchtend roten Kränen obendrauf. Es trägt den griechischen Namen »ΠΕΙΡΑΙΑΣ III« – »Piräus III«. Zum Be- und Entladen senkt sich der Rumpf unter Wasser und gibt das Dock frei, bis es aus eigener Kraft schwimmt und später Schiffe mit einer Länge von bis zu 240 Metern für die Reparatur aufnehmen kann.
Das Dock ist die neuste Errungenschaft des einst verschlafenen, rückständigen Hafens. Fast 500 Millionen Euro haben die Chinesen hier investiert. 55 Millionen allein für das neue Dock. Nicht ohne Grund: Piräus ist der erste Hafen nach dem Suezkanal für aus Asien kommende Schiffe. Den größten Brocken steuerte 2016 die chinesische Reederei COSCO bei, die für rund 280 Millionen Euro 51 Prozent der staatlichen griechischen Hafengesellschaft PPA kaufte und hier nun bis 2052 mehrere Container-, Auto- und Passagierterminals betreibt. Ein lukratives Geschäft.
Die Chance, den Hafen zu erwerben, haben die Chinesen ausgerechnet Brüssel zu verdanken. Weil Griechenland so stark verschuldet war, verlangten die EU und der Internationale Währungsfonds, dass Athen seine Staatsbetriebe privatisiert. An China haben sie dabei sicher nicht an erster Stelle gedacht. Weitere 15 Prozent an der Hafengesellschaft kann die größte Reederei der Welt vom griechischen Staat erhalten, wenn sich der Konzern an den Investitionsplan hält. Bis 2026 sollen die Chinesen 350 Millionen Euro direkt in die Hafenanlagen investieren. Mit weiteren 200 Millionen Euro sollen aber zum Beispiel auch alte Speichergebäude, ähnlich wie das in Hamburg geschehen ist, in Luxushotels, Büros und Wohnungen umgebaut werden.
Schon seit 2009 betreibt COSCO in Piräus zwei Containerterminals, die sich seitdem sehr gut entwickelt haben. Seitdem sich die Chinesen um den Hafen kümmern, werden hier dreimal so viele Waren umgeschlagen wie vorher. Fünf Millionen Container sollen es 2018 werden. Rund neun Millionen waren es 2017 in Hamburg; allerdings stagniert dort der Containerumschlag schon seit einigen Jahren. Piräus hingegen ist mit 30 Prozent Plus im Jahr der am stärksten wachsende Hafen der Welt. Dass Hamburg stagniert, liegt auch an Piräus. Wie mag die Sache erst aussehen, wenn die Chinesen ihr Hafenkonzept richtig entfaltet haben? Sie sind dabei, eine Eisenbahnlinie von Piräus bis nach Budapest zu bauen. Dann wird es nicht nur für Ungarn, sondern auch für Österreich und Süddeutschland günstiger, schon in Piräus Waren auszuladen, anstatt wie bisher noch eine Woche um Europa herum nach Hamburg zu schippern, nur um dann noch einmal einen Zug ins Innere Europas nehmen zu müssen. Wenn man sich die Landkarte ansieht, fragt man sich schon, warum erst die Chinesen darauf gekommen sind, etwas so Offensichtliches umzusetzen, und nicht die EU selbst. Es ist, als ziehe man mit dem Lineal eine Linie nach Norden: von Piräus und Athen hinüber nach Mazedonien und Skopje über Belgrad bis nach Budapest. Das erste Teilstück der geplanten Zugstrecke zwischen den beiden Hauptstädten bauen die Chinesen bereits: 350 Kilometer für rund 2,6 Milliarden Euro. Die Reisezeit zwischen Budapest und Belgrad wird sich von acht auf drei Stunden verkürzen.
Das Projekt ist ein Teil der Neuen Seidenstraße (siehe Kapitel 6). Die neuen Freunde in Griechenland und Ungarn sind dankbar und werden immer frecher gegen Brüssel, das vergeblich versucht, die aufmüpfigen Staatsführer Alexis Tsipras und Viktor Orbán zur Räson zu bringen. Der ungarische Ministerpräsident kontert immer wieder: »Zentraleuropa braucht Geld für neue Straßen und Pipelines. Wenn Europa nicht in der Lage ist, genug Kapital zur Verfügung zu stellen, dann holen wir es uns in China.« Und sein Außenminister Péter Szijjártó fügt hinzu: »Wir in dieser Region sehen Chinas Hauptrolle in der neuen Weltordnung eher als Chance denn als Gefahr.« Griechenlands Premier Tsipras formuliert es schlichter: »China hilft uns. Warum sollen wir die Hilfe nicht annehmen?«
Tsipras und Orbán scheinen auch genau zu wissen, was sie China schuldig sind. Als Brüssel im Sommer 2016 Peking wegen seiner Politik im Südchinesischen Meer (siehe Kapitel 7) tadeln wollte, stoppten Griechenland und Ungarn eine gemeinsame Resolution. Beide Länder gelten eben als die schwierigen Kinder der EU, beruhigten sich manche in Brüssel. Dort wie auch in Berlin sollte man sich allerdings schon die Frage stellen, ob die Politik der starken EU-Staaten die Bockigkeit dieser Länder nicht erst hervorgebracht und damit Peking Tür und Tor geöffnet hat.
Inzwischen jedenfalls sind die beiden nicht mehr die Einzigen: Der tschechische Präsident Miloš Zeman war bereits im August 2015 als einziger Präsident eines EU-Landes zu den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Kapitulation Japans nach Peking gereist. Die Stallorder aus Brüssel hatte anders gelautet: Man wollte sich nicht vor den Karren einer antijapanischen Kampagne spannen lassen.
2017 hinderte Athen die EU daran, Chinas Menschenrechtslage einstimmig zu kritisieren. Wenig später stellte sich Athen erneut quer, als es um strengere Regeln für Investitionen chinesischer Unternehmen in Europa ging. Und als im Frühjahr 2018 die Vergabepraxis von Aufträgen der »One Belt, One Road Initiative« (OBOR) – also der Neuen Seidenstraße – kritisiert werden sollte, machten die Ungarn nicht mit. »Es gibt keine Lehrer und Schüler«, so Premier Orbán. Ungarn und China würden sich nicht gegenseitig maßregeln. Brüssel wehrt sich, so gut es sein Spielraum zulässt. Die EU hat angekündigt, die Vergabe eines Seidenstraßen-Projekts in Ungarn zu überprüfen, weil es keine öffentliche Ausschreibung gegeben hat, wie es europäische Richtlinien für solche Projekte vorsehen. Herausgekommen ist bei der Untersuchung bisher jedoch noch nichts.
Die Stimmung in der EU in Bezug auf solche chinesischen Investitionen ist schlecht. Die mächtigen EU-Länder finden, dass China die europäische Einheit untergräbt. Selbst der meist besonnenen deutschen Bundeskanzlerin geht das Thema so sehr auf die Nerven, dass ihr in einem Interview mit der Wirtschaftswoche ein deutlicher Satz herausrutschte: »Von Peking aus betrachtet ist Europa eher eine asiatische Halbinsel.«
Dabei könnte es so einfach sein in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage. Trump hadert mit Europa. Trump streitet mit China. Trump zankt sich mit Russland. Also rückt Europa enger zusammen. Gleichzeitig nähern Europa, China und Russland sich an. Der eurasische Kontinent, die größte Landmasse der Welt, lotet gemeinsame Interessen aus, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Doch so einfach ist es leider nicht: Die Europäer sind sich uneiniger denn je, welche gemeinsamen Ziele sie haben. Mit Großbritannien verabschiedet sich das erste große Land aus der EU. Die beiden verbliebenen Großen – Frankreich und Deutschland – kämpfen um die Vorherrschaft. Die reichen Länder fühlen sich von den armen ausgenutzt. Die armen von den reichen bevormundet. Manche trauern dem transatlantischen Bündnis nach. Andere hängen schon am Rockzipfel Chinas. Gleichzeitig glauben nicht wenige in Brüssel, die Russen erziehen zu können. Und denen bleibt vor lauter europäischem Trotz gar nichts anderes übrig, als immer enger mit den Chinesen zusammenzuarbeiten.
Der Hafen von Piräus ist ein Spiegel dieser vertrackten Situation. Die Italiener, die wie die Deutschen in Hamburg ebenfalls Geschäfte wegen Piräus verlieren, erheben schwere Vorwürfe gegen die Griechen und indirekt gegen die Chinesen: Kriminelle Organisationen würden über den vom chinesischen Staatskonzern COSCO betriebenen Hafen steuerfrei Güter einführen. Bei den Importen handele es sich oft um gefälschte Markenkleidung. Durch falsche Lieferadressen würden die wahren Empfänger die Mehrwertsteuer umgehen. Zudem würden die Banden zu niedrige Warenwerte angeben, um Importzölle zu vermeiden. In Italien sei bereits ein hoher Schaden entstanden, empörte man sich in Rom. Auf die Spur nach Piräus waren die Italiener Ende 2017 durch gefälschte Rechnungen gekommen. Die Antibetrugsbehörde der EU hat gemeinsam mit Italien Ermittlungen aufgenommen. Der griechische Hafenbetreiber und sein chinesischer Partner COSCO bestreiten die Vorwürfe. Die griechische Politik übt sich ebenfalls in Abwehr: »Während die Europäer gegenüber Griechenland wie mittelalterliche Blutegel handeln, bringen die Chinesen kontinuierlich Geld«, sagt Costas Douzinas, der Vorsitzende des Komitees für Verteidigung und internationale Angelegenheiten. Douzinas gehört der Regierungspartei Syriza an.
Im Januar 2015 noch hatte man in Peking kurz die Luft angehalten, als die Griechen die linke Syriza-Partei an die Macht wählten und ihr Parteichef Alexis Tsipras Premierminister wurde. Tsipras hatte im Wahlkampf versprochen, sich gegen die Sparzwänge Brüssels zu stellen und Privatisierungen wie die des Hafens von Piräus zu stoppen. Kaum war Tsipras im Amt, telefonierte Premierminister Li Keqiang mit ihm. Er informierte Tsipras über das, was Peking schon investiert hat und noch zu investieren gedachte. Der griechische Premier verkündete daraufhin, die Beziehungen zwischen China und Griechenland in Zukunft »aufwerten« zu wollen. Wie das aussieht, erlebte die EU beim Thema »Menschenrechtslage in China« und beim Versuch, strengere Spielregeln für chinesische Investoren in Europa durchzusetzen. Griechenland spielte nicht mit. Merkel war verärgert.
»Wenn du am Boden liegst und jemand ohrfeigt dich und jemand anderes reicht dir die Hand«, sagt Douzinas, »und wenn du dann von einem von beiden um einen Gefallen gebeten wirst: Wen bevorzugst du? Denjenigen, der dich gehohrfeigt hat, oder denjenigen, der dir geholfen hat?« Eine rhetorische Frage. Und so war auch klar, was Tsipras tun würde, als drei chinesische Militärfregatten in den Hafen von Piräus einliefen. Tsipras schritt die Ehrenformation ab und versprach: »Griechenland bleibt Chinas Tor zu Europa.« Doch es ist nicht das einzige Tor. In einigen Ländern Osteuropas – darunter nicht nur EU-Mitglieder – stehen die Türen ebenfalls weit offen.
Im Frühjahr 2017 reiste Serbiens Präsident Tomislav Nikolić nach Peking. In Serbien leben knapp neun Millionen Menschen, nicht einmal halb so viele wie in Peking. Dennoch bekam Nikolić das volle Programm: Sowohl Präsident Xi Jinping als auch Premier Li Keqiang und der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, Zhang Dejiang, rollten ihm den roten Teppich aus. Er wurde sogar zum Ehrenbürger Pekings ernannt und mit Kontakten zu Unternehmern versorgt; darunter zum Kommunikationstechnologiekonzern Huawei, deren Manager ein Auge auf den serbischen Markt geworfen haben. In anderen Bereichen sind die Chinesen längst aktiv: So bauen sie etwa die Europastraße 763, die von Belgrad bis ins montenegrinische Bijelo Polje führen soll. Präsident Xi war im Sommer 2017 eigens in Serbien, um den Vertrag zu unterzeichnen. Im gleichen Jahr wurde außerdem bekannt, dass der Verkauf der Kupfermine RTB Bor nebst einer Fabrik zur Verhüttung des Rohstoffes an ein chinesisches Unternehmen in trockenen Tüchern ist. Auch einen neuen Industriepark gibt es schon, und das größte Stahlwerk des Landes in Smederevo wurde von dem chinesischen Stahlriesen HBIS übernommen. Und für einen Autobahnring rund um Belgrad haben chinesische Investoren über 200 Millionen Euro zugesagt.
All das zeigt: Das Interesse Chinas, in die serbische Infrastruktur zu investieren, ist groß. Aber auch auf anderen Ebenen geht es vorwärts. Bürger beider Länder brauchen für Reisen, die weniger als 30 Tage dauern, kein Visum mehr zu beantragen. Eine solche Regelung gibt es zwischen Deutschland und China nicht. Der neue serbische Premier Aleksandar Vučić hofft auch auf eine direkte Flugverbindung zwischen Belgrad und Peking. Und er kämpft um die bisher größte ausländische Investition: Der chinesische Reifenhersteller Linglong will 400 Millionen Euro in eine Fabrik in Serbien investieren. Sie soll zehn Millionen Pkw-Reifen und zwei Millionen Bus- und Lkw-Reifen pro Jahr herstellen.
Das Engagement der Chinesen legt das Dilemma von Brüssel schmerzlich offen. Niemand würde bestreiten, dass Serbien zu Europa gehört. Jedenfalls eher als zu China. Doch Brüssel zögert, weitere Länder aufzunehmen. Europa ist auch so schon schwierig genug zu managen. Die Regierung Serbiens stellte 2009 den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU, seit 2012 gilt Serbien offiziell als Beitrittskandidat. Im Februar 2018 schließlich verkündete die EU-Kommission, sie wolle den Beitritt von sechs Westbalkanstaaten »beschleunigen«. Bei den Ländern handelt es sich um Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo. Serbien könnte aus Sicht der EU-Kommission bereits 2025 der Union beitreten. Für Serbien hätte es dann 13 Jahre gedauert, um vom Beitrittskandidaten zum EU-Mitglied zu werden. Bis dahin müssen die Serben jedoch noch umfangreiche Reformen durchführen. Einen kleinen Lichtblick scheint es für die Anwärter zu geben: Die Kommission will durchsetzen, dass die EU künftig öfter mit Mehrheitsbeschlüssen statt einstimmig entscheiden darf.
Ein anderes Land in der EU-Warteschleife ist Albanien, seit 2017 Beitrittskandidat. Das Land liegt an der Südküste der Adria, nur 40 Kilometer vom Absatz des italienischen Stiefels entfernt. Im Süden grenzt es an Griechenland. Es wächst mit 3,4 Prozent, und laut Internationalem Währungsfonds kommt die Regierung in Tirana gut mit ihren Reformen voran. Allerdings sei das Rechtssystem noch schwach, die organisierte Kriminalität zu stark und Albanien der größte illegale Cannabisproduzent Europas – in den USA ist das übrigens inzwischen der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig.
Brüssel ist auch hier vorsichtig, und den meisten Deutschen kann Albanien getrost gestohlen bleiben. In Peking jedoch, gut 7 000 Kilometer entfernt, sieht man das anders. Das kleine Drei-Millionen-Einwohner-Land mit alter Geschichte und wunderschönen Hafenstädten gilt als strategisch sehr günstig. Es liegt so nördlich, dass man über seine Häfen Osteuropa gut beliefern kann, aber so südlich, dass man mit dem Schiff gerade noch am italienischen Stiefel vorbeikommt und Tunesien erreicht, gewissermaßen ohne eine Kurve fahren zu müssen. Und: Wer zur Adria will, muss an Albanien vorbei. Ein lohnendes Ziel also für Peking. Deshalb haben die Chinesen die Konzession für den Flughafen von Tirana erworben, erst einmal bis 2025. Sie überlegen, den Hafen zu erweitern, und bauen für 200 Millionen Euro eine neue Straße von Albanien nach Mazedonien. Für fast 450 Millionen Euro haben sie zwei Ölfelder gekauft, die sie von Shell ausbeuten lassen. Albaniens Bauern bekommen 1,3 Millionen Euro Kredit, um neue Maschinen zu kaufen. Eine transadriatische Öl- und Gaspipeline, an der Shell mit 20 Prozent der größte Investor ist, gibt es inzwischen auch. Und der chinesische IT-Netzwerk-Spezialist Huawei hilft dabei, das Stromnetzwerk des Landes zu modernisieren. Doch damit nicht genug: China ist inzwischen der zweitgrößte Handelspartner Albaniens. Nicht zuletzt aufgrund der großen chinesischen Investitionen wird Albanien von Standard & Poor’s inzwischen mit einem B+ bewertet. Die EU hingegen hat in 27 Jahren nur rund eine Milliarde Euro investiert. Es ist schon skurril: Peking macht Albanien fit für die EU. Das werden die Albaner den Chinesen nicht vergessen.
Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Dort baut der chinesische Konzern China Shandong International für 382 Millionen Dollar eine Mautstraße zwischen Banja Luka und der kroatischen Grenze. Darüber hinaus plant CSI für knapp 290 Millionen US-Dollar eine neue Bahntrasse. Und Europa? Natürlich gibt es verschiedene Töpfe mit Fördermitteln, aus denen man die Länder an der Peripherie bedient. Doch was fehlt, ist eine langfristige Strategie. Und die hat Peking im Osten Europas. Das musste auch Wladimir Putin bereits feststellen: Zuerst feierte Chinas Präsident Xi Jinping mit Putin das Ende des Zweiten Weltkriegs, dann machte er sich im Mai 2015 von Moskau direkt auf den Weg nach Weißrussland, wo er sich mit Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko traf. Es war der erste Besuch eines chinesischen Präsidenten seit 14 Jahren. Und Xi machte keinen Hehl daraus, was er sich von Lukaschenko wünschte: mehr wirtschaftliche Kooperation. Heraus kam ein neuer Vertrag für den chinesisch-weißrussischen Industriepark Great Stone. Geht es nach Xi, soll der Park eine »Perle« der Neuen Seidenstraße werden. An Moskau war der Besuch ein klares Signal: Wir arbeiten eng mit euch zusammen und kaufen auch gern euer Gas und Öl. Im Osten Europas haben wir aber unsere eigenen Interessen.
Brüssel überlässt Peking zu leichtfertig das Feld, zu selten zieht man gemeinsam an einem Strang, was angesichts der weltwirtschaftspolitischen Lage eigentlich angeraten wäre: Stichwort Handelskrieg China–USA. Dass es durchaus gemeinsam geht, zeigt ein von der EU mitfinanziertes Brückenprojekt, das Kroatiens südlichste Spitze mit dem Rest des Landes verbinden soll: Wenn die Pelješac-Brücke fertig ist, wird sie das beliebte Reiseziel Dubrovnik mit dem Rest Kroatiens verbinden. Bislang müssen Reisende dafür auf ein paar Kilometern das Staatsgebiet Bosnien-Herzegowinas durchqueren. Zeitraubende Kontrollen an den Grenzen des Nicht-EU-Mitglieds werden in Zukunft wegfallen, ein wichtiger Aspekt auch für den Warentransitverkehr. Die EU hat über 350 Millionen Euro für den Bau der Brücke zugesagt. Das sind rund 85 Prozent der Kosten. Die Umsetzung hat die öffentliche Beschaffungsbehörde Kroatiens an ein chinesisches Unternehmen vergeben. Es soll die Brücke bauen, aber auch Zufahrtsstraßen und Tunnel. Im Januar 2018 musste das Projekt jedoch gestoppt werden. Ein Mitbieter, ein italienisch-türkisches Konsortium, behauptete, die China Road and Bridge Corporation (CRBC) werde vom Staat unterstützt. Ein österreichisches Unternehmen kritisierte außerdem, CRBC habe gegen die EU-Investitions- und Beschaffungsvorschriften verstoßen. Die kroatische Behörde wies allerdings beide Beschwerden zurück. Wie geplant, soll der Bau nun bis 2022 fertig sein.
Chinesische Investitionen in Osteuropa sind nicht immer erfolgreich. 2017 musste das Autowerk des chinesischen Herstellers Great Wall in Bulgarien nach nur sechs Jahren Konkurs anmelden. Aus der 2015 geschlossenen Vereinbarung mit Rumänien, zwei neue Atomkraftwerke zu bauen, ist bisher nichts geworden, und die Slowaken warten ebenfalls noch auf ein großes Projekt. Allerdings haben die Chinesen inzwischen sogar ein eigenes politisches Format für die Zusammenarbeit mit Osteuropa entwickelt, bei dem Brüssel gar nicht erst gefragt wurde. 16+1 heißt es und bedeutet: 16 osteuropäische Länder plus China. Seit 2012 trifft sich die Gruppe regelmäßig. Erst zwei Jahre später wurde auf Initiative von Angela Merkel der Western Balkans Summit ins Leben gerufen. Allerdings krankt das Forum daran, dass man nicht so viel Geld in der Tasche hat und Peking bei der Vergabe der Gelder – sagen wir mal vorsichtig – wendiger ist.
Noch bevor Premier Li Keqiang 2018 zu den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen reiste, traf er sich in Sofia mit den Chefs der 16 osteuropäischen Staaten. Etwas überrascht war man in Peking über den Tonfall des polnischen Präsidenten: Der beschwerte sich, dass in Polen außer großen Ankündigungen bisher nichts passiert sei. In Brüssel war die Genugtuung darüber, dass der als schwierig geltende Andrzej Duda nun endlich auch mal den Chinesen Ärger macht, nicht zu übersehen. Zu öffentlicher Kritik gegen China ließ sich Duda allerdings nicht hinreißen.
Zu diesem letzten Treffen der 16+1-Gruppe im Juli 2018 in Sofia hatte Premier Li sogar Angela Merkel eingeladen. Die Kanzlerin reagierte geschickt, als Li ihr in Peking die Einladung aussprach: »Haben Sie das mit den anderen Ländern abgestimmt?«, fragte sie den Premierminister. »Das werde ich noch tun«, antwortete Li. Mehr wollte Merkel nicht hören, sie sagte ab, und es wurde auch niemand in Vertretung geschickt.
Bei den ebenfalls im Juli stattfindenden deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin fragte dann umgekehrt ein deutscher Minister im Beisein von Premier Li und Kanzlerin Merkel seinen chinesischen Counterpart: »Wie würden Sie denn reagieren, wenn wir mit einigen Ihrer Provinzen so ein Format entwickeln würden?« – »Interessant«, entgegnete der Minister, »Sie sehen also die EU-Mitglieder als Ihre Provinzen an?« Es stand eins zu eins.
Die Treffen der 16+1 werden von Brüssel kritisch gesehen. Die beteiligten Staaten lassen denn auch ein wenig schlechtes Gewissen erkennen, wenn sie sich rechtfertigen: »Dieses Format hat das Ziel, Europa zu stärken und nicht zu spalten«, sagte Bulgariens Regierungschef Bojko Borissow beschwichtigend zum Auftakt in Sofia. Und Premierminister Li Keqiang konterte Kritik auf das Format so: »China unterstützt die Integration Europas. Wir brauchen ein starkes Europa mit einem starken Euro.« Das Problem für Brüssel und Merkel: Li kann diesen Satz mit großer Überzeugung sagen, denn in der Tat trägt jedes der hier von China finanzierten Projekte zur Integration Europas bei, denn damit werden Entwicklungsunterschiede abgebaut. Die 16+1-Zusammenarbeit fördert »nicht nur die Entwicklung der EU, sondern ein Stückchen mehr an Marktdiversität oder Vielfalt; das ist eine gute Sache«, fügte er hinzu. Li schlägt uns mit unseren eigenen Mitteln. Haben wir den Chinesen nicht immer gesagt, wie wichtig Wettbewerb ist? Er halte sich an EU-Recht, so Li, und: »Egal, ob Sie damit einverstanden sind, Frau Merkel, wir nehmen Kontakte auch mit Unternehmen auf.« Das sei eine gute Sache, für Ost- und Mitteleuropa, für die gesamte Weltbevölkerung.
Auch Außenminister Wang Yi versicherte, die EU nicht spalten zu wollen, und schlug Deutschland sogar trilaterale Kooperationen bei konkreten Projekten in der Region vor. Andere EU-Partner seien natürlich ebenfalls willkommen, sagte Yi Wang und schob den schwarzen Peter damit Richtung Brüssel. Es wirkt nun fast so, als verweigere sich die EU der Zukunft Europas.
Was im Kleinen in Osteuropa passiert, geschieht im Großen mit Russland. In diesem Fall ist es nicht die Nachlässigkeit Brüssels, sondern der Irrglaube des Westens, mit Sanktionen ein Land wie Russland zur Räson bringen zu können. Doch die Sanktionen bewirken vor allem eines: Der Westen treibt Russland politisch, militärisch und wirtschaftlich in die Arme der Chinesen.
War ein Schiff eingangs schon das Symbol der Beziehungen zwischen der EU und China, so könnten Schiffe auch zum Symbol der Beziehungen zwischen Moskau und Peking werden:
Langsam läuft der graue chinesische Zerstörer Hefei bei leichtem Nieselregen in den Hafen von Kaliningrad ein. Ihm folgt die Fregatte Yuncheng mit einem Hubschrauber an Bord und Spezialeinheiten. Ein drittes Schiff ist in der Ferne zu sehen. Kaliningrad, das frühere Königsberg, liegt heute in einer russischen Enklave zwischen den beiden EU-Staaten Polen und Litauen. Die Enklave ist von Russland durch Weißrussland getrennt und nur über die Ostsee direkt erreichbar. Ausgerechnet dort veranstalten Russen und Chinesen zum ersten Mal ein gemeinsames Manöver. Wenn die zweit- und die drittgrößte Armee der Welt gemeinsame Sache machen, fühlt sich das für viele im Westen mulmig an. Bis Berlin sind es von Kaliningrad gut 600 Kilometer. Zur polnischen und litauischen EU-Grenze gerade einmal 100.
Andererseits halten die Amerikaner seit Jahrzehnten regelmäßig viel größere Seemanöver mit Südkorea und anderen Partnern ähnlich nah vor der chinesischen Grenze im Südchinesischen Meer ab. Dagegen wirken die drei chinesischen Schiffe, die sich nun fast schüchtern in das Baltische Meer vortasten, wie ein Schulausflug. Dennoch zeigt das erste Manöver eines: China und Russland rücken unter dem Druck der Sanktionen immer enger zusammen. Die Sanktionen gegen Russland, die kontinuierlich verschärft wurden, gelten seit März 2014, weil sich Moskau die ukrainische Krim einverleibt hat. Die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA sieht China und Russland als »revisionistische Mächte«, die die »Macht, den Einfluss und die Interessen Amerikas herausfordern und versuchen, die Sicherheit und das Wohlergehen der USA zu untergraben«.
China und Russland machen das Beste daraus. Schon im Mai 2014 haben die beiden Länder einen Vertrag über Gaslieferungen im Wert von 400 Milliarden US-Dollar abgeschlossen. Der russische Konzern Gazprom verpflichtet sich darin, jährlich bis zu 38 Milliarden Kubikmeter Gas zu liefern. Im November 2016 hat die China Development Bank der russischen Vnesheconombank (VEB) rund eine Milliarde US-Dollar in Yuan geliehen. Der Kredit läuft über 15 Jahre. Noch nie hat die VEB einen Kredit mit einer so langen Laufzeit bekommen. Mit dem geliehenen Geld soll eine neue Infrastruktur aufgebaut werden, die China und Russland noch enger verbindet. »Die Chinesen sind aber auch interessiert an Holz, an Landwirtschaft, Minen und nichteisenhaltigen Metallen«, erläutert VEB-Chef Sergej Gorkow. Im Juni 2018 erhöhte Peking den Kreditspielraum der VEB noch einmal auf umgerechnet acht Milliarden US-Dollar. Mit dem Geld sollen Infrastrukturprojekte finanziert werden, darunter auch Teile der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Moskau und Peking, bei der die Europäer leer ausgehen werden (siehe Kapitel 6). Von 70 gemeinsamen Projekten ist bei der Unterzeichnung des Kreditvertrags die Rede. Und es gibt noch viel Spielraum nach oben: Der Anteil Chinas an den russischen Auslandsschulden betrug 2017 erst sechs Prozent, die meisten Schulden hat Russland immer noch in Europa.
Peking bietet sogar an, dass der chinesische Zahlungsdienstleister UnionPay einspringen könne, sollte der US-Marktführer Visa politisch gezwungen sein, sich aus Russland zurückzuziehen. Und: China liefert immer mehr frische Lebensmittel in das Nachbarland. Lebensmittel, die bisher aus Europa kamen. Die chinesische Ölgesellschaft Sinopec und der Seidenstraßenfonds beteiligen sich jeweils zu zehn Prozent an Russlands größtem Petrochemiekonzern Sibur. An Russlands größtem Flüssiggasprojekt Yamal LNG halten beide insgesamt 29,9 Prozent. Russen und Chinesen bauen zusammen einen Großraumjet und Atomkraftwerke. Vier im Wert von 3,6 Milliarden US-Dollar sind bereits im Bau. Der gemeinsam entwickelte Großraumjet C929 soll 2023 erstmals abheben. Er soll billiger in der Anschaffung und kostengünstiger im Betrieb werden als die etwa gleich große Boeing 777. Die Kosten: 20 Milliarden US-Dollar. Die Endmontage findet in China statt. Für die Chinesen ist das nur von Vorteil, denn bislang können sie keine eigenen Triebwerke herstellen. Zusammen mit den Russen könnte ihnen das endlich gelingen.
Schon 2017 hatte Russland die Saudis als wichtigster Öllieferant Chinas abgelöst: Knapp ein Viertel des russischen Ölexports fließen nun nach China. Aber Peking will mehr, denn sie müssen Gazprom vergleichsweise wenig zahlen – auch das eine Folge der Sanktionen. Im Dezember 2019 wird die neue Gaspipeline »Kraft Sibiriens« nach China fertig sein. Sie kostet 55 Milliarden US-Dollar. Die Ingenieure kämpfen mit 80 Grad Temperaturunterschied. Geopolitisch ist das Projekt ebenfalls eine Herausforderung, vor allem gegenüber dem Westen. Wenn 2019 Gas durch die Pipeline fließt, werden dank der westlichen Sanktionen zum ersten Mal der größte Gasimporteur der Welt und der größte Gasexporteur der Welt direkt miteinander verbunden sein. 30 Jahre lang werden dann jährlich 38 Milliarden Kubikmeter Gas nach China gepumpt. Das ist zwar deutlich weniger als nach Deutschland (53 Milliarden Kubikmeter pro Jahr), aber wesentlich mehr als in die Türkei, Gazproms bislang zweitgrößtem Kunden.
Über zehn Jahre haben Gazprom und Peking ergebnislos verhandelt, bis sie schließlich den Vertrag über die Gaslieferungen unterzeichnet haben. Manche Chinesen sagen, Peking habe Russland zappeln lassen, um genau dann zuzuschlagen, als die Russen die westlichen Sanktionen am schmerzhaftesten gespürt haben. Die Russen wiederum betonen, China habe Russland in schwieriger Zeit nicht im Stich gelassen. Fakt ist: Der neue Partner China macht Russland unabhängiger vom Westen. Der Westen hat sich selbst in eine Zwickmühle manövriert. Deshalb, aber auch aus Mangel an Alternativen, hat die EU 2017 so viel russisches Gas importiert wie nie zuvor – trotz der Sanktionen. Eine Steigerung von über acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Größter EU-Abnehmer russischen Gases ist und bleibt Deutschland. Hier waren es gut sieben Prozent mehr als 2017. Die Russen wollen mithilfe der Chinesen ein Ziel erreichen: dass sie den Europäern den Hahn zudrehen können, ohne dass ihnen das selbst wehtut. Möglich ist das.
Allerdings geht es mit vielen Projekten nicht schnell genug voran. Die Chemie zwischen den Chinesen und den Russen stimmt manchmal nicht so recht. Das Misstrauen in Russland, von den Chinesen überrollt zu werden, ist groß. Die Chinesen wiederum haben die Sorge, dass ihre Projekte im russischen Sumpf aus Korruption und Ineffizienz stecken bleiben. Aber seit US-Präsident Donald Trump an der Macht ist, hat sich der Druck zur Zusammenarbeit noch erhöht. Das erste Gipfeltreffen zwischen Putin und Trump im Juli 2018 hat die Lage zwar nicht weiter zugespitzt, aber auch keine Entspannung gebracht. Jeder wirft dem anderen vor, die Spielregeln verletzt zu haben: Die Russen halten den Amerikanern und Europäern vor, in der Ukraine aktiv geworden zu sein, obwohl sie 1990, nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, das Gegenteil versprochen hatten. Der Westen nimmt Putin übel, dass er sich mit Gewalt die Krim zurückgeholt hat und Teile der Ukraine im Schwitzkasten hält. Putin kontert: KP-Parteichef Nikita Chruschtschow habe die Krim 1954 der Ukraine geschenkt – eine symbolische Geste, mehr nicht. Tatsächlich war damals in der westlichen Presse nichts davon zu lesen, man fand es offensichtlich selbstverständlich, und auch in der sowjetischen fanden sich allenfalls ein paar dürre Halbsätze. Für Chruschtschow, die Russen und im Übrigen auch für den Westen war es unvorstellbar, dass die Ukraine eines Tages unabhängig werden würde. Dass es 1991 dennoch dazu kam, empfinden viele Russen bis heute als historische Ungerechtigkeit. Da war nicht nur die Schmach über den Kollaps des stolzen Sowjetreichs, nein, auch die Krim mit ihren legendären Kurhotels und der Zarenpalast von Jalta waren für Russland verloren. Putin konnte also innenpolitisch kaum anders, als sich die Krim zurückzuholen, nachdem der Westen einen russlandfeindlichen Umsturz der Ukraine zumindest unterstützt, wenn nicht sogar befördert hatte. Die Fachleute in Brüssel und Berlin hatten ihre Politiker vor den Risiken gewarnt.
Genauso klar war, dass der Westen die Annexion der Krim als Völkerrechtsbruch bezeichnen und Russland mit Sanktionen belegen würde. Dennoch ist Russland heute weltpolitisch mächtiger denn je. Das zeigte sich auch, als der Westen versuchte, sich in den Syrienkonflikt einzumischen. Traditionell ist das die Einflusssphäre der Russen, die seit 1971 dort den einzigen Stützpunkt am Mittelmeer für ihre Schwarzmeerflotte unterhalten. China und Russland spielten zusammen – Russland militärisch und China diplomatisch – und konnten sich durchsetzen.
Auch ansonsten läuft die Kooperation gut: Russland ist Gründungsmitglied der BRICS-Staaten, zu denen Brasilien, Indien, China und Südafrika gehören. Russland ist zudem Teil der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), die ganz Zentralasien, Indien und Pakistan zu ihren Mitgliedern zählt. Die SCO ist eine Allianz, die sich mit politischen und wirtschaftlichen, aber auch mit sicherheitspolitischen Themen in der Region beschäftigt. All diese Länder liegen nicht im Streit mit Russland. Dass allein die NATO-Länder zusammenhalten, reicht längst nicht mehr, um Moskau in die Knie zu zwingen.
Vor allem Europa hat durch die Sanktionen gegen Russland einen großen wirtschaftlichen Schaden erlitten, ohne dabei auch nur irgendeinen politischen Nutzen daraus ziehen zu können. Gewinner in diesem Machtspiel sind wieder einmal die Chinesen, der größte Verlierer ist Deutschland. China hat Deutschland 2017 als wichtigsten Handelspartner Russlands abgelöst. Deutschland ist nur noch für 8,6 Prozent des russischen Außenhandels verantwortlich. China kommt auf knapp 15 Prozent. »Mit China ist das Eis gebrochen«, meinte denn auch der russische Vizepremier Igor Schuwalow: »Wir haben mit ihnen zu reden gelernt, sie verstehen uns jetzt besser. Und wir sie auch.« Eine elegante Art einzuräumen, dass es Schwierigkeiten gab.
Natürlich gibt es noch viel aufzuholen. Der Vorsprung der EU ist mit einem 45-prozentigen Importanteil noch hoch, auch wenn die Tendenz stark fallend ist. Was Deutschland angeht, erreichen die Exporte nach Russland gerade einmal die Hälfte der chinesischen mit einem Volumen von 48 Milliarden US-Dollar. Die deutsche Wirtschaft könnte das akzeptieren, wenn dabei politisch etwas herauskäme. Tatsächlich verlieren Deutschland und die EU für nichts und wieder nichts jeden Tag wirtschaftliches Terrain an China. Derweil sind die Russen gezwungen, ihre Rohstoffe unter Preis in Peking anzubieten. China, der lachende Dritte. »Dass die Rohstoffe nach Osten fließen, kann nicht im Interesse des Westens sein«, sagt der BASF